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Luis Stabauer<br />
<strong>Atterwellen</strong><br />
Episoden-Roman
<strong>Atterwellen</strong>
Luis Stabauer<br />
<strong>Atterwellen</strong><br />
Episoden-Roman
Umschlagbild: Maria Maller<br />
Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović<br />
Lektorat: Annalena Stabauer<br />
Luis Stabauer: <strong>Atterwellen</strong><br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
© HOLLITZER Verlag, Wien 2017<br />
ISBN 978-3-99012-445-1<br />
www.hollitzer.at
Danke Ulla,<br />
deine Kommentare nach dem Erstlesen regen mich an.<br />
Danke „Textmotor“-LiteratInnen, danke Alois,<br />
eure kreativen Rückmeldungen sind nachhaltiger Ansporn.<br />
Danke Geschwister,<br />
eure Erinnerungen sind vielfach eingeflossen.<br />
Danke Annalena,<br />
dein Mitdenken im Lektorat, deine Fähigkeiten als Lehrmeisterin<br />
sind Architektur am Buch.<br />
Danke Maria,<br />
dein Cover-Bild ist das wunderschöne Entree in mein Buch,<br />
es freut mich ungemein.<br />
Danke Mutter,<br />
du hast so viel aufgeschrieben, so viel erzählt, so viel angeregt.
1 Prolog oder dein Badezimmer<br />
In deinem neuen Zimmer in Lenzing hast du auf mich gewartet.<br />
Das Aufstehen fällt dir sichtlich schwer. Deine Augenbrauen sind<br />
nicht nachgezogen, die Lippen nicht eingefärbt.<br />
– Heute haben sie mir das Frühstück und das Mittagessen aufs<br />
Zimmer gebracht, sagst du. Am Abend möchte ich wieder mit dem<br />
Rolli in den Speisesaal fahren. Aber mit der Frau Werner will ich<br />
nicht mehr an einem Tisch sitzen.<br />
Angeblich hat sie dich beschimpft, weil du dein Messer abgeschleckt<br />
hast.<br />
– Schade, meinst du, sie ist bis dahin immer freundlich gewesen,<br />
jetzt wird sie komisch. Vielleicht ist es nicht gut, wenn man über<br />
hundert Jahre alt wird?<br />
Wieder einmal erzählst du mir von deiner Kindheit am Bauernhof<br />
in Plaika. Dabei benutzt du Ausdrücke, die mir Bilder von<br />
meinen Sommeraufenthalten am großelterlichen Hof zurückbringen.<br />
Es dauert nicht lange, und deine Erinnerungen drehen<br />
sich um deinen Vater. Ich habe ihn nur als Kind noch erlebt. Die<br />
Hoppa-Reiter-Spiele auf seinem Schoß werden in meinem Kopf<br />
wieder lebendig. Es muss schön sein, so angenehme Erinnerungen<br />
an seinen Vater haben zu können, denke ich. Aber warum verfällst<br />
du plötzlich wieder in den Dialekt deiner Kinder- und Jugendzeit?<br />
Schließlich erwähne ich meine große Reise nach Lateinamerika.<br />
Langsam kannst du dich wieder erinnern, möchtest wissen, ob<br />
ich auch die Schneeberge in den Anden sehen werde. Und ob ich<br />
wieder so lange wegbleiben werde wie damals in El Salvador.<br />
– Aber die langen Briefe, die du mir damals geschrieben hast,<br />
sagst du mit leuchtenden Augen, die habe ich immer noch. Sie<br />
liegen bei meinen Tagebüchern.<br />
– Tagebücher?, wiederhole ich. Schreibst du schon lange?<br />
Du lächelst mich an. Die Frage berührt dich, meine ich zu spüren.<br />
– Geschrieben habe ich schon als Kind, heimlich, sagst du. Ab<br />
1944 habe ich die Bücher auch aufgehoben. Mittlerweile sind sie<br />
mir recht wichtig.<br />
1
Prolog oder dein Badezimmer<br />
Ja, denke ich, mein erstes Buch über die Geschichte einer<br />
Wienerin hat dich so begeistert: Hast du damals bereits an deine<br />
Tagebücher gedacht? Sollten sie vielleicht eine Fundgrube sein?<br />
– In den letzten Tagen daheim in meinem Zimmer, erzählst du<br />
weiter, habe ich die frühen Einträge wieder gelesen. Die Kriegszeit<br />
hat mich am meisten berührt. Wenn ich einmal nicht mehr bin,<br />
deine Stimme ist jetzt sehr leise, kannst du die Tagebücher lesen.<br />
Es steht nichts Spektakuläres drinnen, aber wer weiß, vielleicht<br />
machst du ja noch einen richtigen Roman daraus.<br />
Ich sage nichts, denke an deine Geschichten über die Russen,<br />
dann spüre ich deinen Blick.<br />
– Mach dir keine Sorgen, sagst du, jetzt wieder laut und deutlich,<br />
mir geht es gut hier. Alle sind freundlich, und vielleicht holt mich<br />
die Pepperl demnächst noch für ein paar Tage heim. Das Bett ist<br />
