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kopfnoten zählen | | gute reise - handfest-online.de

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„Lehrjahre sind keine Herrenjahre, diesen<br />

Spruch höre ich ständig.“ Marco grinst und<br />

zieht sich die Kappe ins Gesicht. „Aber ich<br />

muss auch sagen: mein Gehalt ist gut. Netto<br />

bleiben etwa 400 Euro übrig. Zuhause die<br />

kriegen oft nur die Hälfte“. Stolz führt er<br />

durch seine Souterrainwohnung, die Miete<br />

zahlt auch ihm die Agentur für Arbeit. Zum<br />

Schlafen, Lernen, Musikhören ist es komfortabel<br />

genug. Kino, Fitnesscenter und Kneipen<br />

braucht Marco hier nicht: „Diese Landschaft<br />

ist schön“, sagt er und zeigt aus <strong>de</strong>m Fenster,<br />

„da geh’ ich viel wan<strong>de</strong>rn. O<strong>de</strong>r skaten.“ Und<br />

Leipzig? „Ich fahr’ ja je<strong>de</strong>s Wochenen<strong>de</strong><br />

heim“, gibt er zu. „Meine Freundin lebt auch<br />

dort.“<br />

Zur Lehre durch halb Deutschland – für<br />

Lysann und Marco war es eine Selbstverständlichkeit.<br />

„Das ist vielleicht nicht für<br />

je<strong>de</strong>n was“, räumt Marco ein. „Ich war schon<br />

immer eher aufgeschlossen. Und am Anfang<br />

Qualifikation ist wichtig,<br />

Herkunftsregion nicht<br />

Zur Lehre umziehen – immer mehr junge Leute tun es.<br />

Dr. Christian Sperle, Referent beim Deutschen<br />

Handwerkskammertag in Berlin, und Christian<br />

Gohlisch, Fachmann für Ausbildungsfragen <strong>de</strong>r<br />

Handwerkskammer für München und Oberbayern,<br />

machen Bewerbern Mut.<br />

<strong>handfest</strong>: In Hotel- und Gastronomieberufen<br />

sowie in Medien- und Kunstberufen ist<br />

es ganz normal, für einen Ausbildungsplatz<br />

umzuziehen. Was meinen Sie: Wird<br />

das in Zukunft auch in Handwerksberufen<br />

so sein? Warum, warum nicht?<br />

Sperle: Die angespannte Lage auf <strong>de</strong>m Ausbildungsmarkt<br />

verlangt <strong>de</strong>n Jugendlichen heute<br />

eine größere räumliche Flexibilität ab, unabhängig<br />

von <strong>de</strong>m Bereich, in <strong>de</strong>m man eine<br />

Ausbildung antreten möchte. Ob dieser Trend<br />

anhält, hängt letztlich von <strong>de</strong>r weiteren konjunkturellen<br />

Entwicklung ab. In bestimmten<br />

handwerklichen Berufen ist es allerdings<br />

schon immer üblich gewesen, für die Ausbildung<br />

umzuziehen (z.B. Konditor, Holzbildhauer<br />

o<strong>de</strong>r Musikinstrumentenmacher).<br />

Gohlisch: In Bayern stehen die Chancen sehr<br />

gut, eine Lehrstelle zu fin<strong>de</strong>n. Eine Umfrage<br />

ergab, dass letztes Jahr allein in Oberbayern<br />

2000 Lehrstellen unbesetzt blieben. Gera<strong>de</strong><br />

München ist extrem aufnahmewillig ...<br />

<strong>handfest</strong>: ... und extrem teuer.<br />

Gohlisch: Die Lage war schon mal angespannter.<br />

München hat ein sehr ausgefeiltes System,<br />

um Jugendliche zu unterstützen, die<br />

neu in die Stadt kommen. Da gibt es zum<br />

habe ich mich zwar über die neue Freiheit<br />

gefreut, aber schon am dritten Tag wur<strong>de</strong> das<br />

Heimweh ganz schön schlimm“. Seine<br />

Rezepte fürs Glücklichsein heißen: gut mit<br />

<strong>de</strong>m Geld haushalten, auf an<strong>de</strong>re zugehen,<br />

das zu schätzen wissen, was die neue<br />

Umgebung hergibt. Dass die Lehrstelle ein<br />

Volltreffer war, macht auch vieles leichter.<br />

Ähnlich sieht es Lysann, <strong>de</strong>ren alte<br />

Freundinnen inzwischen zum Großteil ebenso<br />

die Heimat verlassen haben. „Wenn ich übernommen<br />

wer<strong>de</strong>, bleibe ich“, meint Lysann<br />

fest. „Ich habe jetzt kaum Heimweh mehr.<br />

Am Wochenen<strong>de</strong> unternehmen wir oft was in<br />

Günzburg o<strong>de</strong>r in Augsburg, da gibt es ja<br />

alles. Nach Hause fahre ich nur noch etwa<br />

einmal im Monat.“ Obwohl es Marco häufiger<br />

nach Leipzig zieht, will auch er<br />

