ALfA e.V. Magazin – LebensForum | 114 2/2015
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Nr. <strong>114</strong> | 2. Quartal <strong>2015</strong> | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,<strong>–</strong> E B 42890<br />
LEBENSFORUM<br />
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />
Medizin<br />
»Pille danach«<br />
Täuschung möglich<br />
Medizin<br />
Offener Brief<br />
an den Ethikrat<br />
Kontrovers<br />
Mit Kreuzen für den<br />
Lebensschutz werben?<br />
Beihilfe zum Suizid<br />
Sterbehimmel<br />
über Berlin<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 1<br />
In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)
I N H A LT<br />
LEBENSFORUM <strong>114</strong><br />
EDITORIAL<br />
Der Tod ist keine Therapie 3<br />
Dr. med. Claudia Kaminski<br />
TITEL<br />
Sterbehimmel über Berlin 4<br />
Stefan Rehder<br />
Anstiftung zum Suizid 10<br />
Stefan Rehder<br />
4 - 9<br />
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />
BIOETHIK-SPLITTER 12<br />
AUSLAND<br />
Kinder sind keine iPhones 14<br />
Dr. med. vet. Edith Breburda<br />
MEDIZIN<br />
Plötzlicher Stoffwechsel? 17<br />
Alexandra Maria Linder<br />
Der Hirntote ist ein Lebender 20<br />
Anton Graf von Wengersky<br />
KONTROVERS<br />
Wofür steht das Kreuz? 24<br />
Andreas Kuhlmann<br />
GESELLSCHAFT<br />
»Frauen verdienen Besseres« 26<br />
Alexandra Maria Linder<br />
DANIEL RENNEN<br />
Die Entwürfe zur rechtlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid liegen auf dem Tisch.<br />
Im November will der Bundestag entscheiden. Zur Wahl stehen je zwei Varianten eines<br />
Verbots sowie der Einführung des ärztlich assistierten Suizids.<br />
17 -19<br />
Achtung Täuschungsversuch:<br />
Warum die »Pille danach«<br />
entgegen so mancher<br />
Behauptung wohl doch eine<br />
frühabtreibende Wirkung<br />
besitzt.<br />
BÜCHERFORUM 30<br />
KURZ VOR SCHLUSS 32<br />
LESERBRIEFE 34<br />
IMPRESSUM 35<br />
LETZTE SEITE 36<br />
Sie haben Post, Frau Professor<br />
Woopen! Ein Offener Brief an die<br />
Vorsitzende des Deutschen<br />
Ethikrats anlässlich der Stellungnahme<br />
des Gremiums zu Hirntod<br />
und Organspende.<br />
20 - 23<br />
DANIEL RENNEN<br />
2<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
E D I T O R I A L<br />
24 - 25<br />
Gewissenserforschung: Ist es wirklich richtig,<br />
dass Lebensrechtler mit Kreuzen gegen<br />
Abtreibung demonstrieren?<br />
27 - 29<br />
Warum im als liberal geltenden Schweden Feministinnen<br />
gegen die Leihmutterschaft mobil<br />
machen.<br />
Der Tod ist<br />
keine Therapie<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
wenn Sie diese Ausgabe von »Lebens-<br />
Forum« in den Händen halten, werden<br />
alle Entwürfe, mit denen die Abgeordneten<br />
des Deutschen Bundestags die Beihilfe<br />
zur Selbsttötung in Deutschland rechtlich<br />
neu regeln wollen, ausformuliert auf<br />
dem Tisch liegen. Derzeit ist hierzulande<br />
sowohl der Suizid als auch die Beihilfe<br />
dazu straffrei.<br />
Ich lade Sie alle ein, das Gesetzgebungsverfahren<br />
bis zur Entscheidung<br />
des Parlaments im November aufmerksam<br />
zu verfolgen und sich, wo immer<br />
möglich, auch selbst in die Debatte einzubringen.<br />
In Gesprächen in der Familie,<br />
mit Freunden, am Arbeitsplatz,<br />
mit Beiträgen in den sozialen<br />
Netzwerken. Alle, die sich da-<br />
rüber hinaus vorstellen können,<br />
ihrem Wahlkreisabgeordneten<br />
zu schreiben oder einen<br />
Leserbrief an die Redaktion<br />
ihrer Heimatzeitung zu schicken,<br />
rufe ich zu: Tun Sie das! Selbst wenn<br />
ein Leserbrief nicht abgedruckt und ein<br />
Brief unbeantwortet bleiben sollte, seien<br />
Sie sicher, alle werden registriert und<br />
verfehlen ihre Wirkung nicht.<br />
Vor allem aber: Kommen Sie am 19.<br />
September nach Berlin. Nehmen Sie teil<br />
am »Marsch für das Leben« und zeigen<br />
Sie durch Ihre Präsenz, dass Sie in einem<br />
Land zu leben wünschen, das das Leben<br />
seiner schwächsten Bürger schützt.<br />
Das Leben derer, die <strong>–</strong> wie die ungeborenen<br />
Kinder im Mutterleib <strong>–</strong> noch keine<br />
Stimme haben, und das Leben derer,<br />
die <strong>–</strong> wie die alten und kranken Menschen<br />
<strong>–</strong> sich selbst nicht mehr lautstark artikulieren<br />
können. Sollten Sie selbst verhindert<br />
sein, können Sie ein Zeichen setzen,<br />
indem Sie von unserer Aktion »Geh Du<br />
für mich« Gebrauch machen. Mehr Informationen<br />
dazu finden Sie auf Seite 16.<br />
Bundestagspräsident Norbert Lammert<br />
(CDU) hat die Neuregelung der Suizidhilfe<br />
»das vielleicht anspruchsvollste<br />
Gesetzgebungsverfahren der gesamten<br />
Legislaturperiode« genannt. Und damit<br />
könnte er Recht haben. Die größte Gefahr<br />
»Es gibt kein<br />
gutes Töten«<br />
droht dem Lebensrecht<br />
hier gegenwärtig<br />
von zwei Entwürfen.<br />
Sie gehen zwar<br />
unterschiedlich weit,<br />
gemeinsam ist ihnen<br />
jedoch, dass sie den<br />
ärztlich assistierten<br />
Suizid in Deutschland<br />
salonfähig machen<br />
und das ärztliche<br />
Standesrecht<br />
aushebeln würden,<br />
das dem bislang entgegensteht.<br />
Das muss unbedingt verhindert werden.<br />
Denn der Tod ist keine Therapie<br />
des Lebens. Die Erfahrungen in den<br />
Niederlanden und Belgien zeigen, dass<br />
wenn Ärzte erst einmal die Last des Tötens<br />
schultern, auch das gesellschaftliche<br />
Bewusstsein dafür schwindet, dass es kein<br />
gutes Töten gibt.<br />
Wenn wir eine humane Gesellschaft<br />
bleiben wollen, dann dürfen wir nicht<br />
zulassen, dass alte und kranke<br />
Menschen anfangen zu überlegen,<br />
ob sie sich anderen noch<br />
»zumuten« dürfen oder ob es<br />
nicht an der Zeit wäre, aus dem<br />
Leben zu scheiden.<br />
Wo dies auch nur gedacht<br />
wird, hat die Menschlichkeit bereits eine<br />
furchtbare Niederlage erlitten. Die<br />
Suizidpräventionsforschung lehrt, dass<br />
Menschen, die vorgeben, sich das Leben<br />
nehmen zu wollen, ganz überwiegend<br />
gar nicht sterben wollen. Sie wollen<br />
lediglich nicht so weiterleben müssen<br />
wie bisher. Mit dem Ausbau der Palliativmedizin<br />
und der Stärkung der Hospizkultur,<br />
mit menschlicher Zuwendung<br />
und der Linderung von Schmerzen kann<br />
ihnen dieser Wunsch heute besser erfüllt<br />
werden als jemals zuvor in der Geschichte<br />
der Menschheit.<br />
Suizid ist ansteckend. Wer verhindern<br />
will, dass sich unsere Gesellschaft<br />
mit diesem Virus infiziert, der muss als<br />
Erstes verhindern, dass Ärzte zu seinen<br />
Überträgern werden.<br />
Eine erhellende Lektüre wünscht<br />
Ihre<br />
Claudia Kaminski<br />
Bundesvorsitzende der <strong>ALfA</strong><br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 3
T I T E L<br />
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />
Sterbehimmel<br />
über Berlin<br />
Am 3. Juli wird der Deutsche Bundestag in Erster Lesung mehrere interfraktionelle Gesetzentwürfe<br />
zur rechtlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid in Deutschland beraten. Bis zum Redaktionsschluss<br />
dieser Ausgabe lagen drei der vier zu erwartenden Gesetzentwürfe vor. Eine Analyse.<br />
Von Stefan Rehder<br />
Bis November wird noch viel Wasser<br />
die Spree hinunterfließen. Erst<br />
dann wollen die Abgeordneten des<br />
Deutschen Bundestags abschließend über<br />
die Neuregelung der Beihilfe zur Selbsttötung<br />
in Deutschland befinden. Bleibt<br />
es bei den sich bislang abzeichnenden<br />
Mehrheitsverhältnissen im Parlament,<br />
dann werden Lebensrechtler, wenn auch<br />
4<br />
keinen Grund zum ausgelassenen Feiern,<br />
so aber doch zur stillen Freude haben.<br />
Denn der Gesetzentwurf, der derzeit<br />
die größten Aussichten hat, im Bundestag<br />
auch eine Mehrheit zu finden, würde<br />
zwar weder den Suizid noch die Beihilfe<br />
dazu grundsätzlich verbieten. Verglichen<br />
mit der derzeit geltenden Regelung<br />
verspricht er jedoch ein tatsächliches<br />
Mehr an Lebensschutz. Und wer<br />
aufmerksam die Debatte um die rechtliche<br />
Neuregelung der Suizidhilfe verfolgt<br />
hat, die schon die schwarz-gelbe Vorgängerregierung<br />
beschäftigte, der weiß auch,<br />
dass eine derartige Perspektive lange Zeit<br />
als ausgeschlossen galt.<br />
Damals konnten hellwache Lebensrechtler<br />
gerade noch rechtzeitig verhin-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
dern, dass ein von der damaligen Bundesjustizministerin<br />
Sabine Leutheusser-<br />
Schnarrenberger (FDP) im Auftrag des<br />
Koalitionsausschusses erarbeiteter und<br />
in Windeseile durch das Parlament gepeitschter<br />
Gesetzentwurf, der lediglich die<br />
gewerbsmäßige Suizidhilfe verboten, zugleich<br />
aber alle anderen Formen der organisierten<br />
Beihilfe zur Selbsttötung aufgewertet<br />
hätte, zur Zweiten und Dritten<br />
Lesung kam, weshalb er nach der Wahl<br />
der Diskontinuität verfiel. Heute erzählt<br />
man sich in Berlin, Bundeskanzlerin Angela<br />
Merkel (CDU) habe im Wahljahr keine<br />
konservativen Wähler verärgern wollen<br />
und nach öffentlichen Protesten der<br />
Lebensrechtler den Gesetzentwurf der<br />
CHRISTLICHES MEDIENMAGAZIN PRO<br />
Doch diese Hoffnung währte nicht<br />
lange. Nachdem vier Hochschullehrer im<br />
August vergangenen Jahres einen Gesetzentwurf<br />
vorstellten, der den ärztlich assistierten<br />
Suizid zwar pro forma verbieten<br />
würde, ihn unter bestimmten Voraussetzungen<br />
jedoch als Ausnahme legalisiert<br />
und ihn damit zu einer ernstzunehmenden<br />
Option im Gesundheitswesen machen<br />
würde, wandelte sich die Stimmung im<br />
CDU/CSU<br />
WWW.SPDFRAKTION.DE (SUSIE KNOLL - FLORIAN JÄNICKE)<br />
Hermann Gröhe, CDU<br />
schwarz-gelben Bundesregierung deshalb<br />
von der Tagesordnung des Parlaments<br />
streichen lassen.<br />
Als Bundesgesundheitsminister Hermann<br />
Gröhe (CDU), ein bekennender<br />
Protestant, Anfang vergangenen Jahres<br />
das Thema erneut auf die Agenda setzte<br />
und durchblicken ließ, dass er sich eine<br />
Regelung wünsche, die jede Form der organisierten<br />
Suizidhilfe verbiete, konnten<br />
Ȁrzte sollen Hilfe beim, aber<br />
nicht zum Sterben leisten«<br />
Lebensrechtler für eine Weile die Hoffnung<br />
hegen, dass die Große Koalition<br />
endlich Suizidhilfevereinen sowie Personen,<br />
die in Sachen Tod auf eigene Faust<br />
durch die Republik reisten, endlich das<br />
Handwerk legen würde.<br />
Peter Hintze, CDU<br />
Kerstin Griese, SPD<br />
»Geschäftsmäßig: Handlungen, die<br />
auf Wiederholung angelegt sind«<br />
Land. Als dann auch noch eine Gruppe<br />
von Abgeordneten um Bundestagsvizepräsident<br />
Peter Hintze (CDU) und den<br />
SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach<br />
einen Gesetzentwurf ankündigte,<br />
der in dieselbe Richtung zielte, war es<br />
geschehen: Fast über Nacht war mit tatkräftiger<br />
Hilfe vieler Medien, die mehrheitlich<br />
auf Seiten derer stehen, welche<br />
die Selbsttötung nicht so sehr als eine<br />
furchtbare Verzweiflungstat begreifen,<br />
sondern als einen Akt der Selbstbestimmung<br />
missverstehen, aus der Debatte<br />
über ein Verbot von Suizidhilfevereinen<br />
eine über die Legalisierung des ärztlich<br />
assistierten Suizids geworden.<br />
Dass sich der bioethische Himmel über<br />
Berlin derzeit deutlich freundlicher ausnimmt,<br />
ist sicher nicht zuletzt der unermüdlichen<br />
Arbeit so vieler Lebensrechtler<br />
zu verdanken, die sich als Ideengeber,<br />
Mahner und Wächter <strong>–</strong> ebenso wie ihre<br />
Gegner auf der anderen Seite <strong>–</strong> in den<br />
politischen Willensbildungsprozess einbringen.<br />
Seine Wirkung nicht verfehlt<br />
hat aber auch der gemeinsame Presseauftritt<br />
des Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
Frank Ulrich Montgomery und<br />
der Präsidenten der Landesärztekammern<br />
Anfang Dezember in Berlin. Dabei<br />
stellten die gewählten Vertreter der<br />
Ärzteschaft übereinstimmend klar: »Für<br />
alle Ärztinnen und Ärzte in Deutschland<br />
gilt: Sie sollen Hilfe beim Sterben leisten,<br />
aber nicht Hilfe zum Sterben.« Weiter<br />
hieß es: »Diese Grundaussage« werde<br />
auch durch die teils länderspezifischen<br />
Formulierungen des § 16 der ärztlichen<br />
Musterberufsordnung (MBO) »nicht in<br />
Frage gestellt«.<br />
Der Gesetzentwurf, der derzeit die<br />
größte Aussicht auf eine Mehrheit im<br />
Parlament besitzt, trägt den Titel »Entwurf<br />
eines Gesetzes zur Strafbarkeit der<br />
geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung«<br />
und wurde von den Unionsabgeordneten<br />
Michael Brand (CDU) und<br />
Michael Frieser (CSU) gemeinsam mit<br />
Kerstin Griese und Eva Högl (beide<br />
SPD), Elisabeth Scharfenberg und Harald<br />
Terpe (beide Bündnis 90/Die Grünen)<br />
sowie Halina Wawzyniak und Kathrin<br />
Vogler (beide Die Linke) und weiteren<br />
Abgeordneten ausgearbeitet. Er<br />
würde die derzeit geltende gesetzliche<br />
Regelung um ein strafrechtliches Verbot<br />
der sogenannten »geschäftsmäßigen«<br />
Suizidhilfe erweitern. Als »geschäftsmäßig«<br />
betrachten die Abgeordneten darin<br />
»auf Wiederholung angelegte Handlungen«,<br />
die »kommerziell orientiert« sein<br />
können, aber nicht müssen.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 5
T I T E L<br />
Mit dieser Definition soll sichergestellt<br />
werden, dass von dem Verbot auch solche<br />
Vereine erfasst werden, die mit der<br />
von ihnen angebotenen Suizidhilfe keine<br />
Gewinne erzielen oder solche verschleiern.<br />
Wie es in der »Begründung/Allgemeiner<br />
Teil« des Gesetzentwurfes heißt,<br />
halten die Unterzeichner des Entwurfs ein<br />
vollständiges strafrechtliches Verbot der<br />
Beihilfe zum Suizid, wie es etwa in anderen<br />
europäischen Staaten besteht, unter<br />
Strafe zu stellen, da sie sich nicht gegen<br />
einen anderen Menschen richtet und der<br />
freiheitliche Rechtsstaat keine allgemeine,<br />
erzwingbare Rechtspflicht zum Leben<br />
kennt.« Dementsprechend seien auch der<br />
»Suizidversuch oder die Teilnahme an einem<br />
Suizid(versuch) straffrei«.<br />
»Dieses Regelungskonzept« hat sich<br />
nach Ansicht der Autoren des Entwurfs<br />
bewährt. Deshalb solle auch »die prinzipielle<br />
Straflosigkeit des Suizids und der<br />
WWW.MICHAEL-FRIESER.DE<br />
Teilnahme daran« nicht infrage gestellt<br />
werden. Eine »Korrektur« sei aber »dort<br />
erforderlich, wo geschäftsmäßige Angebote<br />
die Suizidhilfe als normale Behandlungsoption<br />
erscheinen lassen und Menschen<br />
dazu verleiten können, sich das Leben<br />
zu nehmen«.<br />
Ziel sei es, »die Entwicklung der Beihilfe<br />
zum Suizid (assistierter Suizid) zu einem<br />
Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen<br />
Versorgung zu verhindern«.<br />
Begründet wird dieses damit, dass durch<br />
die durch »Vereine sowie einschlägig bekannte<br />
Einzelpersonen« wachsende Zahl<br />
der Fälle, in denen Suizidhilfe geleistet<br />
werde, ein »Gewöhnungseffekt« an »solche<br />
organisierten Formen des assistierten<br />
Suizids« drohe. »Insbesondere alte und/<br />
oder kranke Menschen können sich dadurch<br />
zu einem assistierten Suizid verleiten<br />
lassen oder gar direkt oder indirekt<br />
gedrängt fühlen, die ohne die Verfügbarkeit<br />
solcher Angebote eine solche<br />
Entscheidung nicht erwägen, geschweige<br />
denn treffen würden.« Daher müsse<br />
solchen »geschäftsmäßigen« Handlungen<br />
»zum Schutz der Selbstbestimmung<br />
und des Grundrechts auf Leben«<br />
auch mit den »Mitteln des Strafrechts«<br />
entgegengewirkt werden.<br />
ANDREA DAMM/PIXELIO.DE<br />
Michael Frieser, CSU<br />
Im November wird der Bundestag über die Neuregelung der Suizidhilfe entscheiden<br />
»Aufbau eines flächendeckenden<br />
Angebots an Hospizleistungen«<br />
rechtssystematischen Gesichtspunkten<br />
für »problematisch«.<br />
Tatsächlich vertritt eine Mehrheit der<br />
Juristen die Auffassung, dass die Beihilfe<br />
zu einer Tat, die selbst straflos ist, nicht<br />
mit Strafe bewehrt werden könne. Wie es<br />
in der Begründung weiter heißt, stelle ein<br />
»vollständiges strafrechtliches Verbot der<br />
Beihilfe zum Suizid« zudem in der »Abwägung<br />
unterschiedlicher ethischer Prämissen«<br />
einen ȟberscharfen Eingriff in<br />
die Selbstbestimmung von Sterbewilligen«<br />
dar. Wohl deswegen heißt es einleitend<br />
zu dem Gesetzentwurf auch: »Das deutsche<br />
Rechtssystem verzichtet darauf, die<br />
eigenverantwortliche Selbsttötung unter<br />
6<br />
Rechtlich geregelt werden soll dies<br />
nach den Vorstellungen der Abgeordnetengruppe<br />
um Michael Brand im Strafgesetzbuch<br />
(StGB) in einem neuen Paragrafen<br />
217, der nur zwei Absätze enthält.<br />
Absatz 1 lautet: »Wer in der Absicht,<br />
die Selbsttötung eines anderen zu<br />
fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig<br />
die Gelegenheit gewährt, verschafft oder<br />
vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu<br />
drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«<br />
Absatz 2 schränkt diesen neuen Straftatbestand<br />
dann insofern ein, als er formuliert:<br />
»Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer<br />
»Jedem die Hilfe zukommen<br />
lassen, die er benötigt«<br />
selbst nicht geschäftsmäßig handelt und<br />
entweder Angehöriger des in Absatz 1<br />
genannten anderen ist oder diesem nahesteht.«<br />
Vom Tisch ist demnach eine im ursprünglichen<br />
Positionspapier von Brand,<br />
Frieser und anderen erwogene Änderung<br />
des Betäubungsmittelgesetzes. Ethiker<br />
wie der Mannheimer Arzt und Medizinhistoriker<br />
Axel W. Bauer und verschiedene<br />
Lebensrechtler hatten öffentlich die<br />
Befürchtung geäußert, dass dadurch der<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
»Giftschrank« geöffnet würde. Manche<br />
hatten Brand und seinen Mitstreitern sogar<br />
unterstellt, auf diese Weise den ärztlich<br />
assistierten Suizid durch die »Hintertür«<br />
einführen zu wollen. Davon kann<br />
nun keine Rede mehr sein.<br />
Ob der Gesetzentwurf aber auch geeignet<br />
ist, alle die mit ihm anvisierten Ziele<br />
zu erreichen, wird vermutlich jedoch<br />
erst die Praxis erweisen können. Dies gilt<br />
umso mehr, als die Frage, wie drängend<br />
der »Wunsch« von Menschen wird, sich<br />
das Leben zu nehmen und sich dabei von<br />
anderen zur Hand gehen zu lassen, nicht<br />
zuletzt auch davon abhängen wird, wie gut<br />
Suizidpräventionsprogramme greifen und<br />
FDP<br />
Auch Hospize sollen besser ausgestattet<br />
werden. Gröhe will, dass jeder »schwerstkranke<br />
Mensch« die »Hilfe und die Unterstützung«<br />
bekommt, »die er oder sie<br />
in der letzten Lebensphase wünscht und<br />
benötigt«. Gröhes Ministerium verspricht<br />
dazu zusätzliche Ausgaben in Höhe von<br />
mehreren 100 Millionen Euro pro Jahr<br />
tätigen zu wollen.<br />
Die Chancen, dass der von Brand,<br />
Frieser und ihren Mitstreitern vorgelegte<br />
CDU<br />
»Der Leidende will ein Ende<br />
des Leidens, nicht des Lebens«<br />
TOBIAS KOCH<br />
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP<br />
wie es zukünftig um die palliative und hospizliche<br />
Versorgung von Schwerstkranken<br />
und Sterbenden in Deutschland bestellt<br />
sein wird. Anders formuliert: Wer<br />
strafrechtlich derart minimal-invasiv zu<br />
Werke geht, der muss, wenn er in einer<br />
Gesellschaft Erfolg haben will, die den<br />
Suizid fälschlicherweise in weiten Teilen<br />
immer noch als »Freitod« glorifiziert, an<br />
anderer Stelle klotzen.<br />
Man darf also durchaus gespannt sein,<br />
ob das von Bundesgesundheitsminister<br />
Gröhe bereits vorgestellte »Gesetz zur<br />
Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung<br />
in Deutschland« diesen Anforderungen<br />
genügen wird. Ziel ist nicht<br />
weniger als der Aufbau eines »flächendeckenden<br />
Angebots an Palliativ- und Hospizleistungen<br />
in Deutschland«. Mit dem<br />
Gesetz soll »die Palliativversorgung und<br />
die Hospizkultur an allen Orten, an denen<br />
Menschen ihre letzte Lebensphase<br />
verbringen«, gestärkt werden: Zu Hause,<br />
in Pflegeheimen und Krankenhäusern.<br />
Volker Kauder, CDU<br />
Entwurf sich am Ende im Bundesgesetzblatt<br />
wiederfinden wird und dann zeigen<br />
muss, ob er auch zu halten vermag, was er<br />
verspricht, sind aber auch deshalb relativ<br />