sicher noch da und ich habe ja den Stiegenaufzug.<br />
Schweigen. Ich möchte das Thema wechseln.<br />
– Deine Zahnpasta liegt im Badezimmer, sage ich, die hast du<br />
vergessen, ich habe nur ein wenig davon genommen und die Tube<br />
ist beinahe noch voll.<br />
Mit einem Lächeln legst du deine Hand auf meinen Arm.<br />
– Du kannst sie ruhig aufbrauchen, wenn du oben am Attersee<br />
bist. Ich mag die Colgate nicht, und wenn mich die Pepperl abholt,<br />
nehme ich mir eine andere von da herinnen mit. Und versprich mir<br />
eines: Sollte etwas mit mir sein, unterbrich deine Reise nicht. Die<br />
Pepperl und die Frieda kümmern sich vorbildlich um mich. Mach<br />
dir keine Sorgen, wiederholst du, mir geht es gut und ich werde<br />
dich in Gedanken auf deiner Reise begleiten. Vielleicht bekomme<br />
ich ja auch wieder ein paar Briefe von dir?<br />
Erst danach ziehst du deine Hand wieder zurück. Mit einem<br />
tiefen Seufzer.<br />
Ich fahre weg. Zuerst von deinem neuen Zuhause, dann aus Wien. In<br />
Argentinien sehe ich die ersten Schneeberge der Anden. Nicht nur<br />
dabei denke ich an dich. Deine guten Wünsche und der Hinweis auf<br />
deine Tagebücher begleiten mich. Ob ich dich noch wiedersehen<br />
werde? In der Atacama-Wüste erreicht mich Friedas Anruf. Du seist<br />
2
Prolog oder dein Badezimmer<br />
heute in Lenzing friedlich nach dem Frühstück gestorben. Soll ich<br />
abbrechen? Ich erinnere mich an deine Worte, entscheide mich für<br />
die Weiterreise und bereite dir einen besonderen Abschied in den<br />
Anden.<br />
Zehn Wochen danach stehe ich in deinem alten Badezimmer. Deine<br />
Manikürtasche, die vielen Haarshampoos, das Tuch, mit dem du<br />
penibel die Wassertropfen von den Fliesen und den Chromteilen<br />
entfernt hast, die Haarbürste, dein höherer Sitz für das WC, der<br />
Badeaufzug, alles ist noch da. Erst wenige Monate vor deinem Tod<br />
warst du ausgezogen, hattest dein Zimmer, deinen Balkon, dein<br />
Bett, deine Blumen und dein Badezimmer zurückgelassen. Freiwillig?,<br />
fragt mich der Spiegel – oder ich ihn? Auch die fast volle<br />
Colgate-Tube steht noch immer auf der Glasablage unter dem<br />
Spiegel. Die Tube nehme ich als Andenken mit, ich werde die<br />
Zahncreme sehr sparsam, aber doch verwenden.<br />
Pepperl hat deine Tagebücher bereits geordnet. Einen Meter und<br />
dreizehn Zentimeter hoch ist der Stoß. Die ersten Einträge sind<br />
von 1944, die letzten von 2009. Welches Erbe, welchen Schatz hast<br />
du uns da hinterlassen? Hast du gehofft, dass wir dich durch deine<br />
Aufzeichnungen besser verstehen werden? Ich bin überrascht: Die<br />
Struktur deiner Aufzeichnungen ist denen in meinem Reisejournal<br />
ähnlich. Hast etwa du mir die Lust am Schreiben weitergegeben?<br />
Ich schlage meine Einträge aus Chile auf:<br />
12. März 2011,<br />
Samstag: Die Wüste glüht. Copiapó in der Atacama-Wüste. Vor<br />
zwei Jahren erlangte die Stadt Berühmtheit, die Rettung eingeschlossener<br />
Bergleute wurde weltweit übertragen. Morgen fahre<br />
ich mit einem Geländewagen und einem Reiseführer hoch hinauf<br />
in die Anden.<br />
13. März 2011,<br />
Sonntag, frühmorgens: Meine Schwester Frieda rief an, ihre<br />
verweinte Stimme schnürte mir die Kehle zu: „Mutti ist heute Früh<br />
gestorben.“<br />
3
Prolog oder dein Badezimmer<br />
Für einige Minuten konnte ich meine Gedanken nicht ordnen:<br />
Heimfahren oder doch nicht. Die geplante Tour zur Laguna<br />
Verde absagen? Was hättest du dir gewünscht, Mutter? Du warst<br />
reiselustig. Wenige Wochen vor deinem 90er hast du dich noch<br />
interessiert nach der Route erkundigt. „Ich reise in Gedanken mit“,<br />
hast du gesagt. Gut, Mütterchen, du bekommst deinen Abschied in<br />
den Anden.<br />
14. März 2011,<br />
Montag: Der Kopf brummt. Sind es die Nachwirkungen der<br />
Höhenluft oder doch die drei Flaschen Rotwein. Nacho und Klaudia<br />
haben mich trösten wollen. Mutter, ich hab für dich einen Stein<br />
in den Grünen See auf 4300 m Höhe geworfen. Ich hab dann der<br />
