Leseprobe_Die Schnecke und Violine
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<strong>Die</strong> <strong>Schnecke</strong><br />
<strong>und</strong> die <strong>Violine</strong><br />
erzählt <strong>und</strong> illustriert<br />
von<br />
Dagmar Glüxam
Für Lucas <strong>und</strong><br />
Florentina<br />
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Alle Rechte vorbehalten<br />
Hollitzer Verlag, Wien 2018<br />
Hollitzer Verlag<br />
der Hollitzer Baustoffwerke Graz GmbH<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99012-531-1<br />
Umschlaggestaltung <strong>und</strong> Satz: Nikola Stefanović<br />
Printed in the EU
<strong>Die</strong> <strong>Schnecke</strong><br />
<strong>und</strong> die <strong>Violine</strong><br />
erzählt <strong>und</strong> illustriert<br />
von<br />
Dagmar Glüxam
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Vor vielen Jahren, als es auf der Welt noch mehr<br />
Wälder als Felder gab, lebten im tiefen Wald eine<br />
Fichte <strong>und</strong> eine <strong>Schnecke</strong>.<br />
<strong>Die</strong> Fichte war ein w<strong>und</strong>erschöner Baum. Ihre Zweige reichten<br />
bis hoch in den weiten Himmel hinauf. Im Winter schützte sie<br />
Hasen, Rehe <strong>und</strong> Hirsche vor dem scharfen Wind. Im Sommer<br />
bot sie ihre Zweige den Vögeln an, die sich dafür mit fröhlichem<br />
Gesang bedankten.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Schnecke</strong> wohnte gleich nebenan in ihrem Haus. Sie<br />
bew<strong>und</strong>erte die raue Rinde der Fichte, die sie auf ihren langen<br />
<strong>Schnecke</strong>nspaziergängen immer wieder neu erforschen konnte.<br />
<strong>Die</strong> Fichte liebte die sanften <strong>Schnecke</strong>nbewegungen, die sie so<br />
angenehm am ganzen Körper kitzelten.<br />
<strong>Die</strong> beiden waren die besten Fre<strong>und</strong>innen, die sich immer<br />
aufeinander verlassen konnten.<br />
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Nach einem langen Winter, als die warme<br />
Frühlingssonne wieder aufging <strong>und</strong> die Vögel ihre<br />
ersten Liebesgesänge in die Welt schickten, wurde<br />
die Fichte immer nachdenklicher.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Schnecke</strong> merkte bald, dass ihrer Fre<strong>und</strong>in etwas fehlte.<br />
„Warum bist du immer so traurig?“, fragte sie die Fichte.<br />
<strong>Die</strong> Fichte antwortete in einer Sprache, die nur die beiden<br />
verstanden:<br />
„Ich wünschte, ich hätte eine Stimme.“<br />
„Eine Stimme?“, w<strong>und</strong>erte sich die <strong>Schnecke</strong>.<br />
„Warum möchtest du eine Stimme haben? Ich verstehe doch<br />
alles, was du sagst, ich weiß doch immer, was du denkst <strong>und</strong> was<br />
du fühlst. Oder ...?“, fügte die <strong>Schnecke</strong> verzagt hinzu.<br />
„Das ist es nicht“, tröstete die Fichte das kleine, verunsicherte<br />
Tier. „Wie kannst du nur so etwas denken? Ich möchte eine<br />
Stimme haben, damit mich jeder hören kann. Ich möchte ... ich<br />
würde so gerne singen können! So wie die Vögel oben in meiner<br />
Krone!“, sprach die Fichte ihren heimlichen Wunsch endlich aus.<br />
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In der Nacht konnte die <strong>Schnecke</strong> nicht einschlafen. Sie<br />
wälzte sich in ihrem Häuschen so lange hin <strong>und</strong> her, bis<br />
sich einige Käfer aus der Nachbarschaft über den Lärm<br />
beschwerten.<br />
Der <strong>Schnecke</strong> ging der Wunsch ihrer Fre<strong>und</strong>in Fichte nicht mehr<br />
aus dem Kopf. Am nächsten Morgen teilte sie ihr entschlossen<br />
mit:<br />
„Ich gehe in die Welt hinaus, um eine Stimme für dich zu<br />
finden!“<br />
<strong>Die</strong> Fichte machte sich große Sorgen um ihre Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> war<br />
traurig, allein zurückbleiben zu müssen. Aber die <strong>Schnecke</strong><br />
nahm all ihren Mut zusammen, <strong>und</strong> bevor sich die Sonne wieder<br />
zum Schlafen legte, war sie schon hinter sieben Gräsern <strong>und</strong><br />
sieben Buschwindröschen verschw<strong>und</strong>en.<br />
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Am nächsten Tag begegnete sie einer Nachtigall.<br />
Furchtlos stellte sie sich dem Vogel mit der<br />
schönsten Stimme der Welt vor:<br />
„Hallo, ich bin die kleine Waldschnecke. Meine Fre<strong>und</strong>in Fichte<br />
möchte gerne singen. Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich eine<br />
Stimme für sie finden könnte?“<br />
<strong>Die</strong> Nachtigall war sehr überrascht über die Frage <strong>und</strong><br />
antwortete etwas überheblich:<br />
„<strong>Die</strong>, die nicht sprechen <strong>und</strong> nicht singen können, haben<br />
eben keine Stimme. Sag deiner Fre<strong>und</strong>in, sie muss sich damit<br />
abfinden!“<br />
Das wollte die <strong>Schnecke</strong> aber nicht glauben. Sie fühlte mit ihrem<br />
ganzen Herzen, dass die Nachtigall unrecht hatte. Ihre Fichte<br />
hatte doch eine Stimme, sie konnte sie verstehen!<br />
Fest entschlossen, weiter nach einer Stimme für ihre Fre<strong>und</strong>in<br />
zu suchen, setzte sie ihren Weg fort.<br />
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