hoch, weil er in der vorliegenden Form<br />
eine Synthese ursprünglich konkurrierender<br />
Gesetzesvorhaben darstellt. Mit<br />
ihm sind <strong>–</strong> aus Sicht der Unionsabgeordneten<br />
Brand und Frieser, zu denen sich<br />
auch Unionsfraktionschef Volker Kauder<br />
und Bundesgesundheitsminister Hermann<br />
Gröhe gesellt haben <strong>–</strong> die früheren Positionspapiere<br />
der SPD-Bundestagsabgeordneten<br />
Griese und Högl sowie der beiden<br />
grünen Parlamentarier Scharfenberg und<br />
Terpe, die große Schnittmengen mit den<br />
»Beim Suizid strebt der Gehilfe den<br />
Tötungserfolg eines anderen an«<br />
Michael Brand, CDU<br />
Eckpunkten von Brand, Frieser und ihren<br />
Mitstreitern aufwiesen, nun Makulatur.<br />
Natürlich kann man sich auf den Standpunkt<br />
stellen, dass damit der Staat seiner<br />
Pflicht, das Leben seiner Bürger zu schützen,<br />
letztlich nicht im erforderlichen Umfang<br />
nachkomme. Aber wer im vergangenen<br />
Herbst die sogenannte Orientierungsdebatte<br />
im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes<br />
verfolgen konnte, der weiß<br />
auch, dass es damals zwar eine gefühlte<br />
Mehrheit für ein Verbot von Suizidhilfevereinen<br />
gab, nicht aber eine für ein<br />
generelles Verbot jedweder Suizidhilfe.<br />
Daran hat sich dem Vernehmen nach bis<br />
heute nichts geändert.<br />
Selbstverständlich bieten Mehrheiten<br />
keine Gewähr dafür, dass ein Problem<br />
zufriedenstellend gelöst wird. Dass<br />
ein Lösungsansatz von einer Mehrheit favorisiert<br />
wird, heißt weder, dass er richtig<br />
noch dass er zielführend ist. Lebensrechtler<br />
tun daher gut daran, einem weiteren<br />
Gesetzentwurf Beachtung zu schenken,<br />
auch wenn dieser <strong>–</strong> aus heutiger Sicht <strong>–</strong><br />
keinerlei Chance auf eine Mehrheit besitzt<br />
und derzeit nicht einmal klar ist, ob<br />
er ausreichend Unterzeichner findet, um<br />
ins Parlament eingebracht und zur Abstimmung<br />
gestellt werden zu können.<br />
Der von den beiden CDU-Abgeordneten<br />
Patrick Sensburg und Thomas Dörflinger<br />
initiierte Gesetzentwurf will ähnlich,<br />
wie dies etwa in Österreich, Italien,<br />
England und Wales, Irland, Portugal,<br />
Spanien und Polen der Fall ist, die<br />
Beihilfe zum Suizid grundsätzlich ver-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 7
T I T E L<br />
bieten. Laut dem Entwurf, der den Titel<br />
»Strafbarkeit der Teilnahme an der<br />
Selbsttötung« trägt, soll der neue Paragraf<br />
217 StGB, Absatz 1 lauten: »Wer einen<br />
anderen dazu anstiftet, sich selbst zu<br />
töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, wird<br />
mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.«<br />
Absatz 2 sieht vor, dass bereits der<br />
Versuch strafbar ist. Begründet wird der<br />
Gesetzentwurf vor allem damit, dass der<br />
»Gehilfe einer Selbsttötung« mit seiner<br />
Hilfe nicht nur die »Wertentscheidung<br />
des Suizidenten« billige, sondern »auch<br />
selbst den Tötungserfolg« anstrebe. »Dabei<br />
urteilt er aus der Lebenssituation eines<br />
die Suizidpräventionsforschung in Frage<br />
stellt, dass es so etwas wie einen »freiverantwortlich«<br />
gewollten Suizid überhaupt<br />
SVEN TESCHKE<br />
ARNE LIST<br />
Der dritte Gesetzentwurf wurde am 11.<br />
Juni von einer Gruppe von Abgeordneten<br />
um die ehemalige Verbraucherministerin<br />
Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen)<br />
und die Parlamentarische Geschäftsführerin<br />
der Partei »Die Linke«, Petra Sitte,<br />
öffentlich vorgestellt und würde das<br />
geltende ärztliche Berufsrecht aushebeln.<br />
Zwar sieht Paragraf 6 (Ärzte als Helfer<br />
zur Selbsttötung) des »Entwurfs eines<br />
CLAUDIA KETELS<br />
Frank Ulrich Montgomery<br />
»Die Hilfe zur Selbsttötung kann<br />
eine ärztliche Aufgabe sein«<br />
Gesunden und nicht des Kranken, dessen<br />
Äußerung sterben zu wollen« allzu<br />
oft nur »ein Hilferuf« sei. Dabei vergesse<br />
der Gehilfe, »dass der Leidende ein Ende<br />
der Leiden will, nicht aber ein Ende<br />
des Lebens«. Der Gesetzgeber dürfte, so<br />
Sensburg und Dörflinger in ihrem Entwurf,<br />
»nicht zulassen, dass das Leben eines<br />
Kranken, Schwachen, Alten oder Behinderten<br />
als lebensunwert angesehen«<br />
werde. Und zwar weder von ihm selbst<br />
noch von Dritten.<br />
Dieser Gesetzentwurf deckt sich mit<br />
den Ergebnissen und Erfahrungen, welche<br />
sowohl die Suizidpräventionsforschung<br />
als auch die Palliativmedizin und Hospizarbeit<br />
zutage gefördert haben. Während<br />
8<br />
Petra Sitte, Die Linke<br />
gibt, und Studien überzeugend aufzeigen,<br />
dass die Mehrzahl der Suizide zumindest<br />
mit psychischen Krankheitsbildern korreliert,<br />
welche die Fähigkeit, eine Entscheidung<br />
zu treffen, die frei genannt werden<br />
kann, massiv einschränken oder gar verunmöglichen,<br />
berichten Palliativmediziner<br />
und Hospizler immer wieder, dass<br />
Patienten, die äußern, sterben zu wollen,<br />
diesen »Wunsch« regelmäßig dann aufgeben,<br />
wenn ihnen Ärzte und Pfleger erklären,<br />
welche Möglichkeiten die moderne<br />
Medizin heute besitzt, um etwa Atemnot<br />
zu lindern und Schmerzen zu stillen.<br />
Darüber hinaus böte ein umfassendes<br />
Verbot der Beihilfe zum Suizid Vorteile,<br />
die zumindest von denen bedacht werden<br />
sollten, die der auch in Deutschland inzwischen<br />
von vielen geforderten »Tötung<br />
auf Verlangen« wehren wollen. Denn ist<br />
der »Sterbewillige« erst einmal tot, lässt<br />
sich in der Regel nicht mehr zweifelsfrei<br />
ermitteln, ob der Gehilfe zum Täter<br />
mutierte und nun »Tötung auf Verlangen«<br />
oder doch »lediglich« Beihilfe<br />
zu einem Suizid leistete. Die Frage, wer<br />
zum Zeitpunkt des Todes die »Tatherrschaft«<br />
innehatte, mag rechtspolitisch<br />
und ethisch noch so bedeutsam sein, faktisch<br />
ist sie in doppelter Hinsicht irrelevant.<br />
Denn wenn die »Unternehmung«<br />
von »Erfolg gekrönt« war, ist nicht nur<br />
das Ergebnis dasselbe, sondern auch die<br />
Justiz auf »Treu und Glauben« den Angaben<br />
des Gehilfen oder eben des Täters<br />
ausgeliefert.<br />
Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen<br />
Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe<br />
zu Selbsttötung« in Absatz 1 vor: »Wer<br />
als Arzt von einem sterbewilligen Menschen<br />
um Hilfe zur Selbsttötung gebeten<br />
wird, hat nicht die Pflicht, dieser Bitte zu<br />
entsprechen.« Entgegen der MBO hält<br />
Absatz 2 dann aber fest: »Die Hilfe zur<br />
Selbsttötung kann eine ärztliche Aufgabe<br />
sein und darf Ärzten nicht untersagt<br />
»Entgegenstehende Regelungen<br />
sind unwirksam«<br />
werden. Dem entgegen stehende berufsständische<br />
Regelungen sind unwirksam.«<br />
In der Folge müsste in Deutschland kein<br />
Arzt mehr den Entzug der Approbation<br />
fürchten, sollte er sich bereitfinden, einem<br />
Patienten bei einem Suizidversuch<br />
zur Hand zu gehen.<br />
Auch die geschäftsmäßige Suizidhilfe<br />
will der Entwurf nicht verbieten, sondern<br />
bloß regeln. Allein die auf Dauer angelegte<br />
kommerzielle Suizidhilfe wollen<br />
die Abgeordneten um Künast und Sitte<br />
mit Strafe bedrohen. Paragraf 4, Absatz<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
1 (Gewerbsmäßige Hilfe zur Selbsttötung)<br />
sieht vor: »Wer Hilfe zur Selbsttötung<br />
mit der Absicht leistet, sich oder<br />
einem Dritten durch wiederholte Hilfehandlungen<br />
eine fortlaufende Einnahmequelle<br />
von einiger Dauer und einigem<br />
Umfang zu verschaffen (gewerbsmäßiges<br />
Handeln), wird mit Freiheitsstrafe<br />
bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe<br />
bestraft.«<br />
Paragraf 3 regelt sodann die Voraussetzung,<br />
unter denen die in Paragraf 2,<br />
Absatz 2 »grundsätzlich straflos« gestellte<br />
»Hilfe zur Selbsttötung« auch straffrei<br />
bleiben soll. Absatz 1 sieht vor, dass<br />
MK HOFFE<br />
WWW.SPDFRAKTION.DE<br />
lang unregulierten Tätigkeit von Sterbehilfevereinen<br />
hinaus.<br />
Ersteres ist auch das erklärte Ziel eines<br />
Gesetzentwurfes einer Gruppe von Abgeordneten<br />
um Bundestagsvizepräsident<br />
Peter Hintze (CDU) und den SPD-Gesundheitsexperten<br />
Karl Lauterbach. Dieser<br />
lag bei Redaktionsschluss noch nicht<br />
vor. Auch ihnen ist das ärztliche Standesrecht<br />
ein Dorn im Auge. Laut ihrem im<br />
Herbst vergangenen Jahres vorgestellten<br />
Positionspapier will diese Gruppe<br />
den ärztlich assistierten Suizid für Patienten<br />
legalisieren, die tödlich erkrankt<br />
sind und nach menschlichem Ermessen<br />
nicht mehr lange zu leben haben.<br />
Der Deutsche Bundestag wird also im<br />
Ergebnis über zwei Dinge zu entscheiden<br />
haben. Nämlich zunächst, ob er bei der Neuregelung<br />
des ärztlich assistieren Suizids für<br />
»Auch Hospize und Krankenhäuser<br />
sollen eine Beratung gewährleisten«<br />
Patrick Sensburg, CDU<br />
Beihilfe zum Suizid »nur dann geleistet<br />
werden darf, wenn der sterbewillige<br />
Mensch den Wunsch zur Selbsttötung<br />
freiverantwortlich gefasst und geäußert<br />
hat«. Vereine oder Ärzte, die in organisierter<br />
oder geschäftsmäßiger Form Hilfe<br />
zur Selbsttötung leisten, müssen sich<br />
gemäß Absatz 2 »aufgrund eines Beratungsgesprächs<br />
des Umstands vergewissert<br />
haben, dass der sterbewillige Mensch<br />
freiwillig, selbstbestimmt und nach reiflicher<br />
Überlegung die Hilfe zur Selbsttötung<br />
verlangt«. Absatz 3 schreibt vor,<br />
dass »zwischen dem Beratungsgespräch<br />
und der Hilfeleistung zur Selbsttötung«<br />
mindestens 14 Tage liegen müssen.<br />
Paragraf 7 bestimmt dann näher, was<br />
ein solches »Beratungsgespräch«, das zudem<br />
immer von einen Arzt geführt und<br />
schriftlich dokumentiert werden muss,<br />
beinhalten muss. Laut Absatz 1 muss es<br />
»umfassend« und »ergebnisoffen« sein,<br />
den Sterbewilligen über »seinen Zustand<br />
aufklären« und ihm »Möglichkeiten der<br />
Karl Lauterbach, SPD<br />
»Zwischen Beratungsgespräch und<br />
dem Suizid sollen 14 Tage liegen«<br />
medizinischen Behandlung und Alternativen<br />
zur Selbsttötung <strong>–</strong> insbesondere palliativmedizinische<br />
<strong>–</strong>« aufzeigen, »weitere<br />
Beratungsmöglichkeiten« empfehlen sowie<br />
»auf mögliche Folgen eines fehlgeschlagenen<br />
Selbsttötungsversuches« hinweisen.<br />
Absatz 2 schreibt ferner vor, dass<br />
»Hospize und Krankenhäuser« gewährleisten<br />
müssen, »dass eine sterbewillige<br />
Person unverzüglich durch einen Arzt<br />
gemäß Absatz 1 beraten wird«.<br />
Dies hätte aller Voraussicht nach zur<br />
Konsequenz, dass sich christliche Krankenhäuser<br />
und Hospize nicht länger konsequent<br />
dagegen wehren könnten, an<br />
Selbsttötungen mitzuwirken. Sie müssten<br />
in jedem Fall dulden, dass Ärzte auf<br />
ihrem Gelände Beratungen durchführen,<br />
deren Ergebnis ein, wo dann auch<br />
immer durchgeführter ärztlich assistierter<br />
Suizid sein könnte. Im Ergebnis liefe<br />
der Gesetzentwurf der Abgeordnetengruppe<br />
um Künast und Sitte daher auf<br />
die Legalisierung des ärztlich assistierten<br />
Suizids und die Regulierung der bis-<br />
mehr Lebensschutz sorgen will oder ob er<br />
stattdessen den ärztlich assistierten Suizid<br />
einführen will. Bei jeder dieser grundsätzlichen<br />
Entscheidungen hat er <strong>–</strong> sollte der<br />
Entwurf von Sensburg und Dörflinger ausreichend<br />
Erstunterzeichner finden <strong>–</strong> gewissermaßen<br />
dann noch die Wahl zwischen einer<br />
Maxi- und einer Mini-Variante. Sollte<br />
sich der Deutsche Bundestag im November<br />
tatsächlich für die Mini-Variante eines<br />
besseren Lebensschutzes entscheiden, wäre<br />
das Ende der Fahnenstange der berechtigten<br />
Wünsche von Lebensrechtlern zwar<br />
nicht erreicht. Doch wäre nicht nur die von<br />
vielen vehement geforderte Einführung des<br />
ärztlich assistierten Suizids fürs Erste gebannt,<br />
auch die geltende Rechtslage wäre<br />
deutlich verbessert worden.<br />
I M P O R T R A I T<br />
Stefan Rehder, M.A.<br />
Der Autor, geboren 1967, ist »Chef vom<br />
Dienst« der überregionalen, katholischen<br />
Tageszeitung »Die Tagespost«, Redaktionsleiter<br />
von »<strong>LebensForum</strong>«<br />
und<br />
Leiter der Rehder<br />
Medienagentur. Er<br />
studierte Geschichte,<br />
Germanistik<br />
und Philosophie<br />
an den Universitäten Köln und<br />
München und hat mehrere bioethische<br />
Bücher verfasst, darunter »Grauzone<br />
Hirntod. Organspende verantworten«<br />
und »Die Todesengel. Euthanasie auf<br />
dem Vormarsch.« Sankt Ulrich Verlag,<br />
Augsburg 2010 bzw. 2009. Stefan Rehder<br />
ist verheiratet und Vater von drei<br />
Kindern.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 9
T I T E L<br />
DANIEL RENNEN<br />
Anstiftung zum Suizid<br />
Mit »Hilfen am Lebensende« legt die Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung eine<br />
eigene Stellungnahme zur rechtlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid vor. Vor allem<br />
ein Vorschlag ist dazu angetan, die seit über einem Jahr andauernde Debatte zu bereichern. Ob die<br />
Abgeordneten des Deutschen Bundestags sie aufgreifen werden, ist allerdings alles andere als sicher.<br />
Von Stefan Rehder<br />
10<br />
Die Bioethik-Kommission der Bayerischen<br />
Staatsregierung (Bay-<br />
BEK) hat sich mit eigenen Empfehlungen<br />
in die bundesweite Debatte<br />
über eine gesetzliche Neuregelung der<br />
Beihilfe zum Suizid in Deutschland eingeschaltet.<br />
Die 96-seitige Stellungnahme<br />
der BayBEK, der auch der Augsburger<br />
Weihbischof Anton Losinger, die protestantische<br />
Regionalbischöfin im Kirchenkreis<br />
München und Oberbayern Susanne<br />
Breit-Keßler, der Präsident des Zentralrates<br />
der Juden in Deutschland Josef<br />
Schuster sowie der langjährige Vor- und<br />
jetzige Ehrenvorsitzende der Bundesvereinigung<br />
Lebenshilfe für Menschen mit<br />
geistiger Behinderung Robert Antretter<br />
angehören, trägt den Titel »Hilfen am<br />
Lebensende« und empfiehlt unter anderem<br />
zu prüfen, ob in Deutschland ähnlich<br />
wie in der Schweiz die »Anstiftung<br />
und Beihilfe zum Suizid aus selbstsüchtigen<br />
Gründen strafrechtlich« verboten<br />
werden sollten.<br />
»Mit unserem Positionspapier wollen<br />
wir einen Beitrag zu der Frage leisten:<br />
Was ist ethisch und rechtlich die<br />
›richtige‹ Haltung der Gesellschaft und<br />
des Einzelnen, wenn Menschen <strong>–</strong> vor<br />
allem schwer Erkrankte <strong>–</strong> ihrem Leben<br />
ein vorzeitiges Ende setzen wollen«, erklärte<br />
Marion Kiechle bei der Übergabe<br />
der Stellungnahme an Staatskanzleiminister<br />
Marcel Huber (CSU) Ende April<br />
in der Münchner Staatskanzlei. Die Gynäkologin<br />
ist Direktorin der Frauenklinik<br />
der Frauen- und Poliklinik der Technischen<br />
Universität München und sitzt<br />
dem 16-köpfigen Gremium vor, das die<br />
Bayerische Staatsregierung in ethischen<br />
Fragen im Bereich der Biowissenschaften<br />
berät.<br />
Wie es in der Expertise heißt, werde<br />
die »Problematik der Anstiftung zum Suizid«<br />
in der »deutschen Diskussion« bislang<br />
»kaum thematisiert«. »Bislang vorliegende<br />
Regelungskonzepte« konzentrierten<br />
sich auf die Beihilfe zum Suizid.<br />
Grund dafür sei offenbar, dass sich »eine<br />
Anstiftung im Sinne des § 26 StGB, also<br />
ein Bestimmen zum Suizid«, nur schwer<br />
nachweisen lasse. »Das heißt aber nicht,<br />
dass Derartiges nicht vorkommt«, halten<br />
die Kommissionsmitglieder fest. Und<br />
weiter: Für den Lebensschutz stelle »die<br />
Anstiftung zum Suizid« eine »nicht minder<br />
schwere« oder sogar noch größere<br />
Gefahr dar als die Beihilfe zum Suizid.<br />
»Entsprechende Konstellationen« ließen<br />
sich prinzipiell überall dort denken,<br />
»wo die Last eines langen Leidens- und<br />
Sterbeprozesses zu tragen ist, aber auch<br />
Erb- und Versorgungsinteressen bestehen<br />
können«. Deshalb spräche »viel dafür«,<br />
die Regelung des Artikels 115 des<br />
Schweizer Strafgesetzbuches zu über-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
»Beihilfe zum Suizid <strong>–</strong> Gefahr<br />
für den Lebensschutz«<br />
nehmen, welche Suizidhilfe »aus selbstsüchtigen<br />
Motiven« unter Strafe stelle.<br />
Dieser müsse allerdings <strong>–</strong> anders als in<br />
der Schweiz <strong>–</strong> »durch ein Verbot der organisierten<br />
und der sonst geschäftsmäßigen<br />
Suizidhilfe ergänzt werden«. Wie es<br />
in der Stellungnahme weiter heißt, könne<br />
dies zwar zur Folge haben, dass es »nach<br />
einem assistierten Suizid auf eine entsprechende<br />
Anzeige hin zu problematischen<br />
Ermittlungen im Umfeld des Verstorbenen«<br />
komme, doch gelte es »zu überlegen,<br />
ob dies im Interesse des Lebensschutzes<br />
nicht in Kauf zu nehmen« sei.<br />
Ferner schlägt die BayBEK vor, auch ein<br />
»strafrechtliches Verbot« der »Anstiftung<br />
und Beihilfe zum Suizid von Minderjährigen<br />
und besonders vulnerablen Personen«<br />
zu prüfen.<br />
Ihre Forderung nach einem strafrechtlichen<br />
Verbot der »gewerbsmäßigen, der<br />
organisierten und sonst geschäftsmäßigen<br />
Beihilfe zum Suizid« begründet die<br />
Kommission damit, dass »Beihilfe zum<br />
Suizid kein Geschäft wie andere« sein<br />
dürfe und »schon gar kein Marktgeschehen«.<br />
Ergänzt werden müsse ein solches<br />
Verbot daher auch durch »ein strafrechtliches<br />
Verbot der Werbung«. Nach Ansicht<br />
der BayBEK sollen in Deutschland<br />
weder die Suizidhilfe als solche noch dazu<br />
»bestimmte Verfahren oder Mittel«<br />
beworben werden dürfen.<br />
Ähnlich wie der Deutsche Ethikrat, der<br />
Bundesregierung und Bundestag in bioethischen<br />
Fragen beraten soll und Mitte<br />
Dezember eine Ad-hoc-Stellungnahme<br />
zur Regelung der Suizidhilfe und der<br />
Stärkung der Suizidprävention vorgestellt<br />
hatte, konnten sich auch die Mitglieder<br />
der BayBEK allerdings nicht in allen Fragen<br />
auf gemeinsame Empfehlungen einigen.<br />
So will eine nicht näher bestimmte<br />
»Mehrheit der Kommission«, dass die<br />
»Beihilfe zum Suizid einer frei verantwortlich<br />
handelnden Person« dann straffrei<br />
bleibt, wenn sie durch »Angehörige<br />
oder sonst nahestehende Personen« aus<br />
»altruistischen Gründen« geleistet werde.<br />
Eine ebenfalls nicht näher umrissene<br />
Minderheit lehnt eine »generelle Straffreiheit«<br />
für »engere Angehörige« dagegen<br />
ab. Eine solche Begrenzung sei weder<br />
»im Prinzip« noch »in der Praxis«<br />
umsetzbar. Auch befürchten die Vertreter<br />
der Minderheit, dass eine »generelle<br />
Akzeptanz der Beihilfe zum Suizid für<br />
nahe Angehörige de facto« die »Türen<br />
für Ausweitung und Missbrauch« öffne.<br />
Auseinander gehen die Ansichten in<br />
der BayBEK auch bei der Regelung des<br />
ärztlich assistierten Suizids. Zwar empfiehlt<br />
die gesamte Kommission den Landesärztekammern,<br />
»an ihrem Grundsatz<br />
festzuhalten«, demzufolge »die Beihilfe<br />
zum Suizid keine ärztliche Aufgabe« ist.<br />
Allerdings vertritt die Mehrheit des Gremiums<br />
die Auffassung, dass »wenn eine<br />
Ärztin oder ein Arzt im Rahmen eines<br />
Vertrauensverhältnisses zu einem Patienten,<br />
der unerträglich leidet, ausnahmsweise<br />
Suizidhilfe leistet«, dies »von allen<br />
Landesärztekammern nicht sanktioniert<br />
werden« sollte. Eine Minderheit<br />
der Kommission hält dagegen, es sei »in<br />
Niemandes private Gewissensentscheidung<br />
gestellt, über den Suizid eines anderen<br />
zu befinden«. Daher müsse »das<br />
Verbot der ärztlich assistierten Suizidhilfe«<br />
auch »in solchen Fällen« gelten.<br />
Gemeinsam vertreten die Mitglieder<br />
der BayBEK die Auffassung, dass die<br />
»ärztliche Praxis« zeige, »dass der Wunsch<br />
eines unheilbar kranken Patienten, nicht<br />
mehr leben zu wollen, meist einen Hilferuf<br />
darstellt nach Linderung von Symptomen,<br />
psychosozialer Unterstützung<br />
und Anerkennung als vollwertiger Teil<br />
unserer Gesellschaft.« Weiter heißt es:<br />
»Meist äußern die Patienten einen Todeswunsch<br />
und zeigen im gleichen Moment<br />
einen enormen Lebenswillen, was<br />
als ›Double Awareness‹ bezeichnet wird.«<br />
Auch resultiere der Todeswunsch meist<br />
