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Leseprobe: Dies & Das aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 2017/2018

Raffael Wohlfarth erörtert zusammen mit Herrn Rechtsanwalt Hans-Dieter Wohlfarth – Fachanwalt für Arbeitsrecht – einem ausgewiesenen Kenner des Arbeitsrechts und langjährigem Praktiker, 44 ausgewählte Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts aus dem Zeitraum 2017 bis August 2018 in 12 Kapiteln. Das Buch zeichnet sich aus – und unterscheidet sich dadurch von anderen Publikationen – dass in Frage und Antwort die Entscheidungslinien über den konkret entschiedenen Fall hinaus herausgearbeitet und die Themen verknüpft werden. Das Buch ist so konzipiert, dass es auch Antworten und Lösungen zu Rechtsfragen gibt, welche die abgehandelten Themen berühren. Es soll dem Leser mehr als eine Besprechung der Entscheidungen geben und zugleich als Nachschlagewerk dienen.

Raffael Wohlfarth erörtert zusammen mit Herrn Rechtsanwalt Hans-Dieter Wohlfarth – Fachanwalt für Arbeitsrecht – einem ausgewiesenen Kenner des Arbeitsrechts und langjährigem Praktiker, 44 ausgewählte Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts aus dem Zeitraum 2017 bis August 2018 in 12 Kapiteln.
Das Buch zeichnet sich aus – und unterscheidet sich dadurch von anderen Publikationen – dass in Frage und Antwort die Entscheidungslinien über den konkret entschiedenen Fall hinaus herausgearbeitet und die Themen verknüpft werden.
Das Buch ist so konzipiert, dass es auch Antworten und Lösungen zu Rechtsfragen gibt, welche die abgehandelten Themen berühren. Es soll dem Leser mehr als eine Besprechung der Entscheidungen geben und zugleich als Nachschlagewerk dienen.

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edition

Wohlfarth

Raffael Wohlfarth

Dies und Das aus der

Rechtsprechung des

Bundesarbeitsgerichts

2017/2018

Mit Schwerpunkt Entscheidungen zum

Betriebsverfassungsrecht

Im Gespräch vorgestellt und erläutert von

Hans-Dieter Wohlfarth, Fachanwalt für Arbeitsrecht


Raffael Wohlfarth

Dies und Das aus der Rechtsprechung des

Bundesarbeitsgerichts 2017/2018


Raffael Wohlfarth

Dies und Das aus der Rechtsprechung

des Bundesarbeitsgerichts

2017/2018

hansdieter wohlfarth verlag


1. Auflage 2018

ISBN: 978-3-947133-06-2

© 2018 hansdieter wohlfarth verlag

Alle Rechte vorbehalten

Spemannstraße 35

70186 Stuttgart

Deutschland

edition-wohlfarth@edition-wohlfarth.eu

☛ www.edition-wohlfarth.eu

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich.

Konzeption, Text, Satz, Layout & Covergestaltung:

Raffael Wohlfarth, Augsburg

☛ www.ra-wo.net

Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang


Inhaltsverzeichnis:

Kapitel 1: Mitbestimmung beim Gesundheitsschutz/

Abgrenzung Zuständigkeit BR/GBR............................................................2

Kapitel 2: Wahl des Betriebsrats/Pflichten Wahlvorstand/Wahlanfechtung/Betrieb/Betriebsteil.......................................

14

Kapitel 3: Freistellungen............................................................................. 34

Kapitel 4: Betriebsratstätigkeit/Arbeitszeit/Vergütung/

Kündigung....................................................................................................... 42

Kapitel 5: Aufgaben des Betriebsrats - Auskunfts- und

Unterrichtungsrechte................................................................................... 64

Kapitel 6: Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen............................................................................................................

74

Kapitel 7: Mitbestimmung § 87 BetrVG/Arbeitskampf/

Mehrarbeitsanordnung................................................................................. 84

Kapitel 8: Datenschutz und Persönlichkeitsrecht/Recht

auf informationelle Selbstbestimmung/

Beweisverwertungsverbot........................................................................... 92


Kapitel 9: Kündigungsrecht/Entlassungsverlangen des

Betriebsrats/Sozialauswahl bei Rentenbezug.......................................114

Kapitel 10: Vergütung von Umkleide- und Wegezeiten.......................134

Kapitel 11: Weisungsrecht - Ausprägung und Grenzen......................140

Kapitel 12: Betriebsvereinbarung - Tarifvorrang -

Gesamtzusage..............................................................................................150

Angang:..........................................................................................................156


Liebe Leserinnen und Leser!

