24.02.2020 Aufrufe

Leseprobe_Moser, Bianca – Kochbuch keiner Hausfrau, Martha Murphy_2020

Von 1989 bis 1999 arbeitete die Schwazer Künstlerin Martha Murphy von 1989 bis 1999 am „Kochbuch keiner Hausfrau“. Entstanden ist dabei eine unmittelbar berührende und faszinierende Rezeptesammlung inmitten von Zeichnungen, Zeitungsausschnitten, Abbildungen und Kommentaren. Der Titel für diese sensationelle künstlerische Arbeit in Buchform entstand bei einem gemeinsamen Essen von Martha Murphy und Charly Grill, der Esstisch Murphys war die bevorzugte Arbeitsstätte. Kochen ist heute mehr denn je ein beliebtes Thema der Spass- und Konsumgesellschaft – Kochen als Happening, als Fernsehshow, als Kunstevent. Martha Murphys „Kochbuch keiner Hausfrau” aber ist nicht einfach ein Kochbuch unter vielen: In ihm ist nicht nur der Familienschatz der Rezepte archiviert. Jede Seite ist eine Überraschung, in der Literatur, Politik, Tagesgeschehen, Kunstgeschichtliches, Rezepte und Illustrationen zu einem vielschichtigen Kommentar verwoben werden. Er zeigt Murphys Blick auf die Welt, lädt Leserinnen und Leser Seite um Seite ein, eigene Sichtweisen zu entwickeln. Martha Murphy wäre im Jahr 2019 90 Jahre alt geworden. Fast genau ein Jahr später gibt es nun ihr Künstlerinnenbuch. Es lädt zum Betrachten und Verweilen ebenso ein wie zum Handeln und Kochen. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten führt Ruth Murphy in das „Kochbuch keiner Hausfrau“ ein und gibt einen knappen Einblick in Lebens- und Gedankenwelten ihrer Mutter. Der zweite Teil „serviert“, klar abgegrenzt vom restlichen Buch, den unveränderten Nachdruck des Originals. Der dritte Teil bietet ergänzende Texte: Anette Freudenbergers Einordnung des Kochens in die Kunst, das Interview mit Martha Murphy über Frauen in der Kunst von Rosemarie Sternagl, die Biografie der Künstlerin, ein Rezeptregister und das Impressum. Ruth Murphy hat nicht nur das Original für den Nachdruck und einen wunderbaren Text zur Verfügung gestellt, sondern auch die Gestaltung des Buchtitels übernommen. Den Schutzumschlag entwarf Gregor Ingenhaeff-Berenkamp. Anette Freudenberger bereichert das Buch mit dem Text „Kunst und Kochen“. Herausgeberin Bianca Moser legt ein einzigartiges Kunstwerk und ebensolchen Gebrauchsgegenstand vor. Das wertvolle Buch erscheint in nur einer limitierten Auflage.