»aus einer ›passiven Akzeptanz‹ des Todes<br />
als Anpassung des Patienten an ein<br />
nicht kontrollierbares Geschehen.« Würden<br />
»Menschen mit einer unheilbaren Erkrankung«<br />
»durch einen palliativmedizinisch<br />
geschulten Arzt« aufgeklärt, »dass<br />
Schmerzen und Leid abgewendet werden<br />
können, rücken jedoch viele Menschen<br />
von ihrem Todeswunsch ab«.<br />
Der Anteil der Suizidenten »mit chronischen,<br />
schmerzhaften und einschränkenden<br />
Krankheiten« sei »relativ gering«,<br />
jedoch nehme das Suizidrisiko mit steigendem<br />
Lebensalter zu und sei bei den<br />
über 85-Jährigen am höchsten. Bei »älteren<br />
Menschen« spielten zudem »Vereinsamung,<br />
Hoffnungslosigkeit und mangelnde<br />
Perspektiven« als Gründe für einen<br />
Suizid eine Rolle.<br />
Auch sonst liefert die Stellungnahme<br />
in zahlreichen Detailfragen interessante<br />
neue Erkenntnisse. So weist die BayBEK<br />
etwa darauf hin, dass im US-Bundesstaat<br />
Oregon, der 1997 den ärztlich assistierten<br />
Suizid bei unheilbaren Krankheiten legalisiert<br />
hatte, jedes Jahr mehr Patienten von<br />
dieser Möglichkeit Gebrauch machten.<br />
So hält die Stellungnahme der BayBEK<br />
fest: »Die Statistik zum Oregon’s Death<br />
and Dignity Act (DWDA) zeigt einen<br />
stetigen Anstieg der registrierten Fälle<br />
von 16 Fällen im Jahr 1998 auf 85 Fälle<br />
im Jahr 2012.« Befürworter des ärztlich<br />
assistierten Suizids führen den US-Bundesstaat<br />
Oregon in der deutschen Debatte<br />
häufig als Beispiel für eine gelungene<br />
rechtliche Regelung des ärztlich assistierten<br />
Suizids an.<br />
In Belgien und den Niederlanden betrage<br />
der »jährliche Anstieg der Tötungen<br />
auf Verlangen und ärztlichen Hilfe<br />
bei der Selbsttötung« zehn bis 13 Prozent.<br />
Auch die Ausweitung der Indikationen,<br />
bei denen diese Formen der Euthanasie<br />
in den beiden Beneluxstaaten inzwischen<br />
als legal betrachtet werden, wird in<br />
»Palliativmediziner befürworten<br />
mehrheitlich Verbot der Suizidhilfe«<br />
den Blick genommen. So verzeichneten<br />
»beide Länder auch einen Anstieg der<br />
Sterbehilfefälle bei Demenzkranken und<br />
Patienten mit anderen neurophysiologischen<br />
Erkrankungen«.<br />
Auch dass, Studien zufolge, zwar nur etwa<br />
25 Prozent aller Mediziner in Deutschland<br />
die Forderung nach einem berufsrechtlichen<br />
Verbot der Beihilfe zum Suizid<br />
für Ärzte befürworten, dafür aber die<br />
allermeisten Palliativmediziner, »die Sterbebegleitung<br />
von Schwerkranken täglich<br />
praktizieren«, ein solches Verbot unterstützen,<br />
ist durchaus eine interessante Information,<br />
die in der bisherigen Debatte<br />
kaum Erwähnung findet.<br />
Kurz: Es wäre überaus wünschenswert,<br />
dass die Abgeordneten des Deutschen<br />
Bundestages, die in diesem Jahr eine<br />
der dramatischsten Entscheidungen treffen<br />
werden, die Volksvertreter überhaupt<br />
treffen können, die lesenswerte Stellungnahme<br />
der BayBEK studieren würden.<br />
Ob sich allerdings auch eine Mehrheit<br />
für ein strafbewehrtes Verbot der Anstiftung<br />
zum Suizid bereitfindet, steht natürlich<br />
auf einem ganzen anderen Blatt.<br />
Wahrscheinlich ist das leider nicht. In der<br />
Bevölkerung wie im Parlament gehen die<br />
Ansichten darüber, wie die Beihilfe zum<br />
Suizid künftig rechtlich geregelt werden<br />
müsse, bislang derart weit auseinander,<br />
dass damit gerechnet werden muss, dass<br />
auch so sinnvolle Vorschläge wie dieser<br />
am Ende der Suche einem Kompromiss<br />
zum Opfer fallen könnten.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 11
B I O E T H I K - S P L I T T E R<br />
+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />
Medikamententests mit<br />
menschlichen Feten<br />
Edinburgh (<strong>ALfA</strong>). Forscher testen offenbar<br />
regelmäßig die toxische Wirkung<br />
von Medikamenten an Organen und Geweben<br />
menschlicher Feten. Das geht aus<br />
einem Bericht hervor, den das »Deutsche<br />
Ärzteblatt« veröffentlichte. Dem Bericht<br />
zufolge suchte ein Team um den Forscher<br />
Rod Mitchell von der Universität Edinburgh<br />
nach Gründen »für die Befunde<br />
epidemiologischer Studien, in denen eine<br />
erhöhte Rate von Lageanomalien des<br />
Hodens bei intrauterin exponierten Knaben<br />
aufgefallen war«.<br />
Laut dem Blatt erklärten die Forscher<br />
den Befund damit, dass eine häufige Einnahme<br />
des Schmerzmittels Paracetamol<br />
während der Schwangerschaft die Testosteronsynthese<br />
bei männlichen Feten<br />
blockiere.<br />
Wie es in dem Bericht des Ärzteblattes<br />
weiter heißt, habe das Team für seine<br />
in der Fachzeitschrift »Science Translational<br />
Medicine« (<strong>2015</strong>; 7; 288ra80) publizierte<br />
Studie unter anderem »auf ein<br />
etabliertes Experiment zurückgegriffen.<br />
Die Forscher transplantierten kastrierten<br />
Mäusen die Hoden von menschlichen<br />
Feten unter die Haut. Dann wurden<br />
die Mäuse mit Paracetamol in einer<br />
Dosis behandelt, die zu gleichen Wirkstoffspiegeln<br />
führt wie beim Menschen.<br />
Ergebnis: Nach einer siebentägigen Behandlung<br />
sank der Testosteronspiegel bei<br />
den Mäusen (das Hormon wird allein von<br />
den transplantierten Hoden gebildet) um<br />
45 Prozent ab. (...)« Als Feten werden in<br />
der Medizin ungeborene Kinder ab der<br />
11. Schwangerschaftswoche bis zur Geburt<br />
bezeichnet.<br />
reh<br />
Kundgebung zum »Marsch für das Leben« in Ottawa, an dem 25.000 Menschen teilnahmen<br />
Kanada: 25.000 Teilnehmer<br />
beim »Marsch für das Leben«<br />
Ottawa (<strong>ALfA</strong>). Beim diesjährigen kanadischen<br />
»Marsch für das Leben« am<br />
14. Mai (Christi Himmelfahrt) haben<br />
nach Angaben der evangelischen Nachrichtenagentur<br />
idea rund 25.000 Menschen<br />
teilgenommen. An der Demonstration<br />
sollen auch zwei Kardinäle und<br />
zahlreiche katholische Bischöfe teilgenommen<br />
haben. Die Veranstalter hatten<br />
die Demonstration zwei Lebensrechtlerinnen<br />
gewidmet, die im Gefängnis saßen,<br />
weil sie Frauen geraten hatten, keine<br />
vorgeburtliche Kindstötung vornehmen<br />
zu lassen. Eine von ihnen, Linda<br />
Gibbons, hatte bereits sieben Wochen<br />
in Untersuchungshaft gesessen. Sie wurde<br />
am Tag nach dem Marsch von einem<br />
Gericht freigesprochen.<br />
reh<br />
Kardinal: Abtreibung<br />
ist »schweres Unrecht«<br />
Wien (<strong>ALfA</strong>). Der Erzbischof von<br />
Wien, Christoph Kardinal Schönborn,<br />
hat deutliche Kritik an der Abtreibungsgesetzgebung<br />
in Österreich und dem Fehlen<br />
von »flankierenden Maßnahmen«<br />
geübt, die vor 40 Jahren bei der Einführung<br />
der Fristenregelung versprochen<br />
wurden. »Bei der Abtreibung geht es um<br />
die Tötung eines menschlichen Wesens<br />
Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn<br />
BAMBOO BEAST<br />
und damit um schweres Unrecht«, erklärte<br />
Schönborn gegenüber dem österreichischen<br />
Nachrichtenmagazin »Profil«.<br />
Seit dem Inkrafttreten der Fristenregelung<br />
sei das Bewusstsein für das Unrecht<br />
der Abtreibung dramatisch verloren<br />
gegangen. Die derzeitige Gesetzeslage sei<br />
für Christen »keine akzeptable Lösung,<br />
auch wenn sie damit leben müssen«. Das<br />
Recht auf Leben sei das grundlegendste<br />
Menschenrecht, so Schönborn.<br />
Mit Stricknadeln ins<br />
Abtreibungsmuseum<br />
Wien (<strong>ALfA</strong>). Die österreichische »Aktion<br />
Leben« hat dem Abtreibungsarzt und<br />
-aktivisten Christian Fiala »schlechten Stil<br />
und fehlende Seriosität« attestiert. »Wir<br />
fordern Dr. Christian Fiala als Verantwortlichen<br />
auf, falsche Aussagen und Untergriffe<br />
zu unterlassen«, erklärte die Generalsekretärin<br />
der »Aktion Leben«, Mag.<br />
Martina Kronthaler, kurz vor Pfingsten<br />
in einer Pressemitteilung. Anlass ist eine<br />
Presseaussendung des Museums für Verhütung<br />
und Schwangerschaftsabbruch zur<br />
Bewerbung einer Veranstaltung aus Anlass<br />
der Einführung der Fristenregelung<br />
in Österreich vor 40 Jahren.<br />
»Mit dem Aufruf, zur Veranstaltung<br />
Stricknadeln mitzubringen, disqualifiziert<br />
sich der Veranstalter selbst.« Dies sei Polarisierung<br />
pur, die nicht ernst genommen<br />
werden könne. »Dies geht zu Lasten<br />
einer zeit- und sachgerechten Auseinandersetzung<br />
mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch«,<br />
so Kronthaler weiter.<br />
Die einseitig besetzte Veranstaltung<br />
diene keineswegs einem seriösen Wis-<br />
+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />
12<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethiksenszuwachs,<br />
sondern sei ein Lehrbeispiel<br />
für veralteten linken Fundamentalismus,<br />
der jedwedes Bemühen um einen<br />
echten Dialog zum Thema leugne. Symptomatisch<br />
für diese Art des Fundamentalismus<br />
sei, dass Dr. Fiala strikt und wider<br />
allen internationalen Gepflogenheiten<br />
gegen die anonyme Erhebung von<br />
Dr. Christian Fiala<br />
Abtreibungszahlen sei. Seriös erhobene<br />
Zahlen seien jedoch dringend nötig, um<br />
das Gespräch über Abtreibungen auf eine<br />
faktenbasierte Grundlage zu stellen. reh<br />
China: 13 Millionen<br />
Abtreibungen pro Jahr<br />
Peking (<strong>ALfA</strong>). In China werden trotz<br />
einer Lockerung der sogenannten Ein-<br />
Kind-Politik vor zwei Jahren laut den<br />
jüngsten Schätzungen der Familienplanungskommission<br />
pro Jahr rund 13 Millionen<br />
ungeborene Kinder abgetrieben.<br />
Da viele kleine Kliniken und Praxen die<br />
von ihnen vorgenommenen vorgeburtlichen<br />
Kindstötungen<br />
DANIEL RENNEN<br />
gar nicht<br />
meldeten,<br />
wie es in einem<br />
Bericht der<br />
Zeitung »China Daily« heißt, ist die tatsächliche<br />
Zahl der jährlich vorgenommenen<br />
Abtreibungen vermutlich noch größer.<br />
Wie die »Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung« berichtet, sind rund zwei Drittel<br />
der Frauen, die Abtreibung durchführen<br />
lassen, ledig und jünger als 29 Jahre.<br />
Für die Geburt eines Kindes benötigen<br />
Chinesen eine »Geburtserlaubnis«,<br />
die für ledige Chinesen aber so gut wie<br />
nicht zu bekommen sei. Den 13 Millionen<br />
plus X im Mutterleib getöteten Kindern<br />
stehen laut dem Bericht rund 16 Millionen<br />
geborene Kinder gegenüber. reh<br />
Schweiz: Gericht fällt<br />
Urteil in Leihmutterfall<br />
Lausanne (<strong>ALfA</strong>). Das Schweizer Bundesgericht<br />
hat die Klage eines homosexuellen<br />
Paares abschlägig beschieden,<br />
das mittels einer Eizellspende und einer<br />
Leihmutterschaft in Kalifornien zu<br />
einem Kind gekommen war. Die Männer<br />
aus dem Schweizer Kanton St. Gallen<br />
hatten von den Behörden verlangt,<br />
als Eltern des Kindes anerkannt zu werden.<br />
Als diese sich weigerten und »nur«<br />
die Vaterschaft des Samenspenders anerkennen<br />
wollten, zogen sie vor Gericht.<br />
Die Richter befanden mit drei gegen<br />
zwei Stimmen, dass eine Anerkennung der<br />
Elternschaft beider Männer in grundlegender<br />
Weise gegen die rechtlichen und<br />
ethischen Werte der Schweiz verstoße.<br />
In der Schweiz ist die Leihmutterschaft<br />
verboten. Dass die beiden Männer dieses<br />
Verbot zu umgehen suchten und im<br />
Ausland ein Rechtsverhältnis herstellten,<br />
das in der Schweiz nicht möglich sei, bezeichneten<br />
die Bundesrichter als Rechtsmissbrauch.<br />
reh<br />
Schweiz: Kasse übernimmt<br />
Kosten für PraenaTest<br />
Zürich (<strong>ALfA</strong>). Die Konstanzer Bio-<br />
Tech-Firma Lifecodexx, Hersteller des<br />
PraenaTests, kann einen neuen Erfolg<br />
vermelden. Der Anbieter des Praena-<br />
Tests, mit dem sich Blut der Schwangeren<br />
nach Anzeichen für eine Trisomie 21<br />
des Kindes fahnden lässt, ist sich mit der<br />
Schweizer Krankenkasse »Helsana« handelseinig<br />
geworden. Für Kundinnen, die<br />
über die bestimmte Zusatzversicherung<br />
verfügen, übernimmt die Krankenkasse<br />
die gesamten Kosten des PraenaTests. Alle<br />
anderen bei der Kasse Versicherten erhalten<br />
den Test vergünstigt. Der Kranversicherer<br />
mit Hauptsitz in Zürich, der<br />
nach eigenen Angaben rund 1,9 Millionen<br />
Versicherte hat, begründete das Arrangement<br />
damit, dass der Test die Zahl<br />
WWW.LANDTAG-MV.DE<br />
der invasiven Fruchtwasseruntersuchungen<br />
reduziere. Medienberichten zufolge<br />
hat Lifecodexx bereits im vergangenen<br />
Jahr eine Zulassung zu der in der<br />
Schweiz obligatorischen Krankenversicherung<br />
beantragt. Über den Antrag auf<br />
Kassenzulassung wurde noch nicht entschieden.<br />
reh<br />
IVF: Schwesig will Zuschüsse<br />
auch für Unverheiratete<br />
Berlin (<strong>ALfA</strong>). Nach dem Willen<br />
von Bundesfamilienministerin Manuela<br />
Schwesig (SPD) sollen künftig auch unverheiratete<br />
Paare, die eine In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF) vornehmen lassen, Anspruch<br />
auf staatliche Zuschüsse geltend<br />
machen können. Ein Sprecher des Ministeriums<br />
erklärte Mitte Mai in Berlin,<br />
das Ministerium prüfe derzeit, wie die<br />
entsprechende Richtlinie geändert werden<br />
könne. Nach Ansicht der Ministerin<br />
sei es nicht mehr zeitgemäß, unverheiratete<br />
Paare anders zu behandeln als<br />
verheiratete, so der Sprecher. Die Union<br />
kündigte unterdessen Widerstand gegen<br />
Manuela Schwesig, SPD<br />
die Pläne des Koalitionspartners an. Der<br />
CDU-Familienpolitiker Marcus Weinberg<br />
erklärte, »aus dem Blickwinkel des<br />
Kindes« sei es am besten, »in einer möglichst<br />
stabilen Beziehung aufzuwachsen.<br />
Der gesetzliche Anspruch auf Bezahlung<br />
einer künstlichen Befruchtung ist daher<br />
zu Recht auf miteinander verheiratete<br />
Paare begrenzt.« Derzeit übernehmen<br />
die Krankenkassen die Hälfte der Kosten<br />
für die ersten drei Versuche einer künstlichen<br />
Befruchtung.<br />
reh<br />
ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 13
A U S L A N D<br />
DANIEL RENNEN<br />
Kinder sind<br />
keine iPhones<br />
In vielen westlichen Ländern steht das Thema »Leihmutterschaft« ganz oben auf der biopolitischen<br />
Agenda. Homosexuelle Paare, aber auch heterosexuelle, die sich erst nach Ablauf der eigenen<br />
biologischen Uhr für ein Kind entscheiden und keines adoptieren wollen, sowie Hollywoodstars<br />
oder andere Reiche, die nicht neun Monate pausieren wollen, treiben die Nachfrage. So auch in<br />
Schweden, wo Feministen nun allerdings gegen eine Liberalisierung des Verbots mobil machen.<br />
Von Dr. med. vet. Edith Breburda<br />
Schwedens Feministinnen sind außer<br />
sich. Frauen seien keine Handelsware<br />
und ihre Kinder erst recht<br />
nicht. Eine schwedische Feministen-Organisation<br />
verurteilt das Geschäft mit der<br />
Leihmutterschaft. Sie verlangt von der<br />
Regierung, diese Praktiken abzuschaffen.<br />
Sverites Kvinnolobby, eine schwedische<br />
Lobbyistin, ist der Meinung, eine<br />
Leihmutterschaft beute die Körper<br />
von Frauen und ihre reproduktiven Organe<br />
aus. Dies verletze Menschenrechte.<br />
Vor allem die armer Frauen aus Drittländern,<br />
wie Indien.<br />
»Feministinnen widerstrebt die Auffassung,<br />
dass man Frauen als eine Art<br />
Schwangerschafts-Container benutzen<br />
14<br />
kann, deren Fortpflanzungsfähigkeit käuflich<br />
ist. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />
kann man nicht durch Verträge<br />
oder Verhandlungen beschneiden.<br />
»Durch Leihmutterschaft werden<br />
Kinder zum Handelsgut«<br />
Auch wenn besonders vorteilhafte oder<br />
attraktive Bedingungen einen Leihmutterschaftsvertrag<br />
ausmachen, sollte das<br />
Recht der Frau und der Kinder in dieser<br />
Debatte ausschlaggebend sein und nicht<br />
das Interesse der ›Käufer‹«, heißt es in dem<br />
Grundsatzprogramm der Organisation.<br />
Leihmutterschaft ist in Schweden verboten.<br />
Die Regierung untersucht trotzdem,<br />
ob man sie legalisieren soll. Zu viele<br />
Bürger haben eine Leihmutterschaft im<br />
Ausland in Anspruch genommen und die<br />
Kinder zurück nach Schweden gebracht.<br />
Ein Unterfangen, das mit vielen Schwierigkeiten<br />
verbunden ist.<br />
Die Gruppe »Feminist not to surrogacy<br />
motherhood« (Feministinnen gegen<br />
Leihmutterschaft) ist strikt gegen eine<br />
Freigabe. »Wenn die Türen dafür geöffnet<br />
werden, egal wie streng die Auflagen<br />
auch sein sollten, werden Kinder<br />
zum Handelsgut.«<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
Im April 2011 hat das Europäische<br />
Parlament die kommerzielle und eigennützige<br />
Leihmutterschaft verurteilt, weil<br />
es dabei um Menschenhandel gehe. Mit<br />
ihrer Kampagne bieten Feministinnen<br />
Alternativen an. Sie sind auf die körperliche<br />
Integrität gerichtet und nicht auf<br />
das Recht eheloser Paare auf ein Kind,<br />
auf Kosten der grundlegendsten Menschenrechte<br />
der Frau.<br />
»In den meisten Fällen werden Frauen<br />
aus armen Ländern ausgebeutet. Reiche<br />
westliche Länder kommerzialisieren<br />
Leihmütter aus Entwicklungsländern. So<br />
entsteht ein Ungleichgewicht der Machtverhältnisse<br />
zwischen den Auftraggebern<br />
und den Leihmüttern. Westliche Länder<br />
nutzen die vulnerable ökonomische Situation<br />
der Frauen in Entwicklungsländern<br />
aus. In ihren Bemühungen, ein biologisches<br />
Kind zu bekommen, werden Wege<br />
eingeschlagen, die Frauen zwingen, ihren<br />
Körper zu verkaufen. Die fundamentalen<br />
Menschenrechte sollten arme Frauen<br />
davor beschützen, ihre Reproduktionsorgane<br />
als Ware anbieten zu müssen.<br />
Es wird immer mehr zum Trend, Grundrechte<br />
einzureißen zu Gunsten von Paaren,<br />
die ihre eigennützigen Pläne verwirklichen<br />
wollen, um ein Kind zu haben.<br />
Immer öfter argumentiert man mit<br />
den ›Reproduktiven Rechten‹. Kinderlose<br />
Eltern bestehen auf einem Recht auf<br />
Kinder, wobei allerdings die Menschenrechte<br />
der Leihmütter nicht angesprochen<br />
werden«, beschweren sich schwedische<br />
Feministinnen.<br />
»Renting wombs« <strong>–</strong> das Mieten der<br />
Gebärmutter <strong>–</strong> wird von vielen bereits<br />
als eine Art Neokolonialismus bezeichnet.<br />
Einst hieß es, die Sonne geht im Britischen<br />
Imperium nicht unter, weil England<br />
über Kolonien auf der ganzen Welt<br />
verfügte. Solche Tage sind längst Geschichte.<br />
Heute mietet man die Gebärmütter<br />
der Frauen aus exotischen Ländern,<br />
nur um dem Wunsch auf ein eigenes<br />
Kind nachzukommen.<br />
Der Journalist Wesley J. Smith spricht<br />
von einem neuen, biologischen Kolonialismus.<br />
Gerade in Indien sind die Regulierungen<br />
für eine Leihmutterschaft minimal.<br />
Dort ist es nicht nur verheirateten<br />
Paaren erlaubt, eine Leihmutter anzuheuern,<br />
sondern auch Homosexuellen.<br />
Smith berichtete im National Review<br />
Online über Johnathon Busher und seinen<br />
Partner Stephen Hill. 18 Jahre lebten<br />
die beiden Engländer aus West Midlands<br />
zusammen. Dann beschlossen sie<br />
eine Familie zu gründen. 2011 reisten<br />
sie nach Indien, um in New Delhi eine<br />
Klinik aufzusuchen. Stephen Hill spendete<br />
sein Sperma, während die Eizellen<br />
DANIEL RENNEN<br />
von einer ausgesuchten Eizellspenderin<br />
stammten. Der Rest war eine Angelegenheit<br />
der In-vitro-Technik.<br />
Etwas verlegen fühlten sich Johnathon<br />
Busher und Stephen Hill nach der Geburt<br />
von Zwillingsmädchen. Die Leihmutter<br />
zögerte, die beiden Kinder zu übergeben.<br />
Der Ehemann der Leihmutter ging davon<br />
aus, dass die Kinder sein eigenes Fleisch<br />
und Blut seien. Die Leihmutter hing sehr<br />
N O R W E G I S C H E S E E<br />
N O R W E G E N<br />
S C H W E D E N<br />
In Lebensschutzfragen gilt Schweden als liberal<br />
an den Neugeborenen, erläuterte Johnathon<br />
Busher. »Wir waren froh, dass wir<br />
einen handfesten Vertrag hatten und die<br />
beiden Mädchen ohne weitere Schwierigkeiten<br />
mitnehmen durften«, sagten<br />
die beiden Männer.<br />
»Leihmutterschaft gilt Vielen als<br />
neue Form des Neokolonialismus«<br />
Smith kommentierte: »Es handelte<br />
sich einfach um einen Vertrag. Man<br />
muss sich daran halten. Eine Leihmutter<br />
darf sich unter diesen Umständen nicht<br />
zu sehr an das Kind gewöhnen. Wenn<br />
jemand ein Kind auf diese Weise haben<br />