Zeit zugesehen, wie sie die Wellen glättete. Wie lange wird der<br />
Stein auf dem Grund liegen? Die Schneeberge um den See hätten<br />
dir gefallen, sie werden deinen Stein behüten.<br />
Das Begräbnis, die Worte des Pfarrers, der Leichenschmaus, die<br />
Kaffeerunde im engen Familienkreis: Ich bin nicht dabei gewesen.<br />
Jetzt besuche ich dich am Friedhof. Die Erde auf dem Grab ist noch<br />
gewölbt, dein Körper im letzten, kleinen Zimmer benötigt Platz.<br />
In fünf bis sechs Wochen wird dein Grab wieder eben sein. Dann<br />
kann der neue Grabstein aufgestellt werden. ‚Erna und Leopold‘<br />
soll darauf eingraviert werden. Du hast es dir gewünscht, wieder<br />
bei deinem Poidl zu liegen. Wir Kinder haben euch nach der langen<br />
Trennung wieder vereint.<br />
Die provisorische Grabumrandung kenne ich. Vor fünfundzwanzig<br />
Jahren habe ich mir mit den zugeschnittenen Brettern mein<br />
erstes Bett gezimmert.<br />
– Einen Meter und vierzig Zentimeter Liegefläche hätte ich<br />
schon gerne, habe ich zum Tischler Franz gesagt, es kann ja sein,<br />
dass jemand bei mir nächtigen möchte.<br />
Der hat mich angelächelt:<br />
– Charly, das wird nicht lange dauern bei dir.<br />
Jetzt haben die Bretter eine letzte sinnvolle Verwendung gefunden.<br />
Ich lege meine Gedanken dazu. Mütterchen: Vor sechs oder<br />
sieben Jahren haben wir unseren Frieden finden können, haben uns<br />
4
Prolog oder dein Badezimmer<br />
gegenseitig nicht mehr verändern wollen. Darüber bin ich heute<br />
noch froh.<br />
Wieder im Elternhaus an der Ager, daheim, denke ich überrascht,<br />
erzählen mir meine Schwestern Josefa und Frieda ausführlich von<br />
der Verabschiedung unserer Mutter. Pepperl bemerkt meine Tränen<br />
und nimmt mich in ihre Arme. Jetzt kann ich meinen Schmerz<br />
zeigen.<br />
Später sitze ich lange in deinem Zimmer. Fünf Bücher sind es<br />
von 1944 bis zu meiner Geburt. Zweiundfünfzig Bücher zähle ich<br />
insgesamt. Ich gehe in den Garten, lese und blättere, lese und blättere,<br />
die Sonne wärmt mich. Deine Zeilen über die letzten Kriegsjahre,<br />
die Bitterkeit nach der Todesmeldung deines Bruders, dein<br />
Warten auf Leo und der Mut, auch gegen den Willen deiner Mutter<br />
zu ihm zu ziehen: Ich beginne dich neu zu sehen. Dein Gesamtwerk<br />
gibt mir Anstöße und Ideen, Kurzgeschichten zu entwickeln. Ich<br />
glaube, du wärst stolz. Jetzt liegst du unter meinen Brettern und<br />
ich bin auch ein wenig stolz, was du alles aufgeschrieben hast. In<br />
deinen Einträgen wird auch sichtbar: Vom ‚Burli‘ über den ‚Karli‘<br />
bis zum ‚Karl‘ hast du wie meine Entwicklung auch meine Namen<br />
mitgeprägt. Den ‚Charly‘ hast du lange nicht akzeptieren können,<br />
Englisch hat dich geärgert und das deutsche ‚Tschüss‘ auch. Den<br />
‚Carlos‘ habe ich schon vor fünfzehn Jahren aus Lateinamerika<br />
mitgebracht. Du hast ihn nicht über die Lippen gebracht und auch<br />
meine Schwestern sind beim ‚Charly‘ geblieben. Es ist mir nicht<br />
so wichtig. Obwohl, es wäre schon fein gewesen, auch von dir den<br />
‚Segen‘ für jene Veränderung zu bekommen, die ihre Wurzeln in<br />
Lateinamerika hat, den Namen Carlos.<br />
Es vergehen drei Jahre, bis ich zu schreiben beginne. Ich entscheide<br />
mich, einige deiner frühen Eintragungen an den Anfang zu stellen,<br />
um den Lesern deinen Ton hören zu lassen, der auch der Ton dieser<br />
Zeit ist. Hier beendest du deine vom Krieg geprägten Jugendjahre,<br />
mit der Übersiedlung vom elterlichen Bauernhof in Plaika, Niederösterreich,<br />
nach Seewalchen am Attersee.<br />
Aus deinen Eintragungen und meinen Erinnerungen entstehen<br />
Kurzgeschichten. Rund um Begebenheiten, die du oder ich, oder<br />
du und ich erlebt haben, erlebt haben könnten.<br />
5
Prolog oder dein Badezimmer<br />
15. Jänner 1944<br />
Sonntag: Schwerer Gang. Feierliches Requiem für meinen Bruder<br />
Hansl, Stephan kam nicht. Unendlich viele Menschen gaben<br />
ihm die letzte Ehre, es wurde geschlossen zur Kirche gebetet, 16<br />
Kränze und 2 Buketts wurden von der männlichen Dorfjugend<br />