Von 1989 bis 1999 arbeitete die Schwazer Künstlerin Martha Murphy von 1989 bis 1999 am „Kochbuch keiner Hausfrau“. Entstanden ist dabei eine unmittelbar berührende und faszinierende Rezeptesammlung inmitten von Zeichnungen, Zeitungsausschnitten, Abbildungen und Kommentaren. Der Titel für diese sensationelle künstlerische Arbeit in Buchform entstand bei einem gemeinsamen Essen von Martha Murphy und Charly Grill, der Esstisch Murphys war die bevorzugte Arbeitsstätte.
Kochen ist heute mehr denn je ein beliebtes Thema der Spass- und Konsumgesellschaft – Kochen als Happening, als Fernsehshow, als Kunstevent. Martha Murphys „Kochbuch keiner Hausfrau” aber ist nicht einfach ein Kochbuch unter vielen: In ihm ist nicht nur der Familienschatz der Rezepte archiviert. Jede Seite ist eine Überraschung, in der Literatur, Politik, Tagesgeschehen, Kunstgeschichtliches, Rezepte und Illustrationen zu einem vielschichtigen Kommentar verwoben werden. Er zeigt Murphys Blick auf die Welt, lädt Leserinnen und Leser Seite um Seite ein, eigene Sichtweisen zu entwickeln.
Martha Murphy wäre im Jahr 2019 90 Jahre alt geworden. Fast genau ein Jahr später gibt es nun ihr Künstlerinnenbuch. Es lädt zum Betrachten und Verweilen ebenso ein wie zum Handeln und Kochen. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten führt Ruth Murphy in das „Kochbuch keiner Hausfrau“ ein und gibt einen knappen Einblick in Lebens- und Gedankenwelten ihrer Mutter. Der zweite Teil „serviert“, klar abgegrenzt vom restlichen Buch, den unveränderten Nachdruck des Originals. Der dritte Teil bietet ergänzende Texte: Anette Freudenbergers Einordnung des Kochens in die Kunst, das Interview mit Martha Murphy über Frauen in der Kunst von Rosemarie Sternagl, die Biografie der Künstlerin, ein Rezeptregister und das Impressum. Ruth Murphy hat nicht nur das Original für den Nachdruck und einen wunderbaren Text zur Verfügung gestellt, sondern auch die Gestaltung des Buchtitels übernommen. Den Schutzumschlag entwarf Gregor Ingenhaeff-Berenkamp. Anette Freudenberger bereichert das Buch mit dem Text „Kunst und Kochen“.
Herausgeberin Bianca Moser legt ein einzigartiges Kunstwerk und ebensolchen Gebrauchsgegenstand vor. Das wertvolle Buch erscheint in nur einer limitierten Auflage.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

MARTHA MURPHY<br />

NACHDRUCK


Alle Rechte vorbehalten<br />

© <strong>2020</strong><br />

Berenkamp Buch- und Kunstverlag<br />

Wattens<br />

www.berenkamp.at<br />

ISBN 978-3-85093-397-1<br />

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.


Inhalt<br />

5<br />

6<br />

11<br />

412<br />

ZUM GELEIT<br />

Dr. Hans Lintner, Bürgermeister der Stadt Schwaz<br />

VORBEMERKUNG<br />

Von Ruth <strong>Murphy</strong><br />

KOCHBUCH KEINER HAUSFRAU *<br />

<strong>Martha</strong> <strong>Murphy</strong>, 1989<strong>–</strong>1999, Nachdruck<br />

KUNST UND KOCHEN<br />

Von Anette Freudenberger<br />

416<br />

INTERVIEW MARTHA MURPHY<br />

Von Rosemarie Sternagl, 1993<br />

428<br />

BIOGRAFIE MARTHA MURPHY<br />

<strong>Martha</strong> <strong>Murphy</strong>, 1929<strong>–</strong>2013<br />

434<br />

ZUM PROJEKT<br />

Von <strong>Bianca</strong> <strong>Moser</strong><br />

436<br />

446<br />

REZEPTREGISTER<br />

IMPRESSUM<br />

*) Die Seitenzahlen in diesem Abschnitt sind Teil des Originals und werden im Registerteil<br />

ebenfalls verwendet.


4


Zum Geleit<br />

DR. HANS LINTNER | BÜRGERMEISTER DER STADT SCHWAZ<br />

Kunst und Kochen haben viel gemeinsam. Beides verlangt Aufmerksamkeit, Fantasie und Gelassenheit.<br />

Mit beidem verbinden sich Leidenschaft, Geselligkeit und immer eine besondere Note, eine<br />

bestimmte Zutat, eine spezielle Perspektive. Wer kocht, will nicht allein essen, und wer Kunst macht,<br />

möchte diese Anderen zeigen. Deshalb freue ich mich ganz besonders, mit dem „<strong>Kochbuch</strong> <strong>keiner</strong><br />

<strong>Hausfrau</strong>“ von <strong>Martha</strong> <strong>Murphy</strong> auch ein Künstlerinnenbuch in den Händen zu halten. <strong>Martha</strong> <strong>Murphy</strong>,<br />

die heuer 90 Jahre alt geworden wäre, war eine hervorragende Künstlerin und eine ebenso gute<br />

Köchin, selbst wenn sie sich gegen das Etikett <strong>Hausfrau</strong> ausdrücklich verwahrte. Sie war vor allem an<br />

