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ALfA e.V. Magazin – LebensForum | 114 2/2015

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Nr. <strong>114</strong> | 2. Quartal <strong>2015</strong> | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,<strong>–</strong> E B 42890<br />

LEBENSFORUM<br />

Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />

Medizin<br />

»Pille danach«<br />

Täuschung möglich<br />

Medizin<br />

Offener Brief<br />

an den Ethikrat<br />

Kontrovers<br />

Mit Kreuzen für den<br />

Lebensschutz werben?<br />

Beihilfe zum Suizid<br />

Sterbehimmel<br />

über Berlin<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 1<br />

In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)


I N H A LT<br />

LEBENSFORUM <strong>114</strong><br />

EDITORIAL<br />

Der Tod ist keine Therapie 3<br />

Dr. med. Claudia Kaminski<br />

TITEL<br />

Sterbehimmel über Berlin 4<br />

Stefan Rehder<br />

Anstiftung zum Suizid 10<br />

Stefan Rehder<br />

4 - 9<br />

DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />

BIOETHIK-SPLITTER 12<br />

AUSLAND<br />

Kinder sind keine iPhones 14<br />

Dr. med. vet. Edith Breburda<br />

MEDIZIN<br />

Plötzlicher Stoffwechsel? 17<br />

Alexandra Maria Linder<br />

Der Hirntote ist ein Lebender 20<br />

Anton Graf von Wengersky<br />

KONTROVERS<br />

Wofür steht das Kreuz? 24<br />

Andreas Kuhlmann<br />

GESELLSCHAFT<br />

»Frauen verdienen Besseres« 26<br />

Alexandra Maria Linder<br />

DANIEL RENNEN<br />

Die Entwürfe zur rechtlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid liegen auf dem Tisch.<br />

Im November will der Bundestag entscheiden. Zur Wahl stehen je zwei Varianten eines<br />

Verbots sowie der Einführung des ärztlich assistierten Suizids.<br />

17 -19<br />

Achtung Täuschungsversuch:<br />

Warum die »Pille danach«<br />

entgegen so mancher<br />

Behauptung wohl doch eine<br />

frühabtreibende Wirkung<br />

besitzt.<br />

BÜCHERFORUM 30<br />

KURZ VOR SCHLUSS 32<br />

LESERBRIEFE 34<br />

IMPRESSUM 35<br />

LETZTE SEITE 36<br />

Sie haben Post, Frau Professor<br />

Woopen! Ein Offener Brief an die<br />

Vorsitzende des Deutschen<br />

Ethikrats anlässlich der Stellungnahme<br />

des Gremiums zu Hirntod<br />

und Organspende.<br />

20 - 23<br />

DANIEL RENNEN<br />

2<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


E D I T O R I A L<br />

24 - 25<br />

Gewissenserforschung: Ist es wirklich richtig,<br />

dass Lebensrechtler mit Kreuzen gegen<br />

Abtreibung demonstrieren?<br />

27 - 29<br />

Warum im als liberal geltenden Schweden Feministinnen<br />

gegen die Leihmutterschaft mobil<br />

machen.<br />

Der Tod ist<br />

keine Therapie<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

wenn Sie diese Ausgabe von »Lebens-<br />

Forum« in den Händen halten, werden<br />

alle Entwürfe, mit denen die Abgeordneten<br />

des Deutschen Bundestags die Beihilfe<br />

zur Selbsttötung in Deutschland rechtlich<br />

neu regeln wollen, ausformuliert auf<br />

dem Tisch liegen. Derzeit ist hierzulande<br />

sowohl der Suizid als auch die Beihilfe<br />

dazu straffrei.<br />

Ich lade Sie alle ein, das Gesetzgebungsverfahren<br />

bis zur Entscheidung<br />

des Parlaments im November aufmerksam<br />

zu verfolgen und sich, wo immer<br />

möglich, auch selbst in die Debatte einzubringen.<br />

In Gesprächen in der Familie,<br />

mit Freunden, am Arbeitsplatz,<br />

mit Beiträgen in den sozialen<br />

Netzwerken. Alle, die sich da-<br />

rüber hinaus vorstellen können,<br />

ihrem Wahlkreisabgeordneten<br />

zu schreiben oder einen<br />

Leserbrief an die Redaktion<br />

ihrer Heimatzeitung zu schicken,<br />

rufe ich zu: Tun Sie das! Selbst wenn<br />

ein Leserbrief nicht abgedruckt und ein<br />

Brief unbeantwortet bleiben sollte, seien<br />

Sie sicher, alle werden registriert und<br />

verfehlen ihre Wirkung nicht.<br />

Vor allem aber: Kommen Sie am 19.<br />

September nach Berlin. Nehmen Sie teil<br />

am »Marsch für das Leben« und zeigen<br />

Sie durch Ihre Präsenz, dass Sie in einem<br />

Land zu leben wünschen, das das Leben<br />

seiner schwächsten Bürger schützt.<br />

Das Leben derer, die <strong>–</strong> wie die ungeborenen<br />

Kinder im Mutterleib <strong>–</strong> noch keine<br />

Stimme haben, und das Leben derer,<br />

die <strong>–</strong> wie die alten und kranken Menschen<br />

<strong>–</strong> sich selbst nicht mehr lautstark artikulieren<br />

können. Sollten Sie selbst verhindert<br />

sein, können Sie ein Zeichen setzen,<br />

indem Sie von unserer Aktion »Geh Du<br />

für mich« Gebrauch machen. Mehr Informationen<br />

dazu finden Sie auf Seite 16.<br />

Bundestagspräsident Norbert Lammert<br />

(CDU) hat die Neuregelung der Suizidhilfe<br />

»das vielleicht anspruchsvollste<br />

Gesetzgebungsverfahren der gesamten<br />

Legislaturperiode« genannt. Und damit<br />

könnte er Recht haben. Die größte Gefahr<br />

»Es gibt kein<br />

gutes Töten«<br />

droht dem Lebensrecht<br />

hier gegenwärtig<br />

von zwei Entwürfen.<br />

Sie gehen zwar<br />

unterschiedlich weit,<br />

gemeinsam ist ihnen<br />

jedoch, dass sie den<br />

ärztlich assistierten<br />

Suizid in Deutschland<br />

salonfähig machen<br />

und das ärztliche<br />

Standesrecht<br />

aushebeln würden,<br />

das dem bislang entgegensteht.<br />

Das muss unbedingt verhindert werden.<br />

Denn der Tod ist keine Therapie<br />

des Lebens. Die Erfahrungen in den<br />

Niederlanden und Belgien zeigen, dass<br />

wenn Ärzte erst einmal die Last des Tötens<br />

schultern, auch das gesellschaftliche<br />

Bewusstsein dafür schwindet, dass es kein<br />

gutes Töten gibt.<br />

Wenn wir eine humane Gesellschaft<br />

bleiben wollen, dann dürfen wir nicht<br />

zulassen, dass alte und kranke<br />

Menschen anfangen zu überlegen,<br />

ob sie sich anderen noch<br />

»zumuten« dürfen oder ob es<br />

nicht an der Zeit wäre, aus dem<br />

Leben zu scheiden.<br />

Wo dies auch nur gedacht<br />

wird, hat die Menschlichkeit bereits eine<br />

furchtbare Niederlage erlitten. Die<br />

Suizidpräventionsforschung lehrt, dass<br />

Menschen, die vorgeben, sich das Leben<br />

nehmen zu wollen, ganz überwiegend<br />

gar nicht sterben wollen. Sie wollen<br />

lediglich nicht so weiterleben müssen<br />

wie bisher. Mit dem Ausbau der Palliativmedizin<br />

und der Stärkung der Hospizkultur,<br />

mit menschlicher Zuwendung<br />

und der Linderung von Schmerzen kann<br />

ihnen dieser Wunsch heute besser erfüllt<br />

werden als jemals zuvor in der Geschichte<br />

der Menschheit.<br />

Suizid ist ansteckend. Wer verhindern<br />

will, dass sich unsere Gesellschaft<br />

mit diesem Virus infiziert, der muss als<br />

Erstes verhindern, dass Ärzte zu seinen<br />

Überträgern werden.<br />

Eine erhellende Lektüre wünscht<br />

Ihre<br />

Claudia Kaminski<br />

Bundesvorsitzende der <strong>ALfA</strong><br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 3


T I T E L<br />

DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />

Sterbehimmel<br />

über Berlin<br />

Am 3. Juli wird der Deutsche Bundestag in Erster Lesung mehrere interfraktionelle Gesetzentwürfe<br />

zur rechtlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid in Deutschland beraten. Bis zum Redaktionsschluss<br />

dieser Ausgabe lagen drei der vier zu erwartenden Gesetzentwürfe vor. Eine Analyse.<br />

Von Stefan Rehder<br />

Bis November wird noch viel Wasser<br />

die Spree hinunterfließen. Erst<br />

dann wollen die Abgeordneten des<br />

Deutschen Bundestags abschließend über<br />

die Neuregelung der Beihilfe zur Selbsttötung<br />

in Deutschland befinden. Bleibt<br />

es bei den sich bislang abzeichnenden<br />

Mehrheitsverhältnissen im Parlament,<br />

dann werden Lebensrechtler, wenn auch<br />

4<br />

keinen Grund zum ausgelassenen Feiern,<br />

so aber doch zur stillen Freude haben.<br />

Denn der Gesetzentwurf, der derzeit<br />

die größten Aussichten hat, im Bundestag<br />

auch eine Mehrheit zu finden, würde<br />

zwar weder den Suizid noch die Beihilfe<br />

dazu grundsätzlich verbieten. Verglichen<br />

mit der derzeit geltenden Regelung<br />

verspricht er jedoch ein tatsächliches<br />

Mehr an Lebensschutz. Und wer<br />

aufmerksam die Debatte um die rechtliche<br />

Neuregelung der Suizidhilfe verfolgt<br />

hat, die schon die schwarz-gelbe Vorgängerregierung<br />

beschäftigte, der weiß auch,<br />

dass eine derartige Perspektive lange Zeit<br />

als ausgeschlossen galt.<br />

Damals konnten hellwache Lebensrechtler<br />

gerade noch rechtzeitig verhin-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


dern, dass ein von der damaligen Bundesjustizministerin<br />

Sabine Leutheusser-<br />

Schnarrenberger (FDP) im Auftrag des<br />

Koalitionsausschusses erarbeiteter und<br />

in Windeseile durch das Parlament gepeitschter<br />

Gesetzentwurf, der lediglich die<br />

gewerbsmäßige Suizidhilfe verboten, zugleich<br />

aber alle anderen Formen der organisierten<br />

Beihilfe zur Selbsttötung aufgewertet<br />

hätte, zur Zweiten und Dritten<br />

Lesung kam, weshalb er nach der Wahl<br />

der Diskontinuität verfiel. Heute erzählt<br />

man sich in Berlin, Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel (CDU) habe im Wahljahr keine<br />

konservativen Wähler verärgern wollen<br />

und nach öffentlichen Protesten der<br />

Lebensrechtler den Gesetzentwurf der<br />

CHRISTLICHES MEDIENMAGAZIN PRO<br />

Doch diese Hoffnung währte nicht<br />

lange. Nachdem vier Hochschullehrer im<br />

August vergangenen Jahres einen Gesetzentwurf<br />

vorstellten, der den ärztlich assistierten<br />

Suizid zwar pro forma verbieten<br />

würde, ihn unter bestimmten Voraussetzungen<br />

jedoch als Ausnahme legalisiert<br />

und ihn damit zu einer ernstzunehmenden<br />

Option im Gesundheitswesen machen<br />

würde, wandelte sich die Stimmung im<br />

CDU/CSU<br />

WWW.SPDFRAKTION.DE (SUSIE KNOLL - FLORIAN JÄNICKE)<br />

Hermann Gröhe, CDU<br />

schwarz-gelben Bundesregierung deshalb<br />

von der Tagesordnung des Parlaments<br />

streichen lassen.<br />

Als Bundesgesundheitsminister Hermann<br />

Gröhe (CDU), ein bekennender<br />

Protestant, Anfang vergangenen Jahres<br />

das Thema erneut auf die Agenda setzte<br />

und durchblicken ließ, dass er sich eine<br />

Regelung wünsche, die jede Form der organisierten<br />

Suizidhilfe verbiete, konnten<br />

Ȁrzte sollen Hilfe beim, aber<br />

nicht zum Sterben leisten«<br />

Lebensrechtler für eine Weile die Hoffnung<br />

hegen, dass die Große Koalition<br />

endlich Suizidhilfevereinen sowie Personen,<br />

die in Sachen Tod auf eigene Faust<br />

durch die Republik reisten, endlich das<br />

Handwerk legen würde.<br />

Peter Hintze, CDU<br />

Kerstin Griese, SPD<br />

»Geschäftsmäßig: Handlungen, die<br />

auf Wiederholung angelegt sind«<br />

Land. Als dann auch noch eine Gruppe<br />

von Abgeordneten um Bundestagsvizepräsident<br />

Peter Hintze (CDU) und den<br />

SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach<br />

einen Gesetzentwurf ankündigte,<br />

der in dieselbe Richtung zielte, war es<br />

geschehen: Fast über Nacht war mit tatkräftiger<br />

Hilfe vieler Medien, die mehrheitlich<br />

auf Seiten derer stehen, welche<br />

die Selbsttötung nicht so sehr als eine<br />

furchtbare Verzweiflungstat begreifen,<br />

sondern als einen Akt der Selbstbestimmung<br />

missverstehen, aus der Debatte<br />

über ein Verbot von Suizidhilfevereinen<br />

eine über die Legalisierung des ärztlich<br />

assistierten Suizids geworden.<br />

Dass sich der bioethische Himmel über<br />

Berlin derzeit deutlich freundlicher ausnimmt,<br />

ist sicher nicht zuletzt der unermüdlichen<br />

Arbeit so vieler Lebensrechtler<br />

zu verdanken, die sich als Ideengeber,<br />

Mahner und Wächter <strong>–</strong> ebenso wie ihre<br />

Gegner auf der anderen Seite <strong>–</strong> in den<br />

politischen Willensbildungsprozess einbringen.<br />

Seine Wirkung nicht verfehlt<br />

hat aber auch der gemeinsame Presseauftritt<br />

des Präsidenten der Bundesärztekammer<br />

Frank Ulrich Montgomery und<br />

der Präsidenten der Landesärztekammern<br />

Anfang Dezember in Berlin. Dabei<br />

stellten die gewählten Vertreter der<br />

Ärzteschaft übereinstimmend klar: »Für<br />

alle Ärztinnen und Ärzte in Deutschland<br />

gilt: Sie sollen Hilfe beim Sterben leisten,<br />

aber nicht Hilfe zum Sterben.« Weiter<br />

hieß es: »Diese Grundaussage« werde<br />

auch durch die teils länderspezifischen<br />

Formulierungen des § 16 der ärztlichen<br />

Musterberufsordnung (MBO) »nicht in<br />

Frage gestellt«.<br />

Der Gesetzentwurf, der derzeit die<br />

größte Aussicht auf eine Mehrheit im<br />

Parlament besitzt, trägt den Titel »Entwurf<br />

eines Gesetzes zur Strafbarkeit der<br />

geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung«<br />

und wurde von den Unionsabgeordneten<br />

Michael Brand (CDU) und<br />

Michael Frieser (CSU) gemeinsam mit<br />

Kerstin Griese und Eva Högl (beide<br />

SPD), Elisabeth Scharfenberg und Harald<br />

Terpe (beide Bündnis 90/Die Grünen)<br />

sowie Halina Wawzyniak und Kathrin<br />

Vogler (beide Die Linke) und weiteren<br />

Abgeordneten ausgearbeitet. Er<br />

würde die derzeit geltende gesetzliche<br />

Regelung um ein strafrechtliches Verbot<br />

der sogenannten »geschäftsmäßigen«<br />

Suizidhilfe erweitern. Als »geschäftsmäßig«<br />

betrachten die Abgeordneten darin<br />

»auf Wiederholung angelegte Handlungen«,<br />

die »kommerziell orientiert« sein<br />

können, aber nicht müssen.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 5


T I T E L<br />

Mit dieser Definition soll sichergestellt<br />

werden, dass von dem Verbot auch solche<br />

Vereine erfasst werden, die mit der<br />

von ihnen angebotenen Suizidhilfe keine<br />

Gewinne erzielen oder solche verschleiern.<br />

Wie es in der »Begründung/Allgemeiner<br />

Teil« des Gesetzentwurfes heißt,<br />

halten die Unterzeichner des Entwurfs ein<br />

vollständiges strafrechtliches Verbot der<br />

Beihilfe zum Suizid, wie es etwa in anderen<br />

europäischen Staaten besteht, unter<br />

Strafe zu stellen, da sie sich nicht gegen<br />

einen anderen Menschen richtet und der<br />

freiheitliche Rechtsstaat keine allgemeine,<br />

erzwingbare Rechtspflicht zum Leben<br />

kennt.« Dementsprechend seien auch der<br />

»Suizidversuch oder die Teilnahme an einem<br />

Suizid(versuch) straffrei«.<br />

»Dieses Regelungskonzept« hat sich<br />

nach Ansicht der Autoren des Entwurfs<br />

bewährt. Deshalb solle auch »die prinzipielle<br />

Straflosigkeit des Suizids und der<br />

WWW.MICHAEL-FRIESER.DE<br />

Teilnahme daran« nicht infrage gestellt<br />

werden. Eine »Korrektur« sei aber »dort<br />

erforderlich, wo geschäftsmäßige Angebote<br />

die Suizidhilfe als normale Behandlungsoption<br />

erscheinen lassen und Menschen<br />

dazu verleiten können, sich das Leben<br />

zu nehmen«.<br />

Ziel sei es, »die Entwicklung der Beihilfe<br />

zum Suizid (assistierter Suizid) zu einem<br />

Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen<br />

Versorgung zu verhindern«.<br />

Begründet wird dieses damit, dass durch<br />

die durch »Vereine sowie einschlägig bekannte<br />

Einzelpersonen« wachsende Zahl<br />

der Fälle, in denen Suizidhilfe geleistet<br />

werde, ein »Gewöhnungseffekt« an »solche<br />

organisierten Formen des assistierten<br />

Suizids« drohe. »Insbesondere alte und/<br />

oder kranke Menschen können sich dadurch<br />

zu einem assistierten Suizid verleiten<br />

lassen oder gar direkt oder indirekt<br />

gedrängt fühlen, die ohne die Verfügbarkeit<br />

solcher Angebote eine solche<br />

Entscheidung nicht erwägen, geschweige<br />

denn treffen würden.« Daher müsse<br />

solchen »geschäftsmäßigen« Handlungen<br />

»zum Schutz der Selbstbestimmung<br />

und des Grundrechts auf Leben«<br />

auch mit den »Mitteln des Strafrechts«<br />

entgegengewirkt werden.<br />

ANDREA DAMM/PIXELIO.DE<br />

Michael Frieser, CSU<br />

Im November wird der Bundestag über die Neuregelung der Suizidhilfe entscheiden<br />

»Aufbau eines flächendeckenden<br />

Angebots an Hospizleistungen«<br />

rechtssystematischen Gesichtspunkten<br />

für »problematisch«.<br />

Tatsächlich vertritt eine Mehrheit der<br />

Juristen die Auffassung, dass die Beihilfe<br />

zu einer Tat, die selbst straflos ist, nicht<br />

mit Strafe bewehrt werden könne. Wie es<br />

in der Begründung weiter heißt, stelle ein<br />

»vollständiges strafrechtliches Verbot der<br />

Beihilfe zum Suizid« zudem in der »Abwägung<br />

unterschiedlicher ethischer Prämissen«<br />

einen ȟberscharfen Eingriff in<br />

die Selbstbestimmung von Sterbewilligen«<br />

dar. Wohl deswegen heißt es einleitend<br />

zu dem Gesetzentwurf auch: »Das deutsche<br />

Rechtssystem verzichtet darauf, die<br />

eigenverantwortliche Selbsttötung unter<br />

6<br />

Rechtlich geregelt werden soll dies<br />

nach den Vorstellungen der Abgeordnetengruppe<br />

um Michael Brand im Strafgesetzbuch<br />

(StGB) in einem neuen Paragrafen<br />

217, der nur zwei Absätze enthält.<br />

Absatz 1 lautet: »Wer in der Absicht,<br />

die Selbsttötung eines anderen zu<br />

fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig<br />

die Gelegenheit gewährt, verschafft oder<br />

vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu<br />

drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«<br />

Absatz 2 schränkt diesen neuen Straftatbestand<br />

dann insofern ein, als er formuliert:<br />

»Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer<br />

»Jedem die Hilfe zukommen<br />

lassen, die er benötigt«<br />

selbst nicht geschäftsmäßig handelt und<br />

entweder Angehöriger des in Absatz 1<br />

genannten anderen ist oder diesem nahesteht.«<br />

Vom Tisch ist demnach eine im ursprünglichen<br />

Positionspapier von Brand,<br />

Frieser und anderen erwogene Änderung<br />

des Betäubungsmittelgesetzes. Ethiker<br />

wie der Mannheimer Arzt und Medizinhistoriker<br />

Axel W. Bauer und verschiedene<br />

Lebensrechtler hatten öffentlich die<br />

Befürchtung geäußert, dass dadurch der<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


»Giftschrank« geöffnet würde. Manche<br />

hatten Brand und seinen Mitstreitern sogar<br />

unterstellt, auf diese Weise den ärztlich<br />

assistierten Suizid durch die »Hintertür«<br />

einführen zu wollen. Davon kann<br />

nun keine Rede mehr sein.<br />

Ob der Gesetzentwurf aber auch geeignet<br />

ist, alle die mit ihm anvisierten Ziele<br />

zu erreichen, wird vermutlich jedoch<br />

erst die Praxis erweisen können. Dies gilt<br />

umso mehr, als die Frage, wie drängend<br />

der »Wunsch« von Menschen wird, sich<br />

das Leben zu nehmen und sich dabei von<br />

anderen zur Hand gehen zu lassen, nicht<br />

zuletzt auch davon abhängen wird, wie gut<br />

Suizidpräventionsprogramme greifen und<br />

FDP<br />

Auch Hospize sollen besser ausgestattet<br />

werden. Gröhe will, dass jeder »schwerstkranke<br />

Mensch« die »Hilfe und die Unterstützung«<br />

bekommt, »die er oder sie<br />

in der letzten Lebensphase wünscht und<br />

benötigt«. Gröhes Ministerium verspricht<br />

dazu zusätzliche Ausgaben in Höhe von<br />

mehreren 100 Millionen Euro pro Jahr<br />

tätigen zu wollen.<br />

Die Chancen, dass der von Brand,<br />

Frieser und ihren Mitstreitern vorgelegte<br />

CDU<br />

»Der Leidende will ein Ende<br />

des Leidens, nicht des Lebens«<br />

TOBIAS KOCH<br />

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP<br />

wie es zukünftig um die palliative und hospizliche<br />

Versorgung von Schwerstkranken<br />

und Sterbenden in Deutschland bestellt<br />

sein wird. Anders formuliert: Wer<br />

strafrechtlich derart minimal-invasiv zu<br />

Werke geht, der muss, wenn er in einer<br />

Gesellschaft Erfolg haben will, die den<br />

Suizid fälschlicherweise in weiten Teilen<br />

immer noch als »Freitod« glorifiziert, an<br />

anderer Stelle klotzen.<br />

Man darf also durchaus gespannt sein,<br />

ob das von Bundesgesundheitsminister<br />

Gröhe bereits vorgestellte »Gesetz zur<br />

Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung<br />

in Deutschland« diesen Anforderungen<br />

genügen wird. Ziel ist nicht<br />

weniger als der Aufbau eines »flächendeckenden<br />

Angebots an Palliativ- und Hospizleistungen<br />

in Deutschland«. Mit dem<br />

Gesetz soll »die Palliativversorgung und<br />

die Hospizkultur an allen Orten, an denen<br />

Menschen ihre letzte Lebensphase<br />

verbringen«, gestärkt werden: Zu Hause,<br />

in Pflegeheimen und Krankenhäusern.<br />

Volker Kauder, CDU<br />

Entwurf sich am Ende im Bundesgesetzblatt<br />

wiederfinden wird und dann zeigen<br />

muss, ob er auch zu halten vermag, was er<br />

verspricht, sind aber auch deshalb relativ<br />

hoch, weil er in der vorliegenden Form<br />

eine Synthese ursprünglich konkurrierender<br />

Gesetzesvorhaben darstellt. Mit<br />

ihm sind <strong>–</strong> aus Sicht der Unionsabgeordneten<br />

Brand und Frieser, zu denen sich<br />

auch Unionsfraktionschef Volker Kauder<br />

und Bundesgesundheitsminister Hermann<br />

Gröhe gesellt haben <strong>–</strong> die früheren Positionspapiere<br />

der SPD-Bundestagsabgeordneten<br />

Griese und Högl sowie der beiden<br />

grünen Parlamentarier Scharfenberg und<br />

Terpe, die große Schnittmengen mit den<br />

»Beim Suizid strebt der Gehilfe den<br />

Tötungserfolg eines anderen an«<br />

Michael Brand, CDU<br />

Eckpunkten von Brand, Frieser und ihren<br />

Mitstreitern aufwiesen, nun Makulatur.<br />

Natürlich kann man sich auf den Standpunkt<br />

stellen, dass damit der Staat seiner<br />

Pflicht, das Leben seiner Bürger zu schützen,<br />

letztlich nicht im erforderlichen Umfang<br />

nachkomme. Aber wer im vergangenen<br />

Herbst die sogenannte Orientierungsdebatte<br />

im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes<br />

verfolgen konnte, der weiß<br />

auch, dass es damals zwar eine gefühlte<br />

Mehrheit für ein Verbot von Suizidhilfevereinen<br />

gab, nicht aber eine für ein<br />

generelles Verbot jedweder Suizidhilfe.<br />

Daran hat sich dem Vernehmen nach bis<br />

heute nichts geändert.<br />

Selbstverständlich bieten Mehrheiten<br />

keine Gewähr dafür, dass ein Problem<br />

zufriedenstellend gelöst wird. Dass<br />

ein Lösungsansatz von einer Mehrheit favorisiert<br />

wird, heißt weder, dass er richtig<br />

noch dass er zielführend ist. Lebensrechtler<br />

tun daher gut daran, einem weiteren<br />

Gesetzentwurf Beachtung zu schenken,<br />

auch wenn dieser <strong>–</strong> aus heutiger Sicht <strong>–</strong><br />

keinerlei Chance auf eine Mehrheit besitzt<br />

und derzeit nicht einmal klar ist, ob<br />

er ausreichend Unterzeichner findet, um<br />

ins Parlament eingebracht und zur Abstimmung<br />

gestellt werden zu können.<br />

Der von den beiden CDU-Abgeordneten<br />

Patrick Sensburg und Thomas Dörflinger<br />

initiierte Gesetzentwurf will ähnlich,<br />

wie dies etwa in Österreich, Italien,<br />

England und Wales, Irland, Portugal,<br />

Spanien und Polen der Fall ist, die<br />

Beihilfe zum Suizid grundsätzlich ver-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 7


