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Leseprobe_Aus Steiners Welt

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Georg Rejam<br />

AUS STEINERS<br />

WELT<br />

Roman


<strong>Aus</strong> <strong>Steiners</strong> <strong>Welt</strong>


Georg Rejam<br />

<strong>Aus</strong> <strong>Steiners</strong> <strong>Welt</strong><br />

Roman


Lektorat: Teresa Profanter<br />

Umschlagbild: Nikola Stevanović<br />

Satz: Daniela Seiler<br />

Hergestellt in der EU<br />

Georg Rejam: <strong>Aus</strong> <strong>Steiners</strong> <strong>Welt</strong><br />

Literaturgruppe Textmotor<br />

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:<br />

MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© HOLLITZER Verlag, Wien 2017<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99012-364-5


Für T. Babsi<br />

Hello Marry Lou<br />

© <strong>Welt</strong>-Raum, Michael L. Majer 2015


Prolog<br />

Declaration for Freedom, Love and Peace<br />

Die drei hier Unterzeichneten wollen ihr Leben lang<br />

folgenden Werten treu bleiben,<br />

diese mit all ihrer Kraft verteidigen und weitertragen:<br />

Lerne dich selbst zu lieben.<br />

Respektiere deinen Nächsten wie dich selbst.<br />

Kämpfe gegen Gewalt und Ungerechtigkeit.<br />

Wir, das Triumvirat Novum, die Dreifaltigkeit des<br />

Aufbruchs, die Heilige Allianz der Freiheit,<br />

wollen darüber hinaus jeweils einen Roman schreiben,<br />

der die <strong>Welt</strong> verändern soll.<br />

Auf daß die <strong>Welt</strong> eine Bessere werde!<br />

Biene<br />

Oskar<br />

Steiner<br />

1978<br />

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Ein ärgerliches Angebot<br />

„Du hast es versprochen …“ Oskar lehnte sich an den<br />

Kamin, ein Glas Whisky in der linken Hand.<br />

„Vor hundert Jahren. Das ist längst verjährt“, antwortete<br />

Steiner knapp. Ihm war unangenehm heiß in seinem<br />

dicken Wintermantel, den er partout nicht hatte ausziehen<br />

wollen. Der Hemdkragen kratzte ihn, er war wohl<br />

auch eine Spur zu eng geworden. Den obersten Knopf<br />

wollte er nicht öffnen, noch nicht. Erst nach dem offiziellen<br />

Teil des Abends.<br />

„Aber wir haben es uns geschworen“, ließ Oskar nicht<br />

locker.<br />

Steiner verdrehte die Augen, sein Blick schweifte über<br />

die Bilder an der Wand. Er konnte sich an kein einziges<br />

erinnern. Wieder einmal bewunderte er Oskars Schaffenskraft.<br />

„Das war nach zehn Bier und sieben Joints.<br />

Aber wie auch immer, ich muss jetzt gehen. Gib mir den<br />

Schlüssel und ich kümmere mich um dein Atelier, wie<br />

sonst auch.“ Steiner sah demonstrativ auf seine roségoldene<br />

Da Vinci Automatic.<br />

„Überleg es dir. Du kannst hier in Ruhe deinen Roman<br />

schreiben, bist ungestört. Glaub mir, es wird dir<br />

gut tun.“<br />

Steiner zupfte an seinem kurzen Kinnbart. „Ich muss los.“<br />

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Er umarmte Oskar hastig, dann verließ er fluchtartig das<br />