Umweltschutz, Kunst und Literatur interessiert und hat sämtliche im <strong>Kochbuch</strong> gesammelten Rezepte<br />

mit Zeitungsausschnitten, Kommentaren und Zeichnungen versehen. So ist das Buch ein kulina<strong>–</strong><br />

rischer Schatz und zugleich ein Zeitzeugnis, das über den persönlichen Blick der Künstlerin auf die<br />

Welt weit hinausgeht. Schön, dass wir ihre Gedanken jetzt miteinander bei gemeinsamen Mahlzeiten<br />

und Debatten teilen können.<br />

Die Schwazer Künstlerin <strong>Martha</strong> <strong>Murphy</strong> war eine Persönlichkeit mit Herz und Verstand, sie hat<br />

ihre Stadt geliebt und war immer bereit, für ihre Ideale zu streiten. Ich habe ihren kritischen Geist<br />

geschätzt und danke ihr für alles.<br />

Essen erzählt etwas über die Region, aus der es stammt, und verbindet über alle Grenzen. Es überrascht<br />

nicht, dass <strong>Martha</strong> <strong>Murphy</strong> sich schon früh von vegetarischen und interkulturellen Küchen hat<br />

inspirieren lassen. Alle Rezepte sind erprobt und leicht nachzukochen. „Das <strong>Kochbuch</strong> <strong>keiner</strong> <strong>Hausfrau</strong>“<br />

ist zudem ein köstlicher Augenschmaus.<br />

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine gesegnete Mahlzeit.<br />

Dr. Hans Lintner<br />

5


Als ich<br />

neulich<br />

ein<br />

bestimmtes<br />

Lied ...<br />

VORBEMERKUNG VON RUTH MURPHY<br />

6


... im Internet suchte und das erste Wort eingab <strong>–</strong> es war „ich“ <strong>–</strong>, bot die Suchmaschine als erste Fortsetzung<br />

an: „koche“. Dahin sind wir also gekommen seit Descartes oder wann immer. Wer denkt das?<br />

Ich nicht, ich koche. Ich koche so, wie man zeitgeistig kocht; ich beschäftige mich mit einem <strong>Kochbuch</strong>.<br />

‚Also schon wieder ein <strong>Kochbuch</strong>‘, mag man seufzen, der nicht abebbenden Kulinarikwelle längst<br />

überdrüssig, und ein ziemlich unschlankes dazu, aber vielleicht ein hochmodernes mit dem prächtigen<br />

Blatthornkäfer auf dem Einband.‘ Er ist es, der die Neugierde weckt, und er tut dies nicht aus<br />

Marketinggründen; er saß immer schon auf dem Einband, als das Buch von privat für privat geschrieben<br />

wurde. Schlägt man es schließlich auf, ob man nun verfressen ist oder nicht oder bloß virtuell<br />

verfressen, folgt sogleich die Überraschung: Bilder <strong>–</strong> nicht nur von Gerichten, Zitate <strong>–</strong> nicht über das<br />

Essen, Tiere <strong>–</strong> nicht zum Zubereiten, nicht zum Zutatenliefern, eine schöne Schrift, eine ausgewählte<br />

Buntheit … das <strong>Kochbuch</strong> ist eine Zentrifuge, von jedem Rezept kommt man noch ganz woanders hin,<br />

verbal, visuell, fotografisch, grafisch. Und jede Seite ist eine Einheit für sich, farblich und strukturell so<br />

zusammengehalten, dass man unwillkürlich verweilt und jedes Suchen vergisst, weil man was gefunden<br />

hat, was man gar nicht suchte <strong>–</strong> zumindest nicht hier. Das Buch ist zentripetal. Das Zentrum ist es<br />

selbst, d. h. jede einzelne seiner fast 400 Seiten.<br />

Formal wie inhaltlich schöpft es aus dem Vollen. Das Lustvolle ist nicht transitorisch <strong>–</strong> natürlich läuft<br />

einem das Wasser im Mund zusammen beim einen oder anderen Speisefoto <strong>–</strong> aber die Augen können<br />

auch auf jeder Seite selbstgenügsam ‚grasen‘, immer wieder belohnt durch Aha-Erlebnisse und<br />