T I T E L<br />

bieten. Laut dem Entwurf, der den Titel<br />

»Strafbarkeit der Teilnahme an der<br />

Selbsttötung« trägt, soll der neue Paragraf<br />

217 StGB, Absatz 1 lauten: »Wer einen<br />

anderen dazu anstiftet, sich selbst zu<br />

töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, wird<br />

mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.«<br />

Absatz 2 sieht vor, dass bereits der<br />

Versuch strafbar ist. Begründet wird der<br />

Gesetzentwurf vor allem damit, dass der<br />

»Gehilfe einer Selbsttötung« mit seiner<br />

Hilfe nicht nur die »Wertentscheidung<br />

des Suizidenten« billige, sondern »auch<br />

selbst den Tötungserfolg« anstrebe. »Dabei<br />

urteilt er aus der Lebenssituation eines<br />

die Suizidpräventionsforschung in Frage<br />

stellt, dass es so etwas wie einen »freiverantwortlich«<br />

gewollten Suizid überhaupt<br />

SVEN TESCHKE<br />

ARNE LIST<br />

Der dritte Gesetzentwurf wurde am 11.<br />

Juni von einer Gruppe von Abgeordneten<br />

um die ehemalige Verbraucherministerin<br />

Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen)<br />

und die Parlamentarische Geschäftsführerin<br />

der Partei »Die Linke«, Petra Sitte,<br />

öffentlich vorgestellt und würde das<br />

geltende ärztliche Berufsrecht aushebeln.<br />

Zwar sieht Paragraf 6 (Ärzte als Helfer<br />

zur Selbsttötung) des »Entwurfs eines<br />

CLAUDIA KETELS<br />

Frank Ulrich Montgomery<br />

»Die Hilfe zur Selbsttötung kann<br />

eine ärztliche Aufgabe sein«<br />

Gesunden und nicht des Kranken, dessen<br />

Äußerung sterben zu wollen« allzu<br />

oft nur »ein Hilferuf« sei. Dabei vergesse<br />

der Gehilfe, »dass der Leidende ein Ende<br />

der Leiden will, nicht aber ein Ende<br />

des Lebens«. Der Gesetzgeber dürfte, so<br />

Sensburg und Dörflinger in ihrem Entwurf,<br />

»nicht zulassen, dass das Leben eines<br />

Kranken, Schwachen, Alten oder Behinderten<br />

als lebensunwert angesehen«<br />

werde. Und zwar weder von ihm selbst<br />

noch von Dritten.<br />

Dieser Gesetzentwurf deckt sich mit<br />

den Ergebnissen und Erfahrungen, welche<br />

sowohl die Suizidpräventionsforschung<br />

als auch die Palliativmedizin und Hospizarbeit<br />

zutage gefördert haben. Während<br />

8<br />

Petra Sitte, Die Linke<br />

gibt, und Studien überzeugend aufzeigen,<br />

dass die Mehrzahl der Suizide zumindest<br />

mit psychischen Krankheitsbildern korreliert,<br />

welche die Fähigkeit, eine Entscheidung<br />

zu treffen, die frei genannt werden<br />

kann, massiv einschränken oder gar verunmöglichen,<br />

berichten Palliativmediziner<br />

und Hospizler immer wieder, dass<br />

Patienten, die äußern, sterben zu wollen,<br />

diesen »Wunsch« regelmäßig dann aufgeben,<br />

wenn ihnen Ärzte und Pfleger erklären,<br />

welche Möglichkeiten die moderne<br />

Medizin heute besitzt, um etwa Atemnot<br />

zu lindern und Schmerzen zu stillen.<br />

Darüber hinaus böte ein umfassendes<br />

Verbot der Beihilfe zum Suizid Vorteile,<br />

die zumindest von denen bedacht werden<br />

sollten, die der auch in Deutschland inzwischen<br />

von vielen geforderten »Tötung<br />

auf Verlangen« wehren wollen. Denn ist<br />

der »Sterbewillige« erst einmal tot, lässt<br />

sich in der Regel nicht mehr zweifelsfrei<br />

ermitteln, ob der Gehilfe zum Täter<br />

mutierte und nun »Tötung auf Verlangen«<br />

oder doch »lediglich« Beihilfe<br />

zu einem Suizid leistete. Die Frage, wer<br />

zum Zeitpunkt des Todes die »Tatherrschaft«<br />

innehatte, mag rechtspolitisch<br />

und ethisch noch so bedeutsam sein, faktisch<br />

ist sie in doppelter Hinsicht irrelevant.<br />

Denn wenn die »Unternehmung«<br />

von »Erfolg gekrönt« war, ist nicht nur<br />

das Ergebnis dasselbe, sondern auch die<br />

Justiz auf »Treu und Glauben« den Angaben<br />

des Gehilfen oder eben des Täters<br />

ausgeliefert.<br />

Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen<br />

Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe<br />

zu Selbsttötung« in Absatz 1 vor: »Wer<br />

als Arzt von einem sterbewilligen Menschen<br />

um Hilfe zur Selbsttötung gebeten<br />

wird, hat nicht die Pflicht, dieser Bitte zu<br />

entsprechen.« Entgegen der MBO hält<br />

Absatz 2 dann aber fest: »Die Hilfe zur<br />

Selbsttötung kann eine ärztliche Aufgabe<br />

sein und darf Ärzten nicht untersagt<br />

»Entgegenstehende Regelungen<br />

sind unwirksam«<br />

werden. Dem entgegen stehende berufsständische<br />

Regelungen sind unwirksam.«<br />

In der Folge müsste in Deutschland kein<br />

Arzt mehr den Entzug der Approbation<br />

fürchten, sollte er sich bereitfinden, einem<br />

Patienten bei einem Suizidversuch<br />

zur Hand zu gehen.<br />

Auch die geschäftsmäßige Suizidhilfe<br />

will der Entwurf nicht verbieten, sondern<br />

bloß regeln. Allein die auf Dauer angelegte<br />

kommerzielle Suizidhilfe wollen<br />

die Abgeordneten um Künast und Sitte<br />

mit Strafe bedrohen. Paragraf 4, Absatz<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


1 (Gewerbsmäßige Hilfe zur Selbsttötung)<br />

sieht vor: »Wer Hilfe zur Selbsttötung<br />

mit der Absicht leistet, sich oder<br />

einem Dritten durch wiederholte Hilfehandlungen<br />

eine fortlaufende Einnahmequelle<br />

von einiger Dauer und einigem<br />

Umfang zu verschaffen (gewerbsmäßiges<br />

Handeln), wird mit Freiheitsstrafe<br />

bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe<br />

bestraft.«<br />

Paragraf 3 regelt sodann die Voraussetzung,<br />

unter denen die in Paragraf 2,<br />

Absatz 2 »grundsätzlich straflos« gestellte<br />

»Hilfe zur Selbsttötung« auch straffrei<br />

bleiben soll. Absatz 1 sieht vor, dass<br />

MK HOFFE<br />

WWW.SPDFRAKTION.DE<br />

lang unregulierten Tätigkeit von Sterbehilfevereinen<br />

hinaus.<br />

Ersteres ist auch das erklärte Ziel eines<br />

Gesetzentwurfes einer Gruppe von Abgeordneten<br />

um Bundestagsvizepräsident<br />

Peter Hintze (CDU) und den SPD-Gesundheitsexperten<br />

Karl Lauterbach. Dieser<br />

lag bei Redaktionsschluss noch nicht<br />

vor. Auch ihnen ist das ärztliche Standesrecht<br />

ein Dorn im Auge. Laut ihrem im<br />

Herbst vergangenen Jahres vorgestellten<br />

Positionspapier will diese Gruppe<br />

den ärztlich assistierten Suizid für Patienten<br />

legalisieren, die tödlich erkrankt<br />

sind und nach menschlichem Ermessen<br />

nicht mehr lange zu leben haben.<br />

Der Deutsche Bundestag wird also im<br />

Ergebnis über zwei Dinge zu entscheiden<br />

haben. Nämlich zunächst, ob er bei der Neuregelung<br />

des ärztlich assistieren Suizids für<br />

»Auch Hospize und Krankenhäuser<br />

sollen eine Beratung gewährleisten«<br />

Patrick Sensburg, CDU<br />

Beihilfe zum Suizid »nur dann geleistet<br />

werden darf, wenn der sterbewillige<br />

Mensch den Wunsch zur Selbsttötung<br />

freiverantwortlich gefasst und geäußert<br />

hat«. Vereine oder Ärzte, die in organisierter<br />

oder geschäftsmäßiger Form Hilfe<br />

zur Selbsttötung leisten, müssen sich<br />

gemäß Absatz 2 »aufgrund eines Beratungsgesprächs<br />

des Umstands vergewissert<br />

haben, dass der sterbewillige Mensch<br />

freiwillig, selbstbestimmt und nach reiflicher<br />

Überlegung die Hilfe zur Selbsttötung<br />

verlangt«. Absatz 3 schreibt vor,<br />

dass »zwischen dem Beratungsgespräch<br />

und der Hilfeleistung zur Selbsttötung«<br />

mindestens 14 Tage liegen müssen.<br />

Paragraf 7 bestimmt dann näher, was<br />

ein solches »Beratungsgespräch«, das zudem<br />

immer von einen Arzt geführt und<br />

schriftlich dokumentiert werden muss,<br />

beinhalten muss. Laut Absatz 1 muss es<br />

»umfassend« und »ergebnisoffen« sein,<br />

den Sterbewilligen über »seinen Zustand<br />

aufklären« und ihm »Möglichkeiten der<br />

Karl Lauterbach, SPD<br />

»Zwischen Beratungsgespräch und<br />

dem Suizid sollen 14 Tage liegen«<br />

medizinischen Behandlung und Alternativen<br />

zur Selbsttötung <strong>–</strong> insbesondere palliativmedizinische<br />

<strong>–</strong>« aufzeigen, »weitere<br />

Beratungsmöglichkeiten« empfehlen sowie<br />

»auf mögliche Folgen eines fehlgeschlagenen<br />

Selbsttötungsversuches« hinweisen.<br />

Absatz 2 schreibt ferner vor, dass<br />

»Hospize und Krankenhäuser« gewährleisten<br />

müssen, »dass eine sterbewillige<br />

Person unverzüglich durch einen Arzt<br />

gemäß Absatz 1 beraten wird«.<br />

Dies hätte aller Voraussicht nach zur<br />

Konsequenz, dass sich christliche Krankenhäuser<br />

und Hospize nicht länger konsequent<br />

dagegen wehren könnten, an<br />

Selbsttötungen mitzuwirken. Sie müssten<br />

in jedem Fall dulden, dass Ärzte auf<br />

ihrem Gelände Beratungen durchführen,<br />

deren Ergebnis ein, wo dann auch<br />

immer durchgeführter ärztlich assistierter<br />

Suizid sein könnte. Im Ergebnis liefe<br />

der Gesetzentwurf der Abgeordnetengruppe<br />

um Künast und Sitte daher auf<br />

die Legalisierung des ärztlich assistierten<br />

Suizids und die Regulierung der bis-<br />

mehr Lebensschutz sorgen will oder ob er<br />

stattdessen den ärztlich assistierten Suizid<br />

einführen will. Bei jeder dieser grundsätzlichen<br />

Entscheidungen hat er <strong>–</strong> sollte der<br />

Entwurf von Sensburg und Dörflinger ausreichend<br />

Erstunterzeichner finden <strong>–</strong> gewissermaßen<br />

dann noch die Wahl zwischen einer<br />

Maxi- und einer Mini-Variante. Sollte<br />

sich der Deutsche Bundestag im November<br />

tatsächlich für die Mini-Variante eines<br />

besseren Lebensschutzes entscheiden, wäre<br />

das Ende der Fahnenstange der berechtigten<br />

Wünsche von Lebensrechtlern zwar<br />

nicht erreicht. Doch wäre nicht nur die von<br />

vielen vehement geforderte Einführung des<br />

ärztlich assistierten Suizids fürs Erste gebannt,<br />

auch die geltende Rechtslage wäre<br />

deutlich verbessert worden.<br />

I M P O R T R A I T<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Der Autor, geboren 1967, ist »Chef vom<br />

Dienst« der überregionalen, katholischen<br />

Tageszeitung »Die Tagespost«, Redaktionsleiter<br />

von »<strong>LebensForum</strong>«<br />

und<br />

Leiter der Rehder<br />

Medienagentur. Er<br />

studierte Geschichte,<br />

Germanistik<br />

und Philosophie<br />

an den Universitäten Köln und<br />

München und hat mehrere bioethische<br />

Bücher verfasst, darunter »Grauzone<br />

Hirntod. Organspende verantworten«<br />

und »Die Todesengel. Euthanasie auf<br />

dem Vormarsch.« Sankt Ulrich Verlag,<br />

Augsburg 2010 bzw. 2009. Stefan Rehder<br />

ist verheiratet und Vater von drei<br />

Kindern.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 9


T I T E L<br />

DANIEL RENNEN<br />

Anstiftung zum Suizid<br />

Mit »Hilfen am Lebensende« legt die Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung eine<br />

eigene Stellungnahme zur rechtlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid vor. Vor allem<br />

ein Vorschlag ist dazu angetan, die seit über einem Jahr andauernde Debatte zu bereichern. Ob die<br />

Abgeordneten des Deutschen Bundestags sie aufgreifen werden, ist allerdings alles andere als sicher.<br />

Von Stefan Rehder<br />

10<br />

Die Bioethik-Kommission der Bayerischen<br />

Staatsregierung (Bay-<br />

BEK) hat sich mit eigenen Empfehlungen<br />

in die bundesweite Debatte<br />

über eine gesetzliche Neuregelung der<br />

Beihilfe zum Suizid in Deutschland eingeschaltet.<br />

Die 96-seitige Stellungnahme<br />

der BayBEK, der auch der Augsburger<br />

Weihbischof Anton Losinger, die protestantische<br />

Regionalbischöfin im Kirchenkreis<br />

München und Oberbayern Susanne<br />

Breit-Keßler, der Präsident des Zentralrates<br />

der Juden in Deutschland Josef<br />

Schuster sowie der langjährige Vor- und<br />

jetzige Ehrenvorsitzende der Bundesvereinigung<br />

Lebenshilfe für Menschen mit<br />

geistiger Behinderung Robert Antretter<br />

angehören, trägt den Titel »Hilfen am<br />

Lebensende« und empfiehlt unter anderem<br />

zu prüfen, ob in Deutschland ähnlich<br />

wie in der Schweiz die »Anstiftung<br />

und Beihilfe zum Suizid aus selbstsüchtigen<br />

Gründen strafrechtlich« verboten<br />

werden sollten.<br />

»Mit unserem Positionspapier wollen<br />

wir einen Beitrag zu der Frage leisten:<br />

Was ist ethisch und rechtlich die<br />

›richtige‹ Haltung der Gesellschaft und<br />

des Einzelnen, wenn Menschen <strong>–</strong> vor<br />

allem schwer Erkrankte <strong>–</strong> ihrem Leben<br />

ein vorzeitiges Ende setzen wollen«, erklärte<br />

Marion Kiechle bei der Übergabe<br />

der Stellungnahme an Staatskanzleiminister<br />

Marcel Huber (CSU) Ende April<br />

in der Münchner Staatskanzlei. Die Gynäkologin<br />

ist Direktorin der Frauenklinik<br />

der Frauen- und Poliklinik der Technischen<br />

Universität München und sitzt<br />

dem 16-köpfigen Gremium vor, das die<br />

Bayerische Staatsregierung in ethischen<br />

Fragen im Bereich der Biowissenschaften<br />

berät.<br />

Wie es in der Expertise heißt, werde<br />

die »Problematik der Anstiftung zum Suizid«<br />

in der »deutschen Diskussion« bislang<br />

»kaum thematisiert«. »Bislang vorliegende<br />

Regelungskonzepte« konzentrierten<br />

sich auf die Beihilfe zum Suizid.<br />

Grund dafür sei offenbar, dass sich »eine<br />

Anstiftung im Sinne des § 26 StGB, also<br />

ein Bestimmen zum Suizid«, nur schwer<br />

nachweisen lasse. »Das heißt aber nicht,<br />

dass Derartiges nicht vorkommt«, halten<br />

die Kommissionsmitglieder fest. Und<br />

weiter: Für den Lebensschutz stelle »die<br />

Anstiftung zum Suizid« eine »nicht minder<br />

schwere« oder sogar noch größere<br />

Gefahr dar als die Beihilfe zum Suizid.<br />

»Entsprechende Konstellationen« ließen<br />

sich prinzipiell überall dort denken,<br />

»wo die Last eines langen Leidens- und<br />

Sterbeprozesses zu tragen ist, aber auch<br />

Erb- und Versorgungsinteressen bestehen<br />

können«. Deshalb spräche »viel dafür«,<br />

die Regelung des Artikels 115 des<br />

Schweizer Strafgesetzbuches zu über-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


»Beihilfe zum Suizid <strong>–</strong> Gefahr<br />

für den Lebensschutz«<br />

nehmen, welche Suizidhilfe »aus selbstsüchtigen<br />

Motiven« unter Strafe stelle.<br />

Dieser müsse allerdings <strong>–</strong> anders als in<br />

der Schweiz <strong>–</strong> »durch ein Verbot der organisierten<br />

und der sonst geschäftsmäßigen<br />

Suizidhilfe ergänzt werden«. Wie es<br />

in der Stellungnahme weiter heißt, könne<br />

dies zwar zur Folge haben, dass es »nach<br />

einem assistierten Suizid auf eine entsprechende<br />

Anzeige hin zu problematischen<br />

Ermittlungen im Umfeld des Verstorbenen«<br />

komme, doch gelte es »zu überlegen,<br />

ob dies im Interesse des Lebensschutzes<br />

nicht in Kauf zu nehmen« sei.<br />

Ferner schlägt die BayBEK vor, auch ein<br />

»strafrechtliches Verbot« der »Anstiftung<br />

und Beihilfe zum Suizid von Minderjährigen<br />

und besonders vulnerablen Personen«<br />

zu prüfen.<br />

Ihre Forderung nach einem strafrechtlichen<br />

Verbot der »gewerbsmäßigen, der<br />

organisierten und sonst geschäftsmäßigen<br />

Beihilfe zum Suizid« begründet die<br />

Kommission damit, dass »Beihilfe zum<br />

Suizid kein Geschäft wie andere« sein<br />

dürfe und »schon gar kein Marktgeschehen«.<br />

Ergänzt werden müsse ein solches<br />

Verbot daher auch durch »ein strafrechtliches<br />

Verbot der Werbung«. Nach Ansicht<br />

der BayBEK sollen in Deutschland<br />

weder die Suizidhilfe als solche noch dazu<br />

»bestimmte Verfahren oder Mittel«<br />

beworben werden dürfen.<br />

Ähnlich wie der Deutsche Ethikrat, der<br />

Bundesregierung und Bundestag in bioethischen<br />

Fragen beraten soll und Mitte<br />

Dezember eine Ad-hoc-Stellungnahme<br />

zur Regelung der Suizidhilfe und der<br />

Stärkung der Suizidprävention vorgestellt<br />

hatte, konnten sich auch die Mitglieder<br />

der BayBEK allerdings nicht in allen Fragen<br />

auf gemeinsame Empfehlungen einigen.<br />

So will eine nicht näher bestimmte<br />

»Mehrheit der Kommission«, dass die<br />

»Beihilfe zum Suizid einer frei verantwortlich<br />

handelnden Person« dann straffrei<br />

bleibt, wenn sie durch »Angehörige<br />

oder sonst nahestehende Personen« aus<br />

»altruistischen Gründen« geleistet werde.<br />

Eine ebenfalls nicht näher umrissene<br />

Minderheit lehnt eine »generelle Straffreiheit«<br />

für »engere Angehörige« dagegen<br />

ab. Eine solche Begrenzung sei weder<br />

»im Prinzip« noch »in der Praxis«<br />

umsetzbar. Auch befürchten die Vertreter<br />

der Minderheit, dass eine »generelle<br />

Akzeptanz der Beihilfe zum Suizid für<br />

nahe Angehörige de facto« die »Türen<br />

für Ausweitung und Missbrauch« öffne.<br />

Auseinander gehen die Ansichten in<br />

der BayBEK auch bei der Regelung des<br />

ärztlich assistierten Suizids. Zwar empfiehlt<br />

die gesamte Kommission den Landesärztekammern,<br />

»an ihrem Grundsatz<br />

festzuhalten«, demzufolge »die Beihilfe<br />

zum Suizid keine ärztliche Aufgabe« ist.<br />

Allerdings vertritt die Mehrheit des Gremiums<br />

die Auffassung, dass »wenn eine<br />

Ärztin oder ein Arzt im Rahmen eines<br />

Vertrauensverhältnisses zu einem Patienten,<br />

der unerträglich leidet, ausnahmsweise<br />

Suizidhilfe leistet«, dies »von allen<br />

Landesärztekammern nicht sanktioniert<br />

werden« sollte. Eine Minderheit<br />

der Kommission hält dagegen, es sei »in<br />

Niemandes private Gewissensentscheidung<br />

gestellt, über den Suizid eines anderen<br />

zu befinden«. Daher müsse »das<br />

Verbot der ärztlich assistierten Suizidhilfe«<br />

auch »in solchen Fällen« gelten.<br />

Gemeinsam vertreten die Mitglieder<br />

der BayBEK die Auffassung, dass die<br />

»ärztliche Praxis« zeige, »dass der Wunsch<br />

eines unheilbar kranken Patienten, nicht<br />

mehr leben zu wollen, meist einen Hilferuf<br />

darstellt nach Linderung von Symptomen,<br />

psychosozialer Unterstützung<br />

und Anerkennung als vollwertiger Teil<br />

unserer Gesellschaft.« Weiter heißt es:<br />

»Meist äußern die Patienten einen Todeswunsch<br />

und zeigen im gleichen Moment<br />

einen enormen Lebenswillen, was<br />

als ›Double Awareness‹ bezeichnet wird.«<br />

Auch resultiere der Todeswunsch meist<br />

»aus einer ›passiven Akzeptanz‹ des Todes<br />

als Anpassung des Patienten an ein<br />

nicht kontrollierbares Geschehen.« Würden<br />

»Menschen mit einer unheilbaren Erkrankung«<br />

»durch einen palliativmedizinisch<br />

geschulten Arzt« aufgeklärt, »dass<br />

Schmerzen und Leid abgewendet werden<br />

können, rücken jedoch viele Menschen<br />

von ihrem Todeswunsch ab«.<br />

Der Anteil der Suizidenten »mit chronischen,<br />

schmerzhaften und einschränkenden<br />

Krankheiten« sei »relativ gering«,<br />

jedoch nehme das Suizidrisiko mit steigendem<br />

Lebensalter zu und sei bei den<br />

über 85-Jährigen am höchsten. Bei »älteren<br />

Menschen« spielten zudem »Vereinsamung,<br />

Hoffnungslosigkeit und mangelnde<br />

Perspektiven« als Gründe für einen<br />

Suizid eine Rolle.<br />

Auch sonst liefert die Stellungnahme<br />

in zahlreichen Detailfragen interessante<br />

neue Erkenntnisse. So weist die BayBEK<br />

etwa darauf hin, dass im US-Bundesstaat<br />

Oregon, der 1997 den ärztlich assistierten<br />

Suizid bei unheilbaren Krankheiten legalisiert<br />

hatte, jedes Jahr mehr Patienten von<br />

dieser Möglichkeit Gebrauch machten.<br />

So hält die Stellungnahme der BayBEK<br />

fest: »Die Statistik zum Oregon’s Death<br />

and Dignity Act (DWDA) zeigt einen<br />

stetigen Anstieg der registrierten Fälle<br />

von 16 Fällen im Jahr 1998 auf 85 Fälle<br />

im Jahr 2012.« Befürworter des ärztlich<br />

assistierten Suizids führen den US-Bundesstaat<br />

Oregon in der deutschen Debatte<br />

häufig als Beispiel für eine gelungene<br />

rechtliche Regelung des ärztlich assistierten<br />

Suizids an.<br />

In Belgien und den Niederlanden betrage<br />

der »jährliche Anstieg der Tötungen<br />

auf Verlangen und ärztlichen Hilfe<br />

bei der Selbsttötung« zehn bis 13 Prozent.<br />

Auch die Ausweitung der Indikationen,<br />

bei denen diese Formen der Euthanasie<br />

in den beiden Beneluxstaaten inzwischen<br />

als legal betrachtet werden, wird in<br />

»Palliativmediziner befürworten<br />

mehrheitlich Verbot der Suizidhilfe«<br />

den Blick genommen. So verzeichneten<br />

»beide Länder auch einen Anstieg der<br />

Sterbehilfefälle bei Demenzkranken und<br />

Patienten mit anderen neurophysiologischen<br />

Erkrankungen«.<br />

Auch dass, Studien zufolge, zwar nur etwa<br />

25 Prozent aller Mediziner in Deutschland<br />

die Forderung nach einem berufsrechtlichen<br />

Verbot der Beihilfe zum Suizid<br />

für Ärzte befürworten, dafür aber die<br />

allermeisten Palliativmediziner, »die Sterbebegleitung<br />

von Schwerkranken täglich<br />

praktizieren«, ein solches Verbot unterstützen,<br />

ist durchaus eine interessante Information,<br />

die in der bisherigen Debatte<br />

kaum Erwähnung findet.<br />

Kurz: Es wäre überaus wünschenswert,<br />

dass die Abgeordneten des Deutschen<br />

Bundestages, die in diesem Jahr eine<br />

der dramatischsten Entscheidungen treffen<br />

werden, die Volksvertreter überhaupt<br />

treffen können, die lesenswerte Stellungnahme<br />

der BayBEK studieren würden.<br />

Ob sich allerdings auch eine Mehrheit<br />

für ein strafbewehrtes Verbot der Anstiftung<br />

zum Suizid bereitfindet, steht natürlich<br />

auf einem ganzen anderen Blatt.<br />

Wahrscheinlich ist das leider nicht. In der<br />

Bevölkerung wie im Parlament gehen die<br />

Ansichten darüber, wie die Beihilfe zum<br />

Suizid künftig rechtlich geregelt werden<br />

müsse, bislang derart weit auseinander,<br />

dass damit gerechnet werden muss, dass<br />

auch so sinnvolle Vorschläge wie dieser<br />

am Ende der Suche einem Kompromiss<br />

zum Opfer fallen könnten.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 11