Es ist wieder so weit. Ein Rückblick auf die Rechtsprechung des

Bundesarbeitsgerichts im Jahre 2017 und im ersten Halbjahr 2018 lohnt

sich. Im Gespräch mit dem Fachanwalt für Arbeitsrecht, Rechtsanwalt

Hans-Dieter Wohlfarth, Seniorpartner der Wohlfarth, Dr. Gutmann, Pitterle,

Zeller & Behl Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB in

Stuttgart, werden 44 ausgewählte Entscheidungen vorgestellt und erläutert,

für die betriebliche Praxis aufgearbeitet. Ziel und Anspruch zugleich

ist es, ausgehend von den konkret entschiedenen Sachverhalten,

über den Fall hinaus die prinzipiellen Rechtsfragen herauszuarbeiten

und Lösungen aufzuzeigen. Das Buch wird damit auch zum Nachschlagewerk,

kann Antwort auf juristische Fragen geben und zu deren

Lösung Hilfestellung geben. Der gewählte Interviewstil erleichtert das

Lesen sowie das Verständnis und hebt sich – denken wir – wohltuend

von „trockener Juristenlektüre“ ab.

Im Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts 2017 werden in der Rechtsprechungsübersicht

im Kapitel II Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht

sieben Entscheidungen aufgeführt, deren Bedeutung

damit manifestiert. Ich möchte mit einer der Entscheidungen beginnen 1 .

Gegenstand ist die Mitbestimmung beim Gesundheitsschutz.

1 Beschluss vom 18. Juli 2017 – 1 ABR 59/15

1


Kapitel 1

Mitbestimmung beim Gesundheitsschutz/Abgrenzung

Zuständigkeit BR/GBR

R.W.: Herr Rechtsanwalt Wohlfarth, worin liegt die Bedeutung dieser

Entscheidung und um was ging es?

RA W.: Ich kann aus dem Nähkästchen plaudern, weil Herr Rechtsanwalt

Zeller aus unserer Kanzlei das Verfahren geführt hat. Beim Betriebsrat

einer Bankfiliale in Stuttgart gingen massiv Beschwerden der

Beschäftigten über die Arbeitsbedingungen im Sommer und im Winter

ein. Der Betriebsrat sollte bei der Arbeitgeberin für Abhilfe sorgen, am

besten mit Hilfe einer Klimaanlage oder anderen geeigneten Mitteln.

R.W.: Ist doch kein Problem. Es handelt sich um Fragen des Gesundheitsschutzes,

die nach § 87 Abs.1 Nr.7 BetrVG der Mitbestimmung des

Betriebsrats unterliegen, und zwar der erzwingbaren Mitbestimmung.

RA W.: Richtig. Der Betriebsrat konnte also initiativ werden und Regelungen

vorschlagen. Kommt es zu keiner Einigung ist er berechtigt, die

Einigungsstelle anzurufen. Die Einigungsstelle kann eine Einigung

herbeiführen oder notfalls durch Spruch entscheiden, welche Massnahmen

zu treffen sind.

R.W.: Wurde dieser Weg gewählt?

RA.W.: Eine Einigungsstelle wurde eingerichtet. Die Verhandlungen in

der Einigungsstelle brachten kein Ergebnis, das von den Arbeitnehmervertretern

mitgetragen werden konnte. Eine Einigung wurde nicht erzielt.

Es kam zum Spruch. Mit der Stimme des Vorsitzenden und der Besitzer

auf der Arbeitnehmerbank beschloss die Einigungsstelle eine

Betriebsvereinbarung „BV Klima“.

2


Für uns wichtig sind auszugsweise folgende Regelungen:

1. Zielsetzung:

Ziel dieser Betriebsvereinbarung ist, die aufgrund von Hitze/

Kälte in den Arbeitsräumen auftretende Belastungen im Sinne

von ASR A 3.5 der Beschäftigten durch die nachfolgend dargestellten

Maßnahmen zu verringern, um hierdurch die

Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und auch den betrieblichen

Belangen Rechnung zu tragen.


5. Wärmebelastung:

Von einer Belastung durch Wärme ist auszugehen, sofern die

Raumtemperatur über 26 Grad Celsius ansteigt.

6. Maßnahmen: …

Bei Feststellung einer Wärmebelastung im Sinne von Ziffer 5.

dieser Betriebsvereinbarung sind Maßnahmen entsprechend

des Maßnahmenkataloges (Anlage 2) zu treffen.