getragen. Nachher feierlicher Akt beim Krieger-Denkmal. Tee<br />
beim Mayrhofer!<br />
24. Mai 1944<br />
Mittwoch: Schöner Maitag. Bombardierung in Wien, 77 Tote.<br />
1. Oktober 1944<br />
Sonntag: Trüb – kühl. Requiem für den am 9. September gefallenen<br />
Sepp Hemmelmaier, hatte 30 Kränze, viele Menschen gaben ihm<br />
die letzte Ehre. Am Freitag, 9 Uhr, schenkte Frau Schradi einem<br />
Mäderl das Leben, doch kurz darauf verschied es. Mayr Steffi<br />
ist nur staatlich verheiratet, die Strafe Gottes hat einen Vater<br />
von Frau und 2 Kindern weggerissen. Poidl beginnt mit dem<br />
Lehrgang.<br />
18. November 1944<br />
Samstag: Schönwetter. Angriff auf Wien und Linz. Endlich dringt<br />
die Wahrheit vom Tod des Adolf Hitler auch durchs Volk, er ist der<br />
Verwundung vom Bombenangriff des 20. Juli erlegen; nun hat der<br />
Hauptmörder Himmler die Führung in der Hand.<br />
7. Jänner 1945<br />
Sonntag: 10 cm Neuschnee – kalt. Hab von Poidl gestern eine<br />
schöne belgische Pistole erhalten.<br />
2. Feber 1945<br />
Freitag: Glatteis – Mariä Lichtmess. In der Molkerei gibt es so<br />
wenig Brennmaterial, wird keine Milch mehr pasteurisiert, wenn<br />
das so weitergeht, gibt’s weder Magermilch noch Butter mehr! 400<br />
Sträflinge sind in Mauthausen geflüchtet, der Volkssturm ist im<br />
Einsatz, mit der Landwache!<br />
6
Prolog oder dein Badezimmer<br />
9. Feber 1945<br />
Freitag: Gefroren. War bei den Sakramenten, gestern und heute<br />
wieder Angriffe auf Wien. Hab von Poidl aus Wien Post vom 6.<br />
Feber bekommen, der Nordbahnhof ist ganz kaputt, das Parlament<br />
und viele andere Sehenswürdigkeiten getroffen; bin sehr in<br />
Gedanken um Poidl.<br />
26. April 1945<br />
Donnerstag: Mein 24. Geburtstag. Hatte noch nie so traurigen,<br />
ernsten Geburtstag, es ist schon ein Monat, dass ich von meinem<br />
Allerliebsten nichts wissen darf, was meine einzige Freude immer<br />
war, auch das muss man entbehren … Wurde so nett und freundlich<br />
gratuliert von den einquartierten slowakischen Soldaten. So<br />
schwer war mir zumute, da ich von meinem Poidl keine Geburtstagsgrüße<br />
erhalten durfte, der liebe Herrgott gebe es, dass wir<br />
uns bald gesund und glücklich auf nimmer Abschiednehmen sehen<br />
dürfen!<br />
9. Mai 1945<br />
Mittwoch: Wieder schöner Tag, die Vögel sangen so schön. Wir saßen<br />
im Zimmer auf unserem Hof. Um halb neun Uhr kam ein Russe<br />
und sah in jene Kästen, mit denen Vater unsere Tür verstellt hatte.<br />
Bei jedem Schritt erzitterten wir. Um fünfzehn Uhr kam unser<br />
Slowake mit dem Rad zum Verabschieden, sie mussten nicht mehr<br />
für die Bauern arbeiten und zogen in die Heimat. Wir hatten schon<br />
geschlafen, in unserem Arrest, auf einmal kam meine Schwester<br />
Susi mit meinem Liebsten herein. Er wurde von der Wehrmacht<br />
entlassen und schlug sich mühselig vom Osten her durch. Hatte die<br />
Füße voller Blasen, der Arme. An der Donau wollte ihn ein Russe<br />
erschießen.<br />
13. Mai 1945<br />
Sonntag: Morgens schon heiß. Niemand kann zur Kirche gehen,<br />
da die Straßen voll von Flüchtlingen sind und wir Frauen uns nicht<br />
auf die Straßen trauen. Allein die Schmutzer Weiber tragen schöne<br />
Kleider, ihr Benehmen gibt jedem zu denken!<br />
7
Prolog oder dein Badezimmer<br />
2. Jänner 1946<br />
Mittwoch: Wieder etwas gefroren! Frau Krasser Mimi und ich<br />
waren mit den Pferden in Ybbs, waren auch Kartenaufschlagen. In<br />
Ybbs sind wieder 4000 Russen. Lauter junge, stehen unter scharfer<br />
Bewachung. Am Straßenrand von Sarling nach Kemmelbach ist<br />
ein einsames, verlassenes Soldatengrab, unbekannter Soldat! An<br />
jeder Straßenkreuzung stehen unzählige Menschen. Züge fahren<br />
für den gewöhnlichen Verkehr noch immer keine!<br />
7. April 1946<br />
Sonntag: Sehr kühl – starker Wind. Generalosterkommunion für<br />
Frauen, war um ½ 11 erst in der Messe und am Nachmittag in<br />
Petzenkirchen am Kreuzweg und Standeslehre für Mädchen vom<br />
Kapuziner. Der Pfarrer hat ab heute, Passionssonntag, von allen,<br />
die Christen sein wollen, verlangt, bis Ostern das Tanzen sein zu<br />