B I O E T H I K - S P L I T T E R<br />

+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />

Medikamententests mit<br />

menschlichen Feten<br />

Edinburgh (<strong>ALfA</strong>). Forscher testen offenbar<br />

regelmäßig die toxische Wirkung<br />

von Medikamenten an Organen und Geweben<br />

menschlicher Feten. Das geht aus<br />

einem Bericht hervor, den das »Deutsche<br />

Ärzteblatt« veröffentlichte. Dem Bericht<br />

zufolge suchte ein Team um den Forscher<br />

Rod Mitchell von der Universität Edinburgh<br />

nach Gründen »für die Befunde<br />

epidemiologischer Studien, in denen eine<br />

erhöhte Rate von Lageanomalien des<br />

Hodens bei intrauterin exponierten Knaben<br />

aufgefallen war«.<br />

Laut dem Blatt erklärten die Forscher<br />

den Befund damit, dass eine häufige Einnahme<br />

des Schmerzmittels Paracetamol<br />

während der Schwangerschaft die Testosteronsynthese<br />

bei männlichen Feten<br />

blockiere.<br />

Wie es in dem Bericht des Ärzteblattes<br />

weiter heißt, habe das Team für seine<br />

in der Fachzeitschrift »Science Translational<br />

Medicine« (<strong>2015</strong>; 7; 288ra80) publizierte<br />

Studie unter anderem »auf ein<br />

etabliertes Experiment zurückgegriffen.<br />

Die Forscher transplantierten kastrierten<br />

Mäusen die Hoden von menschlichen<br />

Feten unter die Haut. Dann wurden<br />

die Mäuse mit Paracetamol in einer<br />

Dosis behandelt, die zu gleichen Wirkstoffspiegeln<br />

führt wie beim Menschen.<br />

Ergebnis: Nach einer siebentägigen Behandlung<br />

sank der Testosteronspiegel bei<br />

den Mäusen (das Hormon wird allein von<br />

den transplantierten Hoden gebildet) um<br />

45 Prozent ab. (...)« Als Feten werden in<br />

der Medizin ungeborene Kinder ab der<br />

11. Schwangerschaftswoche bis zur Geburt<br />

bezeichnet.<br />

reh<br />

Kundgebung zum »Marsch für das Leben« in Ottawa, an dem 25.000 Menschen teilnahmen<br />

Kanada: 25.000 Teilnehmer<br />

beim »Marsch für das Leben«<br />

Ottawa (<strong>ALfA</strong>). Beim diesjährigen kanadischen<br />

»Marsch für das Leben« am<br />

14. Mai (Christi Himmelfahrt) haben<br />

nach Angaben der evangelischen Nachrichtenagentur<br />

idea rund 25.000 Menschen<br />

teilgenommen. An der Demonstration<br />

sollen auch zwei Kardinäle und<br />

zahlreiche katholische Bischöfe teilgenommen<br />

haben. Die Veranstalter hatten<br />

die Demonstration zwei Lebensrechtlerinnen<br />

gewidmet, die im Gefängnis saßen,<br />

weil sie Frauen geraten hatten, keine<br />

vorgeburtliche Kindstötung vornehmen<br />

zu lassen. Eine von ihnen, Linda<br />

Gibbons, hatte bereits sieben Wochen<br />

in Untersuchungshaft gesessen. Sie wurde<br />

am Tag nach dem Marsch von einem<br />

Gericht freigesprochen.<br />

reh<br />

Kardinal: Abtreibung<br />

ist »schweres Unrecht«<br />

Wien (<strong>ALfA</strong>). Der Erzbischof von<br />

Wien, Christoph Kardinal Schönborn,<br />

hat deutliche Kritik an der Abtreibungsgesetzgebung<br />

in Österreich und dem Fehlen<br />

von »flankierenden Maßnahmen«<br />

geübt, die vor 40 Jahren bei der Einführung<br />

der Fristenregelung versprochen<br />

wurden. »Bei der Abtreibung geht es um<br />

die Tötung eines menschlichen Wesens<br />

Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn<br />

BAMBOO BEAST<br />

und damit um schweres Unrecht«, erklärte<br />

Schönborn gegenüber dem österreichischen<br />

Nachrichtenmagazin »Profil«.<br />

Seit dem Inkrafttreten der Fristenregelung<br />

sei das Bewusstsein für das Unrecht<br />

der Abtreibung dramatisch verloren<br />

gegangen. Die derzeitige Gesetzeslage sei<br />

für Christen »keine akzeptable Lösung,<br />

auch wenn sie damit leben müssen«. Das<br />

Recht auf Leben sei das grundlegendste<br />

Menschenrecht, so Schönborn.<br />

Mit Stricknadeln ins<br />

Abtreibungsmuseum<br />

Wien (<strong>ALfA</strong>). Die österreichische »Aktion<br />

Leben« hat dem Abtreibungsarzt und<br />

-aktivisten Christian Fiala »schlechten Stil<br />

und fehlende Seriosität« attestiert. »Wir<br />

fordern Dr. Christian Fiala als Verantwortlichen<br />

auf, falsche Aussagen und Untergriffe<br />

zu unterlassen«, erklärte die Generalsekretärin<br />

der »Aktion Leben«, Mag.<br />

Martina Kronthaler, kurz vor Pfingsten<br />

in einer Pressemitteilung. Anlass ist eine<br />

Presseaussendung des Museums für Verhütung<br />

und Schwangerschaftsabbruch zur<br />

Bewerbung einer Veranstaltung aus Anlass<br />

der Einführung der Fristenregelung<br />

in Österreich vor 40 Jahren.<br />

»Mit dem Aufruf, zur Veranstaltung<br />

Stricknadeln mitzubringen, disqualifiziert<br />

sich der Veranstalter selbst.« Dies sei Polarisierung<br />

pur, die nicht ernst genommen<br />

werden könne. »Dies geht zu Lasten<br />

einer zeit- und sachgerechten Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch«,<br />

so Kronthaler weiter.<br />

Die einseitig besetzte Veranstaltung<br />

diene keineswegs einem seriösen Wis-<br />

+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />

12<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethiksenszuwachs,<br />

sondern sei ein Lehrbeispiel<br />

für veralteten linken Fundamentalismus,<br />

der jedwedes Bemühen um einen<br />

echten Dialog zum Thema leugne. Symptomatisch<br />

für diese Art des Fundamentalismus<br />

sei, dass Dr. Fiala strikt und wider<br />

allen internationalen Gepflogenheiten<br />

gegen die anonyme Erhebung von<br />

Dr. Christian Fiala<br />

Abtreibungszahlen sei. Seriös erhobene<br />

Zahlen seien jedoch dringend nötig, um<br />

das Gespräch über Abtreibungen auf eine<br />

faktenbasierte Grundlage zu stellen. reh<br />

China: 13 Millionen<br />

Abtreibungen pro Jahr<br />

Peking (<strong>ALfA</strong>). In China werden trotz<br />

einer Lockerung der sogenannten Ein-<br />

Kind-Politik vor zwei Jahren laut den<br />

jüngsten Schätzungen der Familienplanungskommission<br />

pro Jahr rund 13 Millionen<br />

ungeborene Kinder abgetrieben.<br />

Da viele kleine Kliniken und Praxen die<br />

von ihnen vorgenommenen vorgeburtlichen<br />

Kindstötungen<br />

DANIEL RENNEN<br />

gar nicht<br />

meldeten,<br />

wie es in einem<br />

Bericht der<br />

Zeitung »China Daily« heißt, ist die tatsächliche<br />

Zahl der jährlich vorgenommenen<br />

Abtreibungen vermutlich noch größer.<br />

Wie die »Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung« berichtet, sind rund zwei Drittel<br />

der Frauen, die Abtreibung durchführen<br />

lassen, ledig und jünger als 29 Jahre.<br />

Für die Geburt eines Kindes benötigen<br />

Chinesen eine »Geburtserlaubnis«,<br />

die für ledige Chinesen aber so gut wie<br />

nicht zu bekommen sei. Den 13 Millionen<br />

plus X im Mutterleib getöteten Kindern<br />

stehen laut dem Bericht rund 16 Millionen<br />

geborene Kinder gegenüber. reh<br />

Schweiz: Gericht fällt<br />

Urteil in Leihmutterfall<br />

Lausanne (<strong>ALfA</strong>). Das Schweizer Bundesgericht<br />

hat die Klage eines homosexuellen<br />

Paares abschlägig beschieden,<br />

das mittels einer Eizellspende und einer<br />

Leihmutterschaft in Kalifornien zu<br />

einem Kind gekommen war. Die Männer<br />

aus dem Schweizer Kanton St. Gallen<br />

hatten von den Behörden verlangt,<br />

als Eltern des Kindes anerkannt zu werden.<br />

Als diese sich weigerten und »nur«<br />

die Vaterschaft des Samenspenders anerkennen<br />

wollten, zogen sie vor Gericht.<br />

Die Richter befanden mit drei gegen<br />

zwei Stimmen, dass eine Anerkennung der<br />

Elternschaft beider Männer in grundlegender<br />

Weise gegen die rechtlichen und<br />

ethischen Werte der Schweiz verstoße.<br />

In der Schweiz ist die Leihmutterschaft<br />

verboten. Dass die beiden Männer dieses<br />

Verbot zu umgehen suchten und im<br />

Ausland ein Rechtsverhältnis herstellten,<br />

das in der Schweiz nicht möglich sei, bezeichneten<br />

die Bundesrichter als Rechtsmissbrauch.<br />

reh<br />

Schweiz: Kasse übernimmt<br />

Kosten für PraenaTest<br />

Zürich (<strong>ALfA</strong>). Die Konstanzer Bio-<br />

Tech-Firma Lifecodexx, Hersteller des<br />

PraenaTests, kann einen neuen Erfolg<br />

vermelden. Der Anbieter des Praena-<br />

Tests, mit dem sich Blut der Schwangeren<br />

nach Anzeichen für eine Trisomie 21<br />

des Kindes fahnden lässt, ist sich mit der<br />

Schweizer Krankenkasse »Helsana« handelseinig<br />

geworden. Für Kundinnen, die<br />

über die bestimmte Zusatzversicherung<br />

verfügen, übernimmt die Krankenkasse<br />

die gesamten Kosten des PraenaTests. Alle<br />

anderen bei der Kasse Versicherten erhalten<br />

den Test vergünstigt. Der Kranversicherer<br />

mit Hauptsitz in Zürich, der<br />

nach eigenen Angaben rund 1,9 Millionen<br />

Versicherte hat, begründete das Arrangement<br />

damit, dass der Test die Zahl<br />

WWW.LANDTAG-MV.DE<br />

der invasiven Fruchtwasseruntersuchungen<br />

reduziere. Medienberichten zufolge<br />

hat Lifecodexx bereits im vergangenen<br />

Jahr eine Zulassung zu der in der<br />

Schweiz obligatorischen Krankenversicherung<br />

beantragt. Über den Antrag auf<br />

Kassenzulassung wurde noch nicht entschieden.<br />

reh<br />

IVF: Schwesig will Zuschüsse<br />

auch für Unverheiratete<br />

Berlin (<strong>ALfA</strong>). Nach dem Willen<br />

von Bundesfamilienministerin Manuela<br />

Schwesig (SPD) sollen künftig auch unverheiratete<br />

Paare, die eine In-vitro-Fertilisation<br />

(IVF) vornehmen lassen, Anspruch<br />

auf staatliche Zuschüsse geltend<br />

machen können. Ein Sprecher des Ministeriums<br />

erklärte Mitte Mai in Berlin,<br />

das Ministerium prüfe derzeit, wie die<br />

entsprechende Richtlinie geändert werden<br />

könne. Nach Ansicht der Ministerin<br />

sei es nicht mehr zeitgemäß, unverheiratete<br />

Paare anders zu behandeln als<br />

verheiratete, so der Sprecher. Die Union<br />

kündigte unterdessen Widerstand gegen<br />

Manuela Schwesig, SPD<br />

die Pläne des Koalitionspartners an. Der<br />

CDU-Familienpolitiker Marcus Weinberg<br />

erklärte, »aus dem Blickwinkel des<br />

Kindes« sei es am besten, »in einer möglichst<br />

stabilen Beziehung aufzuwachsen.<br />

Der gesetzliche Anspruch auf Bezahlung<br />

einer künstlichen Befruchtung ist daher<br />

zu Recht auf miteinander verheiratete<br />

Paare begrenzt.« Derzeit übernehmen<br />

die Krankenkassen die Hälfte der Kosten<br />

für die ersten drei Versuche einer künstlichen<br />

Befruchtung.<br />

reh<br />

ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 13


A U S L A N D<br />

DANIEL RENNEN<br />

Kinder sind<br />

keine iPhones<br />

In vielen westlichen Ländern steht das Thema »Leihmutterschaft« ganz oben auf der biopolitischen<br />

Agenda. Homosexuelle Paare, aber auch heterosexuelle, die sich erst nach Ablauf der eigenen<br />

biologischen Uhr für ein Kind entscheiden und keines adoptieren wollen, sowie Hollywoodstars<br />

oder andere Reiche, die nicht neun Monate pausieren wollen, treiben die Nachfrage. So auch in<br />

Schweden, wo Feministen nun allerdings gegen eine Liberalisierung des Verbots mobil machen.<br />

Von Dr. med. vet. Edith Breburda<br />

Schwedens Feministinnen sind außer<br />

sich. Frauen seien keine Handelsware<br />

und ihre Kinder erst recht<br />

nicht. Eine schwedische Feministen-Organisation<br />

verurteilt das Geschäft mit der<br />

Leihmutterschaft. Sie verlangt von der<br />

Regierung, diese Praktiken abzuschaffen.<br />

Sverites Kvinnolobby, eine schwedische<br />

Lobbyistin, ist der Meinung, eine<br />

Leihmutterschaft beute die Körper<br />

von Frauen und ihre reproduktiven Organe<br />

aus. Dies verletze Menschenrechte.<br />

Vor allem die armer Frauen aus Drittländern,<br />

wie Indien.<br />

»Feministinnen widerstrebt die Auffassung,<br />

dass man Frauen als eine Art<br />

Schwangerschafts-Container benutzen<br />

14<br />

kann, deren Fortpflanzungsfähigkeit käuflich<br />

ist. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />

kann man nicht durch Verträge<br />

oder Verhandlungen beschneiden.<br />

»Durch Leihmutterschaft werden<br />

Kinder zum Handelsgut«<br />

Auch wenn besonders vorteilhafte oder<br />

attraktive Bedingungen einen Leihmutterschaftsvertrag<br />

ausmachen, sollte das<br />

Recht der Frau und der Kinder in dieser<br />

Debatte ausschlaggebend sein und nicht<br />

das Interesse der ›Käufer‹«, heißt es in dem<br />

Grundsatzprogramm der Organisation.<br />

Leihmutterschaft ist in Schweden verboten.<br />

Die Regierung untersucht trotzdem,<br />

ob man sie legalisieren soll. Zu viele<br />

Bürger haben eine Leihmutterschaft im<br />

Ausland in Anspruch genommen und die<br />

Kinder zurück nach Schweden gebracht.<br />

Ein Unterfangen, das mit vielen Schwierigkeiten<br />

verbunden ist.<br />

Die Gruppe »Feminist not to surrogacy<br />

motherhood« (Feministinnen gegen<br />

Leihmutterschaft) ist strikt gegen eine<br />

Freigabe. »Wenn die Türen dafür geöffnet<br />

werden, egal wie streng die Auflagen<br />

auch sein sollten, werden Kinder<br />

zum Handelsgut.«<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


Im April 2011 hat das Europäische<br />

Parlament die kommerzielle und eigennützige<br />

Leihmutterschaft verurteilt, weil<br />

es dabei um Menschenhandel gehe. Mit<br />

ihrer Kampagne bieten Feministinnen<br />

Alternativen an. Sie sind auf die körperliche<br />

Integrität gerichtet und nicht auf<br />

das Recht eheloser Paare auf ein Kind,<br />

auf Kosten der grundlegendsten Menschenrechte<br />

der Frau.<br />

»In den meisten Fällen werden Frauen<br />

aus armen Ländern ausgebeutet. Reiche<br />

westliche Länder kommerzialisieren<br />

Leihmütter aus Entwicklungsländern. So<br />

entsteht ein Ungleichgewicht der Machtverhältnisse<br />

zwischen den Auftraggebern<br />

und den Leihmüttern. Westliche Länder<br />

nutzen die vulnerable ökonomische Situation<br />

der Frauen in Entwicklungsländern<br />

aus. In ihren Bemühungen, ein biologisches<br />

Kind zu bekommen, werden Wege<br />

eingeschlagen, die Frauen zwingen, ihren<br />

Körper zu verkaufen. Die fundamentalen<br />

Menschenrechte sollten arme Frauen<br />

davor beschützen, ihre Reproduktionsorgane<br />

als Ware anbieten zu müssen.<br />

Es wird immer mehr zum Trend, Grundrechte<br />

einzureißen zu Gunsten von Paaren,<br />

die ihre eigennützigen Pläne verwirklichen<br />

wollen, um ein Kind zu haben.<br />

Immer öfter argumentiert man mit<br />

den ›Reproduktiven Rechten‹. Kinderlose<br />

Eltern bestehen auf einem Recht auf<br />

Kinder, wobei allerdings die Menschenrechte<br />

der Leihmütter nicht angesprochen<br />

werden«, beschweren sich schwedische<br />

Feministinnen.<br />

»Renting wombs« <strong>–</strong> das Mieten der<br />

Gebärmutter <strong>–</strong> wird von vielen bereits<br />

als eine Art Neokolonialismus bezeichnet.<br />

Einst hieß es, die Sonne geht im Britischen<br />

Imperium nicht unter, weil England<br />

über Kolonien auf der ganzen Welt<br />

verfügte. Solche Tage sind längst Geschichte.<br />

Heute mietet man die Gebärmütter<br />

der Frauen aus exotischen Ländern,<br />

nur um dem Wunsch auf ein eigenes<br />

Kind nachzukommen.<br />

Der Journalist Wesley J. Smith spricht<br />

von einem neuen, biologischen Kolonialismus.<br />

Gerade in Indien sind die Regulierungen<br />

für eine Leihmutterschaft minimal.<br />

Dort ist es nicht nur verheirateten<br />

Paaren erlaubt, eine Leihmutter anzuheuern,<br />

sondern auch Homosexuellen.<br />

Smith berichtete im National Review<br />

Online über Johnathon Busher und seinen<br />

Partner Stephen Hill. 18 Jahre lebten<br />

die beiden Engländer aus West Midlands<br />

zusammen. Dann beschlossen sie<br />

eine Familie zu gründen. 2011 reisten<br />

sie nach Indien, um in New Delhi eine<br />

Klinik aufzusuchen. Stephen Hill spendete<br />

sein Sperma, während die Eizellen<br />

DANIEL RENNEN<br />

von einer ausgesuchten Eizellspenderin<br />

stammten. Der Rest war eine Angelegenheit<br />

der In-vitro-Technik.<br />

Etwas verlegen fühlten sich Johnathon<br />

Busher und Stephen Hill nach der Geburt<br />

von Zwillingsmädchen. Die Leihmutter<br />

zögerte, die beiden Kinder zu übergeben.<br />

Der Ehemann der Leihmutter ging davon<br />

aus, dass die Kinder sein eigenes Fleisch<br />

und Blut seien. Die Leihmutter hing sehr<br />

N O R W E G I S C H E S E E<br />

N O R W E G E N<br />

S C H W E D E N<br />

In Lebensschutzfragen gilt Schweden als liberal<br />

an den Neugeborenen, erläuterte Johnathon<br />

Busher. »Wir waren froh, dass wir<br />

einen handfesten Vertrag hatten und die<br />

beiden Mädchen ohne weitere Schwierigkeiten<br />

mitnehmen durften«, sagten<br />

die beiden Männer.<br />

»Leihmutterschaft gilt Vielen als<br />

neue Form des Neokolonialismus«<br />

Smith kommentierte: »Es handelte<br />

sich einfach um einen Vertrag. Man<br />

muss sich daran halten. Eine Leihmutter<br />

darf sich unter diesen Umständen nicht<br />

zu sehr an das Kind gewöhnen. Wenn<br />

jemand ein Kind auf diese Weise haben<br />

will, muss ihm das einfach gewährt werden.<br />

Schließlich bezahlt er ja dafür. So<br />

wie man ein Auto oder ein iPhone kauft.«<br />

Vor 200 Jahren nannte man das Sklavenhandel,<br />

heute bezeichnet man es als<br />

Elternschaft, wenn wir Menschen für unsere<br />

Zwecke kaufen, schreibt E. Hilton<br />

in ihrem Bericht »Renting wombs: The<br />

new ›biological colonialism‹«. Auch das<br />

neueste umstrittene Konzept, das Social<br />

Freezing, muss in diesem Zusammenhang<br />

genannt werden, weil es Frauen die<br />

Möglichkeit gibt, selbst zu bestimmen,<br />

F I N N L A N D<br />

R U S S L A N D<br />

wann sie schwanger werden wollen, ohne<br />

Berücksichtigung der physiologischen<br />

Möglichkeiten.<br />

Keiner weiß, ob die Plazenta, die Knochen,<br />

der Stoffwechsel einer 50-Jährigen<br />

überhaupt in der Lage sind, eine Schwangerschaft<br />

aufrechtzuerhalten. Aber zu diesem<br />

Zweck gibt es ja Leihmütter. Letztlich<br />

arbeitet man aber darauf hin, eine<br />

Schwangerschaft im Labor auszutragen.<br />

Dann bräuchte es keine Leihmütter mehr.<br />

So arbeiten Wissenschaftler in Japan mit<br />

Hochdruck an einer künstlichen Gebärmutter<br />

(artificial wombs).<br />

In etwa 20 Jahren will man so weit<br />

sein. Dann sollen die als Benachteiligung<br />

von Frauen betrachtete Schwangerschaft<br />

Geschichte und die Gleichberechtigung<br />

der Frauen endlich gewährleistet<br />

und das Ziel der absoluten reproduktiven<br />

Freiheit erreicht sein. Auch sollen dann<br />

Männer leichter Kinder bekommen können.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 15


