Leseprobe_Giannini_Swarowsky
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Juri <strong>Giannini</strong><br />
INTERPRETATION<br />
ZWISCHEN PRAXIS UND<br />
ÄSTHETIK<br />
HANS SWAROWSKY<br />
ALS ÜBERSETZER VON<br />
OPERNLIBRETTI
INTERPRETATION ZWISCHEN<br />
PRAXIS UND ÄSTHETIK<br />
Hans <strong>Swarowsky</strong><br />
als Übersetzer von Opernlibretti<br />
Musikkontext 13
MUSIKKONTEXT<br />
Studien zur Kultur, Geschichte und Theorie der Musik<br />
Veröffentlichungen des Instituts für Musikwissenschaft<br />
und Interpretationsforschung<br />
an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien<br />
Reihe herausgegeben von<br />
Cornelia Szabó-Knotik und Manfred Permoser
Juri <strong>Giannini</strong><br />
INTERPRETATION ZWISCHEN<br />
PRAXIS UND ÄSTHETIK<br />
Hans <strong>Swarowsky</strong><br />
als Übersetzer von Opernlibretti
Juri <strong>Giannini</strong>:<br />
Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
Hans <strong>Swarowsky</strong> als Übersetzer von Opernlibretti<br />
(= Musikkontext 13)<br />
Umschlagbild:<br />
Proben für eine Neuproduktion von Richard Strauss’ Salome<br />
am Stadttheater Zürich (1938 oder 1939).<br />
V. l. n. r.: Bahrija Nuri-Hadžić, Walter Felsenstein,<br />
Richard Strauss (von hinten), Hans <strong>Swarowsky</strong>.<br />
Fotografie aus dem Nachlass Hans <strong>Swarowsky</strong><br />
(Universitätsbibliothek der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien)<br />
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:<br />
MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien,<br />
Wissenschafts- und Forschungsförderung<br />
© HOLLITZER Verlag, Wien 2019<br />
www.hollitzer.at<br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
Die Abbildungsrechte sind nach<br />
bestem Wissen und Gewissen geprüft worden.<br />
Im Falle noch offener, berechtigter Ansprüche wird<br />
um Mitteilung des Rechteinhabers ersucht.<br />
Satz: Daniela Seiler<br />
Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović<br />
Hergestellt in der EU<br />
ISBN 978-3-99012-787-2<br />
ISSN 1616-5209
Inhaltsverzeichnis<br />
7 — Vorwort der Herausgeberin<br />
9 — 1. Anstelle einer Einleitung: Musikwissenschaftliche und<br />
musikgeschichtliche Zugänge zur Opernübersetzung<br />
27 — 2. Ästhetik und/oder Praxis: Ein Blick in die Quellen<br />
27 — 2. 1. Hans <strong>Swarowsky</strong> äußert sich theoretisch (nicht)<br />
34 — 2. 2. Zur Kategorie der Sangbarkeit (Singbarkeit)<br />
41 — 2. 3. Die Unantastbarkeit des musikalischen Textes<br />
55 — 3. Übersetzungen im/als Kontext: Welche Musikgeschichte(n)<br />
ließe(n) sich erzählen?<br />
55 — 3. 1. Status quo um 1930<br />
68 — Übersetzen im Zeichen der Zeit<br />
73 — 3. 2. <strong>Swarowsky</strong> als Übersetzer im Nationalsozialismus<br />
73 — Gera – Hamburg – Berlin – Zürich<br />
81 — „Soll M[ünchen] zur führenden Opernbühne gemacht werden?“<br />
111 — „Der Interpret hat sich seiner eigenen komplexen Gegenwärtigkeit<br />
zu entziehen“<br />
116 — „Lebensgeschichtliche Prägung“<br />
129 — ‚Treu‘ gegenüber wem oder was?<br />
138 — „Damit wird das Ziel eines ‚treuen‘ oder ‚äquivalenten‘ Translats<br />
einmal mehr als Fiktion entlarvt“<br />
151 — Konzessionen an die Umstände?<br />
168 — 3. 3. Globalisierung nach 1945: Opernübersetzungen für Verlage<br />
184 — Das Scheitern an Mozart<br />
199 — Anhang (HSN 152)<br />
215 — Wer sind die idealen AdressatInnen von Opernübersetzungen<br />
in Verlagseditionen?<br />
222 — Die Stilkommission der Wiener Musikakademie<br />
229 — 4. Übersetzen als (musikalische) Interpretation<br />
229 — „[A]ls ich von dem neuen Ur-Orfeo sprach […]“<br />
234 — Eine mögliche Antwort auf die Frage nach der ‚Treue‘ im Musiktheater:<br />
<strong>Swarowsky</strong>s ‚Orfeo‘
236 — ‚Orfeo‘-Traditionen<br />
240 — Übersetzen und Interpretation I<br />
241 — ‚Retuschen‘ in der Interpretation<br />
247 — Ein Vergleich: <strong>Swarowsky</strong> und Felsenstein<br />
253 — „Doch einen Autor ,besser verstehen [wollen], als er sich selbst verstand‘,<br />
ist ein riskanter Akt.“<br />
257 — Was für ein Übersetzer war <strong>Swarowsky</strong>?<br />
259 — Zur Komplexität der interpretatorischen Dimension:<br />
Übersetzen und Interpretation II<br />
270 — P. S.: Übersetzen als irrationale Handlung<br />
273 — Abkürzungen<br />
274 — Verzeichnis der Abbildungen<br />
275 — Register der Übersetzungen von Hans <strong>Swarowsky</strong><br />
275 — Veröffentlichte Übersetzungen<br />
278 — Unveröffentlichte Übersetzungen<br />
280 — Übersetzungen (vermutliche) ohne Quellen<br />
280 — Übersetzungen in audiovisuellen Quellen<br />
281 — Sekundärliteratur
7<br />
Vorwort der Herausgeberin<br />
Die Reihe MUSIKKONTEXT hat das Ziel, vielfältige Vernetzungen im Bereich Geschichte,<br />
Kultur und Theorie der Musik zu beleuchten. – Dieser Band tut dies unter<br />
einem in mehrfacher Hinsicht speziellen Gesichtspunkt, als monographische Studie<br />
der Übersetzungen italienischer Opernlibretti des nicht nur als Dirigent wesentlichen<br />
musikalischen Akteurs Hans <strong>Swarowsky</strong>. Gemeinsam mit <strong>Swarowsky</strong>s Biographie,<br />
die von 2001 bis 2004 in einem vom Wissenschaftsfond (FWF) geförderten<br />
Projekt aufgearbeitet wurde, dessen Ergebnisse demnächst publiziert werden, bietet<br />
die vorliegende Untersuchung in vielerlei Hinsicht Anregung für zukünftige Arbeiten<br />
in diesem Bereich.<br />
Diesem Umstand entsprechend, bezieht sich das Buch auf eine Fülle von derzeit<br />
meist noch unveröffentlichten und oft in Privatbesitz befindlichen Dokumenten, die<br />
alleine schon vielfältigen Anreiz zur Lektüre bilden. Gleichzeitig ist die Bandbreite<br />
von angesprochenen Forschungsfeldern bemerkenswert, neben einer biographischen<br />
Spezialstudie werden Einsichten zur Aufführungslehre der Wiener Schule, zur Theaterpraxis<br />
des deutschsprachigen Raums um die Mitte des 20. Jahrhunderts und zu<br />
deren politischer Relevanz geboten, nicht nur, aber auch in Zeiten des Nationalsozialismus.<br />
Dies alles geschieht auf dem Hintergrund einer dem Stand der einschlägigen<br />
Fachliteratur entnommenen, methodisch stringenten Bezugnahme auf unterschiedliche<br />
Bedeutungen und Intentionen übersetzerischen Handelns. Diese Vorgangsweise<br />
macht Impulse der Translationswissenschaften für musikwissenschaftliche Überlegungen<br />
fruchtbar, gleichzeitig werden aber auch Ansätze dieser Disziplin selbst<br />
erweitert, etwa im Bereich der ,Opera Studies‘.<br />
Abschließend sei dem Verlag für seine nun schon gewohnte professionelle Unterstützung<br />
sowie dem Rektorat der Universität für Musik und darstellende Kunst<br />
Wien für die finanzielle Unterstützung zur Publikation gedankt.<br />