lassen. Beim Stöckler gab’s einen Tanzabend, war spärlich besucht,<br />
zu wenige Mädchen vor allem.<br />
12. April 1946<br />
Freitag: Schmerzhafter Freitag, sehr frisch – windig. War in der<br />
Messe und bei der Kommunion. War auch Kartenlegen.<br />
20. Juni 1946<br />
Donnerstag: Kühl – windig! Obst ist heuer doch zufriedenstellend,<br />
fast überall. Der Wein zeigt sich besonders schön, auch Marillen.<br />
Erhielt von Poidl Post, soll kommen. Mama ist dagegen. Fronleichnam<br />
wurde sehr feierlich gehalten.<br />
5. Juli 1946<br />
Freitag: 41° im Schatten. War in Melk, meine Reisebewilligung und<br />
den Identitätsausweis holen. Haben Weizen geschnitten und Heu<br />
eingebracht. Mama klagt stets über Magenschmerzen, wird zum<br />
Arzt müssen. Hab an Poidl ein Telegramm abgeschickt!<br />
31. August 1948<br />
Dienstag: 23°. Morgennebel, kühl. Tagsüber sehr warm. Nach<br />
2-jähriger Unterbrechung will ich meine Aufzeichnungen wieder<br />
8
Prolog oder dein Badezimmer<br />
fortsetzen. Am 27. September 1946 wurden wir am Standesamt<br />
Mann und Frau. Schwager Gabriel und Herr Gaizmann waren<br />
Trauzeugen. Am 28. traute uns der Geistliche Rat Dr. Josef Mannholzer.<br />
War so feierlich, ernst und unvergesslich schön. Fuhren<br />
mit vier Wagen zur Kirche. So schweren Herzens ich zum Altar<br />
ging, so gut geht es mir heute. Leopold ist ein guter, verständiger,<br />
sparsamer und fürsorglich liebender Gatte! Am 30. zogen wir mit<br />
unseren Möbeln auf 3 Monate zu seinen Eltern nach Kraims. Das<br />
waren nicht die schönsten Tage, Mutter ist sehr nervös, jedoch Poidl<br />
half in jeder Weise zu mir. Am 12. Dezember übersiedelten wir<br />
in unsere Wohnung auf einem Bauernhof in Ainwalchen. Am 22.<br />
März 1947 wurde unser friedliches, glückliches Eheleben durch<br />
die Geburt unserer Tochter Josefa erhöht. Es war das Schönste,<br />
was der liebe Gott uns geben konnte.<br />
2. September 1948<br />
Donnerstag: Nachts etwas Regen – tagsüber ziemlich kühl, am<br />
Abend Aufheiterung. Das von den Russen besetzte Nordchina<br />
erhielt kommunistische Regierung. Beneš sehr ernst krank! Amerikanische<br />
Arbeiter spendeten Pakete für die österreichischen<br />
Arbeiter.<br />
6. März 1949<br />
Sonntag: 1. Fastensonntag. Wieder etwas kälter, Schneefall und<br />
Wind! Poidl war in der Messe und bei der ÖVP-Vertrauensmännersitzung.<br />
Alle Kräfte müssen aufgeboten werden vor den Wahlen im<br />
Herbst, um kräftig zu bleiben. Die Kommunisten setzen Trug und<br />
Schwindel in Bewegung, um Mitglieder zu bekommen.<br />
23. März 1949<br />
Mittwoch: Gefroren – etwas windig, dann warm. Waren bei Frau<br />
Aßböck Karten legen lassen. Hilda hatte gute Karten, ich selbst<br />
nicht. Immer stand ein politischer Wertverlust drinnen, Poidl wird<br />
dieses Jahr noch einen Unfall erleiden, in nächster Zeit steht uns<br />
ein Mädel bevor. Sagte mir auch, dass ich vor 8 Monaten um ein<br />
Kind kam, soll ein Knabe gewesen sein! Wir werden ja sehen, was<br />
zutrifft!<br />
9
Prolog oder dein Badezimmer<br />
16. Oktober 1949<br />
Sonntag: Ganztägig hässlicher Nebel. Bin um 3.30 schon auf, Poidl<br />
musste um 4.30 schon bei der Wahl sein, „Gemeinderatswahl“.<br />
Hab dann ausgerieben und bin mit Josefa in die Messe nach Seewalchen,<br />
vorher zur Wahl. Hab für 19.00 das Essen gerichtet,<br />
weil’s Poidl so sagte, ist bereits 22.00 und er ist noch nicht da. Um<br />
22.15 kam Poidl heim. Doch welche Enttäuschung wartete meiner,<br />
anstatt freundlicher Worte beschuldigte er mich der Unehrlichkeit.<br />
Er hätte alle Wahlstimmen vier Mal durchsucht und jenen Zettel,<br />
den er für mich gerichtet hat, fand er nicht. Sagte mir direkt ins<br />
Gesicht, ich hätte absichtlich gegen ihn gewählt.<br />
28. Juli 1950<br />
Freitag: Ab 23.30 begannen die Geburtswehen schon arg. War auf.<br />
Ging im Zimmer umher. Um 0.30 weckte ich Poidl. Er sollte die<br />
Hebamme holen. Beide kamen rasch zurück. Die Wehen packten<br />
mich arg. Bei Josefas Entbindung war das nicht so. Frau Pirringer<br />