will, muss ihm das einfach gewährt werden.<br />
Schließlich bezahlt er ja dafür. So<br />
wie man ein Auto oder ein iPhone kauft.«<br />
Vor 200 Jahren nannte man das Sklavenhandel,<br />
heute bezeichnet man es als<br />
Elternschaft, wenn wir Menschen für unsere<br />
Zwecke kaufen, schreibt E. Hilton<br />
in ihrem Bericht »Renting wombs: The<br />
new ›biological colonialism‹«. Auch das<br />
neueste umstrittene Konzept, das Social<br />
Freezing, muss in diesem Zusammenhang<br />
genannt werden, weil es Frauen die<br />
Möglichkeit gibt, selbst zu bestimmen,<br />
F I N N L A N D<br />
R U S S L A N D<br />
wann sie schwanger werden wollen, ohne<br />
Berücksichtigung der physiologischen<br />
Möglichkeiten.<br />
Keiner weiß, ob die Plazenta, die Knochen,<br />
der Stoffwechsel einer 50-Jährigen<br />
überhaupt in der Lage sind, eine Schwangerschaft<br />
aufrechtzuerhalten. Aber zu diesem<br />
Zweck gibt es ja Leihmütter. Letztlich<br />
arbeitet man aber darauf hin, eine<br />
Schwangerschaft im Labor auszutragen.<br />
Dann bräuchte es keine Leihmütter mehr.<br />
So arbeiten Wissenschaftler in Japan mit<br />
Hochdruck an einer künstlichen Gebärmutter<br />
(artificial wombs).<br />
In etwa 20 Jahren will man so weit<br />
sein. Dann sollen die als Benachteiligung<br />
von Frauen betrachtete Schwangerschaft<br />
Geschichte und die Gleichberechtigung<br />
der Frauen endlich gewährleistet<br />
und das Ziel der absoluten reproduktiven<br />
Freiheit erreicht sein. Auch sollen dann<br />
Männer leichter Kinder bekommen können.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 15
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16<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
M E D I Z I N<br />
DANIEL RENNEN<br />
Plötzlicher Stoffwechsel?<br />
Seit dem 15. März ist die »Pille danach« mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat in Deutschland frei<br />
verkäuflich <strong>–</strong> die bisher ebenfalls rezeptpflichtige Levonorgestrel-Pille soll folgen. Trotz der<br />
Beteuerungen mancher empfiehlt es sich in Bezug auf die Wirkung beider Präparate skeptisch zu<br />
bleiben und auch eine bewusste Täuschung interessierter Kreise nicht auszuschließen, meint die<br />
Erste Stellvertretende Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e. V.<br />
Von Alexandra Maria Linder<br />
Ulipristalacetat (UPA) ist stofflich<br />
verwandt mit der Abtreibungspille<br />
Mifegyne, vielen besser<br />
bekannt unter ihrem ursprünglichen<br />
Namen RU 486. Letztere wird in China<br />
und Russland seit Jahren auch als »Pille<br />
danach« eingesetzt. Das wurde hier und<br />
in anderen Kontinenten wie etwa Südamerika<br />
vermieden, möglicherweise, weil<br />
RU 486 als Abtreibungsmittel ein negatives<br />
Image besitzt.<br />
Unter diesem Gesichtspunkt würde eine<br />
Weiterentwicklung von mit dem Wirkstoff<br />
der Abtreibungspille verwandten<br />
Stoffen unter anderem Namen für den<br />
Hersteller durchaus Sinn haben. Viele<br />
Studien weisen eine nidationshemmende<br />
Wirkung auf die Gebärmutterschleimhaut,<br />
das Endometrium, nach, nennen<br />
diese aber häufig nicht so. Eine wissenschaftliche<br />
Zusammenstellung und Untersuchung<br />
dieser Studien hat Dr. Rudolf<br />
Ehmann in der Zeitschrift »Medizin und<br />
Ideologie« (3/2013, S. 6<strong>–</strong>14) vorgelegt.<br />
Grundsätzlich ist es undenkbar, dass<br />
chemische Stoffe ihre Wirkungsweisen<br />
nach vielen Jahren plötzlich ändern. Die<br />
Möglichkeit, dass Menschen sich im Hinblick<br />
auf die Wirkung eines solchen Stoffes<br />
nach etwa zehn Jahren Forschung und<br />
Entwicklung derart geirrt haben könnten,<br />
kann zwar nicht ausgeschlossen werden,<br />
würfe aber zumindest ein sehr bedenkliches<br />
Licht auf die wissenschaftliche<br />
Seriosität solcher Studien und Forschung.<br />
Nimmt man die Aussagen und Studien<br />
zusammen, ergibt sich, dass nicht nur UPA,<br />
sondern auch Levonorgestrel (LNG) interzeptiv<br />
wirkt, zwischen dem Entstehen<br />
eines neuen Menschen und dessen Einnistung<br />
in die Gebärmutter. Gestagen ist seit<br />
über 40 Jahren mit Wirkungsweisen bekannt,<br />
die in medizinischen Lehrbüchern<br />
leicht zu finden sind (Zusammenstellung<br />
von Bernward Büchner):<br />
• »Da die ›Pille danach‹ als nidationshemmende<br />
Maßnahme wirksam wird, gilt<br />
sie nicht als Abortivum (…)« (Breckwoldt<br />
et al., Gynäkologie und Geburtshilfe<br />
2007)<br />
• »(…) ist die Postkoitalpille streng genommen<br />
kein Verhütungsmittel, sondern<br />
ein Implantationshemmer. Sie enthält<br />
1,5 mg des Gestagens Levonorgestrel<br />
und wirkt interzeptiv, indem sie die<br />
Ovulation hemmt und eine vorzeitige<br />
Umwandlung des Endometriums und<br />
im Anschluss daran eine schwache Entzugsblutung<br />
verursacht.« (Kiechle Hg.,<br />
Gynäkologie und Geburtshilfe 2011, S.<br />
142)<br />
• »Kontrazeption, hormonale: (…) Wirkungsmechanismus:<br />
4. Tube: Störung<br />
des Eitransports; Endometrium: Phasenverschiebung<br />
(Nidations-Hemmung).«<br />
(Römer et al., Pschyrembel,<br />
Gynäkologie und Geburtshilfe 2012)<br />
Es ist unwahrscheinlich, dass LNG<br />
plötzlich die meisten Wirkweisen verliert<br />
und nur noch ovulationshemmend<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 17
M E D I Z I N<br />
wirkt. Eindeutig formuliert es auch das<br />
der Autorin in 5. Auflage vorliegende Roche<br />
Lexikon Medizin (2003): »Nidationshemmer:<br />
Mittel, die das Angehen einer<br />
Schwangerschaft durch Störung der Nidation<br />
des befruchteten Eies verhindern.<br />
Dazu zählen Intrauterinpessar und Postkoitalpille<br />
(›Pille danach‹). (Sie) … gelten<br />
nicht als Abortivum, da sie vor der<br />
Implantation wirken.«<br />
DAS STICHWORT LAUTET<br />
»UMDEFINITION«<br />
DANIEL RENNEN<br />
und Einnistung nicht als abtreibend. Bei<br />
all dem wird übersehen, dass eine Frühstabtreibung<br />
unmittelbar nach der Zeugung<br />
faktisch dasselbe Ergebnis zur Folge hat<br />
wie eine Abtreibung in der 12. Woche.<br />
Von Senkung kann also nicht die Rede<br />
sein. Außerdem ist in einigen Staaten, in<br />
In den sechziger Jahren, als die Kupferspirale<br />
als Verhütungsmittel verbreitet<br />
wurde, stand man vor dem Problem,<br />
dass die Anwendung der Spirale als Abtreibung<br />
betrachtet werden könnte: Denn<br />
ihre Hauptwirkung besteht darin, durch<br />
einen Dauerreiz in der Gebärmutter zu<br />
verhindern, dass ein »befruchtetes Ei«,<br />
ein gerade entstandenes Kind, sich dort<br />
einnistet.<br />
In den USA gab es, ebenso wie bei uns,<br />
eindeutige Formulierungen: Leben beginnt<br />
in dem Augenblick, wo Samenzelle<br />
und Ei verschmelzen. Damit aber hätte<br />
man sowohl die Kupferspirale als auch<br />
die normale Pille nicht als reines Verhütungsmittel<br />
deklarieren können, weil beide<br />
auch beziehungsweise vorwiegend interzeptiv<br />
wirken. Neuerdings zu behaupten,<br />
dass LNG rein ovulationshemmend<br />
wirkt, können viele Frauen, die die normale<br />
Verhütungspille nehmen, widerlegen:<br />
Bei regelmäßiger Einnahme verringert<br />
sich die Menstruationsblutung<br />
<strong>–</strong> was bedeutet, dass die Pille einen verringernden<br />
Einfluss auf den Aufbau der<br />
Gebärmutterschleimhaut hat. Baut sich<br />
die Gebärmutterschleimhaut aber schon<br />
bei der normalen Pille nicht richtig auf,<br />
muss die Wirkung einer viel höheren Dosis<br />
wie bei der »Pille danach« eine entsprechend<br />
stärkere Wirkung auf das Endometrium<br />
haben.<br />
»Was vor der Implantation wirkt,<br />
gilt nicht als Abortivum«<br />
Die Folge: Das Kind kann sich nicht<br />
einnisten <strong>–</strong> das Präparat, das dies verursacht,<br />
besitzt also eine frühabtreibende<br />
Wirkung. Des Weiteren finden sich in<br />
Packungsbeilagen der Gestagen-Minipille<br />
Warnhinweise auf Eileiterschwangerschaften.<br />
Dies kann nur der Fall sein,<br />
wenn Gestagen die Beweglichkeit der Eileiter<br />
verlangsamt (und dadurch das Kind<br />
18<br />
Ist rezeptpflichtig, obwohl sie weit weniger Hormone enthält: Die Anti-Baby-Pille<br />
nicht in der Gebärmutter ankommt) <strong>–</strong><br />
auch das ist eine seit Jahrzehnten nachgewiesene<br />
Wirkung.<br />
Walter Rella beziffert nach Sichtung<br />
verschiedener Studien die Frühabtreibungsrate<br />
bei Einnahme der »Pille danach«<br />
auf vier bis fünf Prozent (vgl. Imago<br />
Hominis, 2007 (75), S.112<strong>–</strong>118). Angaben<br />
dazu sind sehr schwierig, weil sie<br />
vom Zeitpunkt der Einnahme, vom sich<br />
immer verändernden Monatszyklus sowie<br />
weiteren individuellen Gegebenheiten<br />
bei jeder einzelnen Frau abhängen.<br />
Ebenso zurückhaltend muss man deshalb<br />
auch mit der Aussage sein, es gäbe einen<br />
eindeutigen Zeitpunkt, an dem die »Pille<br />
danach« nur verhütend und nicht frühabtreibend<br />
wirkt. Vorsichtig statistisch betrachtet,<br />
würden die Angaben von Rella<br />
bei einer Zahl von 400.000 verkauften<br />
Packungen in einem Jahr in Deutschland<br />
auf etwa 16.000 bis 20.000 Frühabtreibungen<br />
hinauslaufen, was auch einen<br />
Teil der offiziell sinkenden Abtreibungszahlen<br />
erklären könnte.<br />
Für viele Verfechter der »Pille danach«<br />
wird dies als Hauptargument angebracht:<br />
Abtreibungszahlen senken durch Notfallverhütung.<br />
Der österreichische Abtreiber<br />
Fiala versteigt sich in den Vergleich mit<br />
dem medizinischen Notfallkoffer im Auto,<br />
den man ja auch immer dabeihätte. Die<br />
Umdefinition der Schwangerschaft wurde<br />
auch im deutschen Abtreibungsstrafrecht<br />
übernommen. Gemäß § 218 StGB<br />
gelten Wirkungen zwischen Befruchtung<br />
denen das Präparat frei verfügbar ist, eine<br />
Steigerung/Stagnation der Abtreibungszahlen<br />
auf hohem Niveau zu beobachten,<br />
zum Beispiel in Belgien, Schweden<br />
oder Großbritannien <strong>–</strong> teilweise vor allem<br />
unter Jugendlichen und jungen Frauen.<br />
Auch dieses Phänomen müsste wissenschaftlich<br />
und gesellschaftlich untersucht<br />
statt verdrängt werden.<br />
Führende Personen und Verbände,<br />
die öffentlich behaupten, dass die »Pille<br />
danach« ausschließlich die Ovulation<br />
hemme, sind Thomas Rabe, Präsident der<br />
DGGEF (Deutschen Gesellschaft für Gynäkologische<br />
Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin)<br />
und Christian Albring,<br />
Vorsitzender des Berufsverbandes<br />
der Frauenärzte (BVF), die sich vor allem<br />
auf eine Studie aus dem Jahr 2012<br />
stützen (Gemzell-Danielsson K, Berger<br />
C, P G L. Emergency contraception <strong>–</strong><br />
mechanisms of action. Contraception.<br />
2012 Oct 29).<br />
Herr Rabe hält bezahlte Referenten-<br />
Vorträge für unter anderem HRA-Pharma<br />
(den Hersteller von PiDaNa und ellaOne,<br />
den beiden in Deutschland zugelassenen<br />
Präparaten der »Pille danach«),<br />
sein Verband erhält über Industriemit-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
»Die Antwort auf die Frage, ob die<br />
›Pille danach‹ frühabtreibend ... «<br />
» ... wirkt, hängt davon ab, wie man<br />
›Schwangerschaft‹ definiert«<br />
gliedschaften Gelder vom selben Unternehmen.<br />
Frau Gemzell-Danielsson arbeitet<br />
als bezahlte Beraterin für Merck,<br />
Bayer, Gedeon Richter und HRA-Pharma.<br />
Außerdem leitet sie den internationalen<br />
Verband der professionellen Abtreiber,<br />
FIAPAC (International Federation<br />
of Professional Abortion and Contraception<br />
Associates).<br />
Die Kongresse des Verbandes konzentrieren<br />
sich durchweg darauf, Abtreibung<br />
so früh wie möglich, so professionell<br />
wie möglich und so ungehindert<br />
wie möglich zu bewerkstelligen. Inwieweit<br />
hier von wissenschaftlicher Objektivität<br />
gesprochen werden kann, bleibt<br />
zu prüfen, vor allem angesichts der Beweislast<br />
zahlreicher Studien, die beiden<br />
Wirkstoffen eine nachweisbare Nidationshemmung<br />
bescheinigen. Stellvertretend<br />
sei hier eine Studie zur LNG-haltigen,<br />
in den USA verkauften »Pille danach«,<br />
Plan B, genannt, die in der Diskussion<br />
bislang nicht berücksichtigt wird:<br />
Kahlenborn C, Stanford JB, Larimore<br />
WL. Postfertilization effect of hormonal<br />
emergency contraception. Ann Pharmacother<br />
2002; 36: 465<strong>–</strong>70.<br />
Als Beleg für die in manchen Kreisen<br />
bewusst nicht getroffene Unterscheidung<br />
zwischen verhütender und frühabtreibender<br />
Wirkung sei ein Vortrag<br />
aus dem Jahr 2008 beim FIAPAC-Kongress<br />
in Berlin erwähnt: In diesem stellte<br />
Dr. Linan Cheng vom Shanghai Institute<br />
of Family Planning »Neuheiten«<br />
der Emergency Contraception vor und<br />
die Wirkstoffe LNG, Mifepristone (Mifegyne/RU<br />
486 als »Pille danach«) sowie<br />
die Kupferspirale gleichrangig als »Notfallverhütung«<br />
nebeneinander. In seiner<br />
Zusammenfassung schreibt Cheng: »Do<br />
not cause abortion.« <strong>–</strong> Verursacht keine<br />
Abtreibung. Und auch dies ist nur einer<br />
von vielen Belegen dafür, dass die Antwort<br />
auf die Frage, ob die »Pille danach«<br />
auch eine nidationshemmende und damit<br />
frühabtreibende Wirkung besitzt, letztendlich<br />
anscheinend davon abhängt, wie<br />
der Begriff Schwangerschaft seitens des<br />
Antwortgebers definiert wird.<br />
Weitere Belege für die Wirkung von<br />
LNG sind unschwer zu finden, wenn man<br />
sich in früheren Jahren mit der Pille danach<br />
beschäftigt und Originaldokumente<br />
verwahrt hat, zum Beispiel von der Österreichischen<br />
Gesellschaft für Familienplanung<br />
aus dem Jahr 2002. Dort heißt es:<br />
»Die Hormongabe erfolgt zweimal: Die<br />
erste Dosis muss innerhalb von 72 Stunden<br />
nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen<br />
werden, die zweite Dosis 12 Stunden<br />
nach der ersten Dosis. Levonorgestrel<br />
wirkt je nach Zyklustag unterschiedlich: In<br />
den Tagen vor dem Eisprung verhindert<br />
es diesen <strong>–</strong> und damit eine Befruchtung.<br />
Danach verhindert es <strong>–</strong> durch Inaktivierung<br />
der Gebärmutterschleimhaut und/<br />
oder Verlangsamung des Eitransports <strong>–</strong> die<br />
Einnistung der Eizelle in der Gebärmutterschleimhaut.«<br />
Eine Zusammenstellung<br />
der WHO von Studien zu Levonorgestrel<br />
seit 1968 spricht ebenfalls ohne Verschleierung<br />
von einer wesentlichen Wirkung<br />
auf das Endometrium.<br />
Auch Screenshots aus der Zeit vor<br />
der deutschen endgültigen Umdefinition<br />
nach der mutmaßlichen Vergewaltigung<br />
einer Frau in Köln im Frühjahr<br />
2013 legen den Verdacht nahe, dass hier<br />
eine manipulative Taktik zum Zuge kam,<br />
von der sich auch die Berater des damaligen<br />
Erzbischofs von Köln, Joachim Kardinal<br />
Meisner, sowie die Katholische Bischofskonferenz<br />
täuschen ließen. Michael<br />
Frisch von der <strong>ALfA</strong> hielt am 27.01.2013<br />
einige Seiten mit Screenshot fest. So etwa:<br />
euroclinix.de, Frauenärzte-im-Netz,<br />
pharmazeutische-zeitung.de und profamilia.de.<br />
Auf allen diesen Seiten wird die<br />
Wirkung der »Pille danach« auf das Endometrium<br />
klar beschrieben <strong>–</strong> Wirkung<br />
auf das Endometrium heißt aber nichts<br />
anderes als Nidationshemmung. Manche<br />
dieser Seiten wurden praktisch über<br />
Nacht geändert, während man die Wirkungsbeschreibungen<br />
im Ausland auf entsprechenden<br />
Internetseiten (zum Beispiel<br />
die spanische clinicasabortos.com) sowohl<br />
bei LNG als auch bei UPA immer noch<br />
problemlos finden kann.<br />
Insofern wäre es durchaus angebracht,<br />
dass sich die Katholische Kirche noch einmal<br />
intensiv und wissenschaftlich objektiv<br />
mit dem Thema beschäftigt und die<br />
möglicherweise kürzlich gemachten Fehler<br />
wieder korrigiert. Fehler können gemacht<br />
werden. Sie aber aus Scham- oder<br />
anderen Motiven nicht gründlich und<br />
deutlich vernehmbar zu bereinigen, wäre<br />
für die betroffenen Frauen, ihre Kinder<br />
und katholische Ärzte fatal.<br />
K U R Z & B Ü N D I G<br />
Schweizer ändern Verfassung<br />
Bern (<strong>ALfA</strong>). Die Schweizer haben bei einer<br />
Volksabstimmung am 14. Juni für eine Verfassungsänderung<br />
gestimmt, welche auch<br />
die Durchführung der in der Alpenrepublik<br />
verbotenen Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) ermöglicht. Künftig dürfen bei einer<br />
In-vitro-Fertilisation (IVF) im Labor so viele<br />
Embryonen befruchtet werden, wie für die<br />
Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich<br />
sind. Bislang durften in der Schweiz<br />
laut Verfassung nur so viele Embryonen<br />
befruchtet werden, wie Ärzte einer Frau<br />
auch einsetzen können. Nach gängiger<br />
Praxis sind das nicht mehr als drei. Bei<br />
einer PID, bei der die Embryonen vor ihrer<br />
Übertragung in den Mutterleib einem Gen-<br />
Check unterzogen werden, befruchten die<br />
Reproduktionsmediziner in der Regel sieben<br />
oder acht Embryonen. Ziel ist es, nur solche<br />
Embryonen auf die Mutter zu transferieren,<br />
die keine genetischen Auffälligkeiten besitzen.<br />
Für die von der Regierung dem Volk<br />
vorgelegte Verfassungsänderung stimmten<br />
61 Prozent der Urnengänger. Die Wahlbeteiligung<br />
lag bei 44 Prozent.<br />
reh<br />
Spanien verschärft Abtreibungsgesetz<br />
Madrid (<strong>ALfA</strong>). In Spanien hat das Parlament<br />
den Weg für die Verschärfung der<br />
Abtreibungsgesetze freigemacht. Nach dem<br />
Entwurf der Regierung von Ministerpräsident<br />
Mariano Rajoy sollen Jugendliche<br />
im Alter zwischen 16 und 18 Jahren eine<br />
Abtreibung künftig nicht mehr ohne die<br />
Erlaubnis ihrer Eltern<br />
durchführen lassen<br />
können. Vier Änderungsanträge<br />
der Opposition<br />
wurden von<br />
Rajoys Volkspartei PP<br />
zurückgewiesen. Die<br />
stärkste Oppositionskraft,<br />
die Sozialistische<br />
Arbeiterpartei<br />
(PSOE), wies die<br />
Reform als »Angriff<br />
auf die Rechte der<br />
Frauen“ zurück. Die<br />
PP wolle mit der<br />
Verschärfung bei den<br />
Parlamentswahlen<br />
Ende des Jahres<br />
Stimmen gewinnen,<br />
LA_MONCLOA<br />
Mariano Rajoy<br />
hieß es. Ursprünglich wollte die Regierung<br />
Rajoy die von den Sozialisten eingeführte<br />
Fristenregelung wieder abschaffen. Dieses<br />
zentrale Wahlversprechen brach Rajoy jedoch,<br />
nachdem ein fertiger Gesetzentwurf in<br />
der eigenen Partei auf Widerstand gestoßen<br />
war.<br />
reh<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 19
M E D I Z I N<br />
DANIEL RENNEN<br />
Der Hirntote ist<br />
ein Lebender<br />
Anfang des Jahres hat der Deutsche Ethikrat seine von Vielen mit Spannung erwartete<br />
Stellungnahme »Hirntod und Entscheidung zur Organspende« publiziert. »<strong>LebensForum</strong>«<br />
dokumentiert nachfolgend den Offenen Brief, den der Autor an die Vorsitzenden<br />
des Gremiums adressiert hat, das Bundesregierung und Bundestag in bioethischen Fragen berät.<br />
Von Anton Graf von Wengersky<br />
Schloss Elkofen 1, 85567 Grafing,<br />
am 10.03.<strong>2015</strong><br />
Frau Prof. Dr. Christiane Woopen<br />
c/o Deutscher Ethikrat<br />
Jägerstr. 22/23<br />
10117 Berlin<br />
Sehr geehrte Frau Professor Dr. Woopen,<br />
20<br />
mit großem Interesse habe auch ich<br />
die unter Ihrem Vorsitz erarbeitete Stellungnahme<br />
(01) »Hirntod und Entscheidung<br />
zur Organspende« des Deutschen<br />
Ethikrates (DER) zur Kenntnis genommen<br />
und das mir liebenswürdiger Weise<br />
zugesandte Exemplar des Textes studiert.<br />
Ein mutiges Papier. Trotz der beiden im<br />
Ausgangspunkt diametralen Positionen<br />
im Ethikrat (Position A: Der Hirntote<br />
ist tot und kann durch die Organentnahme<br />
nicht mehr getötet werden, Position<br />
B: Der Hirntote lebt und wird durch die<br />
Organentnahme legitim getötet) konnte<br />
das Ergebnis vom Bundesminister für<br />
Gesundheit Hermann Gröhe und vom<br />
ganzen großen Kreis der Transplantationsmedizin<br />
als Bestätigung eigenen Tuns<br />
mit Erleichterung zur Kenntnis genommen<br />
werden. Bitte erlauben Sie mir dennoch<br />
einige, teils zustimmende, teils kritische<br />
Anmerkungen:<br />
Das mentalistische Todesverständnis<br />
ist jedem, der die Diskussion der letzten<br />
25 Jahre verfolgt hat, wiederholt als Begründung<br />
für die Akzeptierung des Hirntodkonzepts<br />
begegnet. Ich bin deshalb<br />