Atelier und steckte den Schlüssel verärgert in seine rechte<br />

Manteltasche. Draußen vor der Tür hielt er inne und<br />

sah nach oben. Dicke Flocken fielen zu Boden. Es hatte<br />

sich bereits eine solide Schneedecke gebildet. Das war so<br />

nicht geplant, murmelte Steiner, und seine Stimmung<br />

wurde noch düsterer. Der pulvrige Schnee blieb an seiner<br />

schwarzen Anzughose haften. Die besten Voraussetzungen<br />

für ein Verkehrschaos. Ein neuerlicher Blick<br />

auf seine Uhr. Das wird knapp. Es dauert sicher ewig,<br />

bis ein Taxi kommt. Bis zum nächsten Standplatz beim<br />

Türkenschanzplatz ist es mir zu weit. Plötzlich hörte er<br />

ein Brummen hinter sich, und als er sich umdrehte, bog<br />

ein roter Bus der Linie 40A, das Dach mit einer Schneemütze<br />

beladen, gerade um die Ecke.<br />

Steiner rutschte auf seinem Sitz hin und her. Blickte alle<br />

drei Sekunden auf die Uhr. Es gab keinen Fahrscheinautomaten<br />

und der Fahrer hatte seinen 50-Euroschein<br />

nicht wechseln können oder es höchstwahrscheinlich<br />

gar nicht gewollt. Die <strong>Aus</strong>kunft des Buschauffeurs,<br />

er könne ruhig bis zur U-Bahn mitfahren und dort<br />

einen Fahrschein kaufen, beruhigte ihn nicht. Er hatte<br />

es auch unterlassen dem Fahrer zu erklären, dass sein<br />

Ziel mit der Endstation des Busses ident war und er<br />

nicht beabsichtigte, mit irgendeiner U-Bahn weiterzufahren.<br />

Er fühlte sich nicht wohl dabei, etwas zu<br />

tun, was nicht korrekt war. Und das Nicht-Begleichen<br />

des Beförderungstarifs, welcher rechtsstaatlich<br />

legitimiert festgesetzt worden war, fiel eindeutig<br />

in die Kategorie: Nicht o.k. In seiner Position und<br />

Öffentlichkeitspräsenz konnte er sich das einfach nicht<br />

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erlauben. Nicht auszudenken, wenn ein Kontrolleur<br />

käme und ihn ein Passagier bei der Diskussion über<br />

einen fehlenden Fahrschein beobachten würde. Auch<br />

wenn der Fahrer bestätigen könnte, dass er bis zur<br />

nächsten U-Bahn dispensiert sei, weil eben kein Wechselgeld<br />

parat war. Auch dann, wenn sich alles in Wohlgefallen<br />

auflöste, ein negativer Beigeschmack bliebe ja<br />

doch zurück. Jedenfalls bestünde das Risiko, jemand<br />

könnte darüber berichten, dass sie den Herrn Professor<br />

beim Schwarzfahren erwischt hätten. Oder dass<br />

der Leiter der Trias-Consulting sich keinen Fahrschein<br />

leisten könne. Nein, das wäre ihm höchst unangenehm.<br />

Und wenn der Fahrer sogar vergessen hätte, dass er bei<br />

ihm einen Fahrschein lösen wollte? Wenn dieser seine<br />

<strong>Aus</strong>sage einfach abstreiten würde. Nicht auszudenken.<br />

Ein Skandal und eine Schädigung seines Rufes.<br />

Steiner dachte an das Gespräch mit Oskar zurück und<br />

Ärger stieg in ihm hoch. Gleich darauf ärgerte er sich,<br />

dass er sich ärgerte. Er musste eine Lösung finden. Ein<br />

für alle Mal Schluss machen mit dieser abstrusen Erwartungshaltung,<br />

die ihn nun schon seit mehr als dreißig<br />

Jahren verfolgte. Er würde diesen verdammten Roman<br />

nicht schreiben. Keine Zeit. Keine Lust. Er mochte<br />

Oskar, er mochte ihn wirklich sehr. Aber vorhin war<br />

er ihm ziemlich auf die Nerven gegangen. Nun tat es<br />

ihm ein wenig leid, dass er so schroff zu ihm gewesen<br />

war. Oskar war wie ein kleiner Bruder für ihn. Er würde<br />

seine Sorgen niemals nachvollziehen können. Ihm<br />

wäre es komplett egal, beim Schwarzfahren erwischt zu<br />

werden. Er würde ganz spontan eine kreative <strong>Aus</strong>rede<br />

erfinden, hätte kein Problem damit, im Rampenlicht<br />

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zu stehen. Und von wegen Rufschädigung. Für einen<br />