unterstützte. „Es wird schnell gehen“, sagte sie, „geh aufs Topferl,<br />
damit das Wasser brechen kann.“ Leopold musste rasch Feuer<br />
machen und warmes Wasser richten. Alles kam so überstürzt,<br />
kaum war das Wasser gebrochen, als zu unserer großen Freude<br />
um 2.25 der kleine Bub das Licht der Welt erblickte. Er wog 4,25<br />
kg und hatte 54 cm. Die Entbindung war bedeutend besser als<br />
die erste, vor allen Dingen rascher. Nur ist es auch nicht so gut,<br />
wenn alles so rasch geht. Frau Pirringer sagte, wenn ich alleine<br />
entbunden hätte, wäre ich arg gerissen worden! Blut hab ich<br />
diesmal nicht so viel verloren, auch die Nachgeburt ging schön und<br />
rasch ab. Gleich nach der Geburt gingen die Nachwehen an, so<br />
arg, als wenn nochmals eine Geburt käme. Sie hielten den ganzen<br />
Tag an, besonders wenn der Kleine trank. War den ganzen Tag sehr<br />
matt und erschöpft. Hab Angst vor der Nacht. Poidl sowie meiner<br />
kleinen Schwester Erika trau ich mir den Kleinen nicht geben<br />
und selbst bin ich noch so müde. Tagsüber machte er mir schon so<br />
bange, hat arg Schleim erwischt, der Burli, und das Heraufbringen<br />
plagt ihn so.<br />
10
Prolog oder dein Badezimmer<br />
29. Juli 1950<br />
Samstag: Ganzen Tag gewittrig mit starken Regenfällen! Die Nacht<br />
ging so weit ganz gut vorbei, um 23.00 gab ich Burli zu trinken<br />
und er schlief durch bis 5. 30. Um 14.00 kamen die Stiefsohns und<br />
Nazl. Brachten 1 kg Kalbfleisch, 20 Eier, einige Äpfel, für Josefa<br />
Süßigkeiten und 10 Schilling, Nazl brachte eine Flasche Wein,<br />
Pfirsiche und Strudel. Blieben bis 19.00, ist mir ganz zu viel<br />
geworden. Frau Scheue war da, brachte 1 kg Butter und 10 Eier.<br />
Glückwunschtelegramm von Eltern erhalten.<br />
30. Juli 1950<br />
Sonntag: Sehr schöner Tag! Burli war nicht so brav. Leopold war<br />
in der Messe. Erika hat immer zu tun, mich wundert es, dass sie<br />
sich so dreingefunden hat. Mag den Kleinen so gern. Die Hausfrau<br />
war da, brachte mir Dörrpflaumen und 10 Eier. Burli hat blutig<br />
gebrochen. Erika war abends mit Josefa spazieren, bis Litzlberg.<br />
31. Juli 1950<br />
Montag: Hab wieder so viel Milch. Burli war auch streitig. Ganzen<br />
Tag ging’s mir noch mies, auch die Nachwehen sind noch arg<br />
gewesen. Frau Karl war da, auch Frau Kroiß junior. Erste brachte<br />
1 kg Zucker und 1 kg Mehl. Zweite ein halbes Kilo Honig und<br />
2 Packerl Waffeln.<br />
1. August 1950<br />
Dienstag: Wieder schönes Wetter! Burli ist sehr streitig, die Blähungen<br />
plagen ihn. Leopold musste mir eine Windsalbe bringen. Frau<br />
Rabensteiner und Frau Mayr waren da. Erste brachte mir 5 Eier<br />
und ¼ Rahm, Zweite 1 kg Zucker. Abends war Frau Sammer da,<br />
brachte 19 Eier, und Frau Weiß ½ Liter Rahm und 3 Eier.<br />
2. August 1950<br />
Mittwoch: Trocken, bewölkt! Hatte auch heute noch Nachwehen.<br />
Von daheim vier Kilogramm Zucker erhalten. Bruder Stephan<br />
schrieb ein paar Zeilen dazu.<br />
11
Prolog oder dein Badezimmer<br />
3. August 1950<br />
Donnerstag: Trüb – regnerisch! Leopold war um zwölf Uhr schon<br />
daheim. Die Hebamme kam auch und richtete Burli her. Um halb<br />
vier Uhr kam das Auto aus Vöcklabruck. Sie fuhren zur Taufe fort.<br />
„Mein erster Sohn muss Karl heißen“, hatte Leopold schon vor<br />
Josefas Geburt gesagt, zur Erinnerung an einen gefallenen Kriegskameraden.<br />
Um halb sechs Uhr kamen sie zurück. Thaner Franzl<br />
hat nach der Taufe unseren Karli gestohlen. Leopold musste ihn<br />
mit zwei Liter Wein beim Stallinger auslösen. Das Taufmahl war<br />
sehr kurz. Josefa hat mit ihren drei Jahren schon so große Freude<br />
mit Burli, will immer bei ihm sein.<br />
17. August 1950<br />
Donnerstag: Schöner Sommertag! Haben Karli gewogen, hat<br />
schon ein halbes Kilo zugenommen, obwohl er fast jede Mahlzeit<br />
erbricht, die Milch fließt ihm zu stark zu.<br />
12
2 Ich muss, sagte sie<br />
– Ich komme heute etwas später, sagte Leopold am Morgen, wir<br />
haben Sitzung.<br />
Wieder würde sie den ganzen Tag alleine sein. Sie wollte auch<br />