Cornelia Szabó-Knotik
„Kunst ist Ware – ohne Produktionsmittel (Apparate) nicht herzustellen!<br />
Eine Oper kann man nur für die Oper machen.“<br />
Bertolt Brecht, Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“<br />
„[…] wobei wie bei jeder Übersetzung,<br />
einiges neu hinzukommt und einiges verlorengeht.“<br />
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Aus dem Nachlaß
9<br />
1. Anstelle einer Einleitung: Musikwissenschaftliche und<br />
musikgeschichtliche Zugänge zur Opernübersetzung<br />
Zufällig stieß ich 2010 beim Büchertisch einer Wiener Ausstellung auf eine Publikation<br />
von KulturKontakt Austria. Darin versucht der Übersetzer, Slawist und Skandinavist<br />
Alexander Sitzmann mit einem Statement die komplexe Handlung des literarischen<br />
Übersetzens zu umreißen:<br />
Literarisches Übersetzen ist […] eine Tätigkeit, die irgendwo zwischen Handwerk<br />
und Kunst anzusiedeln ist. […] Diese Kunst wiederum ist eine ‚interpretierende<br />
Kunst‘ […], die sich am ehesten mit der eines Musikers, welcher die<br />
Kompositionen anderer zum Klingen bringt, vergleichen ließe, denn in beiden<br />
Fällen gehört auch ein gerüttelt Maß an Übung, Fleiß, Erfahrung und handwerklichem<br />
Geschick dazu. 1<br />
Ähnliche Aussagen, in denen das Übersetzen und die musikalische Interpretation verglichen<br />
werden, sind häufig zu finden. Vor einigen Jahren wurde diesem Thema sogar<br />
teilweise ein Symposium gewidmet, das schließlich in eine Publikation mündete. 2<br />
Im Fall der Opernübersetzung gewinnt allerdings noch eine weitere Komponente<br />
an wesentlicher Bedeutung: jene des theatralischen – spezifisch des musiktheatralischen<br />
– Produktionssystems. 3 Somit könnte Übersetzen für die Oper (und allgemein<br />
für das Musiktheater) als eine Tätigkeit angesehen werden, die zwischen Handwerk<br />
und Kunst angesiedelt ist und sowohl praktische als auch ästhetische Bestandteile beinhaltet.<br />
Beide benötigen als Teile einer interpretierenden Kunst zudem noch eine<br />
Kontextualisierung in der Praxis des Musiktheaters, um musikgeschichtlich analysiert<br />
werden zu können. Mir scheint es besonders reizvoll, diese Aussage anhand einer Fallstudie<br />
zu den Opernübersetzungen von Hans <strong>Swarowsky</strong> zu überprüfen: Schließlich<br />
war <strong>Swarowsky</strong> hauptsächlich als musikalischer Interpret – nämlich als Dirigent – tätig,<br />
das Übersetzen kann im Rahmen dieser beruflichen und künstlerischen Auseinandersetzung<br />
als Akt des (musikalischen) Interpretierens angesehen werden.<br />
In seinem Buch über eine allgemeine Theorie des Übersetzens für die Oper entwirft<br />
der Translationswissenschaftler Klaus Kaindl ein ideales Szenario, in dem ÜbersetzerInnen<br />
mit RegisseurInnen, Bühnen- und KostümbildnerInnen, DirigentInnen,<br />
1 KulturKontakt Austria 2008, S. 29.<br />
2 Leupold/Raabe 2008.<br />
3 Zu den praktischen Aspekten des musiktheatralischen Produktionssystems vgl. Werner-Jensen 2010.
10 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
KorrepetitorInnen, SängerInnen usw. zusammenarbeiten. Nicht immer kann diese<br />
symbiotische Kooperation im Produktionssystem einer Oper beobachtet werden,<br />
doch im Fall <strong>Swarowsky</strong>s scheint das mitunter geschehen zu sein. 4<br />
Manchmal konnte er im Rahmen einer einzigen Produktion mehrere Funktionen<br />
ausüben: als Dramaturg, Dirigent, Übersetzer und Regisseur. Archivalien lassen darüber<br />
hinaus ab und zu auf seine Präsenz im Probenbetrieb schließen, wo er in engem<br />
Kontakt mit dem Produktionsteam stand. 5 Somit nähert sich die Art und Weise, wie<br />
<strong>Swarowsky</strong> seine Übersetzertätigkeit ausübte, tendenziell dem von Kaindl skizzierten<br />
Idealzustand. <strong>Swarowsky</strong>s Übersetzungen entstanden unter Berücksichtigung<br />
ästhetischer Prämissen, sie reflektieren aber auch pragmatische Zielsetzungen. In diesem<br />
Buch soll hervorgehoben werden, wie die Verschränkung dieser beiden Ebenen<br />
nicht nur als charakteristisch für die Arbeit des Übersetzers <strong>Swarowsky</strong>, sondern auch<br />
als angemessene Herangehensweise für eine musikhistorische Auseinandersetzung<br />
mit dem Thema der Opernübersetzung betrachtet werden kann. Dieses Spannungsverhältnis<br />
war auch dem Übersetzer und erfahrenen ‚Musiktheaterarbeiter‘ <strong>Swarowsky</strong><br />
bewusst, der etwa in einem Brief an den Bärenreiter-Verlag – für den er in den<br />
1960er Jahren einige Übersetzungen anfertigte – plakativ, doch für die angedeutete<br />
Fragestellung relevant, schrieb: „Ich glaube, nicht an Einbildung zu leiden, wenn ich<br />
der Meinung bin, dass meine Arbeiten geistiges Niveau haben, soweit von so was bei<br />
Opernübertragungen überhaupt die Rede sein kann.“ 6 <strong>Swarowsky</strong> scheint sich dabei<br />
zu fragen, inwiefern Übersetzungen, die für ein komplex funktionierendes System<br />
wie jenes der Oper gedacht sind, die ästhetischen Intentionen der Übersetzenden<br />
überhaupt vollkommen widerspiegeln können. Unzählige Faktoren können das fertige<br />
Produkt (das Translat) bestimmt haben – sofern im Falle der Opernübersetzung<br />
überhaupt von einem Endprodukt gesprochen werden kann, da ja die Übersetzung<br />
in letzter Minute geändert und wieder verändert werden kann: SängerInnen können<br />
4 Zur Notwendigkeit der Kooperation von ÜbersetzerInnen mit anderen AkteurInnen der Produktion<br />
vgl. auch Snell-Hornby 2003, S. 478–481.<br />
5 Vgl. etwa hier: Abschnitt „Soll M[ünchen] zur führenden Opernbühne gemacht werden?“.<br />
6 KABV, Brief von Hans <strong>Swarowsky</strong> an den Bärenreiter-Verlag (03.01.1962). <strong>Swarowsky</strong> differenziert<br />
zwar zwischen den Begriffen „Übertragung“ und „Übersetzung“ (<strong>Swarowsky</strong> 1959, S. 419: „Um<br />
Übertragungen (und nicht ‚Übersetzungen‘) im eigentlichen Sinne handelt es sich hier: kunstcharakterliche<br />
Grundhaltungen sollen von einem Idiom nicht ins andere einfach hinübergenommen,<br />
sondern freien Entsprechungen nach übertragen werden, unter voller Wahrung aller musikalischen<br />
Erfordernisse. Der Hörer muß glauben, ein Original zu empfangen.“) – in diesem Buch verwende ich<br />
allerdings die beiden Begriffe als Synonyme, da die von <strong>Swarowsky</strong> ins Spiel gebrachte Unterscheidung<br />
in der modernen Translationswissenschaft keine Entsprechung findet. Für diese ist das „von<br />
einem Idiom […] ins andere einfach [hinübernehmen]“ im Akt des Übersetzens nicht möglich (vgl.<br />
diesbezüglich die Argumentation im Abschnitt „Damit wird das Ziel eines ‚treuen‘ oder ‚äquivalenten‘<br />
Translats einmal mehr als Fiktion entlarvt“ dieses Buches, S. 138–151).