19. 9. <strong>2015</strong> in Berlin<br />

Marsch für das Leben<br />

Sie können nicht selbst mitgehen?<br />

Kein Problem!<br />

Dafür gibt’s unsere Aktion:<br />

„Geh Du<br />

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Ihrer Spende für z. B. den Kauf<br />

eines Bahn tickets nach Berlin,<br />

um für Sie beim Marsch für das<br />

Leben dabeizusein.<br />

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Fahrt): 29,<strong>–</strong> Euro. Oder mit dem<br />

Fernbus: 39,50 Euro<br />

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Tel. (08 21) 51 20 31 · Fax 15 64 07<br />

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16<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


M E D I Z I N<br />

DANIEL RENNEN<br />

Plötzlicher Stoffwechsel?<br />

Seit dem 15. März ist die »Pille danach« mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat in Deutschland frei<br />

verkäuflich <strong>–</strong> die bisher ebenfalls rezeptpflichtige Levonorgestrel-Pille soll folgen. Trotz der<br />

Beteuerungen mancher empfiehlt es sich in Bezug auf die Wirkung beider Präparate skeptisch zu<br />

bleiben und auch eine bewusste Täuschung interessierter Kreise nicht auszuschließen, meint die<br />

Erste Stellvertretende Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e. V.<br />

Von Alexandra Maria Linder<br />

Ulipristalacetat (UPA) ist stofflich<br />

verwandt mit der Abtreibungspille<br />

Mifegyne, vielen besser<br />

bekannt unter ihrem ursprünglichen<br />

Namen RU 486. Letztere wird in China<br />

und Russland seit Jahren auch als »Pille<br />

danach« eingesetzt. Das wurde hier und<br />

in anderen Kontinenten wie etwa Südamerika<br />

vermieden, möglicherweise, weil<br />

RU 486 als Abtreibungsmittel ein negatives<br />

Image besitzt.<br />

Unter diesem Gesichtspunkt würde eine<br />

Weiterentwicklung von mit dem Wirkstoff<br />

der Abtreibungspille verwandten<br />

Stoffen unter anderem Namen für den<br />

Hersteller durchaus Sinn haben. Viele<br />

Studien weisen eine nidationshemmende<br />

Wirkung auf die Gebärmutterschleimhaut,<br />

das Endometrium, nach, nennen<br />

diese aber häufig nicht so. Eine wissenschaftliche<br />

Zusammenstellung und Untersuchung<br />

dieser Studien hat Dr. Rudolf<br />

Ehmann in der Zeitschrift »Medizin und<br />

Ideologie« (3/2013, S. 6<strong>–</strong>14) vorgelegt.<br />

Grundsätzlich ist es undenkbar, dass<br />

chemische Stoffe ihre Wirkungsweisen<br />

nach vielen Jahren plötzlich ändern. Die<br />

Möglichkeit, dass Menschen sich im Hinblick<br />

auf die Wirkung eines solchen Stoffes<br />

nach etwa zehn Jahren Forschung und<br />

Entwicklung derart geirrt haben könnten,<br />

kann zwar nicht ausgeschlossen werden,<br />

würfe aber zumindest ein sehr bedenkliches<br />

Licht auf die wissenschaftliche<br />

Seriosität solcher Studien und Forschung.<br />

Nimmt man die Aussagen und Studien<br />

zusammen, ergibt sich, dass nicht nur UPA,<br />

sondern auch Levonorgestrel (LNG) interzeptiv<br />

wirkt, zwischen dem Entstehen<br />

eines neuen Menschen und dessen Einnistung<br />

in die Gebärmutter. Gestagen ist seit<br />

über 40 Jahren mit Wirkungsweisen bekannt,<br />

die in medizinischen Lehrbüchern<br />

leicht zu finden sind (Zusammenstellung<br />

von Bernward Büchner):<br />

• »Da die ›Pille danach‹ als nidationshemmende<br />

Maßnahme wirksam wird, gilt<br />

sie nicht als Abortivum (…)« (Breckwoldt<br />

et al., Gynäkologie und Geburtshilfe<br />

2007)<br />

• »(…) ist die Postkoitalpille streng genommen<br />

kein Verhütungsmittel, sondern<br />

ein Implantationshemmer. Sie enthält<br />

1,5 mg des Gestagens Levonorgestrel<br />

und wirkt interzeptiv, indem sie die<br />

Ovulation hemmt und eine vorzeitige<br />

Umwandlung des Endometriums und<br />

im Anschluss daran eine schwache Entzugsblutung<br />

verursacht.« (Kiechle Hg.,<br />

Gynäkologie und Geburtshilfe 2011, S.<br />

142)<br />

• »Kontrazeption, hormonale: (…) Wirkungsmechanismus:<br />

4. Tube: Störung<br />

des Eitransports; Endometrium: Phasenverschiebung<br />

(Nidations-Hemmung).«<br />

(Römer et al., Pschyrembel,<br />

Gynäkologie und Geburtshilfe 2012)<br />

Es ist unwahrscheinlich, dass LNG<br />

plötzlich die meisten Wirkweisen verliert<br />

und nur noch ovulationshemmend<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 17


M E D I Z I N<br />

wirkt. Eindeutig formuliert es auch das<br />

der Autorin in 5. Auflage vorliegende Roche<br />

Lexikon Medizin (2003): »Nidationshemmer:<br />

Mittel, die das Angehen einer<br />

Schwangerschaft durch Störung der Nidation<br />

des befruchteten Eies verhindern.<br />

Dazu zählen Intrauterinpessar und Postkoitalpille<br />

(›Pille danach‹). (Sie) … gelten<br />

nicht als Abortivum, da sie vor der<br />

Implantation wirken.«<br />

DAS STICHWORT LAUTET<br />

»UMDEFINITION«<br />

DANIEL RENNEN<br />

und Einnistung nicht als abtreibend. Bei<br />

all dem wird übersehen, dass eine Frühstabtreibung<br />

unmittelbar nach der Zeugung<br />

faktisch dasselbe Ergebnis zur Folge hat<br />

wie eine Abtreibung in der 12. Woche.<br />

Von Senkung kann also nicht die Rede<br />

sein. Außerdem ist in einigen Staaten, in<br />

In den sechziger Jahren, als die Kupferspirale<br />

als Verhütungsmittel verbreitet<br />

wurde, stand man vor dem Problem,<br />

dass die Anwendung der Spirale als Abtreibung<br />

betrachtet werden könnte: Denn<br />

ihre Hauptwirkung besteht darin, durch<br />

einen Dauerreiz in der Gebärmutter zu<br />

verhindern, dass ein »befruchtetes Ei«,<br />

ein gerade entstandenes Kind, sich dort<br />

einnistet.<br />

In den USA gab es, ebenso wie bei uns,<br />

eindeutige Formulierungen: Leben beginnt<br />

in dem Augenblick, wo Samenzelle<br />

und Ei verschmelzen. Damit aber hätte<br />

man sowohl die Kupferspirale als auch<br />

die normale Pille nicht als reines Verhütungsmittel<br />

deklarieren können, weil beide<br />

auch beziehungsweise vorwiegend interzeptiv<br />

wirken. Neuerdings zu behaupten,<br />

dass LNG rein ovulationshemmend<br />

wirkt, können viele Frauen, die die normale<br />

Verhütungspille nehmen, widerlegen:<br />

Bei regelmäßiger Einnahme verringert<br />

sich die Menstruationsblutung<br />

<strong>–</strong> was bedeutet, dass die Pille einen verringernden<br />

Einfluss auf den Aufbau der<br />

Gebärmutterschleimhaut hat. Baut sich<br />

die Gebärmutterschleimhaut aber schon<br />

bei der normalen Pille nicht richtig auf,<br />

muss die Wirkung einer viel höheren Dosis<br />

wie bei der »Pille danach« eine entsprechend<br />

stärkere Wirkung auf das Endometrium<br />

haben.<br />

»Was vor der Implantation wirkt,<br />

gilt nicht als Abortivum«<br />

Die Folge: Das Kind kann sich nicht<br />

einnisten <strong>–</strong> das Präparat, das dies verursacht,<br />

besitzt also eine frühabtreibende<br />

Wirkung. Des Weiteren finden sich in<br />

Packungsbeilagen der Gestagen-Minipille<br />

Warnhinweise auf Eileiterschwangerschaften.<br />

Dies kann nur der Fall sein,<br />

wenn Gestagen die Beweglichkeit der Eileiter<br />

verlangsamt (und dadurch das Kind<br />

18<br />

Ist rezeptpflichtig, obwohl sie weit weniger Hormone enthält: Die Anti-Baby-Pille<br />

nicht in der Gebärmutter ankommt) <strong>–</strong><br />

auch das ist eine seit Jahrzehnten nachgewiesene<br />

Wirkung.<br />

Walter Rella beziffert nach Sichtung<br />

verschiedener Studien die Frühabtreibungsrate<br />

bei Einnahme der »Pille danach«<br />

auf vier bis fünf Prozent (vgl. Imago<br />

Hominis, 2007 (75), S.112<strong>–</strong>118). Angaben<br />

dazu sind sehr schwierig, weil sie<br />

vom Zeitpunkt der Einnahme, vom sich<br />

immer verändernden Monatszyklus sowie<br />

weiteren individuellen Gegebenheiten<br />

bei jeder einzelnen Frau abhängen.<br />

Ebenso zurückhaltend muss man deshalb<br />

auch mit der Aussage sein, es gäbe einen<br />

eindeutigen Zeitpunkt, an dem die »Pille<br />

danach« nur verhütend und nicht frühabtreibend<br />

wirkt. Vorsichtig statistisch betrachtet,<br />

würden die Angaben von Rella<br />

bei einer Zahl von 400.000 verkauften<br />

Packungen in einem Jahr in Deutschland<br />

auf etwa 16.000 bis 20.000 Frühabtreibungen<br />

hinauslaufen, was auch einen<br />

Teil der offiziell sinkenden Abtreibungszahlen<br />

erklären könnte.<br />

Für viele Verfechter der »Pille danach«<br />

wird dies als Hauptargument angebracht:<br />

Abtreibungszahlen senken durch Notfallverhütung.<br />

Der österreichische Abtreiber<br />

Fiala versteigt sich in den Vergleich mit<br />

dem medizinischen Notfallkoffer im Auto,<br />

den man ja auch immer dabeihätte. Die<br />

Umdefinition der Schwangerschaft wurde<br />

auch im deutschen Abtreibungsstrafrecht<br />

übernommen. Gemäß § 218 StGB<br />

gelten Wirkungen zwischen Befruchtung<br />

denen das Präparat frei verfügbar ist, eine<br />

Steigerung/Stagnation der Abtreibungszahlen<br />

auf hohem Niveau zu beobachten,<br />

zum Beispiel in Belgien, Schweden<br />

oder Großbritannien <strong>–</strong> teilweise vor allem<br />

unter Jugendlichen und jungen Frauen.<br />

Auch dieses Phänomen müsste wissenschaftlich<br />

und gesellschaftlich untersucht<br />

statt verdrängt werden.<br />

Führende Personen und Verbände,<br />

die öffentlich behaupten, dass die »Pille<br />

danach« ausschließlich die Ovulation<br />

hemme, sind Thomas Rabe, Präsident der<br />

DGGEF (Deutschen Gesellschaft für Gynäkologische<br />

Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin)<br />

und Christian Albring,<br />

Vorsitzender des Berufsverbandes<br />

der Frauenärzte (BVF), die sich vor allem<br />

auf eine Studie aus dem Jahr 2012<br />

stützen (Gemzell-Danielsson K, Berger<br />

C, P G L. Emergency contraception <strong>–</strong><br />

mechanisms of action. Contraception.<br />

2012 Oct 29).<br />

Herr Rabe hält bezahlte Referenten-<br />

Vorträge für unter anderem HRA-Pharma<br />

(den Hersteller von PiDaNa und ellaOne,<br />

den beiden in Deutschland zugelassenen<br />

Präparaten der »Pille danach«),<br />

sein Verband erhält über Industriemit-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


»Die Antwort auf die Frage, ob die<br />

›Pille danach‹ frühabtreibend ... «<br />

» ... wirkt, hängt davon ab, wie man<br />

›Schwangerschaft‹ definiert«<br />

gliedschaften Gelder vom selben Unternehmen.<br />

Frau Gemzell-Danielsson arbeitet<br />

als bezahlte Beraterin für Merck,<br />

Bayer, Gedeon Richter und HRA-Pharma.<br />

Außerdem leitet sie den internationalen<br />

Verband der professionellen Abtreiber,<br />

FIAPAC (International Federation<br />

of Professional Abortion and Contraception<br />

Associates).<br />

Die Kongresse des Verbandes konzentrieren<br />

sich durchweg darauf, Abtreibung<br />

so früh wie möglich, so professionell<br />

wie möglich und so ungehindert<br />

wie möglich zu bewerkstelligen. Inwieweit<br />

hier von wissenschaftlicher Objektivität<br />

gesprochen werden kann, bleibt<br />

zu prüfen, vor allem angesichts der Beweislast<br />

zahlreicher Studien, die beiden<br />

Wirkstoffen eine nachweisbare Nidationshemmung<br />

bescheinigen. Stellvertretend<br />

sei hier eine Studie zur LNG-haltigen,<br />

in den USA verkauften »Pille danach«,<br />

Plan B, genannt, die in der Diskussion<br />

bislang nicht berücksichtigt wird:<br />

Kahlenborn C, Stanford JB, Larimore<br />

WL. Postfertilization effect of hormonal<br />

emergency contraception. Ann Pharmacother<br />

2002; 36: 465<strong>–</strong>70.<br />

Als Beleg für die in manchen Kreisen<br />

bewusst nicht getroffene Unterscheidung<br />

zwischen verhütender und frühabtreibender<br />

Wirkung sei ein Vortrag<br />

aus dem Jahr 2008 beim FIAPAC-Kongress<br />

in Berlin erwähnt: In diesem stellte<br />

Dr. Linan Cheng vom Shanghai Institute<br />

of Family Planning »Neuheiten«<br />

der Emergency Contraception vor und<br />

die Wirkstoffe LNG, Mifepristone (Mifegyne/RU<br />

486 als »Pille danach«) sowie<br />

die Kupferspirale gleichrangig als »Notfallverhütung«<br />

nebeneinander. In seiner<br />

Zusammenfassung schreibt Cheng: »Do<br />

not cause abortion.« <strong>–</strong> Verursacht keine<br />

Abtreibung. Und auch dies ist nur einer<br />

von vielen Belegen dafür, dass die Antwort<br />

auf die Frage, ob die »Pille danach«<br />

auch eine nidationshemmende und damit<br />

frühabtreibende Wirkung besitzt, letztendlich<br />

anscheinend davon abhängt, wie<br />

der Begriff Schwangerschaft seitens des<br />

Antwortgebers definiert wird.<br />

Weitere Belege für die Wirkung von<br />

LNG sind unschwer zu finden, wenn man<br />

sich in früheren Jahren mit der Pille danach<br />

beschäftigt und Originaldokumente<br />

verwahrt hat, zum Beispiel von der Österreichischen<br />

Gesellschaft für Familienplanung<br />

aus dem Jahr 2002. Dort heißt es:<br />

»Die Hormongabe erfolgt zweimal: Die<br />

erste Dosis muss innerhalb von 72 Stunden<br />

nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen<br />

werden, die zweite Dosis 12 Stunden<br />

nach der ersten Dosis. Levonorgestrel<br />

wirkt je nach Zyklustag unterschiedlich: In<br />

den Tagen vor dem Eisprung verhindert<br />

es diesen <strong>–</strong> und damit eine Befruchtung.<br />

Danach verhindert es <strong>–</strong> durch Inaktivierung<br />

der Gebärmutterschleimhaut und/<br />

oder Verlangsamung des Eitransports <strong>–</strong> die<br />

Einnistung der Eizelle in der Gebärmutterschleimhaut.«<br />

Eine Zusammenstellung<br />

der WHO von Studien zu Levonorgestrel<br />

seit 1968 spricht ebenfalls ohne Verschleierung<br />

von einer wesentlichen Wirkung<br />

auf das Endometrium.<br />

Auch Screenshots aus der Zeit vor<br />

der deutschen endgültigen Umdefinition<br />

nach der mutmaßlichen Vergewaltigung<br />

einer Frau in Köln im Frühjahr<br />

2013 legen den Verdacht nahe, dass hier<br />

eine manipulative Taktik zum Zuge kam,<br />

von der sich auch die Berater des damaligen<br />

Erzbischofs von Köln, Joachim Kardinal<br />

Meisner, sowie die Katholische Bischofskonferenz<br />

täuschen ließen. Michael<br />

Frisch von der <strong>ALfA</strong> hielt am 27.01.2013<br />

einige Seiten mit Screenshot fest. So etwa:<br />

euroclinix.de, Frauenärzte-im-Netz,<br />

pharmazeutische-zeitung.de und profamilia.de.<br />

Auf allen diesen Seiten wird die<br />

Wirkung der »Pille danach« auf das Endometrium<br />

klar beschrieben <strong>–</strong> Wirkung<br />

auf das Endometrium heißt aber nichts<br />

anderes als Nidationshemmung. Manche<br />

dieser Seiten wurden praktisch über<br />

Nacht geändert, während man die Wirkungsbeschreibungen<br />

im Ausland auf entsprechenden<br />

Internetseiten (zum Beispiel<br />

die spanische clinicasabortos.com) sowohl<br />

bei LNG als auch bei UPA immer noch<br />

problemlos finden kann.<br />

Insofern wäre es durchaus angebracht,<br />

dass sich die Katholische Kirche noch einmal<br />

intensiv und wissenschaftlich objektiv<br />

mit dem Thema beschäftigt und die<br />

möglicherweise kürzlich gemachten Fehler<br />

wieder korrigiert. Fehler können gemacht<br />

werden. Sie aber aus Scham- oder<br />

anderen Motiven nicht gründlich und<br />

deutlich vernehmbar zu bereinigen, wäre<br />

für die betroffenen Frauen, ihre Kinder<br />

und katholische Ärzte fatal.<br />

K U R Z & B Ü N D I G<br />

Schweizer ändern Verfassung<br />

Bern (<strong>ALfA</strong>). Die Schweizer haben bei einer<br />

Volksabstimmung am 14. Juni für eine Verfassungsänderung<br />

gestimmt, welche auch<br />

die Durchführung der in der Alpenrepublik<br />

verbotenen Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) ermöglicht. Künftig dürfen bei einer<br />

In-vitro-Fertilisation (IVF) im Labor so viele<br />

Embryonen befruchtet werden, wie für die<br />

Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich<br />

sind. Bislang durften in der Schweiz<br />

laut Verfassung nur so viele Embryonen<br />

befruchtet werden, wie Ärzte einer Frau<br />

auch einsetzen können. Nach gängiger<br />

Praxis sind das nicht mehr als drei. Bei<br />

einer PID, bei der die Embryonen vor ihrer<br />

Übertragung in den Mutterleib einem Gen-<br />

Check unterzogen werden, befruchten die<br />

Reproduktionsmediziner in der Regel sieben<br />

oder acht Embryonen. Ziel ist es, nur solche<br />

Embryonen auf die Mutter zu transferieren,<br />

die keine genetischen Auffälligkeiten besitzen.<br />

Für die von der Regierung dem Volk<br />

vorgelegte Verfassungsänderung stimmten<br />

61 Prozent der Urnengänger. Die Wahlbeteiligung<br />

lag bei 44 Prozent.<br />

reh<br />

Spanien verschärft Abtreibungsgesetz<br />

Madrid (<strong>ALfA</strong>). In Spanien hat das Parlament<br />

den Weg für die Verschärfung der<br />

Abtreibungsgesetze freigemacht. Nach dem<br />

Entwurf der Regierung von Ministerpräsident<br />

Mariano Rajoy sollen Jugendliche<br />

im Alter zwischen 16 und 18 Jahren eine<br />

Abtreibung künftig nicht mehr ohne die<br />

Erlaubnis ihrer Eltern<br />

durchführen lassen<br />

können. Vier Änderungsanträge<br />

der Opposition<br />

wurden von<br />

Rajoys Volkspartei PP<br />

zurückgewiesen. Die<br />

stärkste Oppositionskraft,<br />

die Sozialistische<br />

Arbeiterpartei<br />

(PSOE), wies die<br />

Reform als »Angriff<br />

auf die Rechte der<br />

Frauen“ zurück. Die<br />

PP wolle mit der<br />

Verschärfung bei den<br />

Parlamentswahlen<br />

Ende des Jahres<br />

Stimmen gewinnen,<br />

LA_MONCLOA<br />

Mariano Rajoy<br />

hieß es. Ursprünglich wollte die Regierung<br />

Rajoy die von den Sozialisten eingeführte<br />

Fristenregelung wieder abschaffen. Dieses<br />

zentrale Wahlversprechen brach Rajoy jedoch,<br />

nachdem ein fertiger Gesetzentwurf in<br />

der eigenen Partei auf Widerstand gestoßen<br />

war.<br />

reh<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 19


M E D I Z I N<br />

DANIEL RENNEN<br />

Der Hirntote ist<br />

ein Lebender<br />

Anfang des Jahres hat der Deutsche Ethikrat seine von Vielen mit Spannung erwartete<br />

Stellungnahme »Hirntod und Entscheidung zur Organspende« publiziert. »<strong>LebensForum</strong>«<br />

dokumentiert nachfolgend den Offenen Brief, den der Autor an die Vorsitzenden<br />

des Gremiums adressiert hat, das Bundesregierung und Bundestag in bioethischen Fragen berät.<br />