hinaus. Die Kleine bekam ihr Flascherl, mit der anderen Hand führte<br />
Erni das Kaffeehäferl zu den Lippen und nippte, oder steckte sich<br />
klein geschnittene Honigbrotstücke in den Mund. Von Ainwalchen<br />
über Gerlham bis nach Seewalchen ging es nur bergab, da würde<br />
sie mit dem Rad nur zehn Minuten brauchen. Dann noch über die<br />
Agerbrücke, nach links über die Bahnübersetz, hinauf nach Schörfling.<br />
Ihr Kind konnte sie für einige Stunden bei der Bäuerin lassen.<br />
Bis zur nächsten Mahlzeit von Josefa würde sie wieder daheim<br />
sein, auch wenn sie den Berg hinauf zur Hutmacherin schieben<br />
würde müssen. Zwei Schilling fünfzig Groschen kostete das Aufbügeln<br />
ihres roten Hutes. Vorsichtig legte sie ihn in die Schachtel,<br />
zog das Einkaufsnetz darüber und hängte es sich um.<br />
Die Fahrt über den Agerweg hinunter gefiel ihr. Das Kleid<br />
flatterte im Wind. Sie vertraute dem neuen Waffenrad mit dem<br />
Rücktritt. Im Bergabfahren überholte sie sogar ein Auto.<br />
Die Holz Hilda könnte ich noch besuchen, fiel Erni auf dem<br />
Rückweg ein und sie bog in Kammer nach dem Bahnschranken<br />
links ab. Diesen kleinen Umweg wollte sie sich gönnen, viel zu<br />
selten hatte sie die Möglichkeit, jemanden zu besuchen. Sie wusste<br />
es von Poidl, Hilda war diese Woche nicht im Postamt, sie hatte sich<br />
Urlaub genommen. Vielleicht war sie daheim.<br />
– Ich habe Besuch, sagte Hilda und blieb vor der Wohnzimmertüre<br />
stehen.<br />
– Bin gleich wieder weg, entgegnete Erni, aber wenn ich schon<br />
einmal in Kammer bin. Ich habe mir in Schörfling oben meinen<br />
Lieblingshut aufbügeln lassen. Hast du es auch im Radio gehört?<br />
Der Heilige Vater hat alle, die einer kommunistischen Partei beigetreten<br />
sind, aus der Kirche ausgeschlossen. In der ganzen Welt sind<br />
sie verdammt. Nur die kommunistischen Länder sind ausgenommen.<br />
Na ja, dort sind sie eben nicht freiwillig Kommunisten<br />
geworden. Aber den anderen geschieht ganz recht. Was meinst du?<br />
13
Ich muss, sagte sie<br />
Erst letzte Woche hat mir der Poidl aus der ÖVP-Vertrauensmännersitzung<br />
erzählt, dass die Kommunisten auch bei uns Lug und<br />
Trug einsetzen, damit sie zu Mitgliedern kommen.<br />
Hilda schaute zuerst zu Boden, dann deutete sie mit der Hand<br />
auf das Kanapee hinter sich.<br />
– Magst du nicht ein anderes Mal kommen, sagte sie, meine Freundin<br />
aus Lenzing hat mir gerade die Karten gelegt und das will ich<br />
nicht unterbrechen.<br />
Durch die Türe sah Erni eine Frau in schwarzer Hose und<br />
schwarzer Bluse sitzen. Frauen in Damenhosen hatte sie bisher<br />
nur in Zeitschriften gesehen. Sie war wohl um die vierzig, wirkte<br />
jedoch jugendlich. Die schwarzen Haare waren mit einem roten<br />
Tuch zusammengebunden, eine breite, silberne Kette hing bis zum<br />
Bauch. Das Symbol daran kannte Erni nicht, ein Judenstern war<br />
es nicht, sah aber doch so ähnlich aus. Abgewiesen hatte sie Hilda<br />
noch nie. Es schien ihr auch peinlich zu sein. An der Haustüre fand<br />
sie entschuldigende Worte.<br />
– Ich muss dann noch zum Seewirt hinüber, willst du dort auf<br />
mich warten? Ich komme in einer halben Stunde.<br />
– Gerne, sehr gerne, sagte Erni.<br />
Sie war mit Poidl erst einmal beim Seewirt gewesen, wusste aber,<br />
dass er recht oft hinging, und das nicht nur mit Kollegen von der<br />
Post. Wird er sich freuen, wenn sie sich dort treffen? Langsam fuhr<br />
Erni mit dem Rad über die Agerbrücke. Noch nie war sie alleine in<br />
ein Gasthaus gegangen. Sie setzte sich an den See, ließ die Füße<br />
vom Steg baumeln und wollte so warten, bis Hilda kam. Ihr Poidl<br />
dürfte nicht da sein, er hätte sicher das Fahrrad vor der Türe stehen<br />
lassen.<br />
Hilda kam zu Fuß.<br />
– Gott sei Dank bist du pünktlich, sagte Erni, allzu lange sollte<br />
ich nicht wegbleiben von meiner Kleinen. Entschuldige bitte, hoffentlich<br />
habe ich euch nicht gestört. Ich weiß, manchmal rede ich<br />
zu viel. Hattest du gute Karten?<br />
Die beiden Freundinnen waren schon öfter gemeinsam beim<br />