Überraschungen textlicher, zeichnerischer, fotografischer Natur. Die Inhalte von Kunstbänden und<br />

von Klatschspalten stehen nebeneinander in spannender Harmonie, Viechisches trifft auf Philosophisches,<br />

Weltpolitisches und Persönliches sind keine Gegensätze. Das Schöne und das Witzige, das<br />

Ernste und das Skurrile kommen einander nicht in die Quere, sondern zeigen, dass sie denselben<br />

Ursprung haben: eine gesunde Distanz zu verkrampfter Normierung und aufgeplustertem Mainstream.<br />

Eine Flüchtlingsfrau aus dem Irak, Helmut Qualtinger, ein roter Kater, ein Sonnenblumenfeld <strong>–</strong> man<br />

sieht sie, ohne sie zu übersehen, wenn sie aus ihrem jeweiligen Kontext gerissen im Grundgewöhnlichen<br />

von Kochrezepten auftauchen, unerwartet zwischen unerwarteten Bildern, zu denen sie in<br />

Beziehung gesetzt sein können. Anarchisch ist das nicht, dafür sind die Seiten zu wohlgeformt, und<br />

die Assoziationen sind immer wieder allgemein verbindlich <strong>–</strong> aber konsequent unhierarchisch. Zweck<br />

und Selbstzweck halten sich die Waage. Man kann nach Herzenslust Rezepte ausprobieren, fleischliche<br />

und vegetarische, salzige und süße, warme und kalte, und man kann im Buch unterwegs sein,<br />

ziellos neugierig, vor und zurück, als wären die Rezepte die Landstraße und alles andere die Gegend<br />

rundum. Und es hat, als wäre es eine Erzählung, sogar einen Schluss.<br />

Die persönliche Frage ist noch offen: Warum hat die Mutter mir ein solches <strong>Kochbuch</strong> gemacht? <strong>–</strong> Aus<br />

einem Komplex heraus, dass sie als Künstlerin zu wenig gehaushaltet habe, als ich minderjährig war.<br />

Das ist die eine Seite. Die andere hat Tradition; es gibt ein handgeschriebenes <strong>Kochbuch</strong>, ein bescheidenes<br />

Heft mit teils raffinierten Rezepten, das sie von ihrer Mutter bekam. Auch dieses <strong>Kochbuch</strong><br />

meiner Großmutter, der Frau Mitzi Scheucher, habe ich nach wie vor in Verwendung.<br />

Das vorliegende <strong>Kochbuch</strong> aber, entstanden im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, war<br />

schon vor seiner offiziellen Veröffentlichung unter Freunden und Bekannten in Umlauf. Herr Charly<br />

Grill zog es aus der Anonymität und taufte es auf: KOCHBUCH KEINER HAUSFRAU.<br />

7


Kunst<br />

und<br />

Kochen<br />

VON ANETTE FREUDENBERGER<br />

412


Rezepte werden häufig von Mutter zu Tochter weitergegeben, mitunter auch in Buchform mit Anmerkungen<br />

und Zeichnungen. Seltener werden diese selbst gemachten Kochbücher von einer Künstlerin<br />

gestaltet, die sich ausdrücklich nicht auf die Rolle der <strong>Hausfrau</strong> reduzieren lässt. Ob <strong>Martha</strong> <strong>Murphy</strong><br />

an eine Familientradition anknüpfen wollte, oder ob sie das <strong>Kochbuch</strong> von vornherein als KünstlerInnenbuch<br />

angelegt hat, mag dahingestellt sein. Das „<strong>Kochbuch</strong> <strong>keiner</strong> <strong>Hausfrau</strong>“ gibt Anlass genug,<br />

sich über das enge Verhältnis von Kunst und Kochen Gedanken zu machen.<br />

In den 1960er-Jahren fixierte Daniel Spoerri nach dem Essen alle Reste einer geselligen Runde<br />

samt Tellern, Besteck, Zigarettenstummeln, Nudeln, angebissenen Kuchenstücken, Salzstreuern,<br />

Mayonnaiseflecken und was auch immer von dem Abend übrig geblieben war auf der Tischplatte und<br />

hängte das Ganze wie ein Bild an die Wand. Die Spuren der sozialen Aktivitäten, des Essens und Austauschs,<br />

erklärte er mit dieser einfachen Drehung aus der Ebene in die senkrechte Fläche zur Kunst.<br />