Von Anton Graf von Wengersky<br />

Schloss Elkofen 1, 85567 Grafing,<br />

am 10.03.<strong>2015</strong><br />

Frau Prof. Dr. Christiane Woopen<br />

c/o Deutscher Ethikrat<br />

Jägerstr. 22/23<br />

10117 Berlin<br />

Sehr geehrte Frau Professor Dr. Woopen,<br />

20<br />

mit großem Interesse habe auch ich<br />

die unter Ihrem Vorsitz erarbeitete Stellungnahme<br />

(01) »Hirntod und Entscheidung<br />

zur Organspende« des Deutschen<br />

Ethikrates (DER) zur Kenntnis genommen<br />

und das mir liebenswürdiger Weise<br />

zugesandte Exemplar des Textes studiert.<br />

Ein mutiges Papier. Trotz der beiden im<br />

Ausgangspunkt diametralen Positionen<br />

im Ethikrat (Position A: Der Hirntote<br />

ist tot und kann durch die Organentnahme<br />

nicht mehr getötet werden, Position<br />

B: Der Hirntote lebt und wird durch die<br />

Organentnahme legitim getötet) konnte<br />

das Ergebnis vom Bundesminister für<br />

Gesundheit Hermann Gröhe und vom<br />

ganzen großen Kreis der Transplantationsmedizin<br />

als Bestätigung eigenen Tuns<br />

mit Erleichterung zur Kenntnis genommen<br />

werden. Bitte erlauben Sie mir dennoch<br />

einige, teils zustimmende, teils kritische<br />

Anmerkungen:<br />

Das mentalistische Todesverständnis<br />

ist jedem, der die Diskussion der letzten<br />

25 Jahre verfolgt hat, wiederholt als Begründung<br />

für die Akzeptierung des Hirntodkonzepts<br />

begegnet. Ich bin deshalb<br />

dankbar, dass der DER ein ausschließlich<br />

mentalistisches Todesverständnis einmütig<br />

verwirft. Auch Ihr ablehnender Hinweis,<br />

»gemäß dieser Auffassung sind konse-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


quenterweise anenzephale Neugeborene und<br />

möglicherweise auch apallische Patienten als<br />

Tote zu qualifizieren« (01:S.68), ist mir als<br />

Lebensschützer zur Verteidigung meiner<br />

Position wertvoll.<br />

Zur Bedeutung des Gehirns als Integrationsorgan<br />

(Position A <strong>–</strong> mir ist bewußt,<br />

dass Sie diese Position nicht teilen)<br />

wird in der Stellungnahme auf das<br />

offenbar auch vom DER als wissenschaftlich<br />

maßgebend angesehene White Paper<br />

(02) von 2008 rekurriert. Dessen auf die<br />

Forschungsergebnisse von D. Alan Shewmon<br />

zurückgehender zentraler Satz:<br />

»The brain is not the integrator of the<br />

body’s many and varied functions ... Integration,<br />

rather, is an emergent property<br />

of the whole organism« (02:40) bleibt<br />

jedoch unerwähnt. Hätte nicht dieser<br />

für den Leser leicht verständliche<br />

Satz zur Verdeutlichung der Aussage<br />

des White Paper in der Stellungnahme<br />

(01) zitiert werden müssen?<br />

Position B: »Der Hirntod ist keine<br />

hinreichende Bedingung für den Tod<br />

des Menschen«. Hier stimmen Sie mit<br />

der Kernerkenntnis von D. Alan Shewmon<br />

überein. Als international angesehensten<br />

Hirntodexperten hatten<br />

Sie ihn am 21.03.2012 im DER zur<br />

Gast. Sein Referat endete damals mit<br />

dem Ihre Position B auf das schönste<br />

bestätigenden Satz: »Abschließend<br />

kann zusammengefaßt werden, dass ein<br />

hirntoter Patient schwer geschädigt und<br />

völlig von der Hilfe anderer abhängig ist<br />

und sich in einer höchst prekären Situation<br />

befindet. Es handelt sich bei einem solchen<br />

Patienten jedoch um einen lebenden<br />

und integrierten Organismus« (03:14).<br />

Auch dieser für den Leser der Stellungnahme<br />

leichter verständliche und<br />

die grundlegende Substanz der Position<br />

B greifbar verdeutlichende Satz<br />

fehlt mir in Ihrem Text.<br />

Sie selbst, Frau Prof. Dr. Woopen,<br />

und die Minderheitsfraktion des DER<br />

sehen den »Hirntod« nicht als den Tod<br />

des Menschen, den hirntoten Patienten<br />

nicht als schon verstorben an. Erstmals<br />

in Deutschland wird so im politischen<br />

Umfeld öffentlich zugegeben, dass der<br />

sogenannte »Hirntote« in Wirklichkeit<br />

ein Patient in großer Not, aber ein lebender<br />

Mensch ist. Das ist die von Ihnen erkannte<br />

Wahrheit, zu der Sie stehen. Für<br />

diese Ihre eindeutige und mutige Positionierung<br />

haben Sie (und mit Ihnen die<br />

gesamte Minderheitsfraktion des DER)<br />

meine allergrößte Hochachtung.<br />

Für Sie und die der Position B zustimmende<br />

Minderheit des DER besteht<br />

nicht nur die abstrakte Möglichkeit, den<br />

beatmeten hirntoten Patienten zu töten.<br />

Der hirntote Patient, »der noch nicht tot<br />

ist« (01:102), wird vielmehr nach Ihrer<br />

Erkenntnis erst durch die ärztliche Organentnahme<br />

getötet. Genau das wirft<br />

Ihnen die der Position A anhängende<br />

Mehrheit des DER auch vor (01:163).<br />

Für Sie (und die Minderheit des DER)<br />

kann jedenfalls die ärztliche Organentnahme<br />

in der Tat nicht mehr postmortal<br />

genannt werden. Sie ist letal.<br />

Die nach Ihrer (und der Minderheit<br />

des DER) Meinung letale Organentnahme<br />

sehen Sie dennoch als ethisch und<br />

Die Stellungnahme des Ethikrats<br />

verfassungsrechtlich legitim an, soferne<br />

sie dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen<br />

Willen des Betroffenen entspricht.<br />

Das ist kongruent mit Ihrer Positionierung<br />

Ihrer Ablehnung eines umfassenden<br />

Verbots der ärztlichen Suizidhilfe (04).<br />

»Legitim« steht hier im Unterschied<br />

zu »legal«. Legal ist nach dem Transplantationsgesetz<br />

die Organentnahme<br />

nur nach dem Tod zulässig (TPG § 3<br />

Abs. 1 Nr. 2). Der Verstoß gegen diese<br />

Vorschrift ist mit Freiheitsstrafe bis zu<br />

drei Jahren bedroht (TPG § 19 Abs. 2).<br />

Und § 216 StGB? Die in den Augen der<br />

Minderheit des DER zugleich letale und<br />

doch legitime Organentnahme ist jedenfalls<br />

ein strafbedrohter Gesetzesverstoß.<br />

Ich akzeptiere freilich, dass in raren Fällen<br />

»illegal« und »legitim« unter demselben<br />

Zylinderhut Platz finden.<br />

Verfassungsrechtlich haben wir den<br />

Spruch des Bundes-Verfassungsgerichtes<br />

(05): Die biologisch-physische Existenz<br />

jedes Menschen ist nach Art. 2.2 GG<br />

»unabhängig von den Lebensumständen des<br />

Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen<br />

Befindlichkeit« geschützt. Kann dieser dem<br />

Patienten verfassungsrechtlich garantierte<br />

Schutz für Leben und körperliche Unversehrtheit<br />

durch Verzicht des Betroffenen<br />

(etwa in Form eines Organspendeausweises)<br />

aufgehoben und die Organentnahme<br />

damit »legitim« werden? Ich<br />

kann Ihnen und der Minderheit des<br />

DER in dieser Auffassung keinesfalls<br />

folgen. Wäre sie richtig, dann müsste<br />

dem Bürger auch sein Verzicht auf<br />

die ihm nach Art. 1.1 GG verfassungsrechtlich<br />

garantierte Menschenwürde<br />

offenstehen.<br />

Ethisch sehe ich bei Position B (legitime<br />

Tötung des zustimmenden Organspenders<br />

durch Organentnahme)<br />

als Christ die mir durch Gottes fünftes<br />

Gebot gezogene Grenze überschritten.<br />

Diese Meinung müssen Sie, Frau<br />

Prof. Dr. Woopen, natürlich nicht teilen.<br />

Bedenken Sie aber bitte die Möglichkeit,<br />

dass einige Mitglieder des<br />

DER entgegen den ihnen bekannten<br />

wissenschaftlichen Evidenzen deshalb<br />

die Position A eingenommen haben<br />

könnten, weil sie sich nur so vor ihrem<br />

Gewissen vom Tötungsvorwurf<br />

befreien konnten: dem von Position<br />

B legitimierten »justified killing« (06)<br />

des Organspenders.<br />

Vor dem gleichen Dilemma steht<br />

im Umgang mit dem Hirntod-Organspender<br />

auch das intensivmedizinische<br />

Fachpersonal. Dieses urteilt aus<br />

eigener Erfahrung und Praxis mit der<br />

praefinalen Konditionierung des potentiellen<br />

Spender-Patienten, mit der<br />

Hirntod-Diagnose, mit der Betreuung<br />

des hirntoten Patienten und schließlich<br />

der Organentnahme selbst. Unabhängig<br />

von ihrer tatsächlichen Einstellung<br />

zu den Fakten konnten befragte Transplantationsärzte<br />

bei der auch von Ihnen<br />

reportierten Befragung (07) das ihrem<br />

Tun zugrundeliegende Hirntodkonzept<br />

wohl kaum ablehnen.<br />

Unrichtig ist übrigens Ihre Darstellung,<br />

dass sich die angegebenen 40-prozentige<br />

Ablehnung des Hirntodkonzepts<br />

beim intensivmedizinischen Fachpersonal<br />

nur auf den Teil der Befragten bezieht,<br />

der, wie Sie schreiben, »die Organspende<br />

für sich ablehnt«. Der Autor der Befragung,<br />

Prof. Dr. Gerold Söffker, hat vielmehr<br />

auf Nachfrage am 01.02.2014 mitgeteilt,<br />

die prozentuelle Verteilung der<br />

abgegebenen Antworten beziehe »sich<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 21


M E D I Z I N<br />

keinesfalls nur auf die Befragten, die einer<br />

Organspende nicht zustimmen. Da<br />

allerdings nicht alle der 1.045 Befragten<br />

diese Frage beantworten konnten, beträgt<br />

die Grundgesamtheit bei dieser Frage<br />

n=758«. Beim aus eigener Erfahrung<br />

mit der Hirntod-Organentnahme urteilenden<br />

intensivmedizinischen Fachpersonal<br />

ist also die Ablehnung des Hirntodkonzepts<br />

trotz des die Ablehnungsquote<br />

mindernden Dilemmas mit 40 Prozent<br />

deutlich höher als im Deutschen Ethikrat:<br />

Bei Ihnen betrug (Dr. Peter Radtke<br />

hat offenbar nicht mitgestimmt, also<br />

n=25) bei 7 Vertretern der Minderheitsposition<br />

B die Ablehnung gerademal 28<br />

Prozent. Die eigenen Erfahrungen bei<br />

Ausübung der Hirntod-Praxis erhöhen<br />

also ganz offensichtlich die Ablehnung<br />

des Hirntodkonzepts signifikant.<br />

Die Zweifel an der Plausibilität des<br />

Hirntodkonzepts erstrecken sich auch auf<br />

die Feststellung des Hirntods, also die sogenannte<br />

»Hirntodiagnose«. Die Hirntoddiagnose<br />

kann im Grunde nicht mehr<br />

leisten als eine Verfestigung der infausten<br />

Prognose für den jeweiligen Patienten<br />

(vgl. White Paper Abschnitt IVB). Die<br />

Hirntoddiagnose ist also, geht man von<br />

der Fiktion zu den Fakten über, jedenfalls<br />

eines nicht: eine Todesfeststellung.<br />

Zu den wissenschaftlichen Zweifeln<br />

an der Aussagekraft der Hirntoddiagnose<br />

nenne ich Ihnen nur zwei Beispiele: Prof.<br />

Cicero Galli Coimbra hat für den Apnoe-<br />

22<br />

Der Ethikrat weist ein ausschließlich mentalistisches Todesverständnis zurück<br />

Test, bei uns die Kernuntersuchung der<br />

Hirntoddiagnose, in »The Apnea Test <strong>–</strong> a<br />

Bedside lethal Disaster« (08) die Grenzen<br />

von dessen diagnostischer Aussagekraft<br />

deutlich aufgezeigt. Auch die American<br />

Academy of Neurology AAN (09) hat<br />

sich mit der bloßen Behauptung, mit den<br />

neurologischen Verfahren der Hirntoddiagnose<br />

könne die irreversible Zerstörung<br />

des Gehirns nachgewiesen werden,<br />

nicht zufrieden gegeben. Sie hat deshalb<br />

bei 41 vorab als hirntot diagnostizierten<br />

Patienten nach der Organentnahme die<br />

Leichen obduzieren lassen. Zur Überraschung<br />

der Ärzte fanden sich dabei nur<br />

leichte Hirnschäden und nicht ein einziger<br />

Fall von irreversibler Zerstörung<br />

des Gehirns. Das Urteil der AAN ist vernichtend:<br />

»Neuropathologic examination is<br />

therefore not diagnostic of brain death«(09).<br />

Bewegt sich die Stellungnahme des DER<br />

hier auf dünnem Eis?<br />

Kennen Sie dazu die von D. Alan<br />

Shewmon abgegebene Declaration vom<br />

03.10.2014 zum Fall der Patientin Jahi<br />

McMath? Der Kern-Absatz von Shewmons<br />

Ausführungen lautet: »Clearly Jahi<br />

is not currently brain dead. Yet I have no<br />

doubt that at the time of her original diagnosis,<br />

she fullfilled the AAN diagnostic criteria,<br />

correctly and rigorously applied by the several<br />

doctors who independently made the diagnosis<br />

then. That diagnosis was even backed<br />

up by two ancillary tests: an EEG that was<br />

reportedly isoelectric and a radionuclide scan<br />

that reportedly showed no intracranial blood<br />

flow. A likely explanation for the discrepancy<br />

(in fact the only explanation I can think<br />

of) is that (1) the standard clinical diagnostic<br />

criteria are not as absolutely 100% reliable<br />

as commonly believed, and (2) radionuclide<br />

blood flow studies are not sensitive enough to<br />

distinguish no flow from low flow«. Hirntoddiagnose<br />

nicht zuverlässig? Irreversibilität<br />

des Hirntods, Schmerzfreiheit des Hirntoten<br />

mehr bloße Behauptung als Fakt?<br />

Die Hirntoddiagnose setzt voraus, dass<br />

beim Spenderpatienten die Schmerztherapie<br />

und die Palliativbegleitung unterbrochen<br />

werden. Selbst ist sie mit willentlicher<br />

ärztlicher Schmerzzufügung verbunden<br />

(Sie nennen das Durchstechen der<br />

Nasenscheidewand beschönigend einen<br />

»adäquaten Schmerzreiz« 01:19) und dem<br />

risikovollen (01:21) und wegen der Erstickungsanfälle<br />

beim Sauerstoffentzug für<br />

den Patienten unter Umständen qualvollen<br />

Apnoe-Test. Ich würde das alles weder<br />

selbst erleiden wollen, noch je bei einem<br />

Familienmitglied zulassen. Muss die heutige<br />

Hirntoddiagnose als ärztliche Körperverletzung<br />

eines Sterbenden qualifiziert<br />

werden? Sollte sie nicht ausschließlich<br />

bei Vorabgenehmigung des Patienten<br />

(auf seinem Organspendeausweis) zulässig<br />

sein? Dann wäre der Spenderpatient<br />

auch besser abgesichert gegen den ärztliche<br />

Entzug seines weiteren Versicherungsschutzes<br />

durch nicht autorisierte<br />

Hirntodfeststellung.<br />

Ihre Empfehlungen an die Politik zielen<br />

nur teilweise auf die an sich nötige Absicherung<br />

durch Gesetze ab. Für eine solche<br />

Absicherung habe ich selbst 2013 den<br />

beiliegenden Entwurf eines Gesetzes zur<br />

Änderung des Transplantationsgesetzes<br />

ausgearbeitet und an die Fraktionsvorsitzenden<br />

aller im Deutschen Bundestag<br />

vertretenen Parteien geschickt. Es wird<br />

Sie nicht wundern, dass es zu den angeregten<br />

Änderungen nicht gekommen ist.<br />

Der DER hält an der Hirntod-Organspende<br />

fest. Den Patiententod (Dead-<br />

»Transplantationsskandale sind<br />

nur die Spitze eines Eisbergs«<br />

Donor-Rule) sieht er teils (Position A)<br />

als zwingende Vorrausetzung, teils (Position<br />

B) als entbehrlich. Die Organentnahme<br />

nach Herzstillstand (Non-Heart-<br />

Beating-Donation) lehnt der DER einmütig<br />

ab. Shewmon schlägt stattdessen<br />

die Kombination »Herztod und Hirntod«<br />

als Vorraussetzung für die Organ-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


DANIEL RENNEN<br />

entnahme vor (10): Liegt die Zustimmung<br />

des Spenders zu Hirntoddiagnose<br />

und Organspende vor, soll nach festgestelltem<br />

Hirntod mit dem Beginn der Organentnahme<br />

bis nach dem natürlichen<br />

Eintritt des sowieso kurz bevorstehenden<br />

Herztodes zugewartet werden. Die<br />

Organentnahme wäre dann tatsächlich<br />

postmortal und die Dead-Donor-Rule<br />

gerettet. Könnte dieser Shewmon-Vorschlag<br />

für eine legale und verfassungsfeste<br />

Fortführung der Organtransplantation<br />

der Königsweg sein?<br />

Ich glaube das nicht. Zu übergriffig<br />

ist mir dafür der heutige ärztliche Umgang<br />

mit möglicherweise als Organspender<br />

in Frage kommenden Patienten. Das<br />

belastende Legen von Zugängen für die<br />

Organentnahme schon bei der »praefinalen<br />

Konditionierung« (11), das »Therapieziel<br />

Hirntod« (12), die beim Hirnverletzten<br />

hochriskante Gabe von Blutverdünnungsmitteln<br />

zur Organprotektion,<br />

alles lange vor Eintritt des Hirntods<br />

und ohne Vorab-Einholung einer Zustimmung,<br />

sind schwere Körperverletzungen.<br />

Weit mehr als die von Ihnen als<br />

ärztliche Körperverletzung eingeschätzte<br />

therapeutische Weiterbehandlung des<br />

Patienten nach Hirntoddiagnose. Übergriffig<br />

ist auch die bei Multiorganentnahmen<br />

immer wieder erfolgende Mitnahme<br />

von Organen und verwertbaren Körperteilen,<br />

nicht nur der Augen, die von Angehörigen<br />

oder dem Patienten selbst ausdrücklich<br />

von der Organentnahme ausgeschlossen<br />

waren. Auch dass die Ärzte<br />

Angehörigen, die sich nach der Organentnahme<br />

von der Leiche ihres lieben<br />

Toten verabschieden wollen, von einer<br />

Konfrontation mit der explantierten Leiche<br />

regelmäßig abraten, spricht für sich.<br />

Durch die Transplantationsskandale ist<br />

nur die Spitze eines Eisbergs sichtbar geworden.<br />

Sein größerer Teil liegt, auch er<br />

außerhalb der Legalität, für die Öffentlichkeit<br />

unsichtbar unter der Wasserlinie.<br />

Die Zahnlosigkeit der TPG-Schutzbestimmungen<br />

zur Einhaltung seiner Regeln<br />

unterstützt noch die Übergriffigkeit<br />

gegenüber potentiellen Organspendern<br />

unter den anvertrauten Patienten. Gleiches<br />

gilt für die von Transplantationsärzten<br />

selbst ausgeübte Kontrolle des Systems.<br />

Die Kritik der Kommission nach<br />

§ 11.3 und § 12.5 TPG erfolgt meist erst<br />

nach Ablauf der Verjährungsfrist für Verstöße,<br />

so dass strafrechtliche Konsequenzen<br />

nicht mehr gezogen werden können.<br />

Sie kennen sicher den Spruch: »Eine Krähe<br />

hackt der andern kein Auge aus«. Was<br />

sollte da jetzt ein Übergang zum Shewmon-Vorschlag<br />

(oben Ziffer 17) ändern,<br />

gegen den sich überdies die Transplantationsmediziner<br />

mit Händen und Füßen<br />

wehren würden?<br />

Ist, Frau Professor Dr. Woopen, der<br />

Text »Hirntod und Entscheidung zur Organspende«<br />

als Stellungnahme des DER<br />

trotz oder wegen seiner fast 200 Seiten<br />

vielleicht doch nicht, was er sich vorgenommen<br />

hatte: Ein Beitrag zur Information<br />

und ergebnisoffenen Aufklärung der<br />

gesamten Bevölkerung »über die gesamte<br />

Tragweite« einer Entscheidung zur Organspende?<br />

Sie haben mit diesem mühevoll<br />

erarbeiteten Text und mit der klaren<br />

Aussage der Minderheit des Deutschen<br />

Ethikrates: der »hirntote« Patient<br />

ist ein lebender Mensch, dessen Sterbevorgang<br />

erst durch die Organentnahme<br />

beendet wird, wahrlich Großes geleistet.<br />

Ihr Text sollte aber, das scheint mir<br />

unverkennbar, eine Stellungnahme pro<br />

Organspende sein. Eine ergebnisoffene<br />

Aufklärung der breiten Bevölkerung hat<br />

er möglicherweise gerade deshalb verfehlt.<br />

So steht wohl auch Ihr Text, das<br />

Sieht so das Ende einer Verwertungskette aus?<br />

ist schade, unter der Aussage des deutschen<br />

Transplantationspapstes Prof. Dr.<br />

Robert Pichlmayr: »Wenn wir die Gesellschaft<br />

aufklären, bekommen wir keine<br />

Organe mehr!«<br />

Diesen Brief schreibe ich Ihnen, sehr<br />

geehrte Frau Dr. Woopen, als offenen<br />

Brief. Denn ich möchte ihn in Anbetracht<br />

der Bedeutung und Reichweite<br />

Ihrer Hirntod-Stellungnahme auch anderen<br />

Mitgliedern des Ethikrates, der<br />

Ärzteschaft, der Politik und der Kirchen<br />

zuleiten. Es würde mich freuen, einmal<br />

von Ihnen zu hören.<br />

Anlage:<br />

Mein »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung<br />

des Transplantationsgesetzes« vom 01.03.2013<br />

Literatur:<br />

(01) Deutscher Ethikrat (<strong>2015</strong>): Hirntod und<br />

Entscheidung zur Organspende. Stellungnahme.<br />

(02) Presidents Council on Bioethics (2008):<br />

Controversies in the Determination of<br />

Death«. A White Paper.<br />

(03) Shewmon, D.A., (2012): Medizin & Ideologie<br />

34,5-14.<br />

(04) »Die Tagespost« (06.12.2014): 1 und 13f.<br />

(05) BVerfGE 115: 118 (139).<br />

(06) Miller, F.G.,Truog, R.D. (2008): Rethinking<br />

the Ethics of Vital Organ Donation,<br />

Hastings Center Report 38,no.6.<br />

(07) Söffker, G. et al (2014): Einstellung des<br />

intensivmedizinischen Fachpersonals zur<br />

postmortalen Organspende in Deutschland,<br />

Medizinische Klinik <strong>–</strong> Intensivmedizin<br />

und Notfallmedizin 109 (1), 41-47.<br />

(08) Mattei, R.Hrsg. (2006): Finis Vitae, 113-<br />

145.<br />

(09) Wijdicks, E.F.M. et al (2008): Neuropathology<br />

of brain death in the modern transplant<br />

era. Neurology 70,1234-1237.<br />

(10) Shewmon, D.A., (1998): Brainstem Death,<br />

Brain Death and Death, Law & Medicine<br />

14, 137ff.<br />

(11) Schöne-Seifert, B., (2011): Behandlung potentieller<br />

Organspender im Präfinalstadium.<br />

Dt. Ärzteblatt 2011, B1770<br />

(12) Erbguth, F. et al (2014): Therapieziel Hirntod?,<br />

Bayerisches Ärzteblatt 3/2014, 116-<br />

119.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 23


K O N T R O V E R S<br />

Wofür steht das Kreuz?<br />

Der Autor, katholischer Priester, der auch öffentlich für den Schutz des Lebens eines jeden Menschen<br />

eintritt, stellt in dem nachfolgenden Beitrag die Frage, ob Lebensrechtler wirklich<br />

gut beraten sind, wenn sie beim »Marsch für das Leben« weiße Holzkreuze mit sich führen.<br />

»<strong>LebensForum</strong>« veröffentlicht den unverlangt eingesandten Beitrag ungekürzt.<br />