7. Kältebelastungen:

Kältebelastungen von unter 19°C in Arbeits- und Pausenräumen

sind zu vermeiden. An den Arbeitsplätzen in den Postfachanlagen

(Arbeitsplätze mittlerer Arbeitsschwere) sind

Kältebelastungen von unter 17°C zu vermeiden. Wenn sie

unterschritten werden, sind geeignete - technische Maßnahmen

wie z.B. Wärmestrahlungsheizung, Heizmatten, - organisatorische

Maßnahmen wie zusätzliche Aufwärmpausen (sofern

wärmere Räume zur Verfügung stehen), - personenbezogene

Maßnahmen wie Erlaubnis zum Tragen von an die Dienstkleidung

angepassten Pullovern oder Westen in dieser Reihenfolge

und unter Einbindung des Betriebsrats zu ergreifen.

3


In der Anlage 2 Maßnahmenkatalog wurde bei Raumtemperatur

über 30°C ua. für das Lockern der Dienstbekleidung

bestimmt, dass dies den Verzicht auf das Tragen

von Krawatten beinhaltet.

R.W.: Na ja. Klingt ja alles ganz vernünftig. Den Einbau einer Klimaanlage

vermisse ich. War wohl zu teuer und hätte von der Einigungsstelle

nur dann beschlossen werden dürfen, wenn der Einbau das einzige

Mittel gewesen wäre, den Gesundheitsschutz sicherzustellen. Wie kam

die Sache zum BAG?

RA W.: Die Arbeitgeberin war mit dem Spruch der Einigungsstelle aus

mehreren Gründen nicht einverstanden. Sie hat deshalb den Spruch der

Einigungsstelle fristgerecht beim Arbeitsgericht Stuttgart angefochten.

Die Einigungsstelle sei nicht zuständig gewesen. Insbesondere sei der

Spruch der Einigungsstelle insoweit unwirksam, als er Regelungen zur

Unternehmensbekleidung enthält. Dazu muss man wissen, dass für die

13 Betriebe der Arbeitgeberin ein Gesamtbetriebsrat gebildet ist. Dieser

hatte mit der Arbeitgeberin eine Gesamtbetriebsvereinbarung „Unternehmensbekleidung

der Postbank Filialvertrieb AG“ (GBV Unternehmensbekleidung)

abgeschlossen, welche auszugsweise lautet:

Grundsätze:

Das äußere Erscheinungsbild der Beschäftigten ist für das

Unternehmen Postbank Filialvertrieb AG von großer Bedeutung.

Die Unternehmensbekleidung soll ihre Trägerin oder

ihren Träger in ihrer/seiner beruflichen Tätigkeit in der

Öffentlichkeit als Angehörige oder Angehörigen der Postbank

Filialvertrieb AG kenntlich machen.

Tragevorschrift:

Die Unternehmensbekleidung ist komplett - mindestens

Hemd/Bluse, Hose/Rock und Krawatte - zu tragen. …“

4


R.W.: Jetzt verstehe ich. Die Arbeitgeberin hat dem Betriebsrat die originäre

Zuständigkeit bestritten. Einzig und allein originär zuständig sei

der Gesamtbetriebsrat, auch unter Einbeziehung für Regelungen zum

Gesundheitsschutz.

RA W.: Richtig erkannt. Das Thema der Abgrenzung der originären Zuständigkeit

des Gesamt- oder des Konzernbetriebsrats von der Zuständigkeit

der für die Betriebe gewählten Betriebsräte ist ein Dauerbrenner.

Neu und vorher noch nie entschieden war allerdings die Frage,

die sich in unserem Fall stellte: Wie ist es, wenn der Gesamtbetriebsrat

in originärer Zuständigkeit eine Betriebsvereinbarung abschließt, die

wie hier eine Kleiderordnung enthält. Ist es dann möglich und zulässig,

dass ein örtlicher Betriebsrat in eigener Zuständigkeit Regelungen trifft,

welche in die Gesamtbetriebsvereinbarung eingreifen, mit diesen Regelungen

sogar kollidieren?

R.W.: Ist ja tatsächlich ein Problem, wie unser Fall zeigt. Nach der

Kleiderordnung muss eine Krawatte getragen werden, nach dem Spruch

der Einigungsstelle durfte auf das Tragen einer Krawatte als Maßnahme

des Gesundheitsschutzes verzichtet werden, sobald die Voraussetzungen

vorliegen. Wie hat das BAG das Problem gelöst?

