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Sport + Mobilität mit Rollstuhl 05/2020

Informationsschrift des Deutschen Rollstuhl-Sportverbandes e.V.

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Zur Person:<br />

Roland Thietje ist Chefarzt im Querschnittgelähmten-Zentrum<br />

des BG<br />

Klinikum Hamburg und Ständiger<br />

Vertreter des Ärztlichen Direktors. Des<br />

Weiteren ist er Sprecher des Arbeits -<br />

kreises Querschnittlähmung der<br />

Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung<br />

(DGUV) und 1. Vorsitzender der<br />

Deutschsprachigen Medizinischen<br />

Gesellschaft für Paraplegiologie<br />

(DMGP). Beim Deutschen Behindertensportverband<br />

(DBS) bekleidet er das<br />

Amt des Vizepräsidenten.<br />

aktuellen Fall eines an Covid‐19 Erkrankten,<br />

bei dem die Paraplegie ursächlich<br />

gewesen ist. <strong>Rollstuhl</strong>fahrer<br />

sind nicht per se risikobehaftet, demnach<br />

keine besondere Risikogruppe,<br />

sondern entsprechen dem allgemeinen<br />

Risikoprofil von Stehenden. Eine Ausnahme<br />

stellen die Tetraplegiker dar.<br />

Durch die fehlende Expansionsfähigkeit<br />

des Brustkorbs durch reduzierte Atemhilfsmuskulatur<br />

ist dieser Personenkreis<br />

grundsätzlich für Komplikationen<br />

anfällig. Andererseits ist davon auszugehen,<br />

dass der reduzierte Hustenausstoß<br />

den Tetraplegiker als ›Virenschleuder‹<br />

weniger gefährlich macht. Die Vermutung,<br />

dass der Krankheitsverlauf bei<br />

Tetraplegikern gefährlicher sein könnte,<br />

liegt nahe. Jedoch gibt es nach jetzigem<br />

Stand keine verlässlichen Zahlen dazu.<br />

Im Hinblick auf die Distanz kann der<br />

<strong>Rollstuhl</strong> sogar einen gewissen Vorteil<br />

›bieten‹, um die Gefahr der Infektion zu<br />

verringern. Naturgemäß ist durch den<br />

<strong>Rollstuhl</strong> ein gewisser Sicherheitsabstand<br />

(größerer Radius) gegeben.<br />

SD: Das Wort Risikogruppe ist derzeit,<br />

aus meiner Sicht, <strong>mit</strong> sehr vielen negativen<br />

Assoziationen behaftet und scheint<br />

Angst zu verbreiten. Stress und Angst jedoch<br />

verursachen ›epigenetische‹ Veränderungen<br />

und schwächen das Immunsystem.<br />

Menschen <strong>mit</strong> einem höheren Risiko<br />

sind insbesondere ›frisch querschnittgelähmte<br />

Patienten‹, deren Organismus<br />

sich in einem hochgradig generalisierten<br />

Alarmzustand (Stresssituation) befindet.<br />

Das Immunsystem arbeitet auf Hochtouren<br />

und ist da<strong>mit</strong> beschäftigt, den aktuellen<br />

Zustand zu bearbeiten. In diesem Zustand<br />

hat ein Virus verstärkt die Möglichkeit,<br />

den angegriffenen Organismus weiter<br />

zu schädigen. Menschen, die seit vielen<br />

Jahren <strong>mit</strong> einer Querschnittlähmung<br />

leben, haben ebenfalls ein z. T. erhöhtes<br />

Risiko je nach Verletzungshöhe der Wirbelsäule<br />

– <strong>mit</strong> oder ohne Zwerchfellbeteiligung<br />

– da es hier zu vermehrter<br />

Schleimbildung und reduziertem Abhusten<br />

kommen kann. Auch <strong>mit</strong> Begleiterscheinungen<br />

wie z. B. ›Blasenentzündungen‹<br />

ist der Körper geschwächt und bietet<br />

eine leichtere Angriffsfläche für das Virus.<br />

AE: Im Vergleich zu ›Stehenden‹<br />

haben <strong>Rollstuhl</strong>fahrer über den<br />

Greifring am Rad einen<br />

unvermeidbaren Handkontakt <strong>mit</strong><br />

dem Boden. Wenn man sich nun<br />

bildlich vorstellt, dass ein Virus<br />

einfach auf den Boden fällt – könnte<br />

da<strong>mit</strong> das Infektionsrisiko nicht<br />

aufgrund des <strong>Rollstuhl</strong>s (Hände am<br />

Greifring) erhöht sein?<br />

RT: Die Überlebensdauer eines Virus auf<br />

der Straße ist sehr kurz und die Gefahr,<br />