Anstelle einer Einleitung<br />
11<br />
sich wehren, den neuen Text zu singen; das neue Notenmaterial kann nicht rechtzeitig<br />
fertig werden; IntendantInnen können das Neue scheuen usw. 7 Nicht alles –<br />
vielleicht nur das Wenigste – kann aus den Intentionen der Übersetzenden erklärt<br />
werden, vor allem, wenn unter Zeitdruck gearbeitet wird: 8 „Gewichtige praktische<br />
Gründe“ 9 sind immer zur Stelle.<br />
<strong>Swarowsky</strong>s Statement könnte aber auch auf die Besonderheit des Texttyps<br />
Libretto zielen, das ja wiederum nicht als autonome Textsorte angesehen werden<br />
darf. Die praktische Orientiertheit einer Übersetzung für die Oper wird von <strong>Swarowsky</strong><br />
immer wieder betont. Als notwendige Eigenschaften eines Opernübersetzenden<br />
sieht er daher neben „Vollmusikertum“, „Werkeinsicht und Stilbeherrschung“<br />
sowie „totale[r] Beherrschung der Sprache“, in die übersetzt wird, auch die „lebendige<br />
Vertrautheit mit den Wirkungen des Theaters“. 10<br />
Die Verzahnung dieser zwei Dimensionen – jener der Ästhetik und jener der Theaterpraxis<br />
– ist nicht nur deswegen unauflösbar, weil mehrere Aspekte der Theaterpraxis<br />
durch die ästhetischen Voraussetzungen einer Theaterkultur bestimmt werden,<br />
sondern auch, weil ästhetische Prinzipien wie etwa jenes der Werktreue gemäß der<br />
Praxis einer bestimmten Theaterkultur formuliert und gedeutet werden. In diesem<br />
Sinn können etwa Werktexte geändert werden, wenn sie sonst zu Missverständnissen<br />
oder vermutlichen Fehlinterpretationen in der rezipierenden Theaterkultur führen<br />
könnten. 11 „Der übersetzte Text muß spielbar sein“ 12 – das gilt für das Theater, in der<br />
Oper muss er darüber hinaus auch singbar sein. Er muss dramaturgisch „an den Spielkörper<br />
und die technischen Gegebenheiten eines Theaters“ 13 angepasst sein, bzw.<br />
Texte, die auf dem Papier oder bei einer Gesangsprobe funktionieren, erweisen sich<br />
oft auf der Bühne – in Kombination mit den Regieanweisungen – als unbrauchbar. 14<br />
Die Oper als Text 15 ist ein „texte à composantes multiples“ 16 , wie es der französische<br />
Germanist und Musikwissenschaftler Gottfried R. Marschall formuliert. Sie<br />
besteht aus mehreren Komponenten, die nicht nur Musik und linguistischen Text<br />
7 Vgl. etwa Siedhof 1992, S. 179.<br />
8 Vgl. Heinzelmann 2004, S. 615.<br />
9 Creuzburg 1951, S. 21.<br />
10 Vgl. <strong>Swarowsky</strong> 1959, S. 419.<br />
11 Vgl. Hartung 1965, S. 10.<br />
12 Ebd.<br />
13 Ebd., S. 11.<br />
14 Vgl. Hurt/Koloszar/Lisa 1997. S. 176.<br />
15 Der Begriff ‚Text‘ wird in diesem Buch je nach Zusammenhang der Aussage auch im ausgedehnten<br />
Sinn gebraucht, und nicht nur in der Bedeutung einer schriftlich-sprachlichen Information.<br />
16 Marschall 1999, S. 350.
12 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
umfassen – „geste, danse, decor, action“ 17 gehören ebenfalls dazu. In der Gestaltung<br />
einer Opernübersetzung, so wie auch in ihrer Analyse, müssen daher Schwerpunkte<br />
gesetzt werden: Eine Übersetzung für die Bühne und eine für die Publikation in<br />
Rahmen einer Edition sind jeweils gezwungen, bestimmte Komponenten auszuklammern<br />
oder unberücksichtigt zu lassen. Ist die Oper eine Textgattung, die aufgrund<br />
ihrer medialen Komplexität nach interdisziplinären wissenschaftlichen Annäherungsmethoden<br />
verlangt, so kann auch das Libretto und seine Übersetzung<br />
nicht nur hinsichtlich rein musikwissenschaftlicher und philologischer Fragestellungen<br />
analysiert werden. 18 Das vorliegende Buch wird daher versuchen, das Thema<br />
der Opernübersetzung mittels vielfältiger wissenschaftlicher Zugangsweisen in den<br />
Blick zu nehmen. Die Translationswissenschaftlerin Mary Snell-Hornby behauptete<br />
1982 in ihrer Antrittsvorlesung an der Universität Zürich bezüglich der wissenschaftlichen<br />
Auseinandersetzung mit der Übersetzung für die Theaterbühne, sie sei<br />
„in einer Art Niemandsland angesiedelt zwischen Literaturwissenschaft, Linguistik<br />
und Theaterpraxis“ 19 . Ähnliches hätte zur selben Zeit auch für die Opernübersetzung<br />
gesagt werden können. Mittlerweile blüht die wissenschaftliche Beschäftigung<br />
mit diesem Thema, dabei versucht verständlicherweise jede wissenschaftliche Disziplin<br />
ihre Fragestellungen, Perspektiven und Methoden in den Mittelpunkt zu rücken.<br />
20 Eine intensive dreitägige Tagung zu dem Thema fand 2000 in Paris statt, 21<br />
weitere Symposien und Sammelbände folgten. 22 Eine immer umfangreicher werdende<br />
Literatur untersucht das Thema mittels verschiedener methodischer Ansätze und<br />
Fallstudien, eine zusammenfassende und ins Detail gehende Darstellung ist hingegen<br />
noch Desideratum der Forschung. 23 Eine systematische Geschichte bzw. Musikgeschichte<br />
der Opernübersetzung ist noch nicht geschrieben worden. Während Kaindl<br />
in zahlreichen Publikationen versuchte, für das Feld der Translationswissenschaften<br />
eine systematische Theorie der Opernübersetzung zu umreißen, konnte die Musikwissenschaft<br />
noch keine allgemeinen Theorien entwickeln und konzentriert sich in<br />
den vorhandenen Untersuchungen auf Fallstudien. Kaindl plädiert für die Notwendigkeit<br />
eines interdisziplinären, holistischen Zugangs zur Translation, der nicht nur<br />
17 Ebd.<br />
18 Vgl. Micke 1998, S. 1.<br />
19 Snell-Hornby 1984, S. 101.<br />
20 Vgl. umfangreiche Bibliographie in Susam-Sarajeva 2008 a .<br />
21 Die Beiträge dieser Tagung wurden in Marschall 2004 a veröffentlicht, Rezension des Bandes vgl.<br />
Gorlée 2006.<br />
22 Gorlée 2005; Susam-Sarajeva 2008 a ; Schneider/Schmusch 2009.<br />
23 Zur Geschichte und den Zielen der Opernübersetzung vgl. Jacobs 1992, Schneider 2008, Mertens<br />
2011, S. 29–38. Für eine Zusammenfassung der Forschungsansätze über Opernübersetzung vgl.<br />
Schmusch 2009.