Von Andreas Kuhlmann<br />

24<br />

Heutzutage wird in den modernen<br />

Gesellschaften das Kreuz<br />

gerne als Schmuckstück getragen,<br />

aber gleichzeitig aus Klassenzimmern<br />

und Gerichtssälen verbannt. Bei den<br />

Ägyptern galt das Kreuz als Zeichen des<br />

Lebens. Auch im Einsatz für das Leben<br />

unschuldiger und wehrloser Menschen<br />

wird es auf vielfältige Weise verwendet.<br />

Es ist gut, manchmal darüber nachzudenken,<br />

was wir mit dem Kreuz als Zeichen<br />

verbinden. Das soll an dieser Stelle<br />

geschehen.<br />

Während das Kreuz in der ägyptischen<br />

Kultur das Leben symbolisierte, stand es<br />

im römischen Imperium für den Tod: das<br />

Kreuz als schreckliches Marterwerkzeug.<br />

Der schmachvolle Tod an einem Kreuz<br />

aus Holz war für die Bewohner des römischen<br />

Reiches die grausamste Hinrichtungsart,<br />

denn das Leiden war enorm<br />

und zog sich sehr in die Länge (im Vergleich<br />

zu anderen Hinrichtungsformen<br />

durch den Speer, das Vierteilen, das Verbrennen,<br />

der zum Tode verdammte Gladiator<br />

usw.).<br />

Erst, als sich mit den Christen auch<br />

das Symbol ihres Glaubens, das Kreuz,<br />

»Das Kreuz symbolisiert die Liebe<br />

Gottes, die grenzenlos ist«<br />

auf dem Gebiet des römischen Imperiums<br />

und dann darüber hinaus ausbreitete,<br />

bekam das Kreuz einen symbolischen<br />

Wert, der die schreckliche Verwendung<br />

von vormals nach und nach vergessen<br />

ließ. Wie konnte es zu dieser Art »Umwertung«<br />

oder Umdeutung des Kreuzes<br />

kommen? Wie konnte eine Religion,<br />

die die Liebe und Barmherzigkeit predigt,<br />

auf solch ein negatives Zeichen zurückgreifen,<br />

dass doch nur für Hass und<br />

Unbarmherzigkeit steht? Die Antwort<br />

auf diese Fragen finden wir bei dem Gekreuzigten<br />

selbst: bei seiner Lehre und<br />

bei seinem Leben.<br />

Als geschichtliche Tatsache steht fest:<br />

Jesus Christus ist durch die Hinrichtungsform<br />

der Kreuzigung ermordet worden.<br />

Er hat seinen gewaltsamen Tod vorausgesehen<br />

und ohne Rebellion angenommen,<br />

denn er ist freiwillig gestorben,<br />

um uns Menschen zu erlösen. Als<br />

Mensch, der er (auch) war, litt er seelisch<br />

und körperlich bis ins Unermessliche.<br />

Der Grund, so zu sterben, war nicht<br />

die bittere Konsequenz von persönlicher<br />

Schuld, Schwäche, Resignation oder gescheitertem<br />

Widerstand gegen Unrecht:<br />

es war seine unermessliche Liebe zu uns<br />

Menschen. »Niemand hat eine größe-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


e Liebe als der, der sein Leben hingibt<br />

für seine Freunde.« (Vgl. Joh 15,13) Er<br />

hat das Kreuz als Werkzeug der Befreiung<br />

des Menschen von der Versklavung<br />

der Sünde genutzt. Er hat unendlich gelitten,<br />

aber er hat souverän gehandelt. Er<br />

wurde nicht Opfer, er hat sich zum Opfer<br />

gemacht. Gottes Sohn wusste, was er auf<br />

sich nahm und wofür er es auf sich nahm.<br />

»Das Kreuz für politische Zwecke<br />

einzusetzen, ist sehr bedenklich«<br />

»Wenn das Weizenkorn nicht in den Boden<br />

fällt und stirbt, kann es keine Frucht<br />

bringen« (vgl. Joh 12,24), lehrte er. Und<br />

so hat er gehandelt. Die Frucht der Sünde<br />

Adams war der Tod, die Frucht des Todes<br />

am Kreuz ist das Leben, sagen die Kirchenväter.<br />

Das ist die zentrale Botschaft<br />

des Christentums an die Welt.<br />

Johannes Paul II. schrieb in seinem<br />

Buch »Die Schwelle der Hoffnung überschreiten«<br />

im 11. Kapitel über die Frage<br />

der Ohnmacht Gottes: »Das Christentum<br />

ist eine Religion des Heils, das heißt,<br />

um den theologischen Ausdruck zu verwenden,<br />

es ist Soteriologie. Die christliche<br />

Soteriologie konzentriert sich auf<br />

das Ostergeheimnis. Wenn der Mensch<br />

auf die Rettung durch Gott hoffen will,<br />

so muss er unter dem Kreuz Christi verharren.<br />

Und dann, am Sonntag, der auf<br />

den Karsamstag folgt, muss er vor dem<br />

leeren Grab stehen und wie die Frauen<br />

von Jerusalem hören: ›Er ist nicht hier,<br />

denn er ist auferstanden‹ (Mt 28,6). Zwischen<br />

dem Kreuz und der Auferstehung<br />

steht die Sicherheit, dass Gott den Menschen<br />

rettet, dass er ihn rettet durch Christus,<br />

durch sein Kreuz und seine Auferstehung.«<br />

Das Kreuz, das bis dahin nur Symbol<br />

des Todes war <strong>–</strong> Symbol von Vernichtung<br />

und Auslöschung des Lebens <strong>–</strong> ist<br />

mit dem Tod und der Auferstehung des<br />

Sohnes Gottes zum Zeichen der Hoffnung<br />

und der Liebe für alle Menschen<br />

geworden. Nur so kann man verstehen,<br />

dass viele Menschen <strong>–</strong> viele darunter<br />

nicht einmal Christen <strong>–</strong> ein Kreuz auf<br />

ihrer Brust tragen.<br />

Deshalb würde man das christliche<br />

Kreuz gründlich missdeuten und in die<br />

Gefahr geraten, es auch missbräuchlich<br />

zu verwenden, wenn man das christliche<br />

Kreuz nicht mehr dafür stehen lässt, wofür<br />

es nach dem christlichen Bekenntnis<br />

steht: für den Sieg über den Tod, für die<br />

Überwindung destruktiver Mächte durch<br />

die göttliche Allmacht, die alles neu zu<br />

erschaffen mag.<br />

Im Laufe der Geschichte kam es immer<br />

wieder zu Fehldeutungen, wofür<br />

denn das Kreuz stehe. In der Kunst des<br />

20. Jahrhunderts gab es die marxistische<br />

Ausdeutung des Todes Christi am Kreuz:<br />

Gott reißt sich vom Kreuz los und schleudert<br />

den Übeltätern die Nägel voller Wut<br />

entgegen. Das Aufbegehren der Unterdrückten,<br />

der Klassenkampf, sollte geschürt<br />

werden.<br />

Die Heiligen der Kirche haben niemals<br />

eine den christlichen Glauben total<br />

verkennende Interpretation gekannt. Sie<br />

haben das Kreuz nicht theoretisch ausgedeutet,<br />

sondern am eigenen Leib, im eigenen<br />

Leben, erfahren … und es geliebt.<br />

Der hl. Josefmaria Escrivá, der Gründer<br />

des Opus Dei, schrieb einmal über<br />

das Kreuz: »Wir treffen manchmal auf<br />

eine falsche Spiritualität, die uns einen<br />

zornigen, aufbegehrenden Christus vor<br />

Augen stellt, einen zusammengekrümmten<br />

Leib, der wie eine Drohung über den<br />

Menschen zu hängen scheint: ihr habt<br />

mich zerschlagen, aber ich werde meine<br />

Nägel, mein Kreuz, meine Dornen gegen<br />

euch schleudern. Solche Menschen<br />

wissen nichts vom Geiste Jesu Christi. Er<br />

hat alles, was Er konnte, gelitten <strong>–</strong> und<br />

das ist, seiner göttlichen Natur entsprechend,<br />

unermesslich viel gewesen! <strong>–</strong> aber<br />

seine Liebe hat sein Leiden noch übertroffen<br />

... Noch nach seinem Tod ließ Er<br />

es zu, dass ein Lanzenstoß Ihm eine weitere<br />

Wunde zufügte, damit du und ich<br />

dicht an seinem geliebten Herzen Zuflucht<br />

fänden.« (Kreuzweg, XII. Station,<br />

Betrachtungspunkt 3)<br />

»Das Kreuz darf nicht als Zeichen<br />

der Anklage verstanden werden«<br />

Das christliche Kreuz symbolisiert die<br />

verzeihende Liebe Gottes, die grenzenlos<br />

ist. Es für politische Ziele einzusetzen,<br />

und mögen sie noch so edel sein, scheint<br />

mir zumindest sehr bedenklich und geht<br />

mit der Gefahr einher, dessen eigentliche<br />

Aussage zu verfälschen. Wenn diejenigen,<br />

die für eine Kultur des Lebens<br />

einstehen wollen, das Kreuz zur Hand<br />

nehmen, dann sollte es die Liebe Gottes<br />

widerspiegeln, die der Vergebungsbereitschaft<br />

der Christen spezifisch Ausdruck<br />

verschafft.<br />

Hören wir noch einmal den hl. Josefmaria,<br />

der <strong>–</strong> so meine ich <strong>–</strong> hierzu einen<br />

sehr wichtigen Gedanken äußerte:<br />

»Versöhnen, Verstehen, Verzeihen: darum<br />

geht es. Richte niemals ein Kreuz<br />

auf, nur um daran zu erinnern, dass Menschen<br />

Menschen umgebracht haben. Es<br />

wäre ein Banner des Teufels. Das Kreuz<br />

Christi tragen heißt vielmehr: schweigen,<br />

vergeben und für alle beten, damit<br />

alle Frieden finden.« (Kreuzweg, VIII.<br />

Station, Betrachtungspunkt 3)<br />

Wenn also das Kreuz <strong>–</strong> als Symbol des<br />

christlichen Glaubens an den auferstandenen<br />

Erlöser der Welt <strong>–</strong> auf Schweigemärschen<br />

für die unschuldig getöteten<br />

Kinder eingesetzt wird, wenn es in großer<br />

Zahl auf ein Feld gestellt wird, dann<br />

muss es vor allem ein Zeichen der Hoffnung<br />

und der Liebe sein und darf nicht<br />

als bloßes Mahnmal oder sogar als Zeichen<br />

der Anklage verstanden werden. Das<br />

erhobene Kreuz will sagen: lass dich mit<br />

Gott versöhnen!<br />

Wer das Kreuz als christliches Symbol<br />

einsetzt, will damit sagen, dass er<br />

trotz Unrecht, Leid und Tod, die über<br />

das abgetriebene Kind gekommen sind,<br />

daran glaubt, dass es für jeden Menschen<br />

»Auferstehung« gibt: Reue und Umkehr,<br />

Vergebung und Neuanfang, ein neues<br />

Leben und ein glückseliges ewiges Leben<br />

bei Gott.<br />

Der Tod <strong>–</strong> alle destruktiven Kräfte<br />

und Akteure dieser Welt <strong>–</strong> hat nicht das<br />

letzte Wort, nicht die endgültige Macht:<br />

die Liebe Gottes siegt immer! Diese frohe<br />

Osterbotschaft ist ja im Grunde auch<br />

das, was bei einem guten Beratungsgespräch<br />

durchscheint, was bei den vielfältigen<br />

praktischen Hilfen zum Ausdruck<br />

kommt: es gibt Hoffnung und es<br />

gibt wirkliche Liebe, gegen die der Tod<br />

(die Kultur des Todes) letztendlich ohnmächtig<br />

bleibt.<br />

Ein letzter eher praktisch orientierter<br />

Gedanke. Die Märsche für das Leben<br />

sind unverzichtbar, denn das Unrecht an<br />

den Kindern darf nicht aus dem öffentlichen<br />

Bewusstsein verschwinden. Aber<br />

vielleicht können die Teilnehmer statt<br />

des Kreuzes leere Kinderwagen vor sich<br />

herschieben. Auch sie wecken Aufmerksamkeit<br />

und der ein oder andere wird sich<br />

beim Anblick dieser traurigen Szene fragen,<br />

wo das Kind denn geblieben ist. Statt<br />

in den Armen von Mama oder Papa, wo<br />

man es vermuten würde, ist es weg: ein<br />

für alle Mal. Es wäre der stumme Schrei<br />

leerer Kinderwagen, der in den Straßen<br />

ertönen würde.<br />

Als andere symbolische Handlung wäre<br />

das Tragen von Grabsteinen (aus Pappe<br />

oder Styropor) mit fiktiven Lebensdaten<br />

eines abgetriebenen Kindes (z. B.<br />

N. N., + 5.5.2014, im 3. Monat ante partum,<br />

a. p.) denkbar.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 25


G E S E L L S C H A F T<br />

»Frauen verdienen<br />

Besseres«<br />

Auf Einladung des <strong>ALfA</strong>-Regionalverbandes Memmingen sprach die US-amerikanische Lebensrechtlerin<br />

Abby Johnson im Memminger Kaminwerk. Vor 500 Zuhörern berichtete die<br />

frühere Leiterin einer Abtreibungsklinik in den USA, wie sie mit der Verantwortung<br />

für zwei eigene Abtreibungen und 20.000 von ihr mit ermöglichten vorgeburtlichen Kindstötungen<br />

umgeht und was sie schließlich bewog, die Seiten zu wechseln. Eine Ortsbesichtigung.<br />

Von Alexandra Maria Linder<br />

Memmingen gilt auch heute noch<br />

in Sachen Abtreibung als heißes<br />

Pflaster. Dort fand ab 1988<br />

ein Prozess wegen illegaler Abtreibungen<br />

gegen Horst Theissen statt, viele betroffene<br />

Frauen wurden gezwungen, auszusagen,<br />

teilweise auf eine Art und Weise,<br />

die aus heutiger Sicht wirklich anders<br />

hätte ablaufen können. Im Zuge dessen<br />

wurde die Stadt zeitweise ein Zentrum<br />

26<br />

Maria Schmölzing (links) und Claudia Kaminski im Memminger Kaminwerk<br />

von Protesten, von Demonstrationen<br />

und Gegendemonstrationen. Josef Miller,<br />

Staatsminister a. D., der damals eine<br />

Gegendemonstration mit 6.000 Teilnehmern<br />

organisiert hatte, erinnerte in seinem<br />

Grußwort bei dem Vortrag der amerikanischen<br />

Lebensrechtlerin Abby Johnson<br />

daran und erwähnte ausdrücklich, wie<br />

viele gute Initiativen es für die Hilfe von<br />

Frauen in Not gerade in dieser Region<br />

gibt und welche Namen dahinterstehen.<br />

Nebenbei zitierte er damalige Sprüche<br />

der Gegner: »Wäre der Papst nicht impotent,<br />

wäre Abtreibung ein Sakrament.«<br />

»Ehe das Kind im Hause schreit, wär’ es<br />

besser abgetreibt.« Memmingen<br />

ist also eine Veranstaltung<br />

mit Risiko: Wird das Thema<br />

angenommen? Gibt es Widerstand?<br />

Wie wird die Bevölkerung<br />

reagieren?<br />

All das hielt den örtlichen<br />

Regionalverband der <strong>ALfA</strong> unter<br />

Federführung ihrer Vorsitzenden<br />

Maria Schmölzing<br />

nicht davon ab. Unterstützung<br />

erfuhr sie, außer von fleißigen<br />

Mitgliedern ihres äußerst aktiven<br />

Regionalverbandes, zum<br />

Beispiel von der örtlichen Bäckerei<br />

Brommler, die für alle<br />

Teilnehmer gleich am Eingang<br />

Brezeln verteilte und das<br />

erste Unternehmen ist, das das<br />

neue Menschenrechtslogo »Ich<br />

bin Mensch« verwendet. Und<br />

die Erwartungen werden weit<br />

übertroffen: Etwa 500 Besucher<br />

aller Altersklassen drängeln<br />

sich in das zum Schluss<br />

völlig überfüllte Kaminwerk,<br />

darunter führende lokale Geistliche<br />

und Politiker, und warten<br />

gespannt auf den Vortrag. Zur<br />

Einführung gibt es noch etwas<br />

Neues. Einige Kinder lesen zusammen<br />

mit dem Bäckermeister und der<br />

Bürgermeisterin von Memmingen, Margareta<br />

Böckh, aus dem von Professor Dr.<br />

Holm Schneider, dem Zweiten Stellvertretenden<br />

Bundesvorsitzenden der AL-<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


fA, verfassten Aufklärungsbüchlein »Baby<br />

im Bauch«, untermalt von an die Wand<br />

projizierten pfiffigen Zeichnungen. Jedes<br />

Kind, so Schneider in seiner Erläuterung,<br />

ist einzigartig und hat einen individuellen<br />

Fingerabdruck.<br />

Abby Johnson wurde 2009 in den USA<br />

bekannt, weil sie nach acht<br />

Jahren Arbeit für Planned<br />

Parenthood (PP) offenbar<br />

über Nacht Lebensrechtlerin<br />

wurde. Wie sie berichtete,<br />

warb PP sie als<br />

Studentin an, und sie begann,<br />

ehrenamtlich in einer<br />

Abtreibungseinrichtung<br />

zu arbeiten. Sie studierte<br />

Psychologie, wurde<br />

angestellt und stieg zur<br />

Leiterin einer PP-Einrichtung<br />

auf.<br />

Die offizielle Linie der<br />

amerikanischen PP wurde<br />

von Abby Johnson so wiedergegeben:<br />

Viele Frauen<br />

sterben an illegalen Abtreibungen,<br />

deshalb wollen<br />

wir den Frauen helfen<br />

und sichere Abtreibungen<br />

anbieten, vor allem<br />

für arme Frauen, die<br />

sich keine Abtreibung leisten<br />

können. Der Fötus (wie<br />

bei »pro familia« ist auch<br />

dort im Zusammenhang<br />

mit Abtreibung nie von<br />

einem »Kind« die Rede)<br />

fühlt, so die Vorgabe, vor<br />

der 28. Schwangerschaftswoche<br />

nichts. Das, so Johnson, habe sie<br />

sich auch eingeredet, als sie selbst zwei<br />

Schwangerschaften durch Abtreibung beendet<br />

habe. Als man sie fragt, wie man<br />

denn glauben könne, dass ein so großes<br />

Kind nichts fühle, gibt Abby Johnson zu,<br />

dass man das nicht wirklich logisch beantworten<br />

könne: »Wenn man das Kind<br />

will, ist es ein Kind. Wenn nicht, muss<br />

man sich emotional von dem Kind lösen<br />

und es als Gewebe definieren, sonst kann<br />

man nicht abtreiben.« Sie hätte der PP-<br />

Linie einfach ebenso geglaubt wie die<br />

Frauen ihr bei der Beratung.<br />

»Mit Abtreibung verdienen<br />

wir unser Geld«<br />

Als PP eine Einrichtung mit 75 Abtreibungen<br />

täglich (bis zum sechsten<br />

Schwangerschaftsmonat) bauen wollte,<br />

wurde sie zum ersten Mal stutzig. So späte<br />

Abtreibungen waren ihr zuwider, denn<br />

dann sind die Kinder auch außerhalb der<br />

Gebärmutter lebensfähig. Die Lebensfähigkeit<br />

war für sie persönlich immer die<br />

Grenze der Abtreibung gewesen. Dass<br />

dies im Widerspruch dazu steht, dass ein<br />

Cornelia Kaminski (links) dolmetschte den Vortrag von Abby Johnson<br />

Fötus in diesem Alter nichts fühlt, passt<br />

zu Johnsons obiger Aussage.<br />

Einige Zeit später, bei einem Meeting<br />

mit ihrer Vorgesetzten, erhielt sie die<br />

Vorgabe, die Abtreibungszahlen in ihrer<br />

Einrichtung zu verdoppeln. Hier, so<br />

Johnson, habe sich die wahre Intention<br />

des Vereins ihr zum ersten Mal offenbart.<br />

Als sie ihre Bedenken äußerte, lautete die<br />

Antwort ihrer Chefin: »Abortion is how<br />

we make our money.« <strong>–</strong> Mit Abtreibung<br />

verdienen wir unser Geld. Dazu passte<br />

auch, dass ein Vorschlag von ihr, nämlich<br />

zur Erhöhung der Sicherheit für die<br />

Frauen die Abtreibungen ultraschallkontrolliert<br />

durchzuführen, abgelehnt wurde,<br />

weil jede Abtreibung damit fünf Minuten<br />

länger dauern würde und man weniger<br />

Abtreibungen durchführen könnte<br />

<strong>–</strong> also weniger Geld verdienen würde.<br />

Vor der Abtreibung, so Johnson, werde<br />

in den USA der Ultraschall genutzt, um<br />

Alter und Lage des Kindes festzustellen<br />

und den Preis festzulegen (von 300 Dollar<br />

in der 12. Woche bis zu 30.000 Dollar<br />

wenige Wochen vor der Geburt). Danach<br />

schalte man das Gerät meistens ab, um zu<br />

vermeiden, dass die Frau das Kind sieht.<br />

Ihre Zweifel wurden immer größer.<br />

Was in ihrem Vortrag nicht thematisiert<br />

wird, aber in ihrem Buch »Lebenslinie«<br />

nachzulesen ist: Über die Jahre hatte sie<br />

persönliche Bekanntschaft mit den Lebensrechtlern<br />

der »Coalition for Life«<br />

gemacht, die immer hinter dem Schutzzaun,<br />

der gegen die Lebensrechtler errichtet<br />

worden war, standen und die Frauen<br />

»Eine Abtreibung kurz vor der<br />

Geburt kostet bis zu 30.000 Dollar«<br />

und Mitarbeiter freundlich ansprachen.<br />

Sie boten Hilfe an, sie grüßten freundlich,<br />

sie beteten für alle, gelegentlich sprach<br />

man länger miteinander, eines Tages bekam<br />

sie sogar Blumen. Jahrelang trat Johnson<br />

energisch für die Ziele von Planned<br />

Parenthood ein, veranstaltete Lobby-Tage<br />

für Politiker, gab Interviews, schulte<br />

neue Mitarbeiter.<br />

Eines Tages wurde ihr auf drastische<br />

Weise klargemacht, dass ihre Zweifel und<br />

Bedenken angebracht waren: Ein Arzt,<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 27


G E S E L L S C H A F T<br />

der in ihrer Einrichtung aushalf, arbeitete<br />

mit Ultraschall, auch während der Abtreibung.<br />

Wegen Personalmangels bat er<br />

Abby Johnson, den Ultraschallkopf zu halten.<br />

Auf dem Bildschirm sah sie den, wie<br />

sie gelernt und acht Jahre lang vertreten<br />

hatte, nichts fühlenden Fötus, das Gewebe:<br />

Ein etwa 12 Wochen altes, vollständiges<br />

Kind. Sie musste zusehen, wie das<br />

Kind reagierte, als der Arzt die Kanüle<br />

In diesem Moment wusste Johnson,<br />

dass alles, woran sie geglaubt, was sie öffentlich<br />

vertreten und den Frauen, die ihr<br />

vertrauten, gesagt hatte, eine Lüge war.<br />

20.000 Abtreibungen hatte sie mit verursacht<br />

und den hilfesuchenden Frauen eine<br />

Lösung angeboten, die keine war. Ihr<br />

Mann hatte das immer gesagt, war immer<br />

pro-life gewesen. Da ihre Freunde<br />

alle im Abtreibungsgeschäft tätig waren,<br />

fielen ihr als jetzige Anlaufstelle spontan<br />

die Lebensrechtler ein. Die Coalition for<br />

Life, deren Vertreterin Heather Gardner<br />

mit nach Memmingen gekommen<br />

ist, nahm sie tatsächlich auf und half ihr.<br />

Seitdem ist Johnson für diesen Verein tätig<br />

und hält, neben ihrer Beratungstätigkeit<br />

für Frauen, etwa 80 Vorträge im Jahr,<br />

um die Menschen über die Machenschaften<br />

von Planned Parenthood aufzuklären.<br />

Denn PP, so Johnson, verdiene nicht nur<br />

viel Geld mit Abtreibungen (ein Drittel<br />

aller Abtreibungen in den USA, pro Jahr<br />

etwa 330.000, werden in PP-Einrichtungen<br />

vorgenommen), sondern verkaufe oft<br />

auch das Gewebe der abgetriebenen Kinder<br />

für Forschungszwecke oder Schlimmeres.<br />

Die Vorträge seien möglich, weil PP den<br />

gegen sie angestrengten Prozess verloren<br />

habe. Sie sollte gerichtlich dazu gezwungen<br />

werden, zu schweigen. Im Augenblick<br />

schlägt sie zurück: Es laufen zwei von ihr<br />

initiierte Prozesse gegen PP wegen Betrugs<br />

und medizinischen Fehlverhaltens.<br />

Im Publikum sitzen nicht nur Lebensrechtler.<br />

An manchen Stellen, zum Beispiel<br />

als der evangelische Pastor Stefan<br />

Scheuerl, aktiver Mitarbeiter des Regionalverbandes,<br />

seine Pro-life-Haltung<br />

auch als Geistlicher offen und eindeutig<br />

bekundet, oder jedes Mal, wenn klar<br />

gesagt wird, dass Abtreibung keine Lösung<br />

ist, dass sie Kinder tötet und Frauen<br />

» ... Wirbelsäule und dann war<br />

alles weg, die Gebärmutter leer«<br />

schadet, dass »pro familia« in Deutschland<br />

arbeitet wie Planned Parenthood<br />

in den USA, ist der Applaus verhaltener.<br />

Viele sind, so der Eindruck, nach den<br />

letzten medialen Kampagnen vor allem<br />

der »Süddeutschen Zeitung« wohl überrascht<br />

darüber, dass man sein Bekenntnis<br />

gegen Abtreibung frei und positiv äußern<br />

kann, dass all diese Leute überhaupt<br />

nicht fanatisch, extremistisch, radikal sind,<br />

sondern schlicht Menschenrechtler. Die<br />

allgemeine Zustimmung zu den berichteten<br />

Fakten und Zahlen, zu den Erfahrungen<br />

von Abby Johnson und aus dem<br />

Publikum und dem dennoch nicht diffamierenden<br />

Umgang mit dem Gegner ist<br />

B U C H T I P P<br />

Voll besetzt: Das Kaminwerk in Memmingen<br />

an seiner Seite ansetzte: »… die nächste<br />

Bewegung war die plötzliche Bewegung<br />

eines feinen Füßchens, als das Baby<br />

anfing zu treten (…). Als die Kanüle<br />

hineingepresst wurde, begann das Baby<br />

zu kämpfen, es drehte und wand sich<br />

heftig.« Abby Johnson starrte auf diesen<br />

Bildschirm: »Das Letzte, was ich sah, war<br />

die feine, perfekt geformte Wirbelsäule,<br />

wie sie in die Kanüle gesaugt wurde,<br />

»Das Letzte, was ich sah, war die<br />

feine, perfekt geformte ...«<br />

und dann war alles weg. Die Gebärmutter<br />

war leer.« (Aus dem Buch »Lebenslinie<br />

<strong>–</strong> Warum ich keine Abtreibungsklinik<br />

mehr leite«) Als sie das erzählt, legt sich<br />

einen Augenblick lang eine schockierte<br />

Stille über das Publikum. Ein Mädchen<br />

tut das, was wohl auch Erwachsene gern<br />

tun würden: Sie beginnt zu weinen.<br />

28<br />

Abby Johnson: Lebenslinie. Warum ich<br />

keine Abtreibungsklinik mehr leite.<br />

Sankt-Ulrich-Verlag, Augsburg 2012.<br />

272 Seiten. Gebunden. 19,95 EUR.<br />

immer präsent und spürbar. Irritiert sind<br />

manche Zuhörer auch, wenn Abby Johnson,<br />

die nach vielen Zwischenstationen<br />

inzwischen katholisch ist, offen über ihren<br />

Glauben spricht, über Beichte oder<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