dass über Greifreifen das Virus auf die<br />

Hände und so<strong>mit</strong> ins Gesicht kommt,<br />

schätze ich als äußerst gering ein. Im<br />

Vergleich dazu ist die Übertragung von<br />

Mundschutz an die Hand oder den Körper<br />

und so<strong>mit</strong> an den nächsten Menschen,<br />

der einen Mundschutz nutzt,<br />

sehr viel wahrscheinlicher. Konkrete<br />

Gefahr besteht beim Abhusten. Daher<br />

bleibt es am wichtigsten den Abstand zu<br />

halten und auf die Basishygiene für den<br />

Bereich der Hände, Mund und Lunge zu<br />

achten.<br />

SD: Die Übertragung des Sars-CoV-2 Erregers<br />

erfolgt über Tröpfchen und<br />

Schmierinfektion. Die Hygienerichtlinien<br />

sind für alle klar und verständlich definiert,<br />

aber ich sehe hier eher ein generelles<br />

Problem <strong>mit</strong> der Einhaltung dieser<br />

Maßnahmen. Wer hat schon immer ein<br />

›Desinfektions<strong>mit</strong>tel‹ parat, wenn er etwas<br />

berührt, das kontaminiert sein könnte?<br />

Die Frage, ob der Greifreifen an sich<br />

ein größeres Risiko darstellt, ist zu einseitig<br />

gedacht. Alles, worauf sich das Virus<br />

über Stunden oder Tage lebend halten<br />

kann, ist ein potentielles Risiko. Aber<br />

auch hier ist es ratsam <strong>mit</strong> gesundem<br />

Menschenverstand zu handeln und nicht<br />

in Panik zu verfallen.<br />

AE: In der letzten Woche war<br />

verstärkt die Sprache davon, dass<br />

man verschiedene Beschränkungen<br />

nun lockern möchte, auch im <strong>Sport</strong>.<br />

Der DRS hat alle Veranstaltungen<br />

(<strong>Sport</strong> und auch Versammlungen) bis<br />

Ende Juli <strong>2020</strong> abgesagt. Wie sehen<br />

Sie diese Diskussion?<br />

RT: Dass bis Ende Juli kein <strong>Sport</strong> und<br />

keine Versammlungen (vor allem in<br />

Räumen oder Hallen) stattfinden, sehe<br />

ich als sehr sinnvoll an (Stand <strong>05</strong>.<strong>05</strong>.).<br />

Diese Entscheidung sorgt für Klarheit<br />

und nimmt Last von den Schultern derjenigen,<br />

die die Entscheidungen draußen<br />

treffen und gegen vielfältige Individualinteressen<br />

vertreten müssen. Man<br />

sieht, dass selbst die Experten bei diesen<br />

Themen (Epidemiologen und Virologen)<br />

sich dazu nicht einig sind, wann<br />

Lockerungen Sinn machen und wann<br />

nicht. Es handelt sich hierbei auch um<br />

eine gesellschaftspolitische Frage, die<br />

nicht <strong>mit</strong> ja oder nein beantwortet werden<br />

kann. Es gibt viele Wahrnehmungen<br />

aber keine absolute Wahrheit. Erstens:<br />

Keiner weiß genau, wie gefährlich das<br />

Ausmaß der Pandemie letztendlich sein<br />

wird. Zweitens: Es ist immer eine Frage<br />

der Abwägung unterschiedlicher Interessen,<br />

die im Einzelfall nachvollziehbar<br />

sein mögen, sich in der Gesamtschau<br />

aber widersprechen können: Gilt der<br />

Grundsatz »Gesundheit geht über alles«<br />

oder ist die Wirtschaft wichtiger? Wie<br />

geht man <strong>mit</strong> dem Thema Durchseuchung<br />

um? Welchen Stellenwert spielt<br />

die Würde des Menschen? An der viel zitierten<br />

Aussage von Wolfgang Schäuble<br />

(Präsident des Deutschen Bundestages<br />

und selbst <strong>Rollstuhl</strong>fahrer): »alles andere<br />

habe vor dem Schutz des Lebens zurückzustehen<br />

ist in dieser Absolutheit<br />

nicht richtig« erhitzen sich die Gemüter.<br />

Es gibt konkurrierende Interessen wie<br />

das Recht zur Teilhabe und die Würde<br />

des Menschen, welche nicht 100% konform<br />

<strong>mit</strong> dem Schutz des Lebens einher‐<br />

➜➜<br />

›<strong>Sport</strong> + <strong>Mobilität</strong> <strong>mit</strong> <strong>Rollstuhl</strong> <strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />

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