Anstelle einer Einleitung<br />
13<br />
die textliche Ebene des Librettos, sondern alle Komponenten einer Oper in Betracht<br />
zieht. Er betrachtet Oper als eine multimediale textuelle Gestalt und versteht den<br />
Gesamttext (gemeint ist die Oper als multimedialer Text) und nicht einzelne Wörter<br />
oder Phrasen als Ausgangspunkt einer Übersetzung. Dieser Ansatz scheint sich von<br />
der Arbeitsweise <strong>Swarowsky</strong>s zu unterscheiden, der etwa angesichts kollektiv erarbeiteter<br />
Übersetzungsversuche hervorhob, von wem welches Wort stamme. 24 Einig sind<br />
sich <strong>Swarowsky</strong> und Kaindl hingegen in Bezug auf die Wichtigkeit der Einbindung<br />
der Übersetzenden in den Produktionsprozess einer Oper. Denn „Texte als Übersetzungsgrundlage<br />
sind […] keine abstrakten systemhaften Gebilde, sondern stehen in<br />
einer konkreten Verwendungssituation.“ 25 Es wird in einer bestimmten Situation, für<br />
bestimme RezipientInnen und „mit einer bestimmten Kommunikationsintention“ 26<br />
übersetzt. Die niederländische Translationswissenschaftlerin und Semiotikerin Dinda<br />
L. Gorlé kritisierte an Kaindls theoretischer Annäherung jedoch die Diskrepanz zwischen<br />
der abstrakt-theoretischen Dimension und dem Fehlen einer Einlösung in der<br />
Realität des musiktheatralischen Alltags sowie die Problematik der analytischen Anwendbarkeit.<br />
27 Auch an diesem Beispiel wird das grundlegende Spannungsverhältnis<br />
zwischen Ästhetik und Praxis spürbar.<br />
Die musikpublizistische, also nichtwissenschaftliche Beschäftigung mit dem<br />
Thema Opernübersetzung kann mittlerweile auf eine etwa hundertjährige Tradition<br />
zurückblicken. Diese Publikationen verbindet üblicherweise eine normative<br />
bzw. präskriptive Intention. Die PublizistInnen – meist selbst als Übersetzende von<br />
Operntexten tätig – geben an, was bei einer Übersetzung zu vermeiden sei. Nicht<br />
selten werden bestehende Übersetzungen kritisiert; in Publikationen dieser Art ging<br />
es nämlich oft auch um die Legitimierung der eigenen Übersetzungsarbeit. 28 Kaindl<br />
erwähnt in seiner 1995 erschienenen theoretischen Abhandlung über die Übersetzung<br />
von Opernlibretti einige mit der Kritik und Analyse von Übersetzungen verbundene<br />
Probleme:<br />
In den einschlägigen Quellen zur Opernübersetzung wurde niemals der Versuch<br />
unternommen, diese weitgehend berechtigte Kritik auch theoretisch<br />
zu fundieren. Vielmehr dienten den Kritikern nur immer die jeweilig einigen<br />
Kenntnisse der übersetzungstechnischen Probleme als Maßstab für die<br />
24 KABV, Brief von Hans <strong>Swarowsky</strong> an den Bärenreiter-Verlag (18.10.1964).<br />
25 Kaindl 1995, S. 13.<br />
26 Ebd., S. 14.<br />
27 Gorlée/Baest 1997, S. 377.<br />
28 Vgl. auch Susam-Sarajeva 2008 b , S. 190–191.
14 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
Bewertung der Übersetzung, sodaß die Kritik der Opernübersetzung bis heute<br />
im Feuilletonistischen steckenblieb. 29<br />
Wird Opernübersetzung aus musikwissenschaftlicher und philologischer Sicht betrachtet,<br />
so liegt das Hauptaugenmerk meistens<br />
auf der komplexen Beziehung zwischen Musik und Text und den sich daraus<br />
ergebenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung, wie zum Beispiel der<br />
Beibehaltung der Originalphrasierung, der Sangbarkeit der Übersetzung oder<br />
der richtigen Betonung. Szenische Aspekte und übersetzungswissenschaftliche<br />
Überlegungen wie Kulturtransfer und Zweckorientiertheit der Übersetzung<br />
werden dabei weitgehend ausgeklammert. 30<br />
Die kulturelle Komponente einer Übersetzung – also die Tatsache, dass eine Übersetzung<br />
für eine bestimmte kulturelle Umgebung mit eigenen Normen und Konventionen<br />
konzipiert ist – wird dabei nur sekundär (wenn überhaupt) berücksichtigt.<br />
Die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema wird in den letzten<br />
zehn Jahren von einem auf Kulturtransfer gegründeten Forschungsansatz beherrscht.<br />
Zwar hat sich dieser mit Fragen danach, wie Übersetzungen als Medium des Kulturtransfers<br />
funktionieren, welche Bedeutung Übersetzungen für die Rezeption in<br />
einer anderen (theatralischen) Kultur besitzen und wie Opern im Übersetzungsprozess<br />
modifiziert werden, grundsätzlich von Fragestellungen der traditionellen Philologie<br />
distanziert, doch konnte für die Analyse der Translate keine Methode entwickelt<br />
werden, die sich von der klassischen komparatistischen und in der modernen<br />
Translationswissenschaft kritisierten Äquivalenztheorie abgrenzt. 31 Die Übersetzung<br />
einer Oper wird nicht nur durch die linguistische Dimension bedingt, sondern auch<br />
durch die Aufführungssituation in ihrer politischen und materiellen Spezifität. 32 Im<br />
19. Jahrhundert bearbeiteten Komponisten eigene Opern bei der Einrichtung für<br />
andere Länderkulturen meistens auch in formaler Hinsicht: Die Fassungen, die bereits<br />
Gluck, Rossini, Wagner, Verdi und andere von ihren Stücken für Paris anfertigten,<br />
unterscheiden sich nicht nur sprachlich von den Fassungen für andere Städte<br />
bzw. Länder. 33 Es handelt sich in diesen Fällen, „wenn ein freierer Umgang mit dem<br />
29 Kaindl 1995, S. 178.<br />
30 Oberdorfer 2004, S. 40.<br />
31 Vgl. Jahn 2011. Vgl. diesbezüglich Abschnitt „Damit wird das Ziel eines ‚treuen‘ oder ‚äquivalenten‘ Translats<br />
einmal mehr als Fiktion entlarvt“ dieses Buches, S. 138–151.<br />
32 Vgl. Gouiffès 2004, S. 455.<br />
33 Vgl. etwa Fallstudien zu Verdi (Reynal 2004) oder Wagner ( Jost 2004).
Anstelle einer Einleitung<br />
15<br />
Ausgangsmaterial auch die Formgestalt modifiziert“ 34 , eigentlich mehr um Bearbeitungen<br />
als um Übersetzungen, wenngleich eine Übersetzung ja immer auch eine Art<br />
von Bearbeitung ist.<br />
Die Fülle an Publikationen der letzten 15 Jahre scheint keine Desiderata offen<br />
zu lassen. Doch Bernhard Jahn vermisst etwa eine Hinterfragung der Zusammenhänge<br />
zwischen Übersetzungspraxis und den „seit dem 19. Jahrhundert virulenten<br />
Nationalkonzepten“ 35 . Schließlich ist die „Vorstellung, eine Oper in der jeweiligen<br />
Nationalsprache zu singen, […] keine naturgegebene, sondern galt noch im 17. und<br />
18. Jahrhundert als eine Möglichkeit neben anderen. Erst im 19. Jahrhundert entsteht<br />
ein Zwang zur sangbaren Übersetzung.“ 36 In der Forschung der letzten Jahre fehlt<br />
aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Problem des Übersetzens im<br />
Sinne der sogenannten Werktreue. Dieser ästhetische Ansatz ist zwar in vielerlei Hinsicht<br />
problematisch (er gilt in der translationswissenschaftlichen Sekundärliteratur als<br />
veraltet und unkritisch und wird daher polemisch betrachtet), 37 viele ÜbersetzerInnen<br />
von Libretti – darunter auch <strong>Swarowsky</strong> – sahen sich (einige sehen sich nach wie vor)<br />
dieser Ästhetik verpflichtet. Es sollte daher auch in diesem Fall überprüft werden, welche<br />
Fragen der Musikgeschichte und Musikgeschichtsschreibung anhand bzw. angesichts<br />
der Verschränkung der ästhetischen und der praktischen Ebenen gestellt werden<br />
können: Was wurde in <strong>Swarowsky</strong>s Wirkungszeitraum überhaupt unter Werktreue<br />
verstanden und welche Einstellung setzte sie gegenüber einem ‚Werk‘ voraus, das im<br />
Produktionsprozess und in der Aufführungsgeschichte ständigen Wandlungen und<br />
wechselnden Bedeutungszuschreibungen ausgesetzt war? Der Übersetzer und Translationswissenschaftler<br />
Lawrence Venuti bringt diese dynamische Charakteristik der<br />
Beziehung zwischen Texten und ihren Übersetzungen auf den Punkt:<br />
[A] text is the site of many different semantic possibilities that are fixed only<br />
provisionally in any one translation, on the basis of varying cultural assumptions<br />
and interpretative choices, in specific social situations, in different historical<br />
34 Kapp 2008, S. 203.<br />
35 Jahn 2011, S. 184.<br />
36 Ebd.<br />
37 Oft wird in nichtwissenschaftlichen Diskussionen von VerfechterInnen von Operaufführungen in<br />
der Ausgangssprache argumentiert, dass Übersetzung und Werktreue von vorhinein in Widerspruch<br />
zueinander stehen würden. Die Trivialität dieses Denkmusters braucht hier nicht thematisiert zu<br />
werden, schließlich eröffnete schon der Translationswissenschaftler Georges Mounin sein berühmtes<br />
Buch Les belles infidèles (Mounin 1955) mit dem Statement: „Tous les arguments contre la traduction<br />
se résument en un seul: elle n’est pas l’original.“ („Alle Argumente gegen die Übersetzung (das Übersetzen)<br />
können in einem zusammengefasst werden: sie (es) ist nicht das Original.“) [Alle Übersetzungen<br />
stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Autor dieses Buches.]