dankbar, dass der DER ein ausschließlich<br />
mentalistisches Todesverständnis einmütig<br />
verwirft. Auch Ihr ablehnender Hinweis,<br />
»gemäß dieser Auffassung sind konse-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
quenterweise anenzephale Neugeborene und<br />
möglicherweise auch apallische Patienten als<br />
Tote zu qualifizieren« (01:S.68), ist mir als<br />
Lebensschützer zur Verteidigung meiner<br />
Position wertvoll.<br />
Zur Bedeutung des Gehirns als Integrationsorgan<br />
(Position A <strong>–</strong> mir ist bewußt,<br />
dass Sie diese Position nicht teilen)<br />
wird in der Stellungnahme auf das<br />
offenbar auch vom DER als wissenschaftlich<br />
maßgebend angesehene White Paper<br />
(02) von 2008 rekurriert. Dessen auf die<br />
Forschungsergebnisse von D. Alan Shewmon<br />
zurückgehender zentraler Satz:<br />
»The brain is not the integrator of the<br />
body’s many and varied functions ... Integration,<br />
rather, is an emergent property<br />
of the whole organism« (02:40) bleibt<br />
jedoch unerwähnt. Hätte nicht dieser<br />
für den Leser leicht verständliche<br />
Satz zur Verdeutlichung der Aussage<br />
des White Paper in der Stellungnahme<br />
(01) zitiert werden müssen?<br />
Position B: »Der Hirntod ist keine<br />
hinreichende Bedingung für den Tod<br />
des Menschen«. Hier stimmen Sie mit<br />
der Kernerkenntnis von D. Alan Shewmon<br />
überein. Als international angesehensten<br />
Hirntodexperten hatten<br />
Sie ihn am 21.03.2012 im DER zur<br />
Gast. Sein Referat endete damals mit<br />
dem Ihre Position B auf das schönste<br />
bestätigenden Satz: »Abschließend<br />
kann zusammengefaßt werden, dass ein<br />
hirntoter Patient schwer geschädigt und<br />
völlig von der Hilfe anderer abhängig ist<br />
und sich in einer höchst prekären Situation<br />
befindet. Es handelt sich bei einem solchen<br />
Patienten jedoch um einen lebenden<br />
und integrierten Organismus« (03:14).<br />
Auch dieser für den Leser der Stellungnahme<br />
leichter verständliche und<br />
die grundlegende Substanz der Position<br />
B greifbar verdeutlichende Satz<br />
fehlt mir in Ihrem Text.<br />
Sie selbst, Frau Prof. Dr. Woopen,<br />
und die Minderheitsfraktion des DER<br />
sehen den »Hirntod« nicht als den Tod<br />
des Menschen, den hirntoten Patienten<br />
nicht als schon verstorben an. Erstmals<br />
in Deutschland wird so im politischen<br />
Umfeld öffentlich zugegeben, dass der<br />
sogenannte »Hirntote« in Wirklichkeit<br />
ein Patient in großer Not, aber ein lebender<br />
Mensch ist. Das ist die von Ihnen erkannte<br />
Wahrheit, zu der Sie stehen. Für<br />
diese Ihre eindeutige und mutige Positionierung<br />
haben Sie (und mit Ihnen die<br />
gesamte Minderheitsfraktion des DER)<br />
meine allergrößte Hochachtung.<br />
Für Sie und die der Position B zustimmende<br />
Minderheit des DER besteht<br />
nicht nur die abstrakte Möglichkeit, den<br />
beatmeten hirntoten Patienten zu töten.<br />
Der hirntote Patient, »der noch nicht tot<br />
ist« (01:102), wird vielmehr nach Ihrer<br />
Erkenntnis erst durch die ärztliche Organentnahme<br />
getötet. Genau das wirft<br />
Ihnen die der Position A anhängende<br />
Mehrheit des DER auch vor (01:163).<br />
Für Sie (und die Minderheit des DER)<br />
kann jedenfalls die ärztliche Organentnahme<br />
in der Tat nicht mehr postmortal<br />
genannt werden. Sie ist letal.<br />
Die nach Ihrer (und der Minderheit<br />
des DER) Meinung letale Organentnahme<br />
sehen Sie dennoch als ethisch und<br />
Die Stellungnahme des Ethikrats<br />
verfassungsrechtlich legitim an, soferne<br />
sie dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen<br />
Willen des Betroffenen entspricht.<br />
Das ist kongruent mit Ihrer Positionierung<br />
Ihrer Ablehnung eines umfassenden<br />
Verbots der ärztlichen Suizidhilfe (04).<br />
»Legitim« steht hier im Unterschied<br />
zu »legal«. Legal ist nach dem Transplantationsgesetz<br />
die Organentnahme<br />
nur nach dem Tod zulässig (TPG § 3<br />
Abs. 1 Nr. 2). Der Verstoß gegen diese<br />
Vorschrift ist mit Freiheitsstrafe bis zu<br />
drei Jahren bedroht (TPG § 19 Abs. 2).<br />
Und § 216 StGB? Die in den Augen der<br />
Minderheit des DER zugleich letale und<br />
doch legitime Organentnahme ist jedenfalls<br />
ein strafbedrohter Gesetzesverstoß.<br />
Ich akzeptiere freilich, dass in raren Fällen<br />
»illegal« und »legitim« unter demselben<br />
Zylinderhut Platz finden.<br />
Verfassungsrechtlich haben wir den<br />
Spruch des Bundes-Verfassungsgerichtes<br />
(05): Die biologisch-physische Existenz<br />
jedes Menschen ist nach Art. 2.2 GG<br />
»unabhängig von den Lebensumständen des<br />
Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen<br />
Befindlichkeit« geschützt. Kann dieser dem<br />
Patienten verfassungsrechtlich garantierte<br />
Schutz für Leben und körperliche Unversehrtheit<br />
durch Verzicht des Betroffenen<br />
(etwa in Form eines Organspendeausweises)<br />
aufgehoben und die Organentnahme<br />
damit »legitim« werden? Ich<br />
kann Ihnen und der Minderheit des<br />
DER in dieser Auffassung keinesfalls<br />
folgen. Wäre sie richtig, dann müsste<br />
dem Bürger auch sein Verzicht auf<br />
die ihm nach Art. 1.1 GG verfassungsrechtlich<br />
garantierte Menschenwürde<br />
offenstehen.<br />
Ethisch sehe ich bei Position B (legitime<br />
Tötung des zustimmenden Organspenders<br />
durch Organentnahme)<br />
als Christ die mir durch Gottes fünftes<br />
Gebot gezogene Grenze überschritten.<br />
Diese Meinung müssen Sie, Frau<br />
Prof. Dr. Woopen, natürlich nicht teilen.<br />
Bedenken Sie aber bitte die Möglichkeit,<br />
dass einige Mitglieder des<br />
DER entgegen den ihnen bekannten<br />
wissenschaftlichen Evidenzen deshalb<br />
die Position A eingenommen haben<br />
könnten, weil sie sich nur so vor ihrem<br />
Gewissen vom Tötungsvorwurf<br />
befreien konnten: dem von Position<br />
B legitimierten »justified killing« (06)<br />
des Organspenders.<br />
Vor dem gleichen Dilemma steht<br />
im Umgang mit dem Hirntod-Organspender<br />
auch das intensivmedizinische<br />
Fachpersonal. Dieses urteilt aus<br />
eigener Erfahrung und Praxis mit der<br />
praefinalen Konditionierung des potentiellen<br />
Spender-Patienten, mit der<br />
Hirntod-Diagnose, mit der Betreuung<br />
des hirntoten Patienten und schließlich<br />
der Organentnahme selbst. Unabhängig<br />
von ihrer tatsächlichen Einstellung<br />
zu den Fakten konnten befragte Transplantationsärzte<br />
bei der auch von Ihnen<br />
reportierten Befragung (07) das ihrem<br />
Tun zugrundeliegende Hirntodkonzept<br />
wohl kaum ablehnen.<br />
Unrichtig ist übrigens Ihre Darstellung,<br />
dass sich die angegebenen 40-prozentige<br />
Ablehnung des Hirntodkonzepts<br />
beim intensivmedizinischen Fachpersonal<br />
nur auf den Teil der Befragten bezieht,<br />
der, wie Sie schreiben, »die Organspende<br />
für sich ablehnt«. Der Autor der Befragung,<br />
Prof. Dr. Gerold Söffker, hat vielmehr<br />
auf Nachfrage am 01.02.2014 mitgeteilt,<br />
die prozentuelle Verteilung der<br />
abgegebenen Antworten beziehe »sich<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 21
M E D I Z I N<br />
keinesfalls nur auf die Befragten, die einer<br />
Organspende nicht zustimmen. Da<br />
allerdings nicht alle der 1.045 Befragten<br />
diese Frage beantworten konnten, beträgt<br />
die Grundgesamtheit bei dieser Frage<br />
n=758«. Beim aus eigener Erfahrung<br />
mit der Hirntod-Organentnahme urteilenden<br />
intensivmedizinischen Fachpersonal<br />
ist also die Ablehnung des Hirntodkonzepts<br />
trotz des die Ablehnungsquote<br />
mindernden Dilemmas mit 40 Prozent<br />
deutlich höher als im Deutschen Ethikrat:<br />
Bei Ihnen betrug (Dr. Peter Radtke<br />
hat offenbar nicht mitgestimmt, also<br />
n=25) bei 7 Vertretern der Minderheitsposition<br />
B die Ablehnung gerademal 28<br />
Prozent. Die eigenen Erfahrungen bei<br />
Ausübung der Hirntod-Praxis erhöhen<br />
also ganz offensichtlich die Ablehnung<br />
des Hirntodkonzepts signifikant.<br />
Die Zweifel an der Plausibilität des<br />
Hirntodkonzepts erstrecken sich auch auf<br />
die Feststellung des Hirntods, also die sogenannte<br />
»Hirntodiagnose«. Die Hirntoddiagnose<br />
kann im Grunde nicht mehr<br />
leisten als eine Verfestigung der infausten<br />
Prognose für den jeweiligen Patienten<br />
(vgl. White Paper Abschnitt IVB). Die<br />
Hirntoddiagnose ist also, geht man von<br />
der Fiktion zu den Fakten über, jedenfalls<br />
eines nicht: eine Todesfeststellung.<br />
Zu den wissenschaftlichen Zweifeln<br />
an der Aussagekraft der Hirntoddiagnose<br />
nenne ich Ihnen nur zwei Beispiele: Prof.<br />
Cicero Galli Coimbra hat für den Apnoe-<br />
22<br />
Der Ethikrat weist ein ausschließlich mentalistisches Todesverständnis zurück<br />
Test, bei uns die Kernuntersuchung der<br />
Hirntoddiagnose, in »The Apnea Test <strong>–</strong> a<br />
Bedside lethal Disaster« (08) die Grenzen<br />
von dessen diagnostischer Aussagekraft<br />
deutlich aufgezeigt. Auch die American<br />
Academy of Neurology AAN (09) hat<br />
sich mit der bloßen Behauptung, mit den<br />
neurologischen Verfahren der Hirntoddiagnose<br />
könne die irreversible Zerstörung<br />
des Gehirns nachgewiesen werden,<br />
nicht zufrieden gegeben. Sie hat deshalb<br />
bei 41 vorab als hirntot diagnostizierten<br />
Patienten nach der Organentnahme die<br />
Leichen obduzieren lassen. Zur Überraschung<br />
der Ärzte fanden sich dabei nur<br />
leichte Hirnschäden und nicht ein einziger<br />
Fall von irreversibler Zerstörung<br />
des Gehirns. Das Urteil der AAN ist vernichtend:<br />
»Neuropathologic examination is<br />
therefore not diagnostic of brain death«(09).<br />
Bewegt sich die Stellungnahme des DER<br />
hier auf dünnem Eis?<br />
Kennen Sie dazu die von D. Alan<br />
Shewmon abgegebene Declaration vom<br />
03.10.2014 zum Fall der Patientin Jahi<br />
McMath? Der Kern-Absatz von Shewmons<br />
Ausführungen lautet: »Clearly Jahi<br />
is not currently brain dead. Yet I have no<br />
doubt that at the time of her original diagnosis,<br />
she fullfilled the AAN diagnostic criteria,<br />
correctly and rigorously applied by the several<br />
doctors who independently made the diagnosis<br />
then. That diagnosis was even backed<br />
up by two ancillary tests: an EEG that was<br />
reportedly isoelectric and a radionuclide scan<br />
that reportedly showed no intracranial blood<br />
flow. A likely explanation for the discrepancy<br />
(in fact the only explanation I can think<br />
of) is that (1) the standard clinical diagnostic<br />
criteria are not as absolutely 100% reliable<br />
as commonly believed, and (2) radionuclide<br />
blood flow studies are not sensitive enough to<br />
distinguish no flow from low flow«. Hirntoddiagnose<br />
nicht zuverlässig? Irreversibilität<br />
des Hirntods, Schmerzfreiheit des Hirntoten<br />
mehr bloße Behauptung als Fakt?<br />
Die Hirntoddiagnose setzt voraus, dass<br />
beim Spenderpatienten die Schmerztherapie<br />
und die Palliativbegleitung unterbrochen<br />
werden. Selbst ist sie mit willentlicher<br />
ärztlicher Schmerzzufügung verbunden<br />
(Sie nennen das Durchstechen der<br />
Nasenscheidewand beschönigend einen<br />
»adäquaten Schmerzreiz« 01:19) und dem<br />
risikovollen (01:21) und wegen der Erstickungsanfälle<br />
beim Sauerstoffentzug für<br />
den Patienten unter Umständen qualvollen<br />
Apnoe-Test. Ich würde das alles weder<br />
selbst erleiden wollen, noch je bei einem<br />
Familienmitglied zulassen. Muss die heutige<br />
Hirntoddiagnose als ärztliche Körperverletzung<br />
eines Sterbenden qualifiziert<br />
werden? Sollte sie nicht ausschließlich<br />
bei Vorabgenehmigung des Patienten<br />
(auf seinem Organspendeausweis) zulässig<br />
sein? Dann wäre der Spenderpatient<br />
auch besser abgesichert gegen den ärztliche<br />
Entzug seines weiteren Versicherungsschutzes<br />
durch nicht autorisierte<br />
Hirntodfeststellung.<br />
Ihre Empfehlungen an die Politik zielen<br />
nur teilweise auf die an sich nötige Absicherung<br />
durch Gesetze ab. Für eine solche<br />
Absicherung habe ich selbst 2013 den<br />
beiliegenden Entwurf eines Gesetzes zur<br />
Änderung des Transplantationsgesetzes<br />
ausgearbeitet und an die Fraktionsvorsitzenden<br />
aller im Deutschen Bundestag<br />
vertretenen Parteien geschickt. Es wird<br />
Sie nicht wundern, dass es zu den angeregten<br />
Änderungen nicht gekommen ist.<br />
Der DER hält an der Hirntod-Organspende<br />
fest. Den Patiententod (Dead-<br />
»Transplantationsskandale sind<br />
nur die Spitze eines Eisbergs«<br />
Donor-Rule) sieht er teils (Position A)<br />
als zwingende Vorrausetzung, teils (Position<br />
B) als entbehrlich. Die Organentnahme<br />
nach Herzstillstand (Non-Heart-<br />
Beating-Donation) lehnt der DER einmütig<br />
ab. Shewmon schlägt stattdessen<br />
die Kombination »Herztod und Hirntod«<br />
als Vorraussetzung für die Organ-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
DANIEL RENNEN<br />
entnahme vor (10): Liegt die Zustimmung<br />
des Spenders zu Hirntoddiagnose<br />
und Organspende vor, soll nach festgestelltem<br />
Hirntod mit dem Beginn der Organentnahme<br />
bis nach dem natürlichen<br />
Eintritt des sowieso kurz bevorstehenden<br />
Herztodes zugewartet werden. Die<br />
Organentnahme wäre dann tatsächlich<br />
postmortal und die Dead-Donor-Rule<br />
gerettet. Könnte dieser Shewmon-Vorschlag<br />
für eine legale und verfassungsfeste<br />
Fortführung der Organtransplantation<br />
der Königsweg sein?<br />
Ich glaube das nicht. Zu übergriffig<br />
ist mir dafür der heutige ärztliche Umgang<br />
mit möglicherweise als Organspender<br />
in Frage kommenden Patienten. Das<br />
belastende Legen von Zugängen für die<br />
Organentnahme schon bei der »praefinalen<br />
Konditionierung« (11), das »Therapieziel<br />
Hirntod« (12), die beim Hirnverletzten<br />
hochriskante Gabe von Blutverdünnungsmitteln<br />
zur Organprotektion,<br />
alles lange vor Eintritt des Hirntods<br />
und ohne Vorab-Einholung einer Zustimmung,<br />
sind schwere Körperverletzungen.<br />
Weit mehr als die von Ihnen als<br />
ärztliche Körperverletzung eingeschätzte<br />
therapeutische Weiterbehandlung des<br />
Patienten nach Hirntoddiagnose. Übergriffig<br />
ist auch die bei Multiorganentnahmen<br />
immer wieder erfolgende Mitnahme<br />
von Organen und verwertbaren Körperteilen,<br />
nicht nur der Augen, die von Angehörigen<br />
oder dem Patienten selbst ausdrücklich<br />
von der Organentnahme ausgeschlossen<br />
waren. Auch dass die Ärzte<br />
Angehörigen, die sich nach der Organentnahme<br />
von der Leiche ihres lieben<br />
Toten verabschieden wollen, von einer<br />
Konfrontation mit der explantierten Leiche<br />
regelmäßig abraten, spricht für sich.<br />
Durch die Transplantationsskandale ist<br />
nur die Spitze eines Eisbergs sichtbar geworden.<br />
Sein größerer Teil liegt, auch er<br />
außerhalb der Legalität, für die Öffentlichkeit<br />
unsichtbar unter der Wasserlinie.<br />
Die Zahnlosigkeit der TPG-Schutzbestimmungen<br />
zur Einhaltung seiner Regeln<br />
unterstützt noch die Übergriffigkeit<br />
gegenüber potentiellen Organspendern<br />
unter den anvertrauten Patienten. Gleiches<br />
gilt für die von Transplantationsärzten<br />
selbst ausgeübte Kontrolle des Systems.<br />
Die Kritik der Kommission nach<br />
§ 11.3 und § 12.5 TPG erfolgt meist erst<br />
nach Ablauf der Verjährungsfrist für Verstöße,<br />
so dass strafrechtliche Konsequenzen<br />
nicht mehr gezogen werden können.<br />
Sie kennen sicher den Spruch: »Eine Krähe<br />
hackt der andern kein Auge aus«. Was<br />
sollte da jetzt ein Übergang zum Shewmon-Vorschlag<br />
(oben Ziffer 17) ändern,<br />
gegen den sich überdies die Transplantationsmediziner<br />
mit Händen und Füßen<br />
wehren würden?<br />
Ist, Frau Professor Dr. Woopen, der<br />
Text »Hirntod und Entscheidung zur Organspende«<br />
als Stellungnahme des DER<br />
trotz oder wegen seiner fast 200 Seiten<br />
vielleicht doch nicht, was er sich vorgenommen<br />
hatte: Ein Beitrag zur Information<br />
und ergebnisoffenen Aufklärung der<br />
gesamten Bevölkerung »über die gesamte<br />
Tragweite« einer Entscheidung zur Organspende?<br />
Sie haben mit diesem mühevoll<br />
erarbeiteten Text und mit der klaren<br />
Aussage der Minderheit des Deutschen<br />
Ethikrates: der »hirntote« Patient<br />
ist ein lebender Mensch, dessen Sterbevorgang<br />
erst durch die Organentnahme<br />
beendet wird, wahrlich Großes geleistet.<br />
Ihr Text sollte aber, das scheint mir<br />
unverkennbar, eine Stellungnahme pro<br />
Organspende sein. Eine ergebnisoffene<br />
Aufklärung der breiten Bevölkerung hat<br />
er möglicherweise gerade deshalb verfehlt.<br />
So steht wohl auch Ihr Text, das<br />
Sieht so das Ende einer Verwertungskette aus?<br />
ist schade, unter der Aussage des deutschen<br />
Transplantationspapstes Prof. Dr.<br />
Robert Pichlmayr: »Wenn wir die Gesellschaft<br />
aufklären, bekommen wir keine<br />
Organe mehr!«<br />
Diesen Brief schreibe ich Ihnen, sehr<br />
geehrte Frau Dr. Woopen, als offenen<br />
Brief. Denn ich möchte ihn in Anbetracht<br />
der Bedeutung und Reichweite<br />
Ihrer Hirntod-Stellungnahme auch anderen<br />
Mitgliedern des Ethikrates, der<br />
Ärzteschaft, der Politik und der Kirchen<br />
zuleiten. Es würde mich freuen, einmal<br />
von Ihnen zu hören.<br />
Anlage:<br />
Mein »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung<br />
des Transplantationsgesetzes« vom 01.03.2013<br />
Literatur:<br />
(01) Deutscher Ethikrat (<strong>2015</strong>): Hirntod und<br />
Entscheidung zur Organspende. Stellungnahme.<br />
(02) Presidents Council on Bioethics (2008):<br />
Controversies in the Determination of<br />
Death«. A White Paper.<br />
(03) Shewmon, D.A., (2012): Medizin & Ideologie<br />
34,5-14.<br />
(04) »Die Tagespost« (06.12.2014): 1 und 13f.<br />
(05) BVerfGE 115: 118 (139).<br />
(06) Miller, F.G.,Truog, R.D. (2008): Rethinking<br />
the Ethics of Vital Organ Donation,<br />
Hastings Center Report 38,no.6.<br />
(07) Söffker, G. et al (2014): Einstellung des<br />
intensivmedizinischen Fachpersonals zur<br />
postmortalen Organspende in Deutschland,<br />
Medizinische Klinik <strong>–</strong> Intensivmedizin<br />
und Notfallmedizin 109 (1), 41-47.<br />
(08) Mattei, R.Hrsg. (2006): Finis Vitae, 113-<br />
145.<br />
(09) Wijdicks, E.F.M. et al (2008): Neuropathology<br />
of brain death in the modern transplant<br />
era. Neurology 70,1234-1237.<br />
(10) Shewmon, D.A., (1998): Brainstem Death,<br />
Brain Death and Death, Law & Medicine<br />
14, 137ff.<br />
(11) Schöne-Seifert, B., (2011): Behandlung potentieller<br />
Organspender im Präfinalstadium.<br />
Dt. Ärzteblatt 2011, B1770<br />
(12) Erbguth, F. et al (2014): Therapieziel Hirntod?,<br />
Bayerisches Ärzteblatt 3/2014, 116-<br />
119.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 23
K O N T R O V E R S<br />
Wofür steht das Kreuz?<br />
Der Autor, katholischer Priester, der auch öffentlich für den Schutz des Lebens eines jeden Menschen<br />
eintritt, stellt in dem nachfolgenden Beitrag die Frage, ob Lebensrechtler wirklich<br />
gut beraten sind, wenn sie beim »Marsch für das Leben« weiße Holzkreuze mit sich führen.<br />
»<strong>LebensForum</strong>« veröffentlicht den unverlangt eingesandten Beitrag ungekürzt.<br />
Von Andreas Kuhlmann<br />
24<br />
Heutzutage wird in den modernen<br />
Gesellschaften das Kreuz<br />
gerne als Schmuckstück getragen,<br />
aber gleichzeitig aus Klassenzimmern<br />
und Gerichtssälen verbannt. Bei den<br />
Ägyptern galt das Kreuz als Zeichen des<br />
Lebens. Auch im Einsatz für das Leben<br />
unschuldiger und wehrloser Menschen<br />
wird es auf vielfältige Weise verwendet.<br />
Es ist gut, manchmal darüber nachzudenken,<br />
was wir mit dem Kreuz als Zeichen<br />
verbinden. Das soll an dieser Stelle<br />
geschehen.<br />
Während das Kreuz in der ägyptischen<br />
Kultur das Leben symbolisierte, stand es<br />
im römischen Imperium für den Tod: das<br />
Kreuz als schreckliches Marterwerkzeug.<br />
Der schmachvolle Tod an einem Kreuz<br />
aus Holz war für die Bewohner des römischen<br />
Reiches die grausamste Hinrichtungsart,<br />
denn das Leiden war enorm<br />
und zog sich sehr in die Länge (im Vergleich<br />
zu anderen Hinrichtungsformen<br />
durch den Speer, das Vierteilen, das Verbrennen,<br />
der zum Tode verdammte Gladiator<br />
usw.).<br />