RA W.: Erinnern wir uns zunächst an die Rechtsgrundsätze zur Abgrenzung

der originären Zuständigkeiten. Für die originäre Zuständigkeit

des Gesamtbetriebsrats gilt § 50 Abs.1 BetrVG:

Zuständigkeit

(1) Der Gesamtbetriebsrat ist zuständig für die Behandlung von

Angelegenheiten, die das Gesamtunternehmen oder mehrere

Betriebe betreffen und nicht durch die einzelnen Betriebsräte

innerhalb ihrer Betriebe geregelt werden können; seine

5


(2) Zuständigkeit erstreckt sich insoweit auch auf Betriebe ohne

Betriebsrat. Er ist den einzelnen Betriebsräten nicht übergeordnet.

Die Ausübung der Mitbestimmungsrechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz

obliegt grundsätzlich dem von den Arbeitnehmern unmittelbar

gewählten Betriebsrat. In Unternehmen mit mehreren Betrieben

sind im Bereich des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG

§ 87 Mitbestimmungsrechte

(1) Der Betriebsrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung

nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen:

1. …

7. Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und

Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen

der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften;

daher regelmäßig die Einzelbetriebsräte für die Regelung der davon erfassten

Angelegenheiten zuständig. Der Gesamtbetriebsrat ist nur zuständig,

wenn die Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes

eine überbetriebliche Angelegenheit betreffen und diese durch die einzelnen

Betriebsräte nicht geregelt werden können. Hierfür ist bei den vorliegenden

Regelungen zum Gesundheitsschutz im Zusammenhang mit

dem Raumklima nichts ersichtlich. Eine solche mitbestimmte Angelegenheit

bezieht sich typischerweise konkret auf die Gegebenheiten

in den einzelnen Arbeitsräumen auf betrieblicher Ebene.

R.W.: Das habe ich verstanden. Ich habe aber auch gelernt, dass eine

einheitliche mitbestimmungspflichtige Angelegenheit nicht aufgespalten

werden kann in Teile, die in die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats

fallen, und solche, für welche die örtlichen Betriebsräte zuständig sind.

6


Es gilt der Grundsatz der Zuständigkeitstrennung. Ist der Gesamtbetriebsrat

originär zuständig, muss er alle Regelungen treffen, ist der

örtliche Betriebsart zuständig, dieser (vgl. BAG 14. November 2006 - 1

ABR 4/06). So ist auch eine Delegation vom Gesamtbetriebsrat auf den

örtlichen Betriebsrat nicht zulässig. Was gilt nun aber? Krawattenpflicht

oder Krawattenverzicht?

RA W.: Das Bundesarbeitsgericht hat auf die unterschiedlichen

Regelungsgegenstände abgestellt. Die Kleiderordnung wird vom Mitbestimmungsrecht

nach § 87 Abs.1 Nr.1 BetrVG erfasst (Fragen der Ordnung

des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb), der

Gesundheitsschutz vom Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs.1 Nr.7

BetrVG. Für die Ausübung und abschließende Regelung „Kleiderordnung“

ist somit der Gesamtbetriebsrat zuständig, für das „Klima“ der

örtliche Betriebsrat. Betreffen Regelungsmaterien unterschiedliche Mitbestimmungstatbestände,

folgt aus der Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats

für die eine Angelegenheit keine solche für die andere, welche

in die Zuständigkeit des Betriebsrats fällt.

R.W.: Also ähnlich wie bei einer Betriebsänderung. Die Zuständigkeit

für den Interessenausgleich kann in die originäre Zuständigkeit des

Gesamtbetriebsrats fallen, der Abschluss eines Sozialplans in die Zuständigkeit

der örtlichen Betriebsräte (vgl. BAG 3. Mai 2006 - 1 ABR

15/05).

Mein Fazit: Die Kleiderordnung gilt. Eine Krawatte muss getragen werden.

Wird es zu heiß, darf unter dem Gesichtspunkt Gesundheitsschutz

die Krawatte für die notwendige Dauer abgelegt werden.

Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts ist aber auch in einer zweiten

Hinsicht von grundsätzlicher Bedeutung. Ich übergebe.