16 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
periods. Meaning is a plural and contingent relation, not an unchanging unified<br />
essence, and therefore a translation cannot be judged according to mathematics-based<br />
concepts of semantic equivalence or one-to-one correspondence.<br />
[…] canons of accuracy in translation, notions of ‚fidelity’ and ‚freedom‘ are<br />
historically determined categories. […]. The viability of a translation is established<br />
by its relationship to the cultural and social conditions under which it<br />
is produced and read. 38<br />
Eine weitere Forschungslücke ist die Beschäftigung mit einzelnen ÜbersetzerInnenpersönlichkeiten.<br />
In der Sekundärliteratur zur Opernübersetzung gibt es nur wenige<br />
ernstzunehmende (d. h. nicht hagiographische) Artikel zu konkreten ÜbersetzerInnen.<br />
39 Wird aber die historische und kulturelle Dimension eines Translats in<br />
den Vordergrund des Interesses gerückt, so ist die Frage wesentlich, wie die Figuren<br />
der ÜbersetzerInnen diese Dimensionen verkörpern und wie diese zum sie jeweils<br />
interpretierenden Sprachrohr werden. Im Fallbeispiel <strong>Swarowsky</strong>s, der ja hauptsächlich<br />
als Dirigent (also als Musik aufführender Interpret) und als Pädagoge tätig war,<br />
spitzt sich die Frage nach der Spezifität der Opernübersetzung als interpretatorische<br />
Handlung noch stärker zu. In diesem Sinn soll hier untersucht werden, wie sich diese<br />
gerade erwähnte Spezifität manifestieren kann und ob die Entscheidung für eine<br />
bestimmte Art der Übersetzung eine relevante Stellung im Prozess der Interpretation<br />
einer Oper einnimmt. 40 Die Verlagerung vom Präskriptiven zum Analytischen<br />
erlaubt es, die Materie wissenschaftlich in einem musikgeschichtlichen Setting zu<br />
behandeln. Die Fragestellungen, die Şebnem Susam-Saraeva in den Mittelpunkt ihrer<br />
Beschäftigung mit der Übersetzung von ,Songs‘ rückt – jene nach der Zweckorientiertheit<br />
der Übersetzungen –, lassen sich mit den erforderlichen Modifikationen<br />
auch für die Librettoübersetzung anwenden:<br />
Who will sing the musical product? Who will listen to it? Where will it appear:<br />
on a CD, TV or radio, or will it be a live performance? How many times will the<br />
audience have the chance to listen to the song, i. e. how transitory will the reception<br />
be? Are the songs initially to be performed only once (as in a stage musical)<br />
and then incorporated into CDs? Is the final product intended for participatory<br />
38 Venuti 1995, S. 18.<br />
39 Zu Werfel vgl. Mautner 2000 und Bibliographie darin; zu François Henri Joseph Castil-Blaze vgl.<br />
Loubinoux 1994 und die Schriften von Everist im Verzeichnis der Sekundärliteratur. Eine Auseinandersetzung<br />
mit der Arbeit einzelner ÜbersetzerInnenfiguren ist auch in einigen Publikationen von<br />
Schneider (vgl. hier: Verzeichnis der Sekundärliteratur) zu finden.<br />
40 Vgl. diesbezüglich auch Susam-Sarajeva 2008 b , S. 190.
Anstelle einer Einleitung<br />
17<br />
and shared enjoyment or for individual consumption? Is the song going to be<br />
monolingual, bilingual or multilingual? What will be the mode of translation:<br />
a written text […] or a ‚singable‘ target version? Will the lyrics be presented<br />
on their own or will they be accompanied by visuals, reflecting the performers’<br />
virtuosity, mimics and gestures? Is the melody going to be exactly the same as<br />
that which accompanied the source text? Is the audience already familiar with<br />
the original version of the song? The questions one needs to ask in order to understand<br />
the process and the final product are seemingly endless […]. 41<br />
All diese Fragen lassen sich unter dem Begriff des Skopos – dem Ziel, der Intention<br />
einer Übersetzung – subsumieren. Wer übersetzt? Warum? Für wen? Welche Übersetzungsstrategien<br />
werden verfolgt? Wie werden Übersetzungen verbreitet? 42 Die<br />
Antworten auf diese komplexen Fragen bieten möglicherweise eine neue Perspektive<br />
auf den Zusammenhang zwischen dem musikhistorischen Kontext und der Rolle<br />
von Übersetzungen in der jeweiligen Aufführungssituation.<br />
Über <strong>Swarowsky</strong> als Übersetzer liegen einige Publikationen vor, auch hier kann<br />
aber meistens eine hagiographische Haltung festgestellt werden. Dies hängt vermutlich<br />
mit der Tatsache zusammen, dass die meisten dieser Veröffentlichung von seinen<br />
ehemaligen SchülerInnen stammen, die ihm mit einer Haltung der Bewunderung gegenüberstehen.<br />
43 Das vielfältige Quellenmaterial erlaubt jedoch, neue Erkenntnisse<br />
über <strong>Swarowsky</strong>s Arbeit als Übersetzer zu gewinnen. 44 Zwar wurden viele Dokumente<br />
vernichtet, als <strong>Swarowsky</strong>s Berliner Wohnung im Jahr 1944 zerbombt wurde, 45<br />
doch haben sich in seinem Nachlass noch immer zahlreiche Dokumente erhalten. 46<br />
41 Ebd., S. 191.<br />
42 Ebd., S. 195.<br />
43 Vgl. z. B. Noé 1994.<br />
44 In dieser Studie wird allerdings auf das systematische Eruieren von Aufnahmen, die Übersetzungen<br />
<strong>Swarowsky</strong>s benützen, verzichtet. Dies ist dadurch zu begründen, dass die namentliche Nennung der<br />
ÜbersetzerInnen in den Credits der Tonquellen normalerweise fehlt und sich daher eine systematische<br />
Recherche als fast unmöglich erweist. Als Material zur Untersuchung der Praktikabilität bzw.<br />
Sangbarkeit der Übersetzung dienen hingegen schriftliche Archivalien (vgl. hier: Kap. 2).<br />
45 Vgl. Hitzler 2005 a , S. 2.<br />
46 Der Nachlass von Hans <strong>Swarowsky</strong> befindet sich seit Anfang 2019 in Eigentum der Universität für<br />
Musik und darstellende Kunst Wien und ist öffentlich in deren Universitätsbibliothek zugänglich.<br />
Bei den Recherchen zu diesem Buch waren alle Materialien noch im Privatbesitz der Familie. Ich hatte<br />
allerdings uneingeschränkten Zugang zu den Archivalien und möchte mich für die Unterstützung<br />
bei ihrer Sichtung und Auswertung herzlich bei Manfred Huss und Daniela <strong>Swarowsky</strong> bedanken.<br />
Mein Dank gilt auch Reinhard Kapp, der ebenfalls große Unterstützung bei der Interpretation der<br />
Materialien geleistet und meine Forschung in Rahmen eines PhD-Studiums an der Universität für<br />
Musik und darstellende Kunst Wien betreut hat.