Gott, so zum Beispiel, als sie auf die Frage,<br />

wie sie mit ihrer Verantwortung für<br />

diese 20.000 und ihre eigenen beiden Abtreibungen<br />

umgeht, antwortet, dass sie<br />

oft zur Beichte gehe und ihr das unglaublich<br />

helfe. Die Bedeutung dieser Veranstaltung<br />

ist daher auch in diesem Sinne<br />

nicht zu unterschätzen: Hier konnte man<br />

aufrechte Lebensrechtler ebenso kennenlernen<br />

wie aufrechte Christen, ohne die<br />

bewusst negativ gesteuerten Beigeschmäcker,<br />

sondern mit der Möglichkeit, sich<br />

selbst ein Bild zu machen.<br />

Die Menschen haben viele Fragen,<br />

manchmal macht es den Eindruck, als<br />

hätten ein paar Besucher seit Jahren darauf<br />

gewartet, eine solche Frage endlich<br />

offen und in der Öffentlichkeit stellen<br />

zu können. Es geht um die Lage in den<br />

USA, die unverständliche Haltung von<br />

»In den USA ein großes Thema:<br />

Das Post-Abortion-Syndrom«<br />

Regierungen, das sich ändernde Verhältnis<br />

von pro-life zu pro-choice (inzwischen<br />

neigt sich die Waagschale in den USA zu<br />

pro-life). Auch Missverständnisse werden<br />

bereinigt, so das Gerücht, dass man<br />

in den USA Schwangeren absichtlich zu<br />

geringe Dosen der Abtreibungspille gebe,<br />

damit man chirurgisch nachbessern<br />

und dadurch mehr Geld verdienen könne.<br />

Oder zum Post Abortion Syndrome,<br />

das, in Deutschland geleugnet und tabuisiert,<br />

in den USA inzwischen ein großes<br />

Thema ist.<br />

In ihrer abschließenden Dankrede weist<br />

die <strong>ALfA</strong>-Bundesvorsitzende Dr. Claudia<br />

Kaminski nachdrücklich darauf hin,<br />

dass der Bogen der menschlichen Gefährdung<br />

gerade aktuell zum Ende des<br />

Lebens hin reicht: durch die Bestrebungen,<br />

den assistierten Suizid zu legalisieren.<br />

Es gibt noch einen musikalischen<br />

Überraschungsgast, Peter Eilichmann,<br />

der sein Lied »Zarter Keim« vorträgt,<br />

das er auch auf dem letzten »Marsch für<br />

das Leben« in Berlin gesungen hat. Eine<br />

gute Gelegenheit, so Kaminski, darauf<br />

hinzuweisen, was man alles tun könne,<br />

um für das Lebensrecht aller Menschen<br />

selbst tätig zu werden: Sie lädt die<br />

Besucher ein, am 19. September <strong>2015</strong><br />

zum »Marsch für das Leben« nach Berlin<br />

zu kommen oder, nach dem Motto »Geh<br />

Du für mich«, einem anderen diese Reise<br />

zu ermöglichen, wenn man selbst nicht<br />

teilnehmen kann.<br />

Nach dem offiziellen Ende der von<br />

Michael Seber mit Marimbaklängen passend<br />

umrahmten Veranstaltung gibt es<br />

viele Diskussionen und Gespräche zwischen<br />

den Zuhörern sowie weitere Fragen,<br />

die Abby Johnson mit Hilfe ihrer<br />

souveränen Dolmetscherin Cornelia Kaminski,<br />

Mitglied des <strong>ALfA</strong>-Bundesvorstandes,<br />

geduldig beantwortet. Frauen im<br />

Schwangerschaftskonflikt, so Abby Johnsons<br />

Fazit nach vielen Jahren Arbeit und<br />

»Erfahrungen auf beiden<br />

Seiten des Zauns gesammelt«<br />

Erfahrung auf beiden Seiten des Zauns,<br />

verdienen einfach etwas Besseres als<br />

Planned Parenthood und das deutsche<br />

Pendant »pro familia«.<br />

I M P O R T R A I T<br />

Alexandra Maria Linder M. A.<br />

Die Autorin, Jahrgang 1966, hat Romanistik<br />

und Ägyptologie studiert und sich<br />

als Übersetzerin und Lektorin selbständig<br />

gemacht. Die<br />

1. Stellvertretende<br />

Bundesvorsitzende<br />

der <strong>ALfA</strong> e. V. hat<br />

2009 das Sachbuch<br />

»Geschäft<br />

Abtreibung« veröffentlicht,<br />

das auch das Impfthema behandelt.<br />

Sie lebt mit ihrem Ehemann und<br />

drei Kindern im Sauerland.<br />

A N Z E I G E<br />

Marsch für das Leben · 19.09.<strong>2015</strong> · Berlin<br />

Gemeinsam für das Leben. Immer.<br />

<strong>2015</strong><br />

Marsch<br />

für das Leben<br />

Berlin · 19.09.<strong>2015</strong><br />

Jeder Mensch ist gleich wertvoll<br />

• Aufstehen für das unbedingte Lebensrecht<br />

aller ungeborenen, kranken,<br />

alten oder beeinträchtigten Menschen.<br />

• Einfordern wirkungsvoller Hilfen in<br />

Notlagen statt Selektion und Tötung.<br />

• Gedenken an die Opfer, Stimme sein<br />

für die Betroffenen und Angehörigen.<br />

• Einsetzen für eine inklusive und<br />

nächstenliebende Gesellschaft.<br />

Gemeinsam für das Leben <strong>–</strong> für ein<br />

Europa ohne Abtreibung und Euthanasie!<br />

Samstag, 19. September, 13 Uhr vor<br />

dem Bundeskanzleramt: Kundgebung<br />

und Schweigemarsch durch Berlin-<br />

Mitte. Abschluss mit Ökumenischem<br />

Gottesdienst. Ende gegen 17 Uhr.<br />

Teilnehmer-Informationen, Sonderbusse<br />

und die Berliner Erklärung<br />

finden Sie immer aktuell unter:<br />

www.marsch-fuer-das-leben.de<br />

Bitte helfen Sie mit <strong>–</strong> jeden Tag und<br />

am 19.09. in Berlin. Sind Sie dabei?<br />

Photo: Erna Vader<br />

Bundesverband Lebensrecht e. V.<br />

Fehrbelliner Straße 99 · 10119 Berlin<br />

Telefon (030) 644 940 39<br />

berlin@bv-lebensrecht.de<br />

Jeder Mensch ist gleich wertvoll<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 29<br />

Gemeinsam für das Leben <strong>–</strong><br />

für Hilfe statt Unrecht, Inklusion statt Ausmerzung,<br />

Solidarität und Nächstenliebe statt Beihilfe zum Suizid.<br />

Ein Europa ohne die Tötung von Menschen ist möglich.<br />

Samstag, 19. September <strong>2015</strong><br />

13.00 Uhr vor dem Bundeskanzleramt


B Ü C H E R F O R U M<br />

Schattenkind!« Wer ist gemeint?<br />

Etwa amerikanische Straßenkinder,<br />

Flüchtlinge? Nein, Lichtmangel<br />

trifft jene Menschenkinder aller Altersgruppen,<br />

die sich<br />

auf gesellschaftlicher<br />

Schattenseite<br />

sehen, die sich in ihrem<br />

Recht auf Leben<br />

und den Respekt<br />

vor ihrer Menschenwürde<br />

»übergangen« fühlen und an ihrer<br />

Isolation leiden, so die Psychotherapeutin<br />

Pokropp-Hippen. Das kann im Kreis<br />

der Familie geschehen, die ihrem besonders<br />

talentierten Kind oder einem solchen<br />

mit Behinderung buchstäblich<br />

ungeteilte Zuwendung<br />

widmet, dabei<br />

dessen Geschwister zunehmend<br />

vernachlässigt,<br />

selbst momentanes Aufbegehren<br />

übersieht. Deren<br />

Autonomieentwicklung<br />

kann in den jeweils<br />

entscheidenden Lebensphasen<br />

scheitern, stattdessen<br />

entstehen diverse<br />

Abhängigkeiten. Fazit:<br />

»Die Rolle der Familie«<br />

ist »beim Aufbau<br />

der Kultur des Lebens<br />

entscheidend und unersetzlich«.<br />

Nur über verstehende<br />

Zuwendung fällt Sonne in biografische<br />

Entwicklung.<br />

Die Autorin widmet ihr Buch den<br />

nach einer Abtreibung leidenden Frauen<br />

und jenen Helfern, »welche sich für<br />

die Wahrnehmung und Heilung solcher<br />

Wunden einsetzen«. Auf solchem <strong>–</strong> unterschiedlich<br />

langen <strong>–</strong> Weg des Miteinander<br />

wird das aus dem Leben getriebene<br />

»Schattenkind« <strong>–</strong> gelegentlich noch<br />

immer als »Fleischklumpen« missachtet<br />

<strong>–</strong> zum ansprechbaren Du, das einen Namen<br />

und einen Gedächtnisort erhält. In<br />

verschiedenen (auch im Internet zugänglichen)<br />

Fallberichten erfährt man vom<br />

nicht selten sprachlosen und daher über<br />

Jahre unwirksam behandelten Symptomenkomplex<br />

multipler körperlicher, psychischer<br />

und emotionaler Leiden, reaktiver<br />

Angstsyndrome. In moderner Psychotherapie<br />

lassen sich solche Störungen<br />

als posttraumatisches Belastungssyndrom<br />

deuten und ätiologisch auch auf das Drama<br />

einer Abtreibung zurückführen. Es<br />

handelt sich um das jahrelang verkannte<br />

Post-Abortion-Syndrom, von dem auch<br />

Kindesväter betroffen sind.<br />

Der diagnostische Weg wie anschließende<br />

Therapie verlangen Geduld und<br />

30<br />

Wege zum<br />

Schattenkind<br />

ärztliche Ermutigung. Über Sprachlosigkeit<br />

(aus Scham, Erstarren im Nicht-wahrhaben-Wollen)<br />

kann der optische Weg einer<br />

Bildgebung hinweghelfen: Betroffene<br />

sehen sich in einem<br />

Käfig, hinter<br />

Gittern, umgeben<br />

von Blutflecken im<br />

Haus und ähnlicher<br />

Symbolik von Verhaftung<br />

in Schuld.<br />

Eine Form von Aufarbeitung! Die Autorin<br />

veröffentlicht empfindsam eindringliche<br />

Gedichte zu der gewaltsamen Trennung<br />

vom eigenen Kind und dem demografischen<br />

Wandel in »leeren Städten«.<br />

Darf Selbst-Bestimmung<br />

über das Weiterleben des<br />

Nächsten, des eigenen<br />

Kindes im Mutterschoß<br />

entscheiden? Naturrechtlich<br />

und juristisch ist Abtreibung<br />

gesetzwidrig.<br />

Schuldzuweisung aber ist<br />

nicht das Ziel von Heilung<br />

zum Heil. Es geht<br />

um Aufarbeitung und Suche<br />

nach dem neuen Weg.<br />

Als überzeugte katholische<br />

Christin bringt die<br />

Ärztin theologische Aspekte<br />

ein, unter anderem<br />

den Gedanken der<br />

Verletzung der Gottesbeziehung.<br />

Doch: »Es ist nichts verloren«,<br />

sagt Papst Johannes Paul II. im Evangelium<br />

vitae (1995). Wie jetzt kommunizieren<br />

mit Gott? Das vorliegende Buch enthält<br />

Anregungen zur Eucharistiefeier, für<br />

ökumenische Gottesdienste im Sinne des<br />

Dankes für jedes Menschenleben von dessen<br />

Zeugung bis zum natürlichen Ende;<br />

es gibt kompetente Adressen an und Orte<br />

für angestrebte Trauerarbeit und Aufarbeitung<br />

in Seminaren und Gesprächskreisen,<br />

etwa während eines Klosteraufenthalts.<br />

Man wählt die Öffnung zur Annahme<br />

des Geschehenen im Zeichen von<br />

Reue und sakramentaler Versöhnung.<br />

Im Engagement für Mitbetroffene und<br />

rückwirkend durch deren Mithilfe lassen<br />

sich neue Lebensperspektiven finden.<br />

Hoffnung keimt: »Aufgeklärt« stehen<br />

die Schattenkinder jetzt im Licht der<br />

Anerkennung, sprechen als Du. Sie werden<br />

zu vertrauten Begleitern des weiteren<br />

Lebensweges.<br />

Dr. Maria Overdick-Gulden<br />

Angelika Pokropp-Hippen, Wege zum Schattenkind.<br />

fe-Medienverlag, Kisslegg 2014. 312 Seiten. Illustriert.<br />

12,00 EUR.<br />

Im Schaufenster<br />

Leben dürfen <strong>–</strong><br />

Leben müssen<br />

Mit diesem Buch<br />

mischt sich niemand<br />

Geringeres<br />

als der Ratsvorsitzende<br />

der Evangelischen<br />

Kirchen in<br />

Deutschland, Bischof<br />

Heinrich Bedford-Strohm,<br />

in die<br />

aktuelle Debatte um Sterbehilfe und Suizidbegleitung<br />

ein. Wer meint, dass Protestanten<br />

in Fragen des Lebensschutzes indifferent<br />

oder gar liberal sein müssten, der wird hier<br />

eines Besseren belehrt. Denn in ihm verwirft<br />

der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen<br />

Kirche in Bayern gut begründet sämtliche<br />

Formen der aktiven Sterbehilfe sowie<br />

der Beihilfe zum Suizid. Eingehend setzt er<br />

sich in diesem Buch mit den hinter ihnen stehenden<br />

weltanschaulichen Konzepten (utilitaristischer<br />

Ansatz, Ansatz individueller Autonomie)<br />

auseinander und entfaltet darin den<br />

eigenen Ansatz eines verantwortlichen Lebensschutzes,<br />

den er ihnen gegenüberstellt.<br />

Bei all dem zeigt er eine ausgeprägte Empathie<br />

für Menschen, die an ihrem Schicksal<br />

verzweifeln. Eine ausführliche Rezension<br />

folgt.<br />

Fazit: Empfehlenswert.<br />

reh<br />

Heinrich Bedford-Strohm: Leben dürfen <strong>–</strong> Leben<br />

müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe.<br />

Kösel-Verlag, München <strong>2015</strong>. 176 Seiten. 17,99 EUR.<br />

Glücklich<br />

sterben?<br />

Es ist so traurig wie<br />

grotesk. Der an Parkinson<br />

erkrankte,<br />

katholische Theologe<br />

Hans Küng, dem<br />

das Lehramt der Katholischen<br />

Kirche<br />

bereits vor langer<br />

Zeit die Lehrerlaubnis entzog, nutzt sein womöglich<br />

letztes Buch für ein erneutes Plädoyer<br />

für den ärztlich assistierten Suizid. Dass<br />

Küng (Jahrgang 1928) den ärztlich assistierten<br />

Suizid für sich selbst als eine Option betrachtet,<br />

mag man bedauern, muss man aber<br />

letztlich akzeptieren. Nicht akzeptieren lässt<br />

sich jedoch, dass er seine private Meinung<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