Ziemetshausen noch eine Weile erhalten bleiben.<br />

Seine Zukunft sieht er optimistisch:<br />

„Wenn man eine <strong>gute</strong> Lehre gemacht hat,<br />

wird das später sicher positiv bewertet.“<br />

Beispiel die Agentur Wohnwerk, im Internet<br />

unter www.bbinet.<strong>de</strong>/wohnwerk zu fin<strong>de</strong>n,<br />

die jungen Leuten günstige Zimmer und Anschluss<br />

vermittelt. Oft gibt es auch bei <strong>de</strong>n<br />

Meistern o<strong>de</strong>r Kollegen Wohngelegenheiten.<br />

<strong>handfest</strong>: Welche Handwerksberufe liegen<br />

zurzeit so "im Trend", dass es beson<strong>de</strong>rs<br />

viel Sinn machen könnte, sich auch in<br />

an<strong>de</strong>ren Ecken Deutschlands, zum Beispiel<br />

in Bayern, nach einer Lehrstelle umzusehen?<br />

Sperle: Nach wie vor begehrt sind die kraftfahrzeugtechnischen<br />

Berufe, insbeson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>r Kfz-Mechatroniker, aber auch elektrotechnische<br />

Berufe sowie Maler, Metallbauer und<br />

Tischler. Bei <strong>de</strong>n jungen Mädchen stehen<br />

weiterhin die Friseurin, aber auch <strong>de</strong>r neue<br />

duale Ausbildungsberuf zur Kosmetikerin,<br />

hoch im Kurs.<br />

Gohlisch: Bei uns gibt es ten<strong>de</strong>nziell überall<br />

Stellen.<br />

<strong>handfest</strong>: Auf <strong>de</strong>r Suche nach Lehrlingen<br />

aus an<strong>de</strong>ren Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn erfuhr <strong>handfest</strong>,<br />

dass einige bayerische Betriebe nur<br />

Leute aus <strong>de</strong>m Umland ausbil<strong>de</strong>n. Die<br />

Grün<strong>de</strong>: "So eine Ausbildung ist teuer, wir<br />

wollen unsere Lehrlinge später überneh-<br />

Chef Günther<br />

Weishaupt bereut<br />

seine Wahl nicht:<br />

„Frau Geisler war einfach<br />

die Beste.“<br />

men und nicht an einen Betrieb an<strong>de</strong>rswo<br />

verlieren" - "Für Lehrlinge, die zuziehen,<br />

muss man zuviel Verantwortung tragen.<br />

Ein Zimmer fin<strong>de</strong>n, alles organisieren<br />

...nein, da lieber einer aus <strong>de</strong>r Gegend" -<br />

"Zugezogene brechen oft wie<strong>de</strong>r ab. Das<br />

Risiko gehen wir nicht ein". Deckt sich das<br />

mit Ihren Erfahrungen? Warum, warum<br />

nicht?<br />

Sperle: Diese Haltung mag bei <strong>de</strong>m einen<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Betrieb vorherrschen, doch achten<br />

Handwerksunternehmer in erster Linie<br />

darauf, einen qualifizierten Lehrling einzustellen,<br />

was sich aufgrund <strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n<br />

Ausbildungsreife vieler Lehrstellenbewerber<br />

in zunehmen<strong>de</strong>m Maße schwierig gestaltet.<br />

Da spielt die Herkunftsregion eigentlich keine<br />

o<strong>de</strong>r nur eine untergeordnete Rolle.<br />

Gohlisch: Eine Umfrage bei Betrieben hat<br />

ergeben, dass ihnen Sozial- und Handlungskompetenz<br />

bei <strong>de</strong>n Lehrlingen am Wichtigsten<br />

sind. Bewerber müssen natürlich ausbildungsbereit<br />

sein: vernünftige Sprachkenntnisse<br />

mitbringen, rechnen können, „bitte“<br />

und „danke“ sagen ... Noten sind oft gar<br />

nicht so wichtig. Unsere Erfahrung mit<br />

Betrieben ist, dass viele sagen: Wenn wir<br />

einen vernünftigen Bewerber bekommen,<br />

stellen wir <strong>de</strong>n ein. Egal, woher er kommt.<br />

Und was das Abbrechen angeht: Es hat sich<br />

gezeigt, dass Zugezogene, die die Lehre<br />

durchhalten, sich gut integriert, schnell<br />

Freun<strong>de</strong> gefun<strong>de</strong>n haben. An<strong>de</strong>rsherum brechen<br />

die, die keine Kontakte schließen, eher<br />

wie<strong>de</strong>r ab. Und von <strong>de</strong>nen, die die Lehre<br />

durchziehen, bleiben viele auch hinterher da,<br />

weil in ihren Heimatregionen ja auch Arbeit<br />

für Ausgelernte fehlt.<br />

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