18 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
Im Titel dieses Kapitels wurde angedeutet, dass das Ziel der vorliegenden Studie<br />
darin besteht, die Materie Opernübersetzung aus einer musikgeschichtlichen bzw.<br />
musikwissenschaftlichen Perspektive zu behandeln. Astrid Bernicke versucht in einer<br />
Abhandlung über die Übertitelung italienischer Opern von einem musikwissenschaftlichen<br />
Ansatz Gebrauch zu machen, indem sie „die schriftlich niedergelegte<br />
Fassung der Oper zum Ausgangspunkt“ 47 ihrer Untersuchung nimmt. Meine Forschung<br />
will den musikwissenschaftlichen Ansatz wesentlich erweitern, indem zum<br />
einen versucht wird, Impulse aus anderen Disziplinen wie etwa den Translationswissenschaften<br />
für musikwissenschaftliche und musikgeschichtliche Fragestellungen zu<br />
adaptieren. Zum anderen bereichert eine aktuelle musikwissenschaftliche Perspektive,<br />
wie sie insbesondere von den kulturwissenschaftlich und soziologisch orientierten<br />
,Opera Studies‘ vertreten wird, die Arbeit um weitere methodische Zugänge. In der<br />
Einleitung zu einem 2007 erschienenen Sammelband fasst Victoria Johnson die bevorzugten<br />
Forschungsthemen und -tendenzen in den ,Opera Studies‘ der letzten Jahren<br />
zusammen. Drei Ansätze sind ihrer Darstellung zufolge am häufigsten vertreten: der<br />
„critical approach“, der „system of meaning approach“ und der „material conditions<br />
approach“. Der erste Ansatz „involves a search for present meanings, either social or<br />
personal, in operatic works“; der zweite sucht nach „historical meanings available<br />
to the creators and consumers of operatic works“; der dritte die „reconstruction and<br />
analysis of the organizational, political, and professional structures underpinning<br />
opera production and consumption in specific historical contexts.“ 48 Vielen dieser<br />
Fragen wird auch hier anhand des Spezialbeispiels Opernübersetzung nachgegangen,<br />
vor allem jenen nach der Rekonstruktion eines erweiterten „system of meaning<br />
(musical as well as extra musical) that […] shaped the production and reception of<br />
operatic works in specific historical contexts“ 49 und nach dem „turning from the<br />
work themselves to the material condition of operatic production and reception.“ 50<br />
Im Falle der Opernübersetzung sollte sich die wissenschaftliche Analyse daher nicht<br />
nur mit dem Produkt der Übersetzung, dem Translat, beschäftigen, sondern auch mit<br />
den Übersetzenden und deren Rolle, mit den „Umstände[n] und Produktionsbedingungen,<br />
die Oper[nübersetzungen] entstehen und zur Wirkung gelangen lassen“ 51 ,<br />
um die Analyse schließlich im Rahmen eines „conditionnement pragmatique“ 52 –<br />
einer praktischen Bedingheit – interpretieren zu können. So wie sich Operntexte und<br />
47 Bernicke 2006, S. 259.<br />
48 Johnson/Fulcher/Ertman 2007, S. 13–14.<br />
49 Ebd., S. 15.<br />
50 Ebd., S. 16.<br />
51 Brandenburg/Seedorf 2011, S. 7.<br />
52 Marschall 2004 b , S. 13.
Anstelle einer Einleitung<br />
19<br />
ihre Veränderungen als Reaktionen auf „fashions and legacies of their new geographical,<br />
temporal, technological, and performative contexts“ 53 interpretieren lassen,<br />
können auch Übersetzungen von Libretti vor diesem Hintergrund gelesen werden.<br />
Das Translat kann nicht das „bloße Abbild des Originals sein“ 54 . Translatorisches<br />
Arbeiten und Denken kann außerhalb eines kulturellen Umfeldes, ganz gleich wie<br />
präzise sich dieses definieren lässt, nicht stattfinden. Bewusst oder unbewusst setzen<br />
sich im Prozess des Übersetzens ideologische 55 und im weitesten Sinne kulturelle<br />
Voraussetzungen, Vorurteile und gesellschaftliche Zwänge und Interessen durch, die<br />
den Übersetzenden und ihrer Zeit eigen sind. 56 Die meisten Arbeiten zur Opernübersetzung,<br />
so Kaindl, „vernachlässigen die Voraussetzungen historischen Arbeitens,<br />
nämlich die systematische Einbeziehung der kulturellen und gesellschaftlichen<br />
Zusammenhänge, in die ein bestimmter Text bzw. seine Übersetzung und die daran<br />
beteiligten handelnden Personen eingebettet sind.“ 57 In der vorliegenden Studie<br />
wird der Versuch unternommen, diesen Fehler zu vermeiden. Dagegen soll gezeigt<br />
werden, dass eine translatorische Handlung erst in einem historischen, gesellschaftlichen,<br />
ästhetischen und produktionstechnischen Kontext Bedeutung erlangen kann.<br />
Wenn hier von Kontexten gesprochen wird, so ist immer mitzudenken, dass diese<br />
keine übergeordnete Struktur darstellen, vor deren Hintergrund Texte interpretierbar<br />
werden. Texte werden zwar von Kontexten bedingt, formen den Kontext aber<br />
gleichzeitig selbst mit. 58<br />
<strong>Swarowsky</strong> scheint diese geschichtsphilosophische Grundannahme gar nicht oder<br />
nur partiell geteilt zu haben. Swarowksys Auffassung nach sollten sich die Interpret-<br />
Innen ihrer komplexen Gegenwärtigkeit entziehen und ihre Legitimation als Inter-<br />
53 Montemorra/Poriss 2010, S. 3. Vgl. insbesondere den in diesem Sammelband enthaltenen Aufsatz<br />
von Will Crutchfield (Crutchfield 2010).<br />
54 Prunč 1997, S. 111–112.<br />
55 Im Rahmen dieser Forschung wird mehrmals vom Substantiv/Adjektiv „Ideologie“/„ideologisch“<br />
Gebrauch gemacht. Dieser Begriff wird weder im Sinne der marxistischen Tradition noch<br />
pejorativ benützt, sondern wertneutral. Er wird nicht nur in seiner gängigen Bedeutung verwendet,<br />
laut Duden „an eine soziale Gruppe, eine Kultur o. Ä. gebundenes System von Weltanschauungen,<br />
Grundeinstellungen und Wertungen“ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Ideologie,<br />
09.02.2015), Ideologie soll darüber hinaus als eine komplexe Bündelung von Handlungen begriffen<br />
werden, die es erlaubt, diesen Handlungen und ihren Resultaten Bedeutung(en) zuzuschreiben.<br />
Um mit Roland Barthes zu sprechen, bildet „[d]er Raum der Codes einer Epoche […] eine<br />
Art Vulgata des Wissens, die zu beschreiben eines Tages der Mühe wert wäre: […] Versammelt<br />
man all dieses Wissen, alle diese Vulgarismen, bildet sich ein Monster heraus, und dieses Monster<br />
ist die Ideologie.“ (Barthes 1987, S. 101)<br />
56 Vgl. auch Prunč 1997, S. 111–112.<br />
57 Kaindl 2005, S. 220.<br />
58 Vgl. Zammito 1993, S. 792–793; vgl. auch Kramer 1990, S. XII–XIII.
20 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
pretierenden nur im Textlichen suchen und finden. Nichtdestotrotz: Texte werden<br />
aber, wie hier bereits mehrmals erwähnt, als etwas Dynamisches erfasst und auch für<br />
<strong>Swarowsky</strong> konnten diese die Möglichkeit zu ‚Veränderungen‘ bieten. 59 Genau diese<br />
dynamische Zwiespältigkeit ermöglicht das Untersuchen der translatorischen Handlungen<br />
als Akte der (musikalischen) Interpretation. In dieser Hinsicht wird Übersetzen<br />
zum ständigen Kompromiss, für Übersetzende wie auch für die RezipientInnen<br />
und AdressatInnen einer Übersetzung. Durch eine Interpretation wird ersichtlich,<br />
wie InterpretInnen eine Aussage verstanden haben. Im Falle der Übersetzung enthüllt<br />
also der Zieltext die Art und Weise, wie der Ausgangstext verstanden wurde.<br />
Die Translationswissenschaftlerin Rosemary Arrojo benützt in diesem Zusammenhang<br />
die Metapher des Palimpsests. Als Palimpsest wird in der Kodikologie ein<br />
Schriftstück bezeichnet, das nach dem Abschaben, Abwaschen oder Wegradieren des<br />
ursprünglichen Textes erneut beschriftet wurde, wobei letzterer oft noch erkennbar<br />
beibt. Übersetzen, so Arrojo, sei „nicht einfach der Transport oder die Übertragung<br />
unveränderlicher Bedeutungen von einer in eine andere Sprache, weil die tatsächliche<br />
Bedeutung eines Wortes oder Texts in der Ausgangssprache durch eine Lektüre nur<br />
vorläufig festgestellt werden kann.“ 60 Texte werden somit zu Palimpsesten, wenn sie<br />
„in jeder Kulturgemeinschaft und in jeder Epoche ausgelöscht [werden], um einer<br />
re-écriture (Interpretation, Lektüre oder Übersetzung) ‚desselben‘ Text[s] Raum zu<br />
geben.“ 61 Als Akt der Interpretation bewahrt eine Übersetzung somit nicht lediglich<br />
„die ‚Original‘bedeutungen eines Autors […], sondern stellt sich ihrer Aufgabe als<br />
Produzentin von Bedeutungen.“ 62 Fazit dieser Überlegungen ist, dass die Frage, „ob<br />
eine Übersetzung gut oder schlecht [sei]“ 63 nicht so einfach zu beantworten ist, wie<br />
sich das etwa Heinrich Creuzburg 1935 vorstellte:<br />
Zur Frage steht, ob eine Übersetzung gut oder schlecht ist; und dafür haben<br />
wir zum Glück absolutere Maßstäbe als es Stil und Zeit sind: das Original!<br />
Und diesem muß die Übersetzung sich angleichen, ohne Rücksicht auf sprachlichen<br />
Zeitgeschmack. 64<br />
Im Laufe dieser Studie soll gezeigt werden, dass – auch wenn sich Übersetzende wie<br />
Creuzburg oder <strong>Swarowsky</strong> auf die Wahrung des Originals beriefen – die sozialen<br />