Erst, als sich mit den Christen auch<br />
das Symbol ihres Glaubens, das Kreuz,<br />
»Das Kreuz symbolisiert die Liebe<br />
Gottes, die grenzenlos ist«<br />
auf dem Gebiet des römischen Imperiums<br />
und dann darüber hinaus ausbreitete,<br />
bekam das Kreuz einen symbolischen<br />
Wert, der die schreckliche Verwendung<br />
von vormals nach und nach vergessen<br />
ließ. Wie konnte es zu dieser Art »Umwertung«<br />
oder Umdeutung des Kreuzes<br />
kommen? Wie konnte eine Religion,<br />
die die Liebe und Barmherzigkeit predigt,<br />
auf solch ein negatives Zeichen zurückgreifen,<br />
dass doch nur für Hass und<br />
Unbarmherzigkeit steht? Die Antwort<br />
auf diese Fragen finden wir bei dem Gekreuzigten<br />
selbst: bei seiner Lehre und<br />
bei seinem Leben.<br />
Als geschichtliche Tatsache steht fest:<br />
Jesus Christus ist durch die Hinrichtungsform<br />
der Kreuzigung ermordet worden.<br />
Er hat seinen gewaltsamen Tod vorausgesehen<br />
und ohne Rebellion angenommen,<br />
denn er ist freiwillig gestorben,<br />
um uns Menschen zu erlösen. Als<br />
Mensch, der er (auch) war, litt er seelisch<br />
und körperlich bis ins Unermessliche.<br />
Der Grund, so zu sterben, war nicht<br />
die bittere Konsequenz von persönlicher<br />
Schuld, Schwäche, Resignation oder gescheitertem<br />
Widerstand gegen Unrecht:<br />
es war seine unermessliche Liebe zu uns<br />
Menschen. »Niemand hat eine größe-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
e Liebe als der, der sein Leben hingibt<br />
für seine Freunde.« (Vgl. Joh 15,13) Er<br />
hat das Kreuz als Werkzeug der Befreiung<br />
des Menschen von der Versklavung<br />
der Sünde genutzt. Er hat unendlich gelitten,<br />
aber er hat souverän gehandelt. Er<br />
wurde nicht Opfer, er hat sich zum Opfer<br />
gemacht. Gottes Sohn wusste, was er auf<br />
sich nahm und wofür er es auf sich nahm.<br />
»Das Kreuz für politische Zwecke<br />
einzusetzen, ist sehr bedenklich«<br />
»Wenn das Weizenkorn nicht in den Boden<br />
fällt und stirbt, kann es keine Frucht<br />
bringen« (vgl. Joh 12,24), lehrte er. Und<br />
so hat er gehandelt. Die Frucht der Sünde<br />
Adams war der Tod, die Frucht des Todes<br />
am Kreuz ist das Leben, sagen die Kirchenväter.<br />
Das ist die zentrale Botschaft<br />
des Christentums an die Welt.<br />
Johannes Paul II. schrieb in seinem<br />
Buch »Die Schwelle der Hoffnung überschreiten«<br />
im 11. Kapitel über die Frage<br />
der Ohnmacht Gottes: »Das Christentum<br />
ist eine Religion des Heils, das heißt,<br />
um den theologischen Ausdruck zu verwenden,<br />
es ist Soteriologie. Die christliche<br />
Soteriologie konzentriert sich auf<br />
das Ostergeheimnis. Wenn der Mensch<br />
auf die Rettung durch Gott hoffen will,<br />
so muss er unter dem Kreuz Christi verharren.<br />
Und dann, am Sonntag, der auf<br />
den Karsamstag folgt, muss er vor dem<br />
leeren Grab stehen und wie die Frauen<br />
von Jerusalem hören: ›Er ist nicht hier,<br />
denn er ist auferstanden‹ (Mt 28,6). Zwischen<br />
dem Kreuz und der Auferstehung<br />
steht die Sicherheit, dass Gott den Menschen<br />
rettet, dass er ihn rettet durch Christus,<br />
durch sein Kreuz und seine Auferstehung.«<br />
Das Kreuz, das bis dahin nur Symbol<br />
des Todes war <strong>–</strong> Symbol von Vernichtung<br />
und Auslöschung des Lebens <strong>–</strong> ist<br />
mit dem Tod und der Auferstehung des<br />
Sohnes Gottes zum Zeichen der Hoffnung<br />
und der Liebe für alle Menschen<br />
geworden. Nur so kann man verstehen,<br />
dass viele Menschen <strong>–</strong> viele darunter<br />
nicht einmal Christen <strong>–</strong> ein Kreuz auf<br />
ihrer Brust tragen.<br />
Deshalb würde man das christliche<br />
Kreuz gründlich missdeuten und in die<br />
Gefahr geraten, es auch missbräuchlich<br />
zu verwenden, wenn man das christliche<br />
Kreuz nicht mehr dafür stehen lässt, wofür<br />
es nach dem christlichen Bekenntnis<br />
steht: für den Sieg über den Tod, für die<br />
Überwindung destruktiver Mächte durch<br />
die göttliche Allmacht, die alles neu zu<br />
erschaffen mag.<br />
Im Laufe der Geschichte kam es immer<br />
wieder zu Fehldeutungen, wofür<br />
denn das Kreuz stehe. In der Kunst des<br />
20. Jahrhunderts gab es die marxistische<br />
Ausdeutung des Todes Christi am Kreuz:<br />
Gott reißt sich vom Kreuz los und schleudert<br />
den Übeltätern die Nägel voller Wut<br />
entgegen. Das Aufbegehren der Unterdrückten,<br />
der Klassenkampf, sollte geschürt<br />
werden.<br />
Die Heiligen der Kirche haben niemals<br />
eine den christlichen Glauben total<br />
verkennende Interpretation gekannt. Sie<br />
haben das Kreuz nicht theoretisch ausgedeutet,<br />
sondern am eigenen Leib, im eigenen<br />
Leben, erfahren … und es geliebt.<br />
Der hl. Josefmaria Escrivá, der Gründer<br />
des Opus Dei, schrieb einmal über<br />
das Kreuz: »Wir treffen manchmal auf<br />
eine falsche Spiritualität, die uns einen<br />
zornigen, aufbegehrenden Christus vor<br />
Augen stellt, einen zusammengekrümmten<br />
Leib, der wie eine Drohung über den<br />
Menschen zu hängen scheint: ihr habt<br />
mich zerschlagen, aber ich werde meine<br />
Nägel, mein Kreuz, meine Dornen gegen<br />
euch schleudern. Solche Menschen<br />
wissen nichts vom Geiste Jesu Christi. Er<br />
hat alles, was Er konnte, gelitten <strong>–</strong> und<br />
das ist, seiner göttlichen Natur entsprechend,<br />
unermesslich viel gewesen! <strong>–</strong> aber<br />
seine Liebe hat sein Leiden noch übertroffen<br />
... Noch nach seinem Tod ließ Er<br />
es zu, dass ein Lanzenstoß Ihm eine weitere<br />
Wunde zufügte, damit du und ich<br />
dicht an seinem geliebten Herzen Zuflucht<br />
fänden.« (Kreuzweg, XII. Station,<br />
Betrachtungspunkt 3)<br />
»Das Kreuz darf nicht als Zeichen<br />
der Anklage verstanden werden«<br />
Das christliche Kreuz symbolisiert die<br />
verzeihende Liebe Gottes, die grenzenlos<br />
ist. Es für politische Ziele einzusetzen,<br />
und mögen sie noch so edel sein, scheint<br />
mir zumindest sehr bedenklich und geht<br />
mit der Gefahr einher, dessen eigentliche<br />
Aussage zu verfälschen. Wenn diejenigen,<br />
die für eine Kultur des Lebens<br />
einstehen wollen, das Kreuz zur Hand<br />
nehmen, dann sollte es die Liebe Gottes<br />
widerspiegeln, die der Vergebungsbereitschaft<br />
der Christen spezifisch Ausdruck<br />
verschafft.<br />
Hören wir noch einmal den hl. Josefmaria,<br />
der <strong>–</strong> so meine ich <strong>–</strong> hierzu einen<br />
sehr wichtigen Gedanken äußerte:<br />
»Versöhnen, Verstehen, Verzeihen: darum<br />
geht es. Richte niemals ein Kreuz<br />
auf, nur um daran zu erinnern, dass Menschen<br />
Menschen umgebracht haben. Es<br />
wäre ein Banner des Teufels. Das Kreuz<br />
Christi tragen heißt vielmehr: schweigen,<br />
vergeben und für alle beten, damit<br />
alle Frieden finden.« (Kreuzweg, VIII.<br />
Station, Betrachtungspunkt 3)<br />
Wenn also das Kreuz <strong>–</strong> als Symbol des<br />
christlichen Glaubens an den auferstandenen<br />
Erlöser der Welt <strong>–</strong> auf Schweigemärschen<br />
für die unschuldig getöteten<br />
Kinder eingesetzt wird, wenn es in großer<br />
Zahl auf ein Feld gestellt wird, dann<br />
muss es vor allem ein Zeichen der Hoffnung<br />
und der Liebe sein und darf nicht<br />
als bloßes Mahnmal oder sogar als Zeichen<br />
der Anklage verstanden werden. Das<br />
erhobene Kreuz will sagen: lass dich mit<br />
Gott versöhnen!<br />
Wer das Kreuz als christliches Symbol<br />
einsetzt, will damit sagen, dass er<br />
trotz Unrecht, Leid und Tod, die über<br />
das abgetriebene Kind gekommen sind,<br />
daran glaubt, dass es für jeden Menschen<br />
»Auferstehung« gibt: Reue und Umkehr,<br />
Vergebung und Neuanfang, ein neues<br />
Leben und ein glückseliges ewiges Leben<br />
bei Gott.<br />
Der Tod <strong>–</strong> alle destruktiven Kräfte<br />
und Akteure dieser Welt <strong>–</strong> hat nicht das<br />
letzte Wort, nicht die endgültige Macht:<br />
die Liebe Gottes siegt immer! Diese frohe<br />
Osterbotschaft ist ja im Grunde auch<br />
das, was bei einem guten Beratungsgespräch<br />
durchscheint, was bei den vielfältigen<br />
praktischen Hilfen zum Ausdruck<br />
kommt: es gibt Hoffnung und es<br />
gibt wirkliche Liebe, gegen die der Tod<br />
(die Kultur des Todes) letztendlich ohnmächtig<br />
bleibt.<br />
Ein letzter eher praktisch orientierter<br />
Gedanke. Die Märsche für das Leben<br />
sind unverzichtbar, denn das Unrecht an<br />
den Kindern darf nicht aus dem öffentlichen<br />
Bewusstsein verschwinden. Aber<br />
vielleicht können die Teilnehmer statt<br />
des Kreuzes leere Kinderwagen vor sich<br />
herschieben. Auch sie wecken Aufmerksamkeit<br />
und der ein oder andere wird sich<br />
beim Anblick dieser traurigen Szene fragen,<br />
wo das Kind denn geblieben ist. Statt<br />
in den Armen von Mama oder Papa, wo<br />
man es vermuten würde, ist es weg: ein<br />
für alle Mal. Es wäre der stumme Schrei<br />
leerer Kinderwagen, der in den Straßen<br />
ertönen würde.<br />
Als andere symbolische Handlung wäre<br />
das Tragen von Grabsteinen (aus Pappe<br />
oder Styropor) mit fiktiven Lebensdaten<br />
eines abgetriebenen Kindes (z. B.<br />
N. N., + 5.5.2014, im 3. Monat ante partum,<br />
a. p.) denkbar.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 25
G E S E L L S C H A F T<br />
»Frauen verdienen<br />
Besseres«<br />
Auf Einladung des <strong>ALfA</strong>-Regionalverbandes Memmingen sprach die US-amerikanische Lebensrechtlerin<br />
Abby Johnson im Memminger Kaminwerk. Vor 500 Zuhörern berichtete die<br />
frühere Leiterin einer Abtreibungsklinik in den USA, wie sie mit der Verantwortung<br />
für zwei eigene Abtreibungen und 20.000 von ihr mit ermöglichten vorgeburtlichen Kindstötungen<br />
umgeht und was sie schließlich bewog, die Seiten zu wechseln. Eine Ortsbesichtigung.<br />
Von Alexandra Maria Linder<br />
Memmingen gilt auch heute noch<br />
in Sachen Abtreibung als heißes<br />
Pflaster. Dort fand ab 1988<br />
ein Prozess wegen illegaler Abtreibungen<br />
gegen Horst Theissen statt, viele betroffene<br />
Frauen wurden gezwungen, auszusagen,<br />
teilweise auf eine Art und Weise,<br />
die aus heutiger Sicht wirklich anders<br />
hätte ablaufen können. Im Zuge dessen<br />
wurde die Stadt zeitweise ein Zentrum<br />
26<br />
Maria Schmölzing (links) und Claudia Kaminski im Memminger Kaminwerk<br />
von Protesten, von Demonstrationen<br />
und Gegendemonstrationen. Josef Miller,<br />
Staatsminister a. D., der damals eine<br />
Gegendemonstration mit 6.000 Teilnehmern<br />
organisiert hatte, erinnerte in seinem<br />
Grußwort bei dem Vortrag der amerikanischen<br />
Lebensrechtlerin Abby Johnson<br />
daran und erwähnte ausdrücklich, wie<br />
viele gute Initiativen es für die Hilfe von<br />
Frauen in Not gerade in dieser Region<br />
gibt und welche Namen dahinterstehen.<br />
Nebenbei zitierte er damalige Sprüche<br />
der Gegner: »Wäre der Papst nicht impotent,<br />
wäre Abtreibung ein Sakrament.«<br />
»Ehe das Kind im Hause schreit, wär’ es<br />
besser abgetreibt.« Memmingen<br />
ist also eine Veranstaltung<br />
mit Risiko: Wird das Thema<br />
angenommen? Gibt es Widerstand?<br />
Wie wird die Bevölkerung<br />
reagieren?<br />
All das hielt den örtlichen<br />
Regionalverband der <strong>ALfA</strong> unter<br />
Federführung ihrer Vorsitzenden<br />
Maria Schmölzing<br />
nicht davon ab. Unterstützung<br />
erfuhr sie, außer von fleißigen<br />
Mitgliedern ihres äußerst aktiven<br />
Regionalverbandes, zum<br />
Beispiel von der örtlichen Bäckerei<br />
Brommler, die für alle<br />
Teilnehmer gleich am Eingang<br />
Brezeln verteilte und das<br />
erste Unternehmen ist, das das<br />
neue Menschenrechtslogo »Ich<br />
bin Mensch« verwendet. Und<br />
die Erwartungen werden weit<br />
übertroffen: Etwa 500 Besucher<br />
aller Altersklassen drängeln<br />
sich in das zum Schluss<br />
völlig überfüllte Kaminwerk,<br />
darunter führende lokale Geistliche<br />
und Politiker, und warten<br />
gespannt auf den Vortrag. Zur<br />
Einführung gibt es noch etwas<br />
Neues. Einige Kinder lesen zusammen<br />
mit dem Bäckermeister und der<br />
Bürgermeisterin von Memmingen, Margareta<br />
Böckh, aus dem von Professor Dr.<br />
Holm Schneider, dem Zweiten Stellvertretenden<br />
Bundesvorsitzenden der AL-<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
fA, verfassten Aufklärungsbüchlein »Baby<br />
im Bauch«, untermalt von an die Wand<br />
projizierten pfiffigen Zeichnungen. Jedes<br />
Kind, so Schneider in seiner Erläuterung,<br />
ist einzigartig und hat einen individuellen<br />
Fingerabdruck.<br />
Abby Johnson wurde 2009 in den USA<br />
bekannt, weil sie nach acht<br />
Jahren Arbeit für Planned<br />
Parenthood (PP) offenbar<br />
über Nacht Lebensrechtlerin<br />
wurde. Wie sie berichtete,<br />
warb PP sie als<br />
Studentin an, und sie begann,<br />
ehrenamtlich in einer<br />
Abtreibungseinrichtung<br />
zu arbeiten. Sie studierte<br />
Psychologie, wurde<br />
angestellt und stieg zur<br />
Leiterin einer PP-Einrichtung<br />
auf.<br />
Die offizielle Linie der<br />
amerikanischen PP wurde<br />
von Abby Johnson so wiedergegeben:<br />
Viele Frauen<br />
sterben an illegalen Abtreibungen,<br />
deshalb wollen<br />
wir den Frauen helfen<br />
und sichere Abtreibungen<br />
anbieten, vor allem<br />
für arme Frauen, die<br />
sich keine Abtreibung leisten<br />
können. Der Fötus (wie<br />
bei »pro familia« ist auch<br />
dort im Zusammenhang<br />
mit Abtreibung nie von<br />
einem »Kind« die Rede)<br />
fühlt, so die Vorgabe, vor<br />
der 28. Schwangerschaftswoche<br />
nichts. Das, so Johnson, habe sie<br />
sich auch eingeredet, als sie selbst zwei<br />
Schwangerschaften durch Abtreibung beendet<br />
habe. Als man sie fragt, wie man<br />
denn glauben könne, dass ein so großes<br />
Kind nichts fühle, gibt Abby Johnson zu,<br />
dass man das nicht wirklich logisch beantworten<br />
könne: »Wenn man das Kind<br />
will, ist es ein Kind. Wenn nicht, muss<br />
man sich emotional von dem Kind lösen<br />
und es als Gewebe definieren, sonst kann<br />
man nicht abtreiben.« Sie hätte der PP-<br />
Linie einfach ebenso geglaubt wie die<br />
Frauen ihr bei der Beratung.<br />
»Mit Abtreibung verdienen<br />
wir unser Geld«<br />
Als PP eine Einrichtung mit 75 Abtreibungen<br />
täglich (bis zum sechsten<br />
Schwangerschaftsmonat) bauen wollte,<br />
wurde sie zum ersten Mal stutzig. So späte<br />
Abtreibungen waren ihr zuwider, denn<br />
dann sind die Kinder auch außerhalb der<br />
Gebärmutter lebensfähig. Die Lebensfähigkeit<br />
war für sie persönlich immer die<br />
Grenze der Abtreibung gewesen. Dass<br />
dies im Widerspruch dazu steht, dass ein<br />
Cornelia Kaminski (links) dolmetschte den Vortrag von Abby Johnson<br />
Fötus in diesem Alter nichts fühlt, passt<br />
zu Johnsons obiger Aussage.<br />
Einige Zeit später, bei einem Meeting<br />
mit ihrer Vorgesetzten, erhielt sie die<br />
Vorgabe, die Abtreibungszahlen in ihrer<br />
Einrichtung zu verdoppeln. Hier, so<br />
Johnson, habe sich die wahre Intention<br />
des Vereins ihr zum ersten Mal offenbart.<br />
Als sie ihre Bedenken äußerte, lautete die<br />
Antwort ihrer Chefin: »Abortion is how<br />
we make our money.« <strong>–</strong> Mit Abtreibung<br />
verdienen wir unser Geld. Dazu passte<br />
auch, dass ein Vorschlag von ihr, nämlich<br />
zur Erhöhung der Sicherheit für die<br />
Frauen die Abtreibungen ultraschallkontrolliert<br />
durchzuführen, abgelehnt wurde,<br />
weil jede Abtreibung damit fünf Minuten<br />
länger dauern würde und man weniger<br />
Abtreibungen durchführen könnte<br />
<strong>–</strong> also weniger Geld verdienen würde.<br />
Vor der Abtreibung, so Johnson, werde<br />
in den USA der Ultraschall genutzt, um<br />
Alter und Lage des Kindes festzustellen<br />
und den Preis festzulegen (von 300 Dollar<br />
in der 12. Woche bis zu 30.000 Dollar<br />
wenige Wochen vor der Geburt). Danach<br />
schalte man das Gerät meistens ab, um zu<br />
vermeiden, dass die Frau das Kind sieht.<br />
Ihre Zweifel wurden immer größer.<br />
Was in ihrem Vortrag nicht thematisiert<br />
wird, aber in ihrem Buch »Lebenslinie«<br />
nachzulesen ist: Über die Jahre hatte sie<br />
persönliche Bekanntschaft mit den Lebensrechtlern<br />
der »Coalition for Life«<br />
gemacht, die immer hinter dem Schutzzaun,<br />
der gegen die Lebensrechtler errichtet<br />
worden war, standen und die Frauen<br />
»Eine Abtreibung kurz vor der<br />
Geburt kostet bis zu 30.000 Dollar«<br />
und Mitarbeiter freundlich ansprachen.<br />
Sie boten Hilfe an, sie grüßten freundlich,<br />
sie beteten für alle, gelegentlich sprach<br />
man länger miteinander, eines Tages bekam<br />
sie sogar Blumen. Jahrelang trat Johnson<br />
energisch für die Ziele von Planned<br />
Parenthood ein, veranstaltete Lobby-Tage<br />
für Politiker, gab Interviews, schulte<br />
neue Mitarbeiter.<br />
Eines Tages wurde ihr auf drastische<br />
Weise klargemacht, dass ihre Zweifel und<br />
Bedenken angebracht waren: Ein Arzt,<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 27
G E S E L L S C H A F T<br />
der in ihrer Einrichtung aushalf, arbeitete<br />
mit Ultraschall, auch während der Abtreibung.<br />
Wegen Personalmangels bat er<br />
Abby Johnson, den Ultraschallkopf zu halten.<br />
Auf dem Bildschirm sah sie den, wie<br />
sie gelernt und acht Jahre lang vertreten<br />
hatte, nichts fühlenden Fötus, das Gewebe:<br />
Ein etwa 12 Wochen altes, vollständiges<br />
Kind. Sie musste zusehen, wie das<br />
Kind reagierte, als der Arzt die Kanüle<br />
In diesem Moment wusste Johnson,<br />
dass alles, woran sie geglaubt, was sie öffentlich<br />
vertreten und den Frauen, die ihr<br />
vertrauten, gesagt hatte, eine Lüge war.<br />
20.000 Abtreibungen hatte sie mit verursacht<br />
und den hilfesuchenden Frauen eine<br />
Lösung angeboten, die keine war. Ihr<br />
Mann hatte das immer gesagt, war immer<br />
pro-life gewesen. Da ihre Freunde<br />
alle im Abtreibungsgeschäft tätig waren,<br />
fielen ihr als jetzige Anlaufstelle spontan<br />
die Lebensrechtler ein. Die Coalition for<br />
Life, deren Vertreterin Heather Gardner<br />
mit nach Memmingen gekommen<br />
ist, nahm sie tatsächlich auf und half ihr.<br />
Seitdem ist Johnson für diesen Verein tätig<br />
und hält, neben ihrer Beratungstätigkeit<br />
für Frauen, etwa 80 Vorträge im Jahr,<br />
um die Menschen über die Machenschaften<br />
von Planned Parenthood aufzuklären.<br />
Denn PP, so Johnson, verdiene nicht nur<br />
viel Geld mit Abtreibungen (ein Drittel<br />
aller Abtreibungen in den USA, pro Jahr<br />
etwa 330.000, werden in PP-Einrichtungen<br />
vorgenommen), sondern verkaufe oft<br />
auch das Gewebe der abgetriebenen Kinder<br />
für Forschungszwecke oder Schlimmeres.<br />
Die Vorträge seien möglich, weil PP den<br />
gegen sie angestrengten Prozess verloren<br />
habe. Sie sollte gerichtlich dazu gezwungen<br />
werden, zu schweigen. Im Augenblick<br />
schlägt sie zurück: Es laufen zwei von ihr<br />
initiierte Prozesse gegen PP wegen Betrugs<br />
und medizinischen Fehlverhaltens.<br />
Im Publikum sitzen nicht nur Lebensrechtler.<br />
An manchen Stellen, zum Beispiel<br />
als der evangelische Pastor Stefan<br />
Scheuerl, aktiver Mitarbeiter des Regionalverbandes,<br />
seine Pro-life-Haltung<br />
auch als Geistlicher offen und eindeutig<br />
bekundet, oder jedes Mal, wenn klar<br />
gesagt wird, dass Abtreibung keine Lösung<br />
ist, dass sie Kinder tötet und Frauen<br />
» ... Wirbelsäule und dann war<br />
alles weg, die Gebärmutter leer«<br />
schadet, dass »pro familia« in Deutschland<br />
arbeitet wie Planned Parenthood<br />
in den USA, ist der Applaus verhaltener.<br />
Viele sind, so der Eindruck, nach den<br />
letzten medialen Kampagnen vor allem<br />
der »Süddeutschen Zeitung« wohl überrascht<br />
darüber, dass man sein Bekenntnis<br />
gegen Abtreibung frei und positiv äußern<br />
kann, dass all diese Leute überhaupt<br />
nicht fanatisch, extremistisch, radikal sind,<br />
sondern schlicht Menschenrechtler. Die<br />
allgemeine Zustimmung zu den berichteten<br />
Fakten und Zahlen, zu den Erfahrungen<br />
von Abby Johnson und aus dem<br />
Publikum und dem dennoch nicht diffamierenden<br />
Umgang mit dem Gegner ist<br />
B U C H T I P P<br />
Voll besetzt: Das Kaminwerk in Memmingen<br />
an seiner Seite ansetzte: »… die nächste<br />
Bewegung war die plötzliche Bewegung<br />
eines feinen Füßchens, als das Baby<br />
anfing zu treten (…). Als die Kanüle<br />