RA W.: Arbeitgeber wenden oft ein, sie hätten doch die technischen und

7


organisatorischen Maßnahmen getroffen, welche die Arbeitsstättenverordnung

vorsieht. Zu mehr seien sie nicht verpflichtet. In unserem Fall

berief sie sich darauf, die Vorgaben der technischen Regeln für Arbeitsstätten,

Punkt 4.4 (2) ASR A3.5 - Raumtemperatur, erfüllt zu haben. Die

Bestimmung lautet wie folgt:

(1) …

(2) Bei Überschreitung der Lufttemperatur im Raum von +30 °C

müssen wirksame Maßnahmen gemäß Gefährdungsbeurteilung

(siehe Tabelle 4) ergriffen werden, welche die Beanspruchung

der Beschäftigten reduzieren. Dabei gehen technische

und organisatorische gegenüber personenbezogenen

Maßnahmen vor.

Die angefügte Tabelle 4 enthält folgende beispielhafte Maßnahmen:

Beispielhafte Maßnahmen

a. effektive Steuerung des Sonnenschutzes (z. B. Jalousien

auch nach der Arbeitszeit geschlossen halten)

b. effektive Steuerung der Lüftungseinrichtungen (z. B.

Nachtauskühlung)

c. Reduzierung der inneren thermischen Lasten (z. B. elektrische

Geräte nur bei Bedarf betreiben)

d. Lüftung in den frühen Morgenstunden

e. Nutzung von Gleitzeitregelungen zur Arbeitszeitverlagerung

f. Lockerung der Bekleidungsregelungen

g. Bereitstellung geeigneter Getränke (z. B. Trinkwasser)

Also habe sie alles getan und die Maßnahme des Krawattenverzichts

sei unzulässig, weil den technischen und organisatorischen Vorgaben die

Priorität gegenüber personenbezogenen Maßnahmen zukomme.

8


R.W.: Leuchtet mir auf den ersten Blick ein. Die Vorgaben dienen ja gerade

dazu, den erforderlichen Schutz sicherzustellen.

RA W.: Das ist sicher richtig. Auf der anderen Seite ist damit der

Gesundheitsschutz nicht erledigt. Das Bundesarbeitsgericht stellte richtig

fest, dass den Technischen Regelungen für Arbeitsstätten kein Unabdingbarkeitsanspruch

zukommt. Es besteht ein Regelungsspielraum.

Das beweist die Rahmenvorschrift des § 3a Abs.1 Satz 1 ArbStättV.

Diese lautet:

Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass Arbeitsstätten so

eingerichtet und betrieben werden, dass Gefährdungen für die

Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten möglichst

vermieden und verbleibende Gefährdungen möglichst gering

gehalten werden. Auf die Ausfüllung dieser Rahmenvorschrift

bezieht sich die Mitbestimmung. Die ArbStättV enthält allgemein

gehaltene Verhaltensvorgaben. Die Anforderungen an

die Einrichtung und das Betreiben der Arbeitsstätten sind im

Einzelnen im Anhang zur ArbStättV verbindlich niedergelegt.

Im Anhang sind einzelne Bereiche wie etwa die Raumtemperatur

in ASR A3.5 geregelt. Zu deren Ausfüllung dienen

die Technischen Regeln für Arbeitsstätten. Die technischen Regeln

haben nicht die Qualität eines Gesetzes, aber praktische

Bedeutung. Die ASR A3.5 konkretisiert im Rahmen des Anwendungsbereichs

die Anforderungen der Verordnung über

Arbeitsstätten. Bei ihrer Einhaltung ist davon auszugehen,

dass der Arbeitgeber die Anforderungen der ArbStättV erfüllt.

Das bedeutet aber nicht, dass es den Betriebsparteien verboten

wäre, vom technischen Regelwerk abzuweichen, sofern

durch andere Maßnahmen die gleiche Sicherheit und der gleiche

Gesundheitsschutz erreicht werden. Auch der Arbeitgeber

kann eine andere Lösung wählen. Er muss damit mindestens

die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz für

9


die Beschäftigten unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts

des Betriebsrats erreichen.

R.W.: Für mich verbleibt noch die Frage, ob der Betriebsrat erst dann

sein Mitbestimmungsrecht reklamieren kann, wenn das Kind in den

Brunnen gefallen ist, sprich die Raumtemperatur ein unerträgliches Maß

erreicht hat. Nach der ASR A3.5 soll die Lufttemperatur in Arbeitsräumen

im übrigen +26 °C nicht überschreiten

RA.W.: Das wurde von Arbeitgebern und ihren Vertretern natürlich behauptet.