59 Vgl. hier: Kap. 4.<br />
60 Arrojo 1997 a , S. 33.<br />
61 Ebd.<br />
62 Ebd.<br />
63 Creuzburg 1935, S. 356.<br />
64 Ebd.
Anstelle einer Einleitung<br />
21<br />
und produktionstechnischen Dimensionen der Übersetzungen diese durch Selektions-,<br />
Produktions- und Verbreitungsmechanismen direkt oder indirekt prägen können.<br />
Eine Reihe von Personen und Institutionen, die in den Prozess der Übersetzung<br />
involviert sind, beeinflussen oder bedingen die Entscheidungen der Übersetzenden. 65<br />
Unterschiedliche Übersetzungen von verschiedenen oder auch von ein- und<br />
demselben/derselben ÜbersetzerIn können als differenzierende Lösungen angesehen<br />
werden, die von diversen Voraussetzungen geleitet sind. 66 Vor diesem methodischen<br />
Hintergrund kann auch definiert werden, welche Bedeutung der Kritik einer Übersetzung<br />
zukommt. Diese soll nicht eine Beurteilung („jugement“) oder Evaluierung<br />
(„évaluation“) vornehmen, sondern die rigorose Analyse einer Übesetzung sein und<br />
dabei über ihre wesentlichen Merkmale reflektieren – nämlich über das Projekt, das<br />
eine Übersetzung hervorbrachte („projet de traduction“), den Horizont in dem diese<br />
entstand und schließlich die Position der ÜbersetzerInnen. 67 Ziel der Übersetzungskritik<br />
sei auch das Verstehen der Gründe für das übersetzerische Scheitern („le pourquoi<br />
de l’échec traductif“ 68 ) und die Untersuchung der „Brauchbarkeit von Übersetzungen<br />
für die Aufführungspraxis“. 69<br />
Im Anschluss an diesen kurzen einleitenden Überblick über Methodik und Forschungsstand<br />
werden im folgenden Kapitel einige Archivalien (Übersetzungen) aus<br />
dem Nachlass von Hans <strong>Swarowsky</strong> untersucht. Das Analysieren von Archivalien<br />
(und nicht lediglich von publizierten Übersetzungen) stellt ein Novum dieser Studie<br />
dar, das erlaubt, ansatzweise zu verfolgen, wie und warum im Prozess des Übersetzens<br />
bestimmte Änderungen vorgenommen wurden und wie die Tätigkeit des Übersetzens<br />
im Kontext einer Produktion bzw. einer Verlagsmitarbeit vonstatten ging.<br />
65 Vgl. diesbezüglich Holz-Mänttäri 1984 und Wolf 2007.<br />
66 Vgl. Loubinoux 2000, S. 56.<br />
67 Vgl. Berman 1995, S. 13–14. Zum „Projet de traduction“ vgl. S. 76–79: „Toute traduction conséquente<br />
est portée par un projet, ou visée articulée. Le projet ou visée sont déterminés à la fois par<br />
la position traductive et par les exigences à chaque fois spécifiques posées par l’oeuvre à traduire.<br />
[…] Le projet définit la manière dont, d’une part le traducteur va accomplir la translation littéraire,<br />
d’autre part, assumer la traduction même, choisir un ‚mode‘ de traduction, une ‚manière<br />
de traduire‘. (Hervorhebung im Original). Deutsche Übersetzung des Zitats: Kuhn 2007, S. 102:<br />
„Jede konsequente Übersetzung beruht auf einem Projekt bzw. einer bestimmten Zielvorstellung.<br />
Das Projekt bzw. die Zielvorstellung wird zugleich von der übersetzerischen Position und den<br />
jeweiligen spezifischen Erfordernissen des zu übersetzenden Werkes bestimmt. […] Das Projekt<br />
definiert die Art und Weise, wie der Übersetzer einerseits an der literarischen Translation mitwirken<br />
und wie er anderseits die Übersetzung selbst angehen wird, welchen ‚Übersetzungsmodus‘,<br />
welche ‚Übersetzungsweise‘ er wählen wird.“<br />
68 Berman 1995, S. 17.<br />
69 Kaindl 1996, S. 66.
22 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
Dabei werden zunächst Swarowksys theoretischen Überlegungen zur Librettoübersetzung<br />
zusammenfassend dargestellt, um anschließend zu überprüfen, ob die aus den<br />
Quellen ersichtlichen Arbeitsstadien damit in Verbindung gebracht werden können.<br />
Die meisten analytischen Studien von Opernübersetzungen vergleichen verschiedene<br />
Übersetzungen ein- und desselben Ausgangstextes durch mehrere Übersetzende,<br />
was das Problem mit sich bringt, dass oft Übersetzungen aus ganz unterschiedlichen<br />
Epochen und Theaterkulturen gegenübergestellt werden. In diesem Buch werden<br />
hingegen die Textschichten einer einzelnen Quelle analysiert. Um erneut die Verschränkung<br />
ästhetischer und praktischer Faktoren bei der Übersetzungsarbeit aufzuzeigen,<br />
beschränkt sich die Analyse in diesem Teil auf zwei Typen von Varianten,<br />
die diesen Dualismus widerspiegeln – nämlich zum einen Änderungen, die auf die<br />
Wiederherstellung des musikalischen Textes abzielen, und zum anderen solche, bei<br />
denen es um eine bessere Sangbarkeit auf der Bühne geht.<br />
Im dritten Kapitel wird schließlich <strong>Swarowsky</strong>s Lebenslauf anhand seiner übersetzerischen<br />
Tätigkeit erzählt. Fast sein ganzes Leben lang – von den 1920er Jahren<br />
bis Ende der 1960er Jahre – bildete die Librettoübersetzung einen Teil seiner Arbeit.<br />
Die Biographie <strong>Swarowsky</strong>s wurde zwischen 2001 und 2004 ausführlich in dem<br />
vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF)<br />
unterstützten Projekt Hans <strong>Swarowsky</strong> (1899–1975): Musik, Kultur und Politik im<br />
20. Jahrhundert aufgearbeitet. 70 Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes wurden<br />
noch nicht veröffentlicht, sie sollen aber gemeinsam mit den Akten eines 2001 in<br />
Wien abgehaltenen internationalen Kongresses zu Hans <strong>Swarowsky</strong> demnächst in<br />
eine umfangreiche Publikation münden. 71 Auf Grund dieser Vorarbeiten, die mir<br />
freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden, bildeten biographische Recherchen<br />
in meiner eigenen Forschungstätigkeit nur einen Randaspekt. Allerdings konnten<br />
neue Quellen einige Erkenntnisse und Resultate des erwähnten Forschungsprojekts<br />
in Frage stellen bzw. präzisieren. Im Zentrum des Kapitels steht daher nicht eine<br />
systematische Beschäftigung mit <strong>Swarowsky</strong>s Biographie, sondern die Frage nach der<br />
Verknüpfung von Biographie und Übersetzungen auf der einen und von Übersetzungen<br />
und Geschichte bzw. Musikgeschichte auf der anderen Seite. Das bedeutet<br />
nicht, dass sich Momente des Lebens des Übersetzers Swarowksy in den Zeilen seiner<br />
Übersetzungen widerspiegeln – zwar kann dies durchaus geschehen, doch bringt die<br />
Beobachtung dieses Faktums selten relevante Erkenntnisse mit sich und birgt hingegen<br />
die Gefahr, die Wortwahl der Übersetzungen auf unreflektierte Weise mit Daten<br />
70 Für eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Forschungsprojektes vgl. Horwath 2013.<br />
71 Grassl, Markus/Kapp, Reinhard (Hg.): Hans <strong>Swarowsky</strong>. Musik, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert (=<br />
Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 15). Wien [u. a.]: Böhlau, in Druck.