Die Ansammlungen bzw. Assemblagen von Alltagsgegenständen und wenig haltbaren Essensresten<br />

nannte er Fallenbilder. Sie erinnern an Mahlzeitstillleben der Niederländischen Malerei des 17. und 18.<br />

Jahrhunderts, die oft auch Vanitasmotive enthielten.<br />

Direkter als Daniel Spoerri nimmt die US-amerikanische Konzeptkünstlerin <strong>Martha</strong> Rosler Bezug auf<br />

gesellschaftspolitische Fragen. Roslers einflußreiches Werk richtet sich auch gegen die Festschreibung<br />

weiblicher Rollenbilder durch Sprache. Ihre Videoperformance „Semiotics of the Kitchen“ von<br />

1975 beispielsweise zeigt eine Persiflage auf TV-Kochsendungen, ein alphabetisches Lexikon von<br />

Küchenutensilien: Von A bis Z wird die Bedeutung jedes einzelnen Geräts durch die Art der Gesten<br />

und das Auftreten der Performerin mehr und mehr in ein Lexikon der Frustration und Aggression<br />

gegenüber den Instrumenten häuslicher Unterdrückung verwandelt.<br />

15 Jahre später kocht Rirkrit Tiravanija in einem Galerieraum Pad Thai, ein traditionelles thailändisches<br />

Nudelgericht für AusstellungsbesucherInnen. Während Spoerris Geste der Transformation<br />

von Handlungen in ein Tafelbild in gewisser Hinsicht an einem klassischen Werkbegriff festhält, denn<br />

seine Materialbilder haben immer noch die Form von Bildern, ereignen sich die Arbeiten Tiravanijas<br />

als temporäre Situationen, von denen nichts Konkretes übrig bleibt. Unter dem Begriff „relationale<br />

Ästhetik“ hat der französische Kunsttheoretiker Nicolas Bourriaud diese Kunst der 1990er-Jahre<br />

zusammengefasst und sie als eine Art Apparatur bezeichnet, die Begegnungen, wie gemeinsames<br />

Essen, ermöglicht. Die Kunst biete einen „sozialen Zwischenraum“ für Interaktionen an. Der Fokus<br />

liegt auf den Prozessen, nicht auf den materiellen Mitteln, die verwendet werden. Dennoch ist interessant,<br />

dass gerade Tiravanijas Essensaktionen über die Kunst hinaus bekannt und viel breiter rezipiert<br />

wurden als andere Arbeiten der „relationalen Ästhetik“ <strong>–</strong> möglicherweise, weil das gemeinsame<br />

Mahl ein vertrautes Sujet der Kunst ist, das alle Menschen unmittelbar betrifft und seinen Ursprung<br />

in religiösen Ritualen hat.<br />

Abgesehen davon, dass Kochkunst und bildende Kunst seit jeher einander wechselseitig inspirieren,<br />

Nahrungsmittel als Material in der Kunst auftauchen und künstlerische Formen in der Küche Verwendung<br />

finden, ist sowohl die Kunst als auch das Kochen ein Seismograf gesellschaftlicher Entwicklun<strong>–</strong><br />

gen und Spannungen. Das betrifft die Formen und Präsentationsweisen ebenso wie Zugänglichkeit<br />

und Verbreitung. Der Soziologe Norbert Elias beschreibt in „Über den Prozeß der Zivilisation“,<br />

wie im Mittelalter in Europa noch aus einem Topf gelöffelt wurde. Später kamen eigene Schalen<br />

und Besteck hinzu. Gabeln galten als Luxusartikel, deren Gebrauch zunächst nur in der höfischen<br />

413


414


Oberschicht üblich war. Die Entwicklung der Tischsitten verlief demnach parallel zu der des Kapitalismus.<br />

Zwischenmenschliche Begegnungen wurden distanzierter und arbeitsteiliger, Arbeitsprozesse<br />

der Küche verschwanden zunehmend aus dem gemeinsamen Raum. Im Zuge dessen veränderten<br />

sich auch die Darreichungsformen der Speisen vom ganzen Tier zu kleineren Portionen, die leichter<br />

mit der Gabel aufgenommen werden konnten. Dieses Zerteilen der Gerichte kam einem genaueren<br />