hineingepresst wurde, begann das Baby<br />
zu kämpfen, es drehte und wand sich<br />
heftig.« Abby Johnson starrte auf diesen<br />
Bildschirm: »Das Letzte, was ich sah, war<br />
die feine, perfekt geformte Wirbelsäule,<br />
wie sie in die Kanüle gesaugt wurde,<br />
»Das Letzte, was ich sah, war die<br />
feine, perfekt geformte ...«<br />
und dann war alles weg. Die Gebärmutter<br />
war leer.« (Aus dem Buch »Lebenslinie<br />
<strong>–</strong> Warum ich keine Abtreibungsklinik<br />
mehr leite«) Als sie das erzählt, legt sich<br />
einen Augenblick lang eine schockierte<br />
Stille über das Publikum. Ein Mädchen<br />
tut das, was wohl auch Erwachsene gern<br />
tun würden: Sie beginnt zu weinen.<br />
28<br />
Abby Johnson: Lebenslinie. Warum ich<br />
keine Abtreibungsklinik mehr leite.<br />
Sankt-Ulrich-Verlag, Augsburg 2012.<br />
272 Seiten. Gebunden. 19,95 EUR.<br />
immer präsent und spürbar. Irritiert sind<br />
manche Zuhörer auch, wenn Abby Johnson,<br />
die nach vielen Zwischenstationen<br />
inzwischen katholisch ist, offen über ihren<br />
Glauben spricht, über Beichte oder<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
Gott, so zum Beispiel, als sie auf die Frage,<br />
wie sie mit ihrer Verantwortung für<br />
diese 20.000 und ihre eigenen beiden Abtreibungen<br />
umgeht, antwortet, dass sie<br />
oft zur Beichte gehe und ihr das unglaublich<br />
helfe. Die Bedeutung dieser Veranstaltung<br />
ist daher auch in diesem Sinne<br />
nicht zu unterschätzen: Hier konnte man<br />
aufrechte Lebensrechtler ebenso kennenlernen<br />
wie aufrechte Christen, ohne die<br />
bewusst negativ gesteuerten Beigeschmäcker,<br />
sondern mit der Möglichkeit, sich<br />
selbst ein Bild zu machen.<br />
Die Menschen haben viele Fragen,<br />
manchmal macht es den Eindruck, als<br />
hätten ein paar Besucher seit Jahren darauf<br />
gewartet, eine solche Frage endlich<br />
offen und in der Öffentlichkeit stellen<br />
zu können. Es geht um die Lage in den<br />
USA, die unverständliche Haltung von<br />
»In den USA ein großes Thema:<br />
Das Post-Abortion-Syndrom«<br />
Regierungen, das sich ändernde Verhältnis<br />
von pro-life zu pro-choice (inzwischen<br />
neigt sich die Waagschale in den USA zu<br />
pro-life). Auch Missverständnisse werden<br />
bereinigt, so das Gerücht, dass man<br />
in den USA Schwangeren absichtlich zu<br />
geringe Dosen der Abtreibungspille gebe,<br />
damit man chirurgisch nachbessern<br />
und dadurch mehr Geld verdienen könne.<br />
Oder zum Post Abortion Syndrome,<br />
das, in Deutschland geleugnet und tabuisiert,<br />
in den USA inzwischen ein großes<br />
Thema ist.<br />
In ihrer abschließenden Dankrede weist<br />
die <strong>ALfA</strong>-Bundesvorsitzende Dr. Claudia<br />
Kaminski nachdrücklich darauf hin,<br />
dass der Bogen der menschlichen Gefährdung<br />
gerade aktuell zum Ende des<br />
Lebens hin reicht: durch die Bestrebungen,<br />
den assistierten Suizid zu legalisieren.<br />
Es gibt noch einen musikalischen<br />
Überraschungsgast, Peter Eilichmann,<br />
der sein Lied »Zarter Keim« vorträgt,<br />
das er auch auf dem letzten »Marsch für<br />
das Leben« in Berlin gesungen hat. Eine<br />
gute Gelegenheit, so Kaminski, darauf<br />
hinzuweisen, was man alles tun könne,<br />
um für das Lebensrecht aller Menschen<br />
selbst tätig zu werden: Sie lädt die<br />
Besucher ein, am 19. September <strong>2015</strong><br />
zum »Marsch für das Leben« nach Berlin<br />
zu kommen oder, nach dem Motto »Geh<br />
Du für mich«, einem anderen diese Reise<br />
zu ermöglichen, wenn man selbst nicht<br />
teilnehmen kann.<br />
Nach dem offiziellen Ende der von<br />
Michael Seber mit Marimbaklängen passend<br />
umrahmten Veranstaltung gibt es<br />
viele Diskussionen und Gespräche zwischen<br />
den Zuhörern sowie weitere Fragen,<br />
die Abby Johnson mit Hilfe ihrer<br />
souveränen Dolmetscherin Cornelia Kaminski,<br />
Mitglied des <strong>ALfA</strong>-Bundesvorstandes,<br />
geduldig beantwortet. Frauen im<br />
Schwangerschaftskonflikt, so Abby Johnsons<br />
Fazit nach vielen Jahren Arbeit und<br />
»Erfahrungen auf beiden<br />
Seiten des Zauns gesammelt«<br />
Erfahrung auf beiden Seiten des Zauns,<br />
verdienen einfach etwas Besseres als<br />
Planned Parenthood und das deutsche<br />
Pendant »pro familia«.<br />
I M P O R T R A I T<br />
Alexandra Maria Linder M. A.<br />
Die Autorin, Jahrgang 1966, hat Romanistik<br />
und Ägyptologie studiert und sich<br />
als Übersetzerin und Lektorin selbständig<br />
gemacht. Die<br />
1. Stellvertretende<br />
Bundesvorsitzende<br />
der <strong>ALfA</strong> e. V. hat<br />
2009 das Sachbuch<br />
»Geschäft<br />
Abtreibung« veröffentlicht,<br />
das auch das Impfthema behandelt.<br />
Sie lebt mit ihrem Ehemann und<br />
drei Kindern im Sauerland.<br />
A N Z E I G E<br />
Marsch für das Leben · 19.09.<strong>2015</strong> · Berlin<br />
Gemeinsam für das Leben. Immer.<br />
<strong>2015</strong><br />
Marsch<br />
für das Leben<br />
Berlin · 19.09.<strong>2015</strong><br />
Jeder Mensch ist gleich wertvoll<br />
• Aufstehen für das unbedingte Lebensrecht<br />
aller ungeborenen, kranken,<br />
alten oder beeinträchtigten Menschen.<br />
• Einfordern wirkungsvoller Hilfen in<br />
Notlagen statt Selektion und Tötung.<br />
• Gedenken an die Opfer, Stimme sein<br />
für die Betroffenen und Angehörigen.<br />
• Einsetzen für eine inklusive und<br />
nächstenliebende Gesellschaft.<br />
Gemeinsam für das Leben <strong>–</strong> für ein<br />
Europa ohne Abtreibung und Euthanasie!<br />
Samstag, 19. September, 13 Uhr vor<br />
dem Bundeskanzleramt: Kundgebung<br />
und Schweigemarsch durch Berlin-<br />
Mitte. Abschluss mit Ökumenischem<br />
Gottesdienst. Ende gegen 17 Uhr.<br />
Teilnehmer-Informationen, Sonderbusse<br />
und die Berliner Erklärung<br />
finden Sie immer aktuell unter:<br />
www.marsch-fuer-das-leben.de<br />
Bitte helfen Sie mit <strong>–</strong> jeden Tag und<br />
am 19.09. in Berlin. Sind Sie dabei?<br />
Photo: Erna Vader<br />
Bundesverband Lebensrecht e. V.<br />
Fehrbelliner Straße 99 · 10119 Berlin<br />
Telefon (030) 644 940 39<br />
berlin@bv-lebensrecht.de<br />
Jeder Mensch ist gleich wertvoll<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 29<br />
Gemeinsam für das Leben <strong>–</strong><br />
für Hilfe statt Unrecht, Inklusion statt Ausmerzung,<br />
Solidarität und Nächstenliebe statt Beihilfe zum Suizid.<br />
Ein Europa ohne die Tötung von Menschen ist möglich.<br />
Samstag, 19. September <strong>2015</strong><br />
13.00 Uhr vor dem Bundeskanzleramt
B Ü C H E R F O R U M<br />
Schattenkind!« Wer ist gemeint?<br />
Etwa amerikanische Straßenkinder,<br />
Flüchtlinge? Nein, Lichtmangel<br />
trifft jene Menschenkinder aller Altersgruppen,<br />
die sich<br />
auf gesellschaftlicher<br />
Schattenseite<br />
sehen, die sich in ihrem<br />
Recht auf Leben<br />
und den Respekt<br />
vor ihrer Menschenwürde<br />
»übergangen« fühlen und an ihrer<br />
Isolation leiden, so die Psychotherapeutin<br />
Pokropp-Hippen. Das kann im Kreis<br />
der Familie geschehen, die ihrem besonders<br />
talentierten Kind oder einem solchen<br />
mit Behinderung buchstäblich<br />
ungeteilte Zuwendung<br />
widmet, dabei<br />
dessen Geschwister zunehmend<br />
vernachlässigt,<br />
selbst momentanes Aufbegehren<br />
übersieht. Deren<br />
Autonomieentwicklung<br />
kann in den jeweils<br />
entscheidenden Lebensphasen<br />
scheitern, stattdessen<br />
entstehen diverse<br />
Abhängigkeiten. Fazit:<br />
»Die Rolle der Familie«<br />
ist »beim Aufbau<br />
der Kultur des Lebens<br />
entscheidend und unersetzlich«.<br />
Nur über verstehende<br />
Zuwendung fällt Sonne in biografische<br />
Entwicklung.<br />
Die Autorin widmet ihr Buch den<br />
nach einer Abtreibung leidenden Frauen<br />
und jenen Helfern, »welche sich für<br />
die Wahrnehmung und Heilung solcher<br />
Wunden einsetzen«. Auf solchem <strong>–</strong> unterschiedlich<br />
langen <strong>–</strong> Weg des Miteinander<br />
wird das aus dem Leben getriebene<br />
»Schattenkind« <strong>–</strong> gelegentlich noch<br />
immer als »Fleischklumpen« missachtet<br />
<strong>–</strong> zum ansprechbaren Du, das einen Namen<br />
und einen Gedächtnisort erhält. In<br />
verschiedenen (auch im Internet zugänglichen)<br />
Fallberichten erfährt man vom<br />
nicht selten sprachlosen und daher über<br />
Jahre unwirksam behandelten Symptomenkomplex<br />
multipler körperlicher, psychischer<br />
und emotionaler Leiden, reaktiver<br />
Angstsyndrome. In moderner Psychotherapie<br />
lassen sich solche Störungen<br />
als posttraumatisches Belastungssyndrom<br />
deuten und ätiologisch auch auf das Drama<br />
einer Abtreibung zurückführen. Es<br />
handelt sich um das jahrelang verkannte<br />
Post-Abortion-Syndrom, von dem auch<br />
Kindesväter betroffen sind.<br />
Der diagnostische Weg wie anschließende<br />
Therapie verlangen Geduld und<br />
30<br />
Wege zum<br />
Schattenkind<br />
ärztliche Ermutigung. Über Sprachlosigkeit<br />
(aus Scham, Erstarren im Nicht-wahrhaben-Wollen)<br />
kann der optische Weg einer<br />
Bildgebung hinweghelfen: Betroffene<br />
sehen sich in einem<br />
Käfig, hinter<br />
Gittern, umgeben<br />
von Blutflecken im<br />
Haus und ähnlicher<br />
Symbolik von Verhaftung<br />
in Schuld.<br />
Eine Form von Aufarbeitung! Die Autorin<br />
veröffentlicht empfindsam eindringliche<br />
Gedichte zu der gewaltsamen Trennung<br />
vom eigenen Kind und dem demografischen<br />
Wandel in »leeren Städten«.<br />
Darf Selbst-Bestimmung<br />
über das Weiterleben des<br />
Nächsten, des eigenen<br />
Kindes im Mutterschoß<br />
entscheiden? Naturrechtlich<br />
und juristisch ist Abtreibung<br />
gesetzwidrig.<br />
Schuldzuweisung aber ist<br />
nicht das Ziel von Heilung<br />
zum Heil. Es geht<br />
um Aufarbeitung und Suche<br />
nach dem neuen Weg.<br />
Als überzeugte katholische<br />
Christin bringt die<br />
Ärztin theologische Aspekte<br />
ein, unter anderem<br />
den Gedanken der<br />
Verletzung der Gottesbeziehung.<br />
Doch: »Es ist nichts verloren«,<br />
sagt Papst Johannes Paul II. im Evangelium<br />
vitae (1995). Wie jetzt kommunizieren<br />
mit Gott? Das vorliegende Buch enthält<br />
Anregungen zur Eucharistiefeier, für<br />
ökumenische Gottesdienste im Sinne des<br />
Dankes für jedes Menschenleben von dessen<br />
Zeugung bis zum natürlichen Ende;<br />
es gibt kompetente Adressen an und Orte<br />
für angestrebte Trauerarbeit und Aufarbeitung<br />
in Seminaren und Gesprächskreisen,<br />
etwa während eines Klosteraufenthalts.<br />
Man wählt die Öffnung zur Annahme<br />
des Geschehenen im Zeichen von<br />
Reue und sakramentaler Versöhnung.<br />
Im Engagement für Mitbetroffene und<br />
rückwirkend durch deren Mithilfe lassen<br />
sich neue Lebensperspektiven finden.<br />
Hoffnung keimt: »Aufgeklärt« stehen<br />
die Schattenkinder jetzt im Licht der<br />
Anerkennung, sprechen als Du. Sie werden<br />
zu vertrauten Begleitern des weiteren<br />
Lebensweges.<br />
Dr. Maria Overdick-Gulden<br />
Angelika Pokropp-Hippen, Wege zum Schattenkind.<br />
fe-Medienverlag, Kisslegg 2014. 312 Seiten. Illustriert.<br />
12,00 EUR.<br />
Im Schaufenster<br />
Leben dürfen <strong>–</strong><br />
Leben müssen<br />
Mit diesem Buch<br />
mischt sich niemand<br />
Geringeres<br />
als der Ratsvorsitzende<br />
der Evangelischen<br />
Kirchen in<br />
Deutschland, Bischof<br />
Heinrich Bedford-Strohm,<br />
in die<br />
aktuelle Debatte um Sterbehilfe und Suizidbegleitung<br />
ein. Wer meint, dass Protestanten<br />
in Fragen des Lebensschutzes indifferent<br />
oder gar liberal sein müssten, der wird hier<br />
eines Besseren belehrt. Denn in ihm verwirft<br />
der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen<br />
Kirche in Bayern gut begründet sämtliche<br />
Formen der aktiven Sterbehilfe sowie<br />
der Beihilfe zum Suizid. Eingehend setzt er<br />
sich in diesem Buch mit den hinter ihnen stehenden<br />
weltanschaulichen Konzepten (utilitaristischer<br />
Ansatz, Ansatz individueller Autonomie)<br />
auseinander und entfaltet darin den<br />
eigenen Ansatz eines verantwortlichen Lebensschutzes,<br />
den er ihnen gegenüberstellt.<br />
Bei all dem zeigt er eine ausgeprägte Empathie<br />
für Menschen, die an ihrem Schicksal<br />
verzweifeln. Eine ausführliche Rezension<br />
folgt.<br />
Fazit: Empfehlenswert.<br />
reh<br />
Heinrich Bedford-Strohm: Leben dürfen <strong>–</strong> Leben<br />
müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe.<br />
Kösel-Verlag, München <strong>2015</strong>. 176 Seiten. 17,99 EUR.<br />
Glücklich<br />
sterben?<br />
Es ist so traurig wie<br />
grotesk. Der an Parkinson<br />
erkrankte,<br />
katholische Theologe<br />
Hans Küng, dem<br />
das Lehramt der Katholischen<br />
Kirche<br />
bereits vor langer<br />
Zeit die Lehrerlaubnis entzog, nutzt sein womöglich<br />
letztes Buch für ein erneutes Plädoyer<br />
für den ärztlich assistierten Suizid. Dass<br />
Küng (Jahrgang 1928) den ärztlich assistierten<br />
Suizid für sich selbst als eine Option betrachtet,<br />
mag man bedauern, muss man aber<br />
letztlich akzeptieren. Nicht akzeptieren lässt<br />
sich jedoch, dass er seine private Meinung<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
wahrheitswidrig als mit dem christlichen<br />
Glauben vereinbar ausgibt und obendrein<br />
auch noch an Demenz erkrankten Personen<br />
das volle Menschsein abspricht.<br />
Fazit: Auch wenn Bäume nicht glücklich sein<br />
können: Für dieses Buch hätte kein einziger<br />
sterben müssen.<br />
reh<br />
Hans Küng: Glücklich sterben? Ein Gespräch mit<br />
Anne Will. Verlag Piper, München 2014. Gebunden.<br />
160 Seiten. 16,99 EUR.<br />
Posthumanismus<br />
Alles Menschenverachtende<br />
ist zuvor<br />
einmal gedacht worden.<br />
Insofern ist dieses<br />
Buch auch nichts<br />
für schwache Nerven.<br />
Denn in ihm<br />
entwirft Rosi Braidotti,<br />
Professorin für<br />
Philosophie an der Universität Utrecht, Gründungsdirektorin<br />
des Centre for the Humanities<br />
und Gründungsprofessorin für den dortigen<br />
Studiengang Gender Studies in the Humanities,<br />
nicht weniger als die Theorie einer<br />
Gesellschaft, in der Menschen, wie wir<br />
sie kennen, nicht mehr vorkommen. Immerhin<br />
ist Braidotti ehrlich: »Legen wir die Karten<br />
gleich auf den Tisch: Ich habe für den Humanismus<br />
oder die darin enthaltene Idee des<br />
Menschlichen nicht viel übrig«, schreibt die<br />
Italo-Australierin gleich zu Beginn. Eine Menge<br />
hat die Posthumanistin dagegen für genetische<br />
Basteleien und die Verschmelzung<br />
von Maschinen mit Exemplaren der einstigen<br />
Spezies homo sapiens übrig, die den Humanismus<br />
hinter sich gelassen haben. In Braidottis<br />
schöner neuen Welt gibt es natürlich<br />
auch keine Männer und Frauen mehr. Ziel der<br />
restlos kulturell erformten Gesellschaftsordnung<br />
ist das »nomadisierende Subjekt«. Ein<br />
»Ich« ohne Kern, das gegen Aufklärung und<br />
Religion gleichermaßen mobil macht und einem<br />
»vitalistischen Materialismus« huldigt.<br />
Alles Seiende, lesen wir, sei Teil einer sich<br />
selbst organisierenden, intelligenten Materie.<br />
Ähh, ja. Man kommt sich vor wie Anakin<br />
Skywalker, dem der Jedi-Meister Qui-<br />
Gon Jinn in dem George-Lukas-Streifen Stars<br />
Wars/Episode 1 einen Vortrag über die Midi-<br />
Clorianer hält.<br />
Fazit: Für Humanisten mit Nerven wie Drahtseile.<br />
Und: Möge die Macht mit ihnen sein.<br />
reh<br />
Rosi Braidotti: Posthumanismus <strong>–</strong> Leben jenseits<br />
des Menschen. Aus dem Englischen von Thomas<br />
Langstien. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014.<br />
215 Seiten. 24,90 EUR.<br />
Ethik des<br />
Alterns<br />
Altern, so könnte man meinen, sei<br />
überhaupt keine ethische Frage,<br />
sondern beschreibe lediglich<br />
den natürlichen Lauf der Dinge. Und<br />
doch: Wenn nicht nur der<br />
Einzelne älter wird, sondern<br />
eine ganze Gesellschaft<br />
massiv altert, stellen<br />
sich auch ethische Fragen,<br />
die eine Gesellschaft<br />
längst beantwortet zu haben<br />
scheint, auf einmal völlig neu. Zum<br />
Beispiel die: Wie geht eine Gesellschaft<br />
damit um, dass die Zahl der Menschen,<br />
die Pflege bedürfen, rapide zunimmt? Wie<br />
lassen sich Ressourcen gerecht verteilen,<br />
wenn die Zahl der<br />
Leistungsempfänger<br />
wächst, während die<br />
der Leistungserbringer<br />
schrumpft? Wie<br />
sichert man Humanität<br />
in den Beziehungen<br />
zwischen den Generationen?<br />
Fragen wie diesen<br />
und weiteren gehen<br />
in dem vorliegenden<br />
Band der Joseph-<br />
Höffner-Gesellschaft<br />
Jörg Althammer, Professor<br />
für Wirtschaftsund<br />
Unternehmensethik<br />
an der Katholischen<br />
Universität<br />
Eichstätt, Andreas<br />
Kruse, Direktor des<br />
Instituts für Gerontologie<br />
der Universität<br />
Heidelberg, und Giovanni Maio, Direktor<br />
des Instituts für Ethik und Geschichte der<br />
Medizin der Universität Freiburg, nach.<br />
Obgleich alle drei Beiträge der Lektüre<br />
wert sind, ist der Beitrag des Arztes und<br />
Philosophen Giovanni Maio für Lebensrechtler<br />
von ganz besonderem Interesse.<br />
Ausgehend von der laufenden Debatte<br />
um die rechtliche Neuregelung der Beihilfe<br />
zum Suizid entfaltet Maio darin nicht<br />
weniger als eine neue »Kultur der Sorge<br />
am Endes des Lebens«. Dabei zeigt<br />
sich der Autor zunächst erstaunt über die<br />
mangelnde Bestürzung angesichts von<br />
Medienberichten über die Suizide Prominenter<br />
und fragt: »Wie kann es sein,<br />
dass uns nicht mehr die Erschütterung<br />
überkommt, wenn wir hören, dass ein<br />
Mensch, der eigentlich noch hätte weiterleben<br />
können, zu der Auffassung kam,<br />
das Nicht-Sein sei der Weiterexistenz in<br />
unserer Gesellschaft vorzuziehen?« Eine<br />
Gesellschaft, die den Suizid nicht mit Bestürzung<br />
auffasse, sondern »als eine nachvollziehbare<br />
Tat deklariert«, laufe Gefahr,<br />
»auch andere Menschen in den Tod zu<br />
schicken, weil auf diese Weise signalisiert<br />
wird, dass unsere Gesellschaft den Suizid<br />
nachvollziehen könne, dass<br />
man ihn gar für vernünftig<br />
halte«. Maio hält eine<br />
solche Gesellschaft geradezu<br />
für »gefährlich«, da<br />
sie »viele Menschen, die<br />
mit sich hadern und daran<br />
zweifeln, ob ihr Leben noch wertvoll<br />
ist«, mit ziemlicher Sicherheit »in die<br />
Verzweiflung treiben« werde.<br />
Der Philosoph klopft Begriffe wie »Autonomie«,<br />
»leidloses Leben« und »Unabhängigkeit«<br />
auf ihren<br />
wahren Gehalt ab<br />
und kommt zu dem<br />
Ergebnis, die Angewiesenheit<br />
auf andere<br />
sei »eine Grundsignatur«<br />
der menschlichen<br />
Existenz. »Die moderne<br />
Tendenz, Angewiesenheit<br />
auf die<br />
Hilfe Dritter als Ende<br />
der Autonomie zu<br />
deuten«, könne daher<br />
nur »als Ausdruck eines<br />
Verdrängens der<br />
conditio humana« betrachtet<br />
werden, hinter<br />
dem nichts anderes<br />
stecke als die<br />
Angst vor »Entmächtigung«,<br />
»Kontrollverlust«<br />
und »Loslassen«<br />
zu müssen. Maio:<br />
»Unsere Gesellschaft möchte diese<br />
Angst nicht wahrhaben und deutet sie um<br />
in ein Pathos der Freiheit.« Dabei übersehe<br />
sie, dass »echte Freiheit« darin bestehe,<br />
»die Wesensmerkmale des Menschenseins<br />
zunächst anzunehmen und zu<br />
realisieren, dass man auch angesichts der<br />
eigenen Hinfälligkeit man selbst bleiben<br />
kann, indem man lernt, wie loszulassen<br />
von der Fiktion eines durchgängig selbstbestimmten<br />
Lebens.« Es lohnt, sich mit<br />
der »Kultur der Sorge am Ende des Lebens«<br />
auseinanderzusetzen, die Maio im<br />
Anschluss daran als Gegenmodell entwirft.<br />
Stefan Rehder<br />
Andreas Kruse/Giovanni Maio/Jörg Althammer:<br />
Humanität einer alternden Gesellschaft.<br />
Veröffentlichungen der Joseph-Höffner-Gesellschaft.<br />
Band 3. Schöningh-Verlag, Paderborn 2014. 104 Seiten.<br />
14,90 EUR.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 31
K U R Z V O R S C H L U S S<br />
Expressis verbis<br />
»Bezahlte Leihmutterschaft ist Schwangerschaftsprostitution.«<br />
Dr. Ruth Baumann-Hölzle, Ethikerin und Leiterin<br />
des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen<br />
der Stiftung Dialog Ethik in Zürich,<br />
im Interview mit der »Hessischen Niedersächsischen<br />
Allgemeinen«<br />
»<br />