Künstler wie ihn waren alle Meldungen gute Meldungen,<br />

Hauptsache, man redet, schreibt oder berichtet<br />

über ihn. Hauptsache, man ist im Gespräch. Steiner<br />

war die Geschichte aus dem vergangenen Jahr noch gut<br />

in Erinnerung, als Oskar einen Disput mit der Polizei<br />

wegen des Konsums von Marihuana in der Öffentlichkeit<br />

gehabt hatte. Es war im Rahmen einer Open-Air-<br />

Vernissage und -Lesung über „Nachhaltige Society“<br />

gewesen. Die kleine Provokation, vom Rednerpult aus<br />

einem Joint zu huldigen, hatte Oskar sogar eine kurzzeitige<br />

Verhaftung eingebracht.<br />

Der Bus berührte den Randstein und hielt in der Station<br />

Billrothstraße. Steiner bewunderte den Fahrer<br />

insgeheim, wie dieser das Fahrzeug elegant durch den<br />

immer stärker werdenden Schneefall steuerte. Und er<br />

war froh, dass er seinen fast neuen SLK bei Oskars Atelier<br />

stehen gelassen hatte. Mercedes und Winter waren<br />

immer noch wie Katz’ und Hund, trotz aller Technik.<br />

Dem Busfahrer bereitete es sichtlich Freude, seine Erfahrung<br />

und sein Können zur Schau zu stellen. Wie der<br />

Kapitän eines Fährschiffs im Mittelmeer dockte er bei<br />

den Haltestellen an. Er schlitterte dabei jedes Mal die<br />

letzten Zentimeter und touchierte zart den Randstein,<br />

bis er den großen roten Dampfer zum Stehen brachte.<br />

Steiner konnte sich einfach nicht auf das Thema des<br />

heutigen Abends konzentrieren: Kunst-Projekte, die bewegen.<br />

Immer noch bewegte ihn Oskar und ihr ruppiges<br />

Gespräch. Steiner schätzte sich selbst als liberalen<br />

und welt offenen Menschen ein, aber Oskars jüngsten<br />

Lebenswandel konnte er gar nicht goutieren. In der<br />

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kurzen Zeit, die er bei ihm verbracht hatte, hatte dieser<br />

zwei Joints geraucht und drei Gläser Whiskey geleert.<br />

Das war doch nicht normal, befand Steiner. Oskar hatte<br />

auch wieder mal Neil Young zitiert: It’s better to burn<br />

out, than to fade away. Er hatte Steiner nicht zum ersten<br />

Mal erklärt, dass er nicht wegen der Inspiration rauche<br />

oder trinke, sondern vielmehr Zerstreuung und die Unterbrechung<br />

seines Kreativitätsstromes benötige. Außerdem<br />

habe er sich entschieden im Hier und Jetzt zu<br />

leben. Da gäbe es keine Verpflichtungen, keine Verantwortung,<br />

kein Gestern und kein Morgen, sondern bloß<br />

den Moment. Ohne Frau und Kinder sei das natürlich<br />

einfach. So hatte nun eben jeder sein Leben. Damals mit<br />

Biene, na ja, da waren sie eben alle drei noch sehr jung<br />

gewesen. Jung, mit all den naiven Träumen und Hoffnungen.<br />

Oskar hatte sich das auf seine Weise erhalten.<br />

Endstation Schottenring. Steiner schob den linken Ärmel<br />

seines dunklen Mantels ein wenig zurück und stellte<br />

fest, dass er noch sieben Minuten bis zur offiziellen<br />

Eröffnung hatte. Es ärgerte ihn, die Busfahrt nicht für<br />

die Vorbereitung seiner Rede genutzt zu haben.<br />

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In zwanzig Minuten um die <strong>Welt</strong><br />

Julie sah sich um und bewunderte die hohen, reich verzierten<br />

Räume, die Marmorsäulen und die vielen Spiegel.<br />

Sie kannte Wien von ihrem <strong>Aus</strong>landssemester, seither<br />

war sie oft mit ihrer Freundin Dany in dieser ehemaligen<br />

Kaiserstadt unterwegs gewesen. Meist in Beisln, Studentenlokalen,<br />

ab und zu auf Vernissagen. Die Wiener<br />

Börse hatte sie jedoch noch nie von innen gesehen. Im<br />

Moment war sie aber vor allem nervös, denn in weniger<br />

als zwanzig Minuten sollte ihr großer Auftritt stattfinden.<br />

Julie blickte in den Spiegel und gefiel sich in dem<br />

langen, schwarzen Kleid, das ihr Dany geborgt hatte.<br />

Sie hatten fast die selbe Größe und Figur. Ihre Freundin<br />

trug ein zum Verwechseln ähnliches Kleid, nur<br />

eine Nummer größer. Julie hatte sich erst geweigert,<br />

das Kleidungsstück von ihr anzuziehen, nicht weil sie<br />

mit getragener Kleidung Probleme gehabt hätte, sondern<br />

aus Angst, ihre beste Freundin unnötigerweise zu<br />

kompromittieren. Schließlich probierte sie es doch an<br />

und betonte, dass es sehr eng sei, sie es aber für einen<br />

Abend darin aushalten könne. Noch dazu habe sie gar<br />

nicht vor, allzu lange auf dieser Gala zu bleiben. Tatsächlich<br />

war ihr Größe sechsunddreißig sogar eine Spur<br />

zu weit, zumindest in diesem Schnitt. Aber das hatte sie<br />

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gut verbergen können. Sie sah Dany von der Seite an,<br />