Schmecken und Kochen zugute.<br />

Insbesondere in der Zeit des Barock wurde Kochen zur Kunst erhoben. Beliebt waren Gemälde von<br />

Mahlzeiten, aber auch skulpturale Nachbildungen von Essen, sogenannte Schaugerichte, die nicht<br />

zum Verzehr bestimmt waren, sondern die Gäste in Erstaunen versetzen sollten. Diese Arrangements<br />

wurden manchmal aus Keramik oder Porzellan hergestellt, manchmal sogar gekocht. So gab<br />

es Tierskulpturen, die aus den dargestellten Tieren selbst hergestellt wurden, zum Beispiel Schwäne<br />

aus gebratenem Schwanenfleisch, das als ungenießbar galt. Tierschutz war in Europa praktisch noch<br />

nicht existent, und an die Not leidende Bevölkerung wurde angesichts solch opulenter Bankette wohl<br />

kaum gedacht, außer in der überaus artifiziellen Zurschaustellung der gesellschaftlichen Unterschiede.<br />

Die hohe Kunst des Kochens konnte hier nur in der Nähe zur Komplizenschaft ausgeübt<br />

werden.<br />

Auf der anderen Seite verbindet Kochen über Grenzen hinweg, denn alle lebendigen Küchensprachen<br />

nehmen Einflüsse der Regionen auf, mit denen sie in Berührung kommen. Was und wie wir etwas<br />

essen, hat immer mit globalen Entwicklungen zu tun. Heute finden sich in den Supermarktregalen<br />

Nahrungsmittel aus allen Teilen der Welt. Ebenso wie sich die Anzahl der Dinge, die uns umgeben,<br />

seit der Industrialisierung immens vermehrt hat, gibt es eine wesentlich größere Auswahl und Menge<br />

an Essen als in früheren Zeiten. Dabei ist immer weniger zu übersehen, dass der Zugang zu dieser<br />

Nahrung nicht allen Menschen gleichermaßen gewährt wird.<br />

Gleichzeitig ist Kochen im Feuilleton angelangt, spätestens seit 2007, als der Avantgarde-Koch<br />

Ferran Adriá auf der documenta 12 vertreten war. Die Einladung, auf der Weltkunstschau in Kassel<br />

zu kochen, schlug er allerdings aus. Er sieht sich auch nicht als Künstler, sondern eindeutig als Koch.<br />

Aber sein Restaurant „El Bulli“ in Nordspanien wurde documenta-Außenstelle. Bezeichnenderweise<br />

war diese documenta der „Migration der Form“ gewidmet. Die Präsentation arbeitete Formanalogien<br />

und Korrespondenzen zwischen historisch und kulturell deutlich unterschiedlichen Artefakten aus<br />

verschiedenen Kontexten und Kontinenten heraus, um übergreifende Themen erfahrbar zu machen.<br />

Postkoloniale Perspektiven wurden damit eher ästhetisch als politisch direkt formuliert, wofür die<br />

documenta 12 scharf kritisiert wurde.<br />

Auch in der Küche differenzieren sich die Felder weiter aus, von Paleo bis vegan und zuckerfrei.<br />

Foodies wie Kunstenthusiasten beschäftigen sich wieder mehr mit Produktionsbedingungen,<br />

Vertriebswegen und Globalisierung. Kunst und Kochen ist ein konstanter Zustand der Auseinandersetzung,<br />

die nicht immer freundlich ausfallen muss. Vielmehr lehren uns Kunst und Kochen mit<br />

Widerspruch und Komplexität produktiv umzugehen. Beide Betätigungen sind keine rein private,<br />

noch weniger elitäre Angelegenheit, zumindest sollten sie es nicht sein. Das „<strong>Kochbuch</strong> <strong>keiner</strong><br />

<strong>Hausfrau</strong>“ öffnet sich der Welt, ohne sie zu vereinfachen. Wie gut, dass dieses Buch von <strong>Martha</strong><br />

<strong>Murphy</strong> nun Vielen gehört.<br />

415

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!