Eine Mutter-Kind-Beziehung ist nicht käuflich.«<br />
Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther zum<br />
selben Thema<br />
»<br />
In Hospizen und Palliativstationen wird tagtäglich<br />
organisiert Sterbehilfe geleistet.«<br />
Auszug aus der Stellungnahme von 108 deutschen<br />
Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrern<br />
zur geplanten Ausweitung der Strafbarkeit<br />
der Suizidhilfe<br />
»<br />
Wir stehen für Sterbebegleitung, nicht für<br />
Sterbehilfe. Und diese hospizliche und palliative<br />
Begleitung und Versorgung, das heißt<br />
die größtmögliche Freiheit von Schmerzen<br />
und anderen belastenden Symptomen sowie<br />
die Zuwendung, führt in der Praxis dazu,<br />
dass zunächst geäußerte Wünsche<br />
nach vorzeitiger Lebensbeendigung von<br />
den Betroffenen zurückgenommen werden.«<br />
Matthias Kopp, Sprecher<br />
der Deutschen Bischofskonferenz,<br />
hat die künstliche<br />
Befruchtung und die damit<br />
oft verbundene sogenannte Mehrlingsreduktion<br />
<strong>–</strong> die Tötung ungeborener<br />
Kinder durch Fetozid<br />
<strong>–</strong> kritisiert. Dem<br />
Nachrichtenmagazin<br />
»Focus« sagte Kopp,<br />
ethisch betrachtet<br />
sei der Fetozid eine<br />
»vorsätzliche selektive<br />
Abtreibung«.<br />
Es handele sich um<br />
die »Vernichtung<br />
von menschlichem<br />
Tops & Flops<br />
Matthias Kopp<br />
Leben in der Anfangsphase seines Daseins«.<br />
Dies könne in keiner Weise akzeptiert<br />
werden. Kopp: »Die Katholische<br />
Kirche lehnt deshalb auch die künstliche<br />
Befruchtung grundsätzlich ab.« Beim Fetozid<br />
dringt der Arzt unter Ultraschallansicht<br />
mit einer Nadel durch die Bauchdecke<br />
der Schwangeren und sucht in der<br />
Bauchhöhle nach dem Herz des Kindes,<br />
das getötet werden soll. In der Regel injiziert<br />
er diesem eine Kalium-Chlorid-Lösung,<br />
die eine koordinierte Kontraktion<br />
des Herzmuskels unmöglich macht. reh<br />
»Was denkst du, wer du bist?<br />
Was lässt dich glauben, dass<br />
du das Recht hast, Gammys<br />
Spenden zu nehmen?« Laut<br />
einem Bericht der Tageszeitung »Die<br />
Welt« würde dies die thailändische Leihmutter<br />
Pattaramon<br />
Canbuba den Australier<br />
David Farnell<br />
gerne fragen.<br />
Der verurteilte Sexualstraftäter<br />
hatte<br />
für Schlagzeilen<br />
gesorgt, nachdem<br />
er den behinderten<br />
Jungen Gammy bei<br />
Canbuba gelassen<br />
David Farnell<br />
und nur dessen gesunde Zwillingsschwester<br />
mit nach Australien genommen hatte.<br />
Nachdem der Vorfall im vergangenen<br />
Jahr weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte,<br />
hatten Menschen überall in der Welt<br />
rund 235.000 Dollar der Stiftung »Hand<br />
across the water« gespendet, welche es<br />
sich zur Aufgabe gemacht hat, die medizinische<br />
Versorgung Gammys sicherzustellen.<br />
Laut Peter Baines, dem Gründer<br />
der Stiftung, soll Farnell nun versucht<br />
haben, an dieses Geld heranzukommen.<br />
reh<br />
hmm ... ich bin zwar schon 72 - aber<br />
zwillinge gehen bestimmt noch ...<br />
Der Palliativmediziner und Vorsitzende des<br />
Deutschen Hospiz- und Palliativ Verbandes (DH-<br />
PV) Winfried Hardinghaus in einer Pressemitteilung<br />
zum selben Thema<br />
»<br />
Es zeigt sich, dass für die Aufrechterhaltung<br />
der Funktionseinheit des komplexen Organismus<br />
nicht ein Funktionskreis oder ein Organ<br />
exzeptionell ist. Zwar kommt dem Gehirn<br />
für den Ausdruck von Personalität und<br />
Bewusstsein eine herausragende Bedeutung<br />
zu <strong>–</strong> dies ist auch für Kritiker des Hirntodkriteriums<br />
unbestreitbar <strong>–</strong>, doch gilt dies<br />
nicht für die Integration des Organismus als<br />
eines Ganzen.«<br />
Auszug aus dem Votum einer Minderheit des<br />
Deutschen Ethikrats in der Stellungnahme »Hirntod<br />
und Entscheidung zur Organspende«<br />
32<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
Aus der Bibliothek<br />
Reinhold Schneider: Über den Selbstmord (1947)<br />
»Der Selbstmord scheint eine Handlung<br />
letzter persönlicher Freiheit zu sein,<br />
die dem Menschen nicht genommen werden<br />
kann. Er verfügt über sein Leben;<br />
er gibt, wie ein Jüngling in einem Roman<br />
Dostojewskis einmal<br />
sagt, ›seine Eintrittskarte<br />
zurück‹. Aber schon<br />
die Eintrittskarte lässt<br />
uns stocken. Hat sie der<br />
Mensch denn bezahlt?<br />
Und von wem hat er sie<br />
empfangen? Ist das Leben<br />
eine Veranstaltung,<br />
die zu unserem Vergnügen<br />
unternommen wurde<br />
und die wir verlassen<br />
können, wenn es uns beliebt?<br />
(...) Sind wir so<br />
ganz ohne Beziehung zu<br />
den Teilnehmern, dass<br />
wir sie verlassen können,<br />
wenn das Spiel uns langweilt<br />
oder wir es nicht<br />
mehr ertragen?<br />
Alle Fragen des Daseins werden vom<br />
Selbstmord aufgeworfen. Es ist ein ungeheurer<br />
Vorgang, wenn ein Mensch Hand<br />
an sich legt, wenn er die Welt gleichsam<br />
aufhebt für sich. Es ist das entsetzlichste<br />
Nein, das gesprochen, getan werden<br />
»Die Welt. Die von morgen« (26)<br />
kann, eine Empörung gewissermaßen gegen<br />
die Ursprünge selbst, gegen Vater und<br />
Mutter und die Vorfahren überhaupt, gegen<br />
einen jeden Lobpreis des Lebens, eine<br />
jede Sorge und Fürsorge, gegen alles,<br />
was besteht und was der<br />
Mensch bisher getan. Eine<br />
schrillere Dissonanz<br />
ist nicht denkbar: dem<br />
Orte, wo ein Selbstmord<br />
geschah, haftet das Odium<br />
des Furchtbar-Unheimlichen<br />
an, das Gefühl,<br />
dass hier geschehen<br />
ist, was niemals hätte<br />
geschehen dürfen. Welcher<br />
Art auch der Glaube<br />
oder Unglaube, die<br />
Überzeugung der Menschen<br />
sein mögen, sie<br />
werden die Scheu vor<br />
der Tat und dem Orte<br />
schwerlich verlieren.«<br />
Reinhold Schneider: Über den<br />
Selbstmord (1947). Aufgenommen in: Andreas Krause<br />
Landt: Wir sollen sterben wollen. Warum die Mitwirkung<br />
am Suizid verboten werden muss. Edition Sonderwege<br />
bei Manuscriptum Verlagsbuchhandlung Thomas<br />
Hoof KG, Leipzig 2013. Klappbroschur. 200 Seiten.<br />
14,80 EUR.<br />
In der »Welt von morgen« werden<br />
Menschen nicht mehr geboren, sondern<br />
im Labor erzeugt. Sie reifen in künstlichen<br />
Gebärmuttern heran, die von 3D-<br />
Druckern erstellt wurden. Kinder bekommen<br />
kann nur, wer frühzeitig seine<br />
Ei- und Samenzellen einfrieren ließ und<br />
sich verpflichtete, diese in staatlichen<br />
Einrichtungen erziehen zu lassen. Erforderlich<br />
für die staatliche Erlaubnis,<br />
sich fortzupflanzen, ist außerdem der<br />
Nachweis, dass die Eltern einer Beschäftigung<br />
nachgehen, die es ermöglicht,<br />
die Unterhaltskosten für sich und das<br />
Kind zu tragen. Dafür übernimmt der<br />
Staat die Kosten künstlicher Befruchtungen.<br />
Vor der Befruchtung werden<br />
die elterlichen Gameten von Reproduktionsmedizinern<br />
stets auf den neuesten<br />
Stand der Technik gebracht, um<br />
»Krankheitsgene« zu eliminieren und<br />
die Ressourcen des Gesundheitswesens<br />
zu schonen. Wer für seinen Nachwuchs<br />
Sonderausstattungen, wie »Das absolute<br />
Gehör«, »Schneller Kopfrechnen«,<br />
»Natürliche Bräune«, »Vornehme Blässe«<br />
oder »Das Sport-As <strong>–</strong> die Ausdauer-Erweiterung«,<br />
wünscht, muss entweder<br />
zuzahlen oder eine private Zusatzversicherung<br />
abschließen. Besonders<br />
gut verdienen in der »Welt von morgen«<br />
neben den Reproduktionsmedizinern<br />
vor allem Juristen, die sich als<br />
»Fachanwalt für Gametenrecht« niedergelassen<br />
und sich auf die »Kindals-Schaden-Rechtsprechung«<br />
spezialisiert<br />
haben.<br />
Stefan Rehder<br />
K U R Z & B Ü N D I G<br />
IVF: Kündigungsschutz<br />
greift mit Embryotransfer<br />
Erfurt (<strong>ALfA</strong>). Bei einer Schwangerschaft<br />
nach künstlicher Befruchtung beginnt der<br />
Kündigungsschutz der beschäftigten Frau mit<br />
der Einsetzung der befruchteten Eizelle und<br />
nicht erst mit der erfolgreichen Nidation.<br />
Das entschied der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts<br />
(Az.: 2 AZR 237/14). Geklagt<br />
hatte eine Arbeitnehmerin, die in der Versicherungsbranche<br />
beschäftigt war. Mitte<br />
Januar 2013 habe sie ihrem Arbeitgeber mitgeteilt,<br />
dass sie seit mehreren<br />
Jahren einen bisher<br />
unerfüllten Kinderwunsch<br />
hege und ein erneuter<br />
Künstliche<br />
Befruchtung<br />
Versuch einer künstlichen<br />
Befruchtung anstehe. Der<br />
Embryonentransfer erfolgte<br />
am 24. Januar 2013. Am<br />
31. Januar 2013 sprach der<br />
Arbeitgeber eine ordentliche<br />
Kündigung aus und besetzte die Stelle<br />
mit einer anderen Arbeitnehmerin. Darauf<br />
zog die Mutter vor Gericht. Am 7. Februar<br />
2013 sei bei der Klägerin eine Schwangerschaft<br />
festgestellt worden, worüber sie den<br />
Beklagten am 13. Februar 2013 informiert<br />
habe. Wie die Richter entschieden, ist die<br />
Kündigung unwirksam. Die Klägerin habe<br />
bei ihrem Zugang wegen des zuvor erfolgten<br />
Embryonentransfers den besonderen Kündigungsschutz<br />
des Paragrafen 9 Abs. 1 Satz<br />
1 Mutterschutzgesetz genossen. Die Kündigung<br />
verstoße zudem gegen das Benachteiligungsverbot<br />
des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.<br />
Der Europäische Gerichtshof<br />
hatte mit Urteil vom 26. Februar 2008 (Az.:<br />
C-506/06) entschieden, es könne eine<br />
unmittelbare Diskriminierung wegen des<br />
Geschlechts vorliegen, wenn eine Kündigung<br />
hauptsächlich aus dem Grund ausgesprochen<br />
werde, dass die Arbeitnehmerin sich<br />
einer Behandlung zur In-vitro-Fertilisation<br />
unterzogen habe.<br />
reh<br />
Hebammen arbeiten<br />
überwiegend in Teilzeit<br />
Wiesbaden (<strong>ALfA</strong>). Im Jahr 2013 leisteten<br />
insgesamt 10.691 Hebammen und Entbindungspfleger<br />
Geburtshilfe in deutschen Krankenhäusern,<br />
davon 8.709 festangestellte<br />
Kräfte (8.703 Hebammen und sechs Entbindungspfleger)<br />
sowie 1.982 Belegkräfte. Dies<br />
teilt das Statistische Bundesamt (Destatis)<br />
anlässlich des Internationalen Hebammentages<br />
(5. Mai) mit. Annähernd drei Viertel (72,2<br />
Prozent) der festangestellten Hebammen<br />
und Entbindungspfleger waren teilzeit- oder<br />
geringfügig beschäftigt.<br />
reh<br />
JUAN GÄRTNER/FOTOLIA.COM<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4 33
L E S E R F O R U M<br />
Naiv<br />
In welcher Welt leben Sie eigentlich?<br />
Auch bis zu Ihnen müsste sich herumgesprochen<br />
haben, dass in Demokratien<br />
Politik nur durch Kompromisse zustande<br />
kommt. Was sollen Politiker denn<br />
tun, wenn sich herausstellt, dass eine Personalie<br />
nicht durchsetzbar ist? Mit stolz<br />
geschwellter Heldenbrust die Schlacht<br />
verlassen und das Feld dem politischen<br />
Gegner überlassen? Sind Sie wirklich<br />
so naiv? Als CSU-Wähler in München<br />
bin ich Bürgermeister Schmid jedenfalls<br />
dankbar, dass er Herrn Hollemann zum<br />
Rückzug seiner Kandidatur bewogen<br />
hat. Unsere Stadt hat noch ganz andere<br />
Probleme als nur die <strong>–</strong> das räume ich<br />
ein <strong>–</strong> sicher verbesserungswürdige Beratung<br />
von Schwangeren. Die Möglichkeit,<br />
diese auch in Zukunft zum Besseren<br />
mitgestalten zu können, darf nicht wegen<br />
eines Mannes aufs Spiel gesetzt werden.<br />
Ludwig Schirmer, München<br />
Keine Lizenz zum Töten<br />
Zum Beitrag »Erstmals Diskussion mit<br />
›Donum Vitae‹ auf Katholikentag« (LF,<br />
Nr. 110, S. 24ff.): Der im Bericht verteufelte<br />
Beratungsschein kann nicht gegen<br />
die Kirche stehen, weil auch Papst<br />
Johannes Paul II. den Schein vorübergehend<br />
passieren ließ. Als er im September<br />
1999 den Bischöfen hierzu die Handlungsfreiheit<br />
entzog, ließ er anordnen,<br />
dass ab 1.1.2001 keine Beratungsscheine<br />
in der Verantwortung der Bischöfe<br />
34<br />
Der »Fall Hollemann«, über den<br />
Sie ausführlich berichten (vielen<br />
Dank!), ist ein Skandal. Ein medialer<br />
und ein politischer. Dass so<br />
etwas in Deutschland und noch<br />
dazu in Bayern möglich ist: ein<br />
Armutszeugnis <strong>–</strong> für die mediale<br />
und für die politische Kultur<br />
unseres Landes; ganz unabhängig<br />
davon, wie man im Einzelnen<br />
über Abtreibung denkt.<br />
Herbert Weismann, München<br />
mehr ausgestellt werden dürfen. Außer<br />
dieser Zulassung von 15 Monaten hat er<br />
Bischof Kamphaus hierfür ein weiteres<br />
Jahr genehmigt.<br />
So waren auch die über 100.000 Beratungsscheine,<br />
die vor dem Verbot in<br />
der Verantwortung der Bischöfe ausgestellt<br />
wurden, keine »Lizenz zum Töten«.<br />
Auch die deutschen Moraltheologen<br />
haben einstimmig festgestellt, dies<br />
sei »ethisch tolerabel«.<br />
Hubert Haas, Schramberg<br />
Drängende Probleme<br />
Vielen Dank für den wichtigen Beitrag<br />
»Das Impfdilemma« von Alexandra<br />
Maria Linder (LF 113, S. 24ff.). Wieder<br />
einmal fühle ich mich in der Ansicht bestätigt,<br />
dass »<strong>LebensForum</strong>« über drängende<br />
Probleme aufklärt, die andernorts<br />
nicht behandelt werden.<br />
Ursula Herten, Bonn<br />
Überkonfessionell<br />
Die Aktion Lebensrecht für Alle nennt<br />
sich überparteilich und überkonfessionell.<br />
Mir fällt aber auf, dass die meisten<br />
Beiträge in ihrer Zeitschrift »<strong>LebensForum</strong>«<br />
von katholischen Autoren stammen<br />
oder einen eindeutigen katholischen Bezug<br />
aufweisen. Dabei erkenne ich durchaus<br />
an, dass sich katholische Würdenträger<br />
<strong>–</strong> angefangen vom Oberhaupt der<br />
Katholischen Kirche in Rom bis hin zu<br />
den Bischöfen katholischer Ortskirchen<br />
<strong>–</strong> häufiger und oft deutlicher zu Lebensrechtsthemen<br />
äußern, als dies etwa protestantische<br />
Bischöfe in Deutschland<br />
tun.<br />
Insofern habe ich mich sehr gefreut,<br />
dass Sie in der Ausgabe 4. Quartal 2014<br />
(vgl. LF 113 S. 19ff.) auf die Preisverleihung<br />
der Stiftung »Ja zum Leben« an den<br />
Generalsekretär der Evangelischen Allianz,<br />
Herrn Hartmut Steeb, hingewiesen<br />
und seine Rede abgedruckt haben. Gerade<br />
im evangelikalen Raum dürfte es<br />
noch mehr protestantische Christen geben,<br />
die mutig genug sind, um sich öffentlich<br />
zum Lebensschutz zu bekennen.<br />
Vielleicht wollen Sie einmal erwägen,<br />
ob »<strong>LebensForum</strong>« nicht auch ihnen<br />
ein »Forum« bieten sollte?<br />
Hans-Harald Schätzler, Leverkusen<br />
A N Z E I G E<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4
I M P R E S S U M<br />
IMPRESSUM<br />
LEBENSFORUM<br />
Ausgabe Nr. <strong>114</strong>, 2. Quartal <strong>2015</strong><br />
ISSN 0945-4586<br />
Verlag<br />
Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />
Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />
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Herausgeber<br />
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Redaktionsleitung<br />
Stefan Rehder, M.A.<br />
Redaktion<br />
Matthias Lochner, Alexandra Linder, M.A.,<br />
Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Prof. Dr. med. Paul Cullen<br />
(Ärzte für das Leben e.V.)<br />
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<strong>LebensForum</strong> Nr. 115 erscheint am 19.09.<strong>2015</strong>. Redaktionsschluss<br />
ist der 31.07.<strong>2015</strong>.<br />
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L e b e n s F o r u m 1 1 4 35
L E T Z T E S E I T E<br />
Europa ohne<br />
Gewissen<br />
Das Drama um Vincent<br />
Lambert beschäftigt auch<br />
Richter und Bischöfe<br />
Von Eckhardt Meister<br />
Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />
Deutsche Post AG (DPAG)<br />
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Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />
36<br />
CHERRYX<br />
Mit zwölf gegen fünf Stimmen<br />
entschieden die Richter des<br />
Europäischen Gerichtshofs<br />
für Menschenrechte (EGMR) Anfang<br />
Mai in Straßburg, die künstliche Ernährung,<br />
mit welcher der französische Koma-Patient<br />
Vincent Lambert am Leben<br />
erhalten wird, dürfe eingestellt werden.<br />
Der Fall des Krankenpflegers, der 2008<br />
mit dem Motorrad verunglückte, erregt<br />
seit Jahren die Gemüter. Die Familie des<br />
38-Jährigen streitet seit langem untereinander<br />
vor Gericht. Die Ehefrau will<br />
die künstliche Ernährung ihres Mannes<br />
einstellen lassen, die Eltern wollen das<br />
verhindern.<br />
Nun entzweite der Fall des 38-Jährigen<br />
auch die Richter des EGMR: »Wir<br />
bedauern, dass der Gerichtshof durch<br />
diesen Beschluss das Recht verwirkt hat,<br />
den Titel ›Gewissen Europas‹ zu tragen,<br />
den er zum 50. Gründungsjubiläum 2010<br />
angenommen hatte«, hielten die unterlegenen<br />
Richter fest. Härter hätte die unterlegene<br />
Minderheit ihre Kritik an der<br />
Entscheidung ihrer siegreichen Kollegen<br />
gar nicht formulieren können.<br />
Auch Lebensrechtler können die Entscheidung<br />
des EGMR nicht nachvollziehen.<br />
Laut den medizinischen Gutachten,<br />
die das Gericht zu prüfen hatte,<br />
kann Vincent Lambert Schmerzen empfinden.<br />
Ein Umstand, auf den sich auch<br />
die Ehefrau Lamberts, welche die Einstellung<br />
der künstlichen Ernährung verlangt,<br />
beruft. Die Eltern Lamberts, die<br />
den EGMR anriefen, nachdem das Oberste<br />
Verwaltungsgericht in Frankreich einer<br />
entsprechenden Klage der Schwiegertochter<br />
stattgegeben hatte, berichten<br />
noch von anderen Lebensäußerungen<br />
ihres Sohnes. Er könne die Augen<br />
schließen, lächeln und weinen.<br />
Auch die französische Bischofskonferenz<br />
schaltete sich in den Fall ein. In einem<br />
Interview mit der katholischen Zeitung<br />
»La Croix« forderte der Erzbischof<br />
von Rennes, Pierre D’Ornellas, alle Parteien<br />
dazu auf, den Kranken als ganzen<br />
Menschen wahrzunehmen. Das »Menschsein«<br />
beinhalte auch, das Leben unabhängig<br />
von seinen Schwachstellen als ein kostbares<br />
Leben zu sehen. Auch während eines<br />
Komas sei das Leben nicht wertlos,<br />
wie überhaupt jedes menschliche Leben<br />
wertvoll sei. D’Ornellas, der in der französischen<br />
Bischofskonferenz für Fragen der<br />
Bioethik zuständig ist, sagte: »Wir haben<br />
es hier mit einer Person zu tun.« Je verwundbarer<br />
eine Person sei, desto mehr<br />
hätten die anderen Menschen die Aufgabe,<br />
sie zu unterstützen und zu schützen.<br />
Es sei selbstverständlich, einen Menschen<br />
mit Nahrung und Flüssigkeit zu versorgen,<br />
auch wenn dies künstlich geschehe, so der<br />
Erzbischof. Auch wenn die Situation für<br />
die Angehörigen schmerzhaft und schwierig<br />
sei, dürfe ein Stopp der Nahrungszufuhr<br />
erst dann in Erwägung gezogen werden,<br />
wenn diese Grundversorgung Leiden<br />
beim Patienten verursache oder wenn sich<br />
seine Gesundheit dadurch verschlechtere.<br />
Nach Ansicht der Katholischen Kirche<br />
dürfen Ärzte die künstliche Ernährung<br />
eines Koma-Patienten nicht einfach<br />
einstellen. Zwar hat Papst Pius XII. 1957<br />
in einer Ansprache anlässlich eines Anästhesiologenkongresses<br />
erklärt, Ärzte seien<br />
moralisch nicht verpflichtet, das Leben<br />
von Patienten mit »außerordentlichen<br />
Mitteln« aufrechtzuerhalten, deren »tiefe<br />
Bewusstlosigkeit für permanent befunden«<br />
werde, doch rechnet Kirche die künstliche<br />
Ernährung <strong>–</strong> anders als eine künstliche<br />
Beatmung <strong>–</strong> nicht zu diesen. Selbst<br />
katholische Ärzte wissen mitunter nicht,<br />
dass die Kirche die Verabreichung von<br />
Der Amtssitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg<br />
Nahrung und Flüssigkeit nicht als Therapie<br />
betrachtet, die abgebrochen werden<br />
muss, wenn sie keinen Erfolg verspricht,<br />
sondern als »Pflege«, die moralisch jedem<br />
geschuldet ist. 2007 publizierte die<br />
vatikanische Glaubenskongregation dazu<br />
eine von Papst Benedikt XVI. zur Veröffentlichung<br />
angeordnete Erklärung (vgl.<br />
LF Nr. 88, S. 23ff.). Darin wird die Versorgung<br />
von Koma-Patienten mit Wasser<br />
und Nahrung als ein »gewöhnliches<br />
und verhältnismäßiges Mittel der Lebenserhaltung«<br />
klassifiziert. Sie sei so lange<br />
moralisch verpflichtend, solange sie ihre<br />
eigene Zielsetzung erreicht.<br />
L e b e n s F o r u m 1 1 4