diese signalisierte ihr: Du-siehst-super-aus. Relax! Begleitet<br />

von einem aufmunternden Lächeln. Julie musste<br />

daran denken, dass ihr Kennenlernen vor einigen Jahren<br />

keinesfalls eine harmonische Annäherung gewesen<br />

war, sondern vielmehr ein Frontalzusammenstoß.<br />

Es war Julies erste Vorlesung an der Uni Wien gewesen.<br />

Worum es genau gegangen war, konnte sie später<br />

nicht mehr sagen, irgendwas wie Die Kunst der Jahrhundertwende<br />

und die Bedeutung des Jugendstils in dieser Epoche.<br />

Jedenfalls ein endlos langer Titel. Sie hatte sich in der<br />

Unübersichtlichkeit der Hörsaalbezeichnungen verloren,<br />

war zu spät dran gewesen. Als sie die knarrende<br />

Tür des Audimax aufdrückte, blieb sie stehen und<br />

machte sich ein Bild von der Lage. Die Reihen waren<br />

dicht besetzt, einige Studierende saßen auf den Stufen,<br />

andere standen an die Wand gelehnt. Schließlich erspähte<br />

sie einen freien Platz in der dritten Reihe. Leise<br />

ging sie nach vorne und stand neben Dany, die ganz<br />

rechts außen saß. „Scusa, könntest du dich bitte verrutschen“,<br />

sagte sie mit einem bemühten Lächeln. Später<br />

amüsierten sich die beiden noch öfter über diesen<br />

ersten Satz in ihrer Freundschaft. Dany war dann ihre<br />

damalige Reaktion immer ein wenig peinlich. „Das ist<br />

mein Platz, verstehst? Du kannst dich aber gerne daneben<br />

setzen. Wie heißt das Zauberwort?“ Julie hatte sie<br />

verloren angesehen und gar nichts begriffen. Die beiden<br />

sahen einander einige Momente lang an. Für Julie war<br />

dies eine gefühlte Ewigkeit. Sie hatte den Eindruck, alle<br />

Blicke wären auf sie gerichtet, auf sie allein. Sie fühlte<br />

sich total fehl am Platz. In dieser kommunikativen<br />

20


Blockade hatte Dany schließlich „Wos is jetz?“ gezischt.<br />

Dann unterbrach der Professor seine Vorlesung, ein älterer<br />

Herr mit grauem Schnauzer im Nadelstreif. Höflich,<br />

aber bestimmt war dessen Aufforderung, endlich<br />

Platz zu nehmen. Julie lief rot an, und Dany machte<br />

schließlich Platz. Am Ende der Vorlesung, als Dany<br />

eilig dabei war, ihre Sachen zusammenzupacken, entschuldigte<br />

sich Julie nochmals für ihr Zuspätkommen.<br />

Sie erzählte Dany, dass sie aus Italien komme und sich<br />

hier noch nicht so gut auskenne. Das Eis war gebrochen.<br />

Dany liebte Italien und freundete sich schnell mit<br />

Julie an. Sie führte sie in ihren Freundeskreis ein und<br />

stellte sie auch bald ihrer Familie vor. Julie nahm diese<br />

Hilfe sehr gern an, und die Freundschaft mit Dany<br />

kam ihren Sprachkenntnissen zugute. Als das Semester<br />

sich dem Ende zuneigte, drängte Julie ihre neue Freundin<br />

zu einem <strong>Aus</strong>landssemester an ihrer Stamm-Uni<br />

in Verona, quasi als kulturelle Revanche. Dany stieg<br />

tatsächlich auf den Vorschlag ein, und im übernächsten<br />

Semester war es dann so weit. Die Zeit in Italien<br />

vertiefte ihre Freundschaft. Seither trafen sie einander<br />

einmal im Monat – entweder in Wien oder in Verona.<br />

Beide waren Single, hatten ähnliche Forschungsschwerpunkte<br />

und Interessen. Julie war sehr glücklich<br />

darüber, dass sie bei einem Forschungsprojekt<br />

über „Kulturelle Nachhaltigkeit“ mitarbeiten konnte,<br />

für das Dany sie vorgeschlagen hatte. Somit waren<br />

ihr ein, vielleicht sogar zwei Semester in Wien<br />