Anstelle einer Einleitung<br />
23<br />
aus der Biographie des Übersetzers in Verbindung zu bringen. Vielmehr soll aufgezeigt<br />
werden, dass es nicht nur möglich ist, Übersetzungen durch Biographien zu<br />
lesen, sondern dass Übersetzungen auch als Quellen von Biographie und Musikgeschichtsschreibung<br />
betrachtet werden können. Diese ‚biographische‘ Erzählung soll<br />
dabei immer wieder von interdisziplinär angeregten Reflexionen unterbrochen werden,<br />
mit deren Hilfe sich musikwissenschaftliche Grundthemen – etwa die Fragen<br />
nach der ‚Treue‘, der kulturellen Bedingtheit, den AdressatInnen von Interpretationen<br />
oder dem Status von ‚Text‘ und ‚Werk‘ – vielleicht aus einer anderen Perspektive<br />
verstehen lassen. Es mag sein, dass diese theoretischen bzw. methodischen Exkurse<br />
den Lesefluss stören und dass sie vielleicht als redundante Wiederholungen innerhalb<br />
der Argumentationen dieses Buches erscheinen könnten. Sie entstanden aber<br />
großteils im Forschungsprozess als Konsequenzen der biographischen Narration, und<br />
stellen eine bewusste Strategie dar, durch eine Art ‚Verfremdung‘ das Risiko einer<br />
Identifikation mit dem Untersuchungsgegenstand beim Lesen zu schmälern.<br />
In den letzten zwanzig Jahren hat sich eine Sparte der Musikwissenschaft vermehrt<br />
der Erforschung von Musikgeschichte durch Auseinandersetzung mit InterpretInnen<br />
und musikalischer Interpretation gewidmet. 72 Mit dem Konzept einer<br />
Kulturgeschichte der Musik haben sich die Maßstäbe der Musikgeschichtsschreibung<br />
verändert. Während biographisches Schreiben früher hauptsächlich Komponisten<br />
gewidmet war und die historische Darstellung als Geschichte von Kompositionen<br />
als Meisterwerken konzipiert wurde, untersucht Kulturgeschichte musikbezogenes<br />
Handeln: „Da kann die Biographie eines reisenden Flötisten oder eines Musikverlegers<br />
gleichermaßen bedeutsam sein.“ 73 Bedeutsam kann unter diesem Aspekt auch<br />
die Vita eines übersetzenden Dirigenten und Musikpädagogen sein, „zur Darstellung<br />
musikkultureller Vielfalt, aber auch zum besseren Verständnis der Werke selbst.“ 74<br />
Musikgeschichte kann mit den Worten der Musikwissenschaftlerin Freia Hoffmann<br />
somit als „ein Zusammenwirken von gesellschaftlichen Bedingungen, Institutionen<br />
und einer Vielzahl von Menschen, die produzierend, reproduzierend, hörend, unterrichtend,<br />
organisatorisch, kommentierend usw. an diesem Prozess teilgenommen<br />
haben“ 75 , angesehen werden. Es ist wichtig, „verschieden[e] Übersetzungen und<br />
ihre Urheber im Umfeld ihrer Zeit vorzustellen“ 76 : Reinhold Thur eröffnet seine<br />
Dissertation über die deutschen Übersetzungen von Mussorgskijs Boris Godunow 77 ,<br />
72 Vgl. etwa Hinrichsen 1999 oder Borchard 2008.<br />
73 Hoffmann 2014, S. 206.<br />
74 Unseld 2008, S. 116.<br />
75 Ebd.<br />
76 Gschwend 2006, S. 9.<br />
77 Thur 1990.
24 Interpretation zwischen Praxis und Ästhetik<br />
indem er biographische Auskünfte über die verschiedenen ÜbersetzerInnen gibt, deren<br />
Übertragungen er in seiner Arbeit behandeln wird. Diese konzisen Biographien<br />
skizzieren zwar die musikalische und/oder literarisch-philologische Herkunft der<br />
Übersetzenden als Rechtfertigung ihrer Kompetenzen im übersetzerischen Handeln,<br />
sie vermitteln den Lesenden jedoch keinen Interpretationsschlüssel, um die jeweiligen<br />
kulturellen und im weitesten Sinne ideologischen Voraussetzungen zu verstehen<br />
– was aber ein wesentlicher Ansatz gewesen wäre, um einiges über die Gründe<br />
und Hintergründe der translatorischen Handlungen ans Licht zu bringen. In der<br />
vorliegenden Studie soll deshalb die komplexe Verwicklung von Biographie, musikgeschichtlicher<br />
Praxis und translatorischer Handlung immer in den Vordergrund<br />
gestellt werden. 78<br />
Die Verzahnung der ästhetischen und der praxisbedingten Dimensionen einer<br />
Übersetzung soll schließlich zur Reflexion der Möglichkeiten des Übersetzens als<br />
konstitutives Moment der musikalischen Interpretation führen. Im letzten Kapitel<br />
wird dieser Aspekt ausgehend von einer Fallstudie über <strong>Swarowsky</strong>s Übersetzungsund<br />
Interpretationsarbeit an Glucks Orphée et Eurydice noch einmal thematisiert. Dabei<br />
wird einerseits hinterfragt, wie und ob sich seine Übersetzungen voneinander<br />
unterscheiden, wenn sie verschiedene Skopoi verfolgen – wenn sie also einmal für<br />
eine gedruckte Edition, einmal für eine Theaterproduktion verfasst wurden –, andererseits<br />
wird unter Berücksichtigung ästhetischer und praxisbedingter Faktoren<br />
reflektiert, welche Implikationen Änderungen in der dramaturgischen Struktur einer<br />
Oper haben können. Im letzten Kapitel werden schließlich die thematischen Fäden<br />
dieses Buches zu einer allgemeinen, über die Fallstudie hinausblickenden Theorie<br />
der Übersetzung als musikinterpretatorischer Handlung zusammengezogen – daher<br />
auch die rhapsodischere Gliederung dieses abschließenden Kapitels.<br />
Folgt man einer der Grundthesen der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte,<br />
so kann eine Aufführung nur als etwas Gegenwärtiges verstanden werden: „Theater<br />
ist eine Zeitmaschine. Alles, was es berührt und auf die Bühne bringt, verwandelt es<br />
in Gegenwart. Es schafft seine Produktionen nicht für die Ewigkeit, sondern allein<br />
für das Hier und Heute.“ 79 Welche Geschichten lassen sich anhand von Übersetzungen<br />
für Musiktheateraufführungen erzählen, die in der Vergangenheit zum Ereignis<br />
wurden und in der Gegenwart nur als historische Quellen existieren? Noch dazu als<br />
historische Quellen, die selten eindeutig ein Ereignis nachzeichnen, da sie für die<br />
78 Zu einer methodischen Reflexion über die Zusammenhänge von Biographie und Interpretation in<br />
der Musikgeschichtschreibung vgl. Borchard 2004.<br />
79 Fischer-Lichte 1983, S. 37.
Anstelle einer Einleitung<br />
25<br />
nächste Aufführung schon wieder modifiziert und zum Palimpsest gemacht wurden,<br />
in dem die Intentionen eines Einzelnen von kollektiven Handlungen verdeckt<br />
wurden? 80 Was bedeutet vor diesem Hintergrund schließlich der von InterpretInnen<br />
immer wieder beschworene Begriff der ,Treue‘? All diese Fragen lassen sich im vorliegenden<br />
Buch wahrscheinlich nicht letztgültig beantworten, es rückt sie trotzdem<br />
immer wieder in den Mittelpunkt<br />
80 Vgl. diesbezüglich auch Passow 1975, S. 149.