wahrheitswidrig als mit dem christlichen<br />

Glauben vereinbar ausgibt und obendrein<br />

auch noch an Demenz erkrankten Personen<br />

das volle Menschsein abspricht.<br />

Fazit: Auch wenn Bäume nicht glücklich sein<br />

können: Für dieses Buch hätte kein einziger<br />

sterben müssen.<br />

reh<br />

Hans Küng: Glücklich sterben? Ein Gespräch mit<br />

Anne Will. Verlag Piper, München 2014. Gebunden.<br />

160 Seiten. 16,99 EUR.<br />

Posthumanismus<br />

Alles Menschenverachtende<br />

ist zuvor<br />

einmal gedacht worden.<br />

Insofern ist dieses<br />

Buch auch nichts<br />

für schwache Nerven.<br />

Denn in ihm<br />

entwirft Rosi Braidotti,<br />

Professorin für<br />

Philosophie an der Universität Utrecht, Gründungsdirektorin<br />

des Centre for the Humanities<br />

und Gründungsprofessorin für den dortigen<br />

Studiengang Gender Studies in the Humanities,<br />

nicht weniger als die Theorie einer<br />

Gesellschaft, in der Menschen, wie wir<br />

sie kennen, nicht mehr vorkommen. Immerhin<br />

ist Braidotti ehrlich: »Legen wir die Karten<br />

gleich auf den Tisch: Ich habe für den Humanismus<br />

oder die darin enthaltene Idee des<br />

Menschlichen nicht viel übrig«, schreibt die<br />

Italo-Australierin gleich zu Beginn. Eine Menge<br />

hat die Posthumanistin dagegen für genetische<br />

Basteleien und die Verschmelzung<br />

von Maschinen mit Exemplaren der einstigen<br />

Spezies homo sapiens übrig, die den Humanismus<br />

hinter sich gelassen haben. In Braidottis<br />

schöner neuen Welt gibt es natürlich<br />

auch keine Männer und Frauen mehr. Ziel der<br />

restlos kulturell erformten Gesellschaftsordnung<br />

ist das »nomadisierende Subjekt«. Ein<br />

»Ich« ohne Kern, das gegen Aufklärung und<br />

Religion gleichermaßen mobil macht und einem<br />

»vitalistischen Materialismus« huldigt.<br />

Alles Seiende, lesen wir, sei Teil einer sich<br />

selbst organisierenden, intelligenten Materie.<br />

Ähh, ja. Man kommt sich vor wie Anakin<br />

Skywalker, dem der Jedi-Meister Qui-<br />

Gon Jinn in dem George-Lukas-Streifen Stars<br />

Wars/Episode 1 einen Vortrag über die Midi-<br />

Clorianer hält.<br />

Fazit: Für Humanisten mit Nerven wie Drahtseile.<br />

Und: Möge die Macht mit ihnen sein.<br />

reh<br />

Rosi Braidotti: Posthumanismus <strong>–</strong> Leben jenseits<br />

des Menschen. Aus dem Englischen von Thomas<br />

Langstien. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014.<br />

215 Seiten. 24,90 EUR.<br />

Ethik des<br />

Alterns<br />

Altern, so könnte man meinen, sei<br />

überhaupt keine ethische Frage,<br />

sondern beschreibe lediglich<br />

den natürlichen Lauf der Dinge. Und<br />

doch: Wenn nicht nur der<br />

Einzelne älter wird, sondern<br />

eine ganze Gesellschaft<br />

massiv altert, stellen<br />

sich auch ethische Fragen,<br />

die eine Gesellschaft<br />

längst beantwortet zu haben<br />

scheint, auf einmal völlig neu. Zum<br />

Beispiel die: Wie geht eine Gesellschaft<br />

damit um, dass die Zahl der Menschen,<br />

die Pflege bedürfen, rapide zunimmt? Wie<br />

lassen sich Ressourcen gerecht verteilen,<br />

wenn die Zahl der<br />

Leistungsempfänger<br />

wächst, während die<br />

der Leistungserbringer<br />

schrumpft? Wie<br />

sichert man Humanität<br />

in den Beziehungen<br />

zwischen den Generationen?<br />

Fragen wie diesen<br />

und weiteren gehen<br />

in dem vorliegenden<br />

Band der Joseph-<br />

Höffner-Gesellschaft<br />

Jörg Althammer, Professor<br />

für Wirtschaftsund<br />

Unternehmensethik<br />

an der Katholischen<br />

Universität<br />

Eichstätt, Andreas<br />

Kruse, Direktor des<br />

Instituts für Gerontologie<br />

der Universität<br />

Heidelberg, und Giovanni Maio, Direktor<br />

des Instituts für Ethik und Geschichte der<br />

Medizin der Universität Freiburg, nach.<br />

Obgleich alle drei Beiträge der Lektüre<br />

wert sind, ist der Beitrag des Arztes und<br />

Philosophen Giovanni Maio für Lebensrechtler<br />

von ganz besonderem Interesse.<br />

Ausgehend von der laufenden Debatte<br />

um die rechtliche Neuregelung der Beihilfe<br />

zum Suizid entfaltet Maio darin nicht<br />

weniger als eine neue »Kultur der Sorge<br />

am Endes des Lebens«. Dabei zeigt<br />

sich der Autor zunächst erstaunt über die<br />

mangelnde Bestürzung angesichts von<br />

Medienberichten über die Suizide Prominenter<br />

und fragt: »Wie kann es sein,<br />

dass uns nicht mehr die Erschütterung<br />

überkommt, wenn wir hören, dass ein<br />

Mensch, der eigentlich noch hätte weiterleben<br />

können, zu der Auffassung kam,<br />

das Nicht-Sein sei der Weiterexistenz in<br />

unserer Gesellschaft vorzuziehen?« Eine<br />

Gesellschaft, die den Suizid nicht mit Bestürzung<br />

auffasse, sondern »als eine nachvollziehbare<br />

Tat deklariert«, laufe Gefahr,<br />

»auch andere Menschen in den Tod zu<br />

schicken, weil auf diese Weise signalisiert<br />

wird, dass unsere Gesellschaft den Suizid<br />

nachvollziehen könne, dass<br />

man ihn gar für vernünftig<br />

halte«. Maio hält eine<br />

solche Gesellschaft geradezu<br />

für »gefährlich«, da<br />

sie »viele Menschen, die<br />

mit sich hadern und daran<br />

zweifeln, ob ihr Leben noch wertvoll<br />

ist«, mit ziemlicher Sicherheit »in die<br />

Verzweiflung treiben« werde.<br />

Der Philosoph klopft Begriffe wie »Autonomie«,<br />

»leidloses Leben« und »Unabhängigkeit«<br />

auf ihren<br />

wahren Gehalt ab<br />

und kommt zu dem<br />

Ergebnis, die Angewiesenheit<br />

auf andere<br />

sei »eine Grundsignatur«<br />

der menschlichen<br />

Existenz. »Die moderne<br />

Tendenz, Angewiesenheit<br />

auf die<br />

Hilfe Dritter als Ende<br />

der Autonomie zu<br />

deuten«, könne daher<br />

nur »als Ausdruck eines<br />

Verdrängens der<br />

conditio humana« betrachtet<br />

werden, hinter<br />

dem nichts anderes<br />

stecke als die<br />

Angst vor »Entmächtigung«,<br />

»Kontrollverlust«<br />

und »Loslassen«<br />

zu müssen. Maio:<br />

»Unsere Gesellschaft möchte diese<br />

Angst nicht wahrhaben und deutet sie um<br />

in ein Pathos der Freiheit.« Dabei übersehe<br />

sie, dass »echte Freiheit« darin bestehe,<br />

»die Wesensmerkmale des Menschenseins<br />

zunächst anzunehmen und zu<br />

realisieren, dass man auch angesichts der<br />

eigenen Hinfälligkeit man selbst bleiben<br />

kann, indem man lernt, wie loszulassen<br />

von der Fiktion eines durchgängig selbstbestimmten<br />

Lebens.« Es lohnt, sich mit<br />

der »Kultur der Sorge am Ende des Lebens«<br />

auseinanderzusetzen, die Maio im<br />

Anschluss daran als Gegenmodell entwirft.<br />

Stefan Rehder<br />

Andreas Kruse/Giovanni Maio/Jörg Althammer:<br />

Humanität einer alternden Gesellschaft.<br />

Veröffentlichungen der Joseph-Höffner-Gesellschaft.<br />

Band 3. Schöningh-Verlag, Paderborn 2014. 104 Seiten.<br />

14,90 EUR.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 31


K U R Z V O R S C H L U S S<br />

Expressis verbis<br />

»Bezahlte Leihmutterschaft ist Schwangerschaftsprostitution.«<br />

Dr. Ruth Baumann-Hölzle, Ethikerin und Leiterin<br />

des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen<br />

der Stiftung Dialog Ethik in Zürich,<br />

im Interview mit der »Hessischen Niedersächsischen<br />

Allgemeinen«<br />

»<br />

Eine Mutter-Kind-Beziehung ist nicht käuflich.«<br />

Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther zum<br />

selben Thema<br />

»<br />

In Hospizen und Palliativstationen wird tagtäglich<br />

organisiert Sterbehilfe geleistet.«<br />

Auszug aus der Stellungnahme von 108 deutschen<br />

Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrern<br />

zur geplanten Ausweitung der Strafbarkeit<br />

der Suizidhilfe<br />

»<br />

Wir stehen für Sterbebegleitung, nicht für<br />

Sterbehilfe. Und diese hospizliche und palliative<br />

Begleitung und Versorgung, das heißt<br />

die größtmögliche Freiheit von Schmerzen<br />

und anderen belastenden Symptomen sowie<br />

die Zuwendung, führt in der Praxis dazu,<br />

dass zunächst geäußerte Wünsche<br />

nach vorzeitiger Lebensbeendigung von<br />

den Betroffenen zurückgenommen werden.«<br />

Matthias Kopp, Sprecher<br />

der Deutschen Bischofskonferenz,<br />

hat die künstliche<br />

Befruchtung und die damit<br />

oft verbundene sogenannte Mehrlingsreduktion<br />

<strong>–</strong> die Tötung ungeborener<br />

Kinder durch Fetozid<br />

<strong>–</strong> kritisiert. Dem<br />

Nachrichtenmagazin<br />

»Focus« sagte Kopp,<br />

ethisch betrachtet<br />

sei der Fetozid eine<br />

»vorsätzliche selektive<br />

Abtreibung«.<br />

Es handele sich um<br />

die »Vernichtung<br />

von menschlichem<br />

Tops & Flops<br />

Matthias Kopp<br />

Leben in der Anfangsphase seines Daseins«.<br />

Dies könne in keiner Weise akzeptiert<br />

werden. Kopp: »Die Katholische<br />

Kirche lehnt deshalb auch die künstliche<br />

Befruchtung grundsätzlich ab.« Beim Fetozid<br />

dringt der Arzt unter Ultraschallansicht<br />

mit einer Nadel durch die Bauchdecke<br />

der Schwangeren und sucht in der<br />

Bauchhöhle nach dem Herz des Kindes,<br />

das getötet werden soll. In der Regel injiziert<br />

er diesem eine Kalium-Chlorid-Lösung,<br />

die eine koordinierte Kontraktion<br />

des Herzmuskels unmöglich macht. reh<br />

»Was denkst du, wer du bist?<br />

Was lässt dich glauben, dass<br />

du das Recht hast, Gammys<br />

Spenden zu nehmen?« Laut<br />

einem Bericht der Tageszeitung »Die<br />

Welt« würde dies die thailändische Leihmutter<br />

Pattaramon<br />

Canbuba den Australier<br />

David Farnell<br />

gerne fragen.<br />

Der verurteilte Sexualstraftäter<br />

hatte<br />

für Schlagzeilen<br />

gesorgt, nachdem<br />

er den behinderten<br />

Jungen Gammy bei<br />

Canbuba gelassen<br />

David Farnell<br />

und nur dessen gesunde Zwillingsschwester<br />

mit nach Australien genommen hatte.<br />

Nachdem der Vorfall im vergangenen<br />

Jahr weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte,<br />

hatten Menschen überall in der Welt<br />

rund 235.000 Dollar der Stiftung »Hand<br />

across the water« gespendet, welche es<br />

sich zur Aufgabe gemacht hat, die medizinische<br />

Versorgung Gammys sicherzustellen.<br />

Laut Peter Baines, dem Gründer<br />

der Stiftung, soll Farnell nun versucht<br />

haben, an dieses Geld heranzukommen.<br />

reh<br />

hmm ... ich bin zwar schon 72 - aber<br />

zwillinge gehen bestimmt noch ...<br />

Der Palliativmediziner und Vorsitzende des<br />

Deutschen Hospiz- und Palliativ Verbandes (DH-<br />

PV) Winfried Hardinghaus in einer Pressemitteilung<br />

zum selben Thema<br />

»<br />

Es zeigt sich, dass für die Aufrechterhaltung<br />

der Funktionseinheit des komplexen Organismus<br />

nicht ein Funktionskreis oder ein Organ<br />

exzeptionell ist. Zwar kommt dem Gehirn<br />

für den Ausdruck von Personalität und<br />

Bewusstsein eine herausragende Bedeutung<br />

zu <strong>–</strong> dies ist auch für Kritiker des Hirntodkriteriums<br />

unbestreitbar <strong>–</strong>, doch gilt dies<br />

nicht für die Integration des Organismus als<br />

eines Ganzen.«<br />

Auszug aus dem Votum einer Minderheit des<br />

Deutschen Ethikrats in der Stellungnahme »Hirntod<br />

und Entscheidung zur Organspende«<br />

32<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


Aus der Bibliothek<br />

Reinhold Schneider: Über den Selbstmord (1947)<br />

»Der Selbstmord scheint eine Handlung<br />

letzter persönlicher Freiheit zu sein,<br />

die dem Menschen nicht genommen werden<br />

kann. Er verfügt über sein Leben;<br />

er gibt, wie ein Jüngling in einem Roman<br />

Dostojewskis einmal<br />

sagt, ›seine Eintrittskarte<br />

zurück‹. Aber schon<br />

die Eintrittskarte lässt<br />

uns stocken. Hat sie der<br />

Mensch denn bezahlt?<br />

Und von wem hat er sie<br />

empfangen? Ist das Leben<br />

eine Veranstaltung,<br />

die zu unserem Vergnügen<br />

unternommen wurde<br />

und die wir verlassen<br />

können, wenn es uns beliebt?<br />

(...) Sind wir so<br />

ganz ohne Beziehung zu<br />

den Teilnehmern, dass<br />

wir sie verlassen können,<br />

wenn das Spiel uns langweilt<br />

oder wir es nicht<br />

mehr ertragen?<br />

Alle Fragen des Daseins werden vom<br />

Selbstmord aufgeworfen. Es ist ein ungeheurer<br />

Vorgang, wenn ein Mensch Hand<br />

an sich legt, wenn er die Welt gleichsam<br />

aufhebt für sich. Es ist das entsetzlichste<br />

Nein, das gesprochen, getan werden<br />

»Die Welt. Die von morgen« (26)<br />

kann, eine Empörung gewissermaßen gegen<br />

die Ursprünge selbst, gegen Vater und<br />

Mutter und die Vorfahren überhaupt, gegen<br />

einen jeden Lobpreis des Lebens, eine<br />

jede Sorge und Fürsorge, gegen alles,<br />

was besteht und was der<br />

Mensch bisher getan. Eine<br />

schrillere Dissonanz<br />

ist nicht denkbar: dem<br />

Orte, wo ein Selbstmord<br />

geschah, haftet das Odium<br />

des Furchtbar-Unheimlichen<br />

an, das Gefühl,<br />

dass hier geschehen<br />

ist, was niemals hätte<br />

geschehen dürfen. Welcher<br />

Art auch der Glaube<br />

oder Unglaube, die<br />

Überzeugung der Menschen<br />

sein mögen, sie<br />

werden die Scheu vor<br />

der Tat und dem Orte<br />

schwerlich verlieren.«<br />

Reinhold Schneider: Über den<br />

Selbstmord (1947). Aufgenommen in: Andreas Krause<br />

Landt: Wir sollen sterben wollen. Warum die Mitwirkung<br />

am Suizid verboten werden muss. Edition Sonderwege<br />

bei Manuscriptum Verlagsbuchhandlung Thomas<br />

Hoof KG, Leipzig 2013. Klappbroschur. 200 Seiten.<br />

14,80 EUR.<br />

In der »Welt von morgen« werden<br />

Menschen nicht mehr geboren, sondern<br />

im Labor erzeugt. Sie reifen in künstlichen<br />

Gebärmuttern heran, die von 3D-<br />

Druckern erstellt wurden. Kinder bekommen<br />

kann nur, wer frühzeitig seine<br />

Ei- und Samenzellen einfrieren ließ und<br />

sich verpflichtete, diese in staatlichen<br />

Einrichtungen erziehen zu lassen. Erforderlich<br />

für die staatliche Erlaubnis,<br />

sich fortzupflanzen, ist außerdem der<br />

Nachweis, dass die Eltern einer Beschäftigung<br />

nachgehen, die es ermöglicht,<br />

die Unterhaltskosten für sich und das<br />

Kind zu tragen. Dafür übernimmt der<br />

Staat die Kosten künstlicher Befruchtungen.<br />

Vor der Befruchtung werden<br />

die elterlichen Gameten von Reproduktionsmedizinern<br />

stets auf den neuesten<br />

Stand der Technik gebracht, um<br />

»Krankheitsgene« zu eliminieren und<br />

die Ressourcen des Gesundheitswesens<br />

zu schonen. Wer für seinen Nachwuchs<br />

Sonderausstattungen, wie »Das absolute<br />

Gehör«, »Schneller Kopfrechnen«,<br />

»Natürliche Bräune«, »Vornehme Blässe«<br />

oder »Das Sport-As <strong>–</strong> die Ausdauer-Erweiterung«,<br />

wünscht, muss entweder<br />

zuzahlen oder eine private Zusatzversicherung<br />

abschließen. Besonders<br />

gut verdienen in der »Welt von morgen«<br />

neben den Reproduktionsmedizinern<br />

vor allem Juristen, die sich als<br />

»Fachanwalt für Gametenrecht« niedergelassen<br />

und sich auf die »Kindals-Schaden-Rechtsprechung«<br />

spezialisiert<br />

haben.<br />

Stefan Rehder<br />

K U R Z & B Ü N D I G<br />

IVF: Kündigungsschutz<br />

greift mit Embryotransfer<br />

Erfurt (<strong>ALfA</strong>). Bei einer Schwangerschaft<br />

nach künstlicher Befruchtung beginnt der<br />

Kündigungsschutz der beschäftigten Frau mit<br />

der Einsetzung der befruchteten Eizelle und<br />

nicht erst mit der erfolgreichen Nidation.<br />

Das entschied der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts<br />

(Az.: 2 AZR 237/14). Geklagt<br />

hatte eine Arbeitnehmerin, die in der Versicherungsbranche<br />

beschäftigt war. Mitte<br />

Januar 2013 habe sie ihrem Arbeitgeber mitgeteilt,<br />

dass sie seit mehreren<br />

Jahren einen bisher<br />

unerfüllten Kinderwunsch<br />

hege und ein erneuter<br />

Künstliche<br />

Befruchtung<br />

Versuch einer künstlichen<br />

Befruchtung anstehe. Der<br />

Embryonentransfer erfolgte<br />

am 24. Januar 2013. Am<br />

31. Januar 2013 sprach der<br />

Arbeitgeber eine ordentliche<br />

Kündigung aus und besetzte die Stelle<br />

mit einer anderen Arbeitnehmerin. Darauf<br />

zog die Mutter vor Gericht. Am 7. Februar<br />

2013 sei bei der Klägerin eine Schwangerschaft<br />

festgestellt worden, worüber sie den<br />

Beklagten am 13. Februar 2013 informiert<br />

habe. Wie die Richter entschieden, ist die<br />

Kündigung unwirksam. Die Klägerin habe<br />

bei ihrem Zugang wegen des zuvor erfolgten<br />

Embryonentransfers den besonderen Kündigungsschutz<br />

des Paragrafen 9 Abs. 1 Satz<br />

1 Mutterschutzgesetz genossen. Die Kündigung<br />

verstoße zudem gegen das Benachteiligungsverbot<br />

des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.<br />

Der Europäische Gerichtshof<br />

hatte mit Urteil vom 26. Februar 2008 (Az.:<br />

C-506/06) entschieden, es könne eine<br />

unmittelbare Diskriminierung wegen des<br />

Geschlechts vorliegen, wenn eine Kündigung<br />

hauptsächlich aus dem Grund ausgesprochen<br />

werde, dass die Arbeitnehmerin sich<br />

einer Behandlung zur In-vitro-Fertilisation<br />

unterzogen habe.<br />

reh<br />

Hebammen arbeiten<br />

überwiegend in Teilzeit<br />

Wiesbaden (<strong>ALfA</strong>). Im Jahr 2013 leisteten<br />

insgesamt 10.691 Hebammen und Entbindungspfleger<br />

Geburtshilfe in deutschen Krankenhäusern,<br />

davon 8.709 festangestellte<br />

Kräfte (8.703 Hebammen und sechs Entbindungspfleger)<br />

sowie 1.982 Belegkräfte. Dies<br />

teilt das Statistische Bundesamt (Destatis)<br />

anlässlich des Internationalen Hebammentages<br />

(5. Mai) mit. Annähernd drei Viertel (72,2<br />

Prozent) der festangestellten Hebammen<br />

und Entbindungspfleger waren teilzeit- oder<br />

geringfügig beschäftigt.<br />

reh<br />

JUAN GÄRTNER/FOTOLIA.COM<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 33


L E S E R F O R U M<br />

Naiv<br />

In welcher Welt leben Sie eigentlich?<br />

Auch bis zu Ihnen müsste sich herumgesprochen<br />

haben, dass in Demokratien<br />

Politik nur durch Kompromisse zustande<br />

kommt. Was sollen Politiker denn<br />

tun, wenn sich herausstellt, dass eine Personalie<br />

nicht durchsetzbar ist? Mit stolz<br />

geschwellter Heldenbrust die Schlacht<br />

verlassen und das Feld dem politischen<br />

Gegner überlassen? Sind Sie wirklich<br />

so naiv? Als CSU-Wähler in München<br />

bin ich Bürgermeister Schmid jedenfalls<br />

dankbar, dass er Herrn Hollemann zum<br />

Rückzug seiner Kandidatur bewogen<br />

hat. Unsere Stadt hat noch ganz andere<br />

Probleme als nur die <strong>–</strong> das räume ich<br />

ein <strong>–</strong> sicher verbesserungswürdige Beratung<br />

von Schwangeren. Die Möglichkeit,<br />

diese auch in Zukunft zum Besseren<br />

mitgestalten zu können, darf nicht wegen<br />

eines Mannes aufs Spiel gesetzt werden.<br />

Ludwig Schirmer, München<br />

Keine Lizenz zum Töten<br />

Zum Beitrag »Erstmals Diskussion mit<br />

›Donum Vitae‹ auf Katholikentag« (LF,<br />

Nr. 110, S. 24ff.): Der im Bericht verteufelte<br />

Beratungsschein kann nicht gegen<br />

die Kirche stehen, weil auch Papst<br />

Johannes Paul II. den Schein vorübergehend<br />

passieren ließ. Als er im September<br />

1999 den Bischöfen hierzu die Handlungsfreiheit<br />

entzog, ließ er anordnen,<br />

dass ab 1.1.2001 keine Beratungsscheine<br />

in der Verantwortung der Bischöfe<br />

34<br />

Der »Fall Hollemann«, über den<br />

Sie ausführlich berichten (vielen<br />

Dank!), ist ein Skandal. Ein medialer<br />

und ein politischer. Dass so<br />

etwas in Deutschland und noch<br />

dazu in Bayern möglich ist: ein<br />

Armutszeugnis <strong>–</strong> für die mediale<br />

und für die politische Kultur<br />

unseres Landes; ganz unabhängig<br />

davon, wie man im Einzelnen<br />

über Abtreibung denkt.<br />

Herbert Weismann, München<br />

mehr ausgestellt werden dürfen. Außer<br />

dieser Zulassung von 15 Monaten hat er<br />

Bischof Kamphaus hierfür ein weiteres<br />

Jahr genehmigt.<br />

So waren auch die über 100.000 Beratungsscheine,<br />

die vor dem Verbot in<br />

der Verantwortung der Bischöfe ausgestellt<br />

wurden, keine »Lizenz zum Töten«.<br />

Auch die deutschen Moraltheologen<br />

haben einstimmig festgestellt, dies<br />

sei »ethisch tolerabel«.<br />

Hubert Haas, Schramberg<br />

Drängende Probleme<br />

Vielen Dank für den wichtigen Beitrag<br />

»Das Impfdilemma« von Alexandra<br />

Maria Linder (LF 113, S. 24ff.). Wieder<br />

einmal fühle ich mich in der Ansicht bestätigt,<br />

dass »<strong>LebensForum</strong>« über drängende<br />

Probleme aufklärt, die andernorts<br />

nicht behandelt werden.<br />

Ursula Herten, Bonn<br />

Überkonfessionell<br />

Die Aktion Lebensrecht für Alle nennt<br />

sich überparteilich und überkonfessionell.<br />

Mir fällt aber auf, dass die meisten<br />

Beiträge in ihrer Zeitschrift »<strong>LebensForum</strong>«<br />

von katholischen Autoren stammen<br />

oder einen eindeutigen katholischen Bezug<br />

aufweisen. Dabei erkenne ich durchaus<br />

an, dass sich katholische Würdenträger<br />

<strong>–</strong> angefangen vom Oberhaupt der<br />

Katholischen Kirche in Rom bis hin zu<br />

den Bischöfen katholischer Ortskirchen<br />

<strong>–</strong> häufiger und oft deutlicher zu Lebensrechtsthemen<br />

äußern, als dies etwa protestantische<br />

Bischöfe in Deutschland<br />

tun.<br />

Insofern habe ich mich sehr gefreut,<br />

dass Sie in der Ausgabe 4. Quartal 2014<br />

(vgl. LF 113 S. 19ff.) auf die Preisverleihung<br />

der Stiftung »Ja zum Leben« an den<br />

Generalsekretär der Evangelischen Allianz,<br />

Herrn Hartmut Steeb, hingewiesen<br />

und seine Rede abgedruckt haben. Gerade<br />

im evangelikalen Raum dürfte es<br />

noch mehr protestantische Christen geben,<br />

die mutig genug sind, um sich öffentlich<br />

zum Lebensschutz zu bekennen.<br />

Vielleicht wollen Sie einmal erwägen,<br />

ob »<strong>LebensForum</strong>« nicht auch ihnen<br />

ein »Forum« bieten sollte?<br />

Hans-Harald Schätzler, Leverkusen<br />

A N Z E I G E<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4


I M P R E S S U M<br />

IMPRESSUM<br />

LEBENSFORUM<br />

Ausgabe Nr. <strong>114</strong>, 2. Quartal <strong>2015</strong><br />

ISSN 0945-4586<br />

Verlag<br />

Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />

www.alfa-ev.de, E-Mail: info@alfa-ev.de<br />

Herausgeber<br />

Aktion Lebensrecht für Alle e.V.<br />

Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminski (V.i.S.d.P.)<br />

Kooperation<br />

Ärzte für das Leben e.V. <strong>–</strong> Geschäftsstelle<br />

z.H. Dr. med. Karl Renner<br />

Sudetenstraße 15, 87616 Marktoberdorf<br />

Tel.: 0 83 42 / 74 22, E-Mail: k.renner@aerzte-fuer-das-leben.de<br />

www.aerzte-fuer-das-leben.de<br />

Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e. V.<br />

Fehrbelliner Straße 99, 10119 Berlin<br />

Tel.: 030 / 521 399 39, Fax 030 / 440 588 67 Fax<br />

Internet: www.tclrg.de · E-Mail: info@tclrg.de<br />

Redaktionsleitung<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Redaktion<br />

Matthias Lochner, Alexandra Linder, M.A.,<br />

Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Prof. Dr. med. Paul Cullen<br />

(Ärzte für das Leben e.V.)<br />

Anzeigenverwaltung<br />

Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

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Satz / Layout<br />

Rehder Medienagentur, Würzburg<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Auflage<br />

6.500 Exemplare<br />

Anzeigen<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 7 vom 7.10.2014.<br />

Erscheinungsweise<br />

<strong>LebensForum</strong> Nr. 115 erscheint am 19.09.<strong>2015</strong>. Redaktionsschluss<br />

ist der 31.07.<strong>2015</strong>.<br />

Jahresbezugspreis<br />

16,<strong>–</strong> EUR (für ordentliche Mitglieder der <strong>ALfA</strong> und der Ärzte für<br />

das Leben im Beitrag enthalten)<br />

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BIC: GENODEF1AUB<br />

Spenden erwünscht<br />

Druck<br />

Reiner Winters GmbH<br />

Wiesenstraße 11, 57537 Wissen<br />

www.rewi.de<br />

Titelbild<br />

Dipl.-Des. Daniel Rennen / Rehder Medienagentur<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Das <strong>LebensForum</strong> ist auf umweltfreundlichem chlorfrei gebleichtem<br />

Papier gedruckt.<br />

Mit vollem Namen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion oder der <strong>ALfA</strong> wieder und stehen<br />

in der Verantwortung des jeweiligen Autors.<br />

Fotomechanische Wiedergabe und Nachdruck <strong>–</strong> auch auszugsweise<br />

<strong>–</strong> nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangt<br />

eingesandte Beiträge können wir keine Haftung übernehmen.<br />

Unverlangt eingesandte Rezensionsexemplare werden<br />

nicht zurückgesandt. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe<br />

zu kürzen.<br />

Helfen Sie Leben retten!<br />

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Geboren am<br />

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Institut<br />

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Datum, Unterschrift<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4 35


L E T Z T E S E I T E<br />

Europa ohne<br />

Gewissen<br />

Das Drama um Vincent<br />

Lambert beschäftigt auch<br />

Richter und Bischöfe<br />

Von Eckhardt Meister<br />

Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />

Deutsche Post AG (DPAG)<br />

Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />

Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />

36<br />

CHERRYX<br />

Mit zwölf gegen fünf Stimmen<br />

entschieden die Richter des<br />

Europäischen Gerichtshofs<br />

für Menschenrechte (EGMR) Anfang<br />

Mai in Straßburg, die künstliche Ernährung,<br />

mit welcher der französische Koma-Patient<br />

Vincent Lambert am Leben<br />

erhalten wird, dürfe eingestellt werden.<br />

Der Fall des Krankenpflegers, der 2008<br />

mit dem Motorrad verunglückte, erregt<br />

seit Jahren die Gemüter. Die Familie des<br />

38-Jährigen streitet seit langem untereinander<br />

vor Gericht. Die Ehefrau will<br />

die künstliche Ernährung ihres Mannes<br />

einstellen lassen, die Eltern wollen das<br />

verhindern.<br />

Nun entzweite der Fall des 38-Jährigen<br />

auch die Richter des EGMR: »Wir<br />

bedauern, dass der Gerichtshof durch<br />

diesen Beschluss das Recht verwirkt hat,<br />

den Titel ›Gewissen Europas‹ zu tragen,<br />

den er zum 50. Gründungsjubiläum 2010<br />

angenommen hatte«, hielten die unterlegenen<br />

Richter fest. Härter hätte die unterlegene<br />

Minderheit ihre Kritik an der<br />

Entscheidung ihrer siegreichen Kollegen<br />

gar nicht formulieren können.<br />

Auch Lebensrechtler können die Entscheidung<br />

des EGMR nicht nachvollziehen.<br />

Laut den medizinischen Gutachten,<br />

die das Gericht zu prüfen hatte,<br />

kann Vincent Lambert Schmerzen empfinden.<br />

Ein Umstand, auf den sich auch<br />

die Ehefrau Lamberts, welche die Einstellung<br />

der künstlichen Ernährung verlangt,<br />

beruft. Die Eltern Lamberts, die<br />

den EGMR anriefen, nachdem das Oberste<br />

Verwaltungsgericht in Frankreich einer<br />

entsprechenden Klage der Schwiegertochter<br />

stattgegeben hatte, berichten<br />

noch von anderen Lebensäußerungen<br />

ihres Sohnes. Er könne die Augen<br />

schließen, lächeln und weinen.<br />

Auch die französische Bischofskonferenz<br />

schaltete sich in den Fall ein. In einem<br />

Interview mit der katholischen Zeitung<br />

»La Croix« forderte der Erzbischof<br />

von Rennes, Pierre D’Ornellas, alle Parteien<br />

dazu auf, den Kranken als ganzen<br />

Menschen wahrzunehmen. Das »Menschsein«<br />

beinhalte auch, das Leben unabhängig<br />

von seinen Schwachstellen als ein kostbares<br />

Leben zu sehen. Auch während eines<br />

Komas sei das Leben nicht wertlos,<br />

wie überhaupt jedes menschliche Leben<br />

wertvoll sei. D’Ornellas, der in der französischen<br />

Bischofskonferenz für Fragen der<br />

Bioethik zuständig ist, sagte: »Wir haben<br />

es hier mit einer Person zu tun.« Je verwundbarer<br />

eine Person sei, desto mehr<br />

hätten die anderen Menschen die Aufgabe,<br />

sie zu unterstützen und zu schützen.<br />

Es sei selbstverständlich, einen Menschen<br />

mit Nahrung und Flüssigkeit zu versorgen,<br />

auch wenn dies künstlich geschehe, so der<br />

Erzbischof. Auch wenn die Situation für<br />

die Angehörigen schmerzhaft und schwierig<br />

sei, dürfe ein Stopp der Nahrungszufuhr<br />

erst dann in Erwägung gezogen werden,<br />

wenn diese Grundversorgung Leiden<br />

beim Patienten verursache oder wenn sich<br />

seine Gesundheit dadurch verschlechtere.<br />

Nach Ansicht der Katholischen Kirche<br />

dürfen Ärzte die künstliche Ernährung<br />

eines Koma-Patienten nicht einfach<br />

einstellen. Zwar hat Papst Pius XII. 1957<br />

in einer Ansprache anlässlich eines Anästhesiologenkongresses<br />

erklärt, Ärzte seien<br />

moralisch nicht verpflichtet, das Leben<br />

von Patienten mit »außerordentlichen<br />

Mitteln« aufrechtzuerhalten, deren »tiefe<br />

Bewusstlosigkeit für permanent befunden«<br />

werde, doch rechnet Kirche die künstliche<br />

Ernährung <strong>–</strong> anders als eine künstliche<br />

Beatmung <strong>–</strong> nicht zu diesen. Selbst<br />

katholische Ärzte wissen mitunter nicht,<br />

dass die Kirche die Verabreichung von<br />

Der Amtssitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg<br />

Nahrung und Flüssigkeit nicht als Therapie<br />

betrachtet, die abgebrochen werden<br />

muss, wenn sie keinen Erfolg verspricht,<br />

sondern als »Pflege«, die moralisch jedem<br />

geschuldet ist. 2007 publizierte die<br />

vatikanische Glaubenskongregation dazu<br />

eine von Papst Benedikt XVI. zur Veröffentlichung<br />

angeordnete Erklärung (vgl.<br />

LF Nr. 88, S. 23ff.). Darin wird die Versorgung<br />

von Koma-Patienten mit Wasser<br />

und Nahrung als ein »gewöhnliches<br />

und verhältnismäßiges Mittel der Lebenserhaltung«<br />

klassifiziert. Sie sei so lange<br />

moralisch verpflichtend, solange sie ihre<br />

eigene Zielsetzung erreicht.<br />

L e b e n s F o r u m 1 1 4

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