und ausreichend Zeit für ihre Dissertation sicher. Die<br />

Teilnahme an der Preisverleihung für Kunst-Projekte,<br />

die bewegen war nur eine von unzähligen Aktionen,<br />

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die Dany für ihre gemeinsame Wien-Zeit geplant und<br />

organisiert hatte. Wobei, genau genommen war Julie,<br />

zu Danys Überraschung, von ihrer eigenen Chefin<br />

höchstpersönlich eingeladen worden mitzukommen,<br />

und zwar angeblich auf Empfehlung des Wiener Künstlers<br />

Oskar Lang. Julie hatte ihn erst ein paar Monate<br />

zuvor in Mailand bei einer Vernissage kennengelernt.<br />

Nun sah sie Prof. Dr. Robert Steiner nach, wie dieser<br />

mit federndem Schritt die Stufen zum Podium hinaufstieg.<br />

Julie wusste, dass es gleich nach seiner Keynote<br />

mit der Preisverleihung losgehen würde. Die Keynote<br />

hatte den Titel: Projekte, eine neuzeitliche Erfindung? Julie<br />

hörte erst mit einem Ohr, dann mit beiden und schließlich<br />

mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit zu. Sie ließ sich<br />

mitreißen und war überrascht. So einen Witz und Spannungsaufbau<br />

hatte sie diesem Mann um die Fünfzig mit<br />

dem Ziegenbärtchen nicht zugetraut. Er erzählte von<br />

Daniel Defoe, den sie als Autor von Robinson Crusoe<br />

kannte, der aber auch ein bemerkenswertes, kaum bekanntes<br />

Buch mit dem Titel Essays on Project Management<br />

verfasst hatte. Er beschreibt darin das ausklingende<br />

17. Jahrhundert als Beginn des Projekte-Macher-Zeitalters.<br />

Julie erfuhr einiges über abstruse Erfindungen und<br />

riskante Entdeckungsreisen. Über Heinrich, den Seefahrer,<br />

der in modernen Worten als Programm-Auftraggeber<br />

unzählige Projekte zur Erkundung der Westküste<br />

Afrikas initiiert und so den Grundstein für den Seeweg<br />

nach Indien gelegt hatte. Professor Steiner schwenkte<br />

in seinen <strong>Aus</strong>führungen schließlich auf Wissenschaft<br />

und Kunst um. Er stellte die These auf, dass die Weiterentwicklung<br />

der Gesellschaft nur durch Kunst er-<br />

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möglicht worden sei. Kunst sei seiner Ansicht nach das<br />

Bestreben, die gesellschaftliche Wirklichkeit in Form<br />

von Projekten zu reflektieren und somit erkennbar und<br />

diskutierbar zu machen. Die Projekte mögen durchaus<br />

unterschiedlich sein und von Literatur über Bildhauerei<br />

bis zu Theater und Malerei reichen. Julie fand sich<br />

in seinen <strong>Aus</strong>führungen wieder, genoss den Witz und<br />

die subtilen Anspielungen. Unbewusst tastete sie nach<br />

Papier und Bleistift, als müsse sie die <strong>Aus</strong>sagen wie in<br />

einer Vorlesung festhalten, um sie dem Strom ihres<br />

Vergessens zu entreißen. Sie fingerte nach ihrer kleinen<br />

schwarzen Handtasche, um ihr Smartphone herauszuholen<br />

und dieses als elektronisches Notizbuch zu<br />

verwenden. Doch Dany missverstand ihre Absicht und<br />

zischte ihr zu, jetzt keinesfalls zu telefonieren. Julie hielt<br />

inne, schüttelte den Kopf und steckte ihr Handy weg.<br />

Sie versuchte nun, sich so viel wie möglich zu merken<br />

und mit Eselsbrücken zu verankern. Diese fünfzehn<br />

Minuten waren für ihre Dissertation wertvoller gewesen<br />

als die vergangenen zwei Monate Literaturrecherche.<br />

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