Das BAG hat aber klargestellt 2 : Beruft sich der Betriebsrat auf

die Mitbestimmung nach § 3a Abs 1 S 1 ArbStättV setzt das nicht voraus,

dass eine konkrete Gefahrenlage vorliegt, also eine konkrete

Gesundheitsgefahr akut besteht. Ausreichend aber auch notwendig ist

das Vorliegen oder die Feststellung einer konkreten Gefährdung i.S.v. § 3

ArbStättV 2004 i.V.m. § 5 ArbSchG.

R.W.: Wie kommen die Betriebsräte zu einer solchen notwendigen Feststellung?

RA.W.: Dazu dient das Instrument der Gefährdungsbeurteilung. Damit

ein Arbeitgeber verpflichtet werden kann, Maßnahmen des Gesundheitsschutzes

zu treffen, ist zu ermitteln, welche Maßnahmen überhaupt in

Betracht kommen. Das hat zur Folge, dass als erstes eine Gefährdungsbeurteilung

durchzuführen ist.

R.W.: Was ist eine Gefährdungsbeurteilung?

RA.W.: Die Gefährdungsbeurteilung ist in § 5 ArbSchG geregelt, der

wie folgt lautet:

2 Beschluss vom 28. März 2017 – 1 ABR 25/15

10


§ 5 Beurteilung der Arbeitsbedingungen

(1) Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten

mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln,

welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich

sind.

(2) Der Arbeitgeber hat die Beurteilung je nach Art der Tätigkeiten

vorzunehmen. Bei gleichartigen Arbeitsbedingungen ist die Beurteilung

eines Arbeitsplatzes oder einer Tätigkeit ausreichend.

(3) Eine Gefährdung kann sich insbesondere ergeben durch

1. die Gestaltung und die Einrichtung der Arbeitsstätte und

des Arbeitsplatzes,

2. physikalische, chemische und biologische Einwirkungen,

3. die Gestaltung, die Auswahl und den Einsatz von Arbeitsmitteln,

insbesondere von Arbeitsstoffen, Maschinen, Geräten

und Anlagen sowie den Umgang damit,

4. die Gestaltung von Arbeits- und Fertigungsverfahren,

Arbeitsabläufen und Arbeitszeit und deren Zusammenwirken,

5. unzureichende Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten,

6. psychische Belastungen bei der Arbeit.

Es ist also bestimmt, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, die für die

Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren zu ermitteln. Wichtig

ist für die Betriebsräte, dass sie bei der Gefährdungsbeurteilung das

Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs.1 Nr.7 BetrVG haben. Das Bundesarbeitsgericht

hat betont, dass die Gefährdungsbeurteilung ein zentrales

Element des Gesundheitsschutzes und notwendige Voraussetzung für

die betriebliche Umsetzung der Arbeitsschutzpflichten des Arbeitgebers

ist.

11


R.W.: Die Betriebsparteien haben also eine Vereinbarung über die

Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung zu schließen. Was ist,

wenn sie sich nicht einigen?

RA W.: Da die Vereinbarung einer Gefährdungsbeurteilung der erzwingbaren

Mitbestimmung unterliegt, hat gemäß § 87 Abs. 2 BetrVG

die Einigungsstelle zu entscheiden. Es ist aber wie bei jeder anderen

Einigungsstelle auch zu beachten, dass die regelungsbedürftige Angelegenheit

im Rahmen der gestellten Anträge vollständig gelöst wird.

Ein Einigungsstellenspruch ist demzufolge unwirksam, wenn die

Einigungsstelle ihrem Regelungsauftrag nicht ausreichend nachkommt

und keine abschließende Regelung trifft. 3

R.W: Abschließend zu diesem Thema noch eine Frage. Kann denn der

einzelne Arbeitnehmer die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung

verlangen?

RA W.: Ganz kurz. Ja. 4 Der einzelne Arbeitnehmer kann allerdings nicht

verlangen, dass die Gefährdungsbeurteilung nach bestimmten von ihm

vorgegebenen Kriterien durchgeführt wird. Wir haben gelernt, dass § 5

Abs 1 ArbSchG nicht in erster Linie dazu dient, unmittelbare Gesundheitsgefahren

zu verhüten. Durch die Gefährdungsbeurteilung werden

vielmehr im Vorfeld Gefährdungen ermittelt, denen ggf. durch entsprechende

Maßnahmen zu begegnen ist. Dem Arbeitgeber wird bei der

Auswahl der Maßnamen für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung

ein Spielraum eingeräumt.

3 Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 ABR 72/12

4 BAG, Urteil vom 12. August 2008 – 9 AZR 1117/06

12

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