Kartenlegen gewesen. Diesmal wollte ihr Hilda offenbar nichts<br />
erzählen, denn sie meinte nur: – Das mit dem Papst war nicht sehr<br />
passend, aber meine Freundin hält das schon aus. Was dir und Leo<br />
14
Ich muss, sagte sie<br />
alles wichtig ist! Ihr könnt eure Herkunft nicht verleugnen. Mir<br />
machen die frei herumlaufenden Nazis mehr Angst als die Kommunisten.<br />
Ich werde jedenfalls die Schwarzen nicht wählen.<br />
Erni hätte sich gewünscht, dass ihre Freundin weiterspricht, aber<br />
inzwischen hatte Hilda schon die Türe zur Gaststube geöffnet. Er<br />
war nicht da. Zwei Arbeiter saßen beim frühen Mittagstisch, sonst<br />
war die Gaststube leer. Die Seewirtin hieß Hilda herzlich willkommen.<br />
Erstmals sah Erni, wie sich zwei Frauen zur Begrüßung auf<br />
die Wangen küssten. Komisch, dachte sie. Die Seewirtin beachtete<br />
Erni nicht.<br />
– Ich habe dir deine Jacke aufgehoben, warst ja schon gut drauf<br />
gestern, sagte sie zu Hilda. Wollts was trinken?<br />
Wusste die Seewirtin nicht, wer sie war? Sie gab ihr nicht einmal<br />
die Hand. Sonderbar, dachte Erni, jetzt bin ich schon drei Jahre<br />
hier im Salzkammergut und die nehmen mich immer noch nicht<br />
wahr.<br />
– Für mich eine Frucade, sagte sie und setzte sich mit Hilda an<br />
den Stammtisch.<br />
Hilda bestellte ein Seidel Zipfer. Sie sah den fragenden Blick<br />
von Erni.<br />
– Das hilft, sagte sie, wenn man am Vortag zu viel Wein erwischt<br />
hat. Außerdem habe ich Urlaub.<br />
Erni erzählte von der Hutmacherin und von ihrer kleinen Pepperl.<br />
Hilda mochte die Kleine sehr. Sie selbst war kinderlos. Sie<br />
hörte auch aufmerksam zu, als Erni über das Alleinsein in Ainwalchen<br />
lamentierte und dass sie nicht verstehe, warum ihr Leopold<br />
so selten daheim sei. Das sei in den ersten beiden Jahren anders<br />
gewesen. Hilda sagte nichts. Hätte sie das nicht sagen dürfen,<br />
dachte Erni und schwieg auch. Peinliche Stille lag zwischen den<br />
beiden Frauen, bis Hilda die Hand auf Ernis Unterarm legte.<br />
– Du musst auf deinen Leo besser aufpassen, sagte sie ganz leise,<br />
du kennst ja die Hinterberger. Aber mehr sage ich nicht dazu, du<br />
weißt, ich muss mit dem Leo als Kollegen auskommen.<br />
Was wusste Hilda? Erni spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg,<br />
und fragte sich, ob es aus Scham, Enttäuschung oder doch mehr<br />
aus Wut passierte. Peinlich. Sie trank ihre Frucade aus und legte<br />
einen Schilling und fünfzig Groschen auf den Tisch.<br />
15
Ich muss, sagte sie<br />
– Pfiat di, sagte sie zu Hilda und beinahe hätte sie ihren Hut<br />
liegen gelassen.<br />
– Dein Netz, sagte die Seewirtin von der Küche aus und schaute<br />
Erni erneut herablassend an.<br />
Nie mehr wollte sie in dieses Wirtshaus gehen.<br />
Womöglich dauerten die Vertrauensmännersitzungen gar nicht<br />
so lange, dachte Erni, während sie das Rad über den Neißinger<br />
Berg hinaufschob. Das bekomme ich noch heraus, ob die Hinterberger<br />
gestern auch beim Seewirt war.<br />
– Die Seewirtin, diese alte Schachtel, schimpfte Erni still vor<br />
sich hin. Und ob die wirklich jede Woche eine Sitzung haben? Wie<br />
schade, dass ich mich bei meiner Schwester nicht mehr ausreden<br />
kann.<br />
Daheim angekommen lehnte sie ihr Rad an die Mauer. Heftiges<br />
Babyweinen war aus dem Fenster der Bauernstube zu hören. Ohne<br />
anzuklopfen trat Erni ein. Da saß das Kind am Boden, alleine, mit<br />
hochrotem Kopf.<br />
– Pepperl, mein Herzerl, warum weinst du?<br />
Sie hob die Kleine hoch.<br />
– Nimm den Balg mit, hörte sie die Bäuerin aus der Küche sagen,<br />
die weint, seit du weg bist.<br />
Erni drückte ihre Tochter eng an die Brust und legte sich mit ihr<br />
ins Ehebett. Vier, fünf Mal musste sie noch in sich hineinschluchzen,<br />
dann schlief sie ein. Wieder wanderten Ernis Gedanken hin zu ihrer<br />
Schwester Pepi, bei der sie einige Kriegsjahre verbracht hatte. Jetzt<br />
war sie nicht mehr. Ihr sechstes Kind, der Ernsti, musste mit Kaiserschnitt<br />
geholt werden und die Ärzte hatten so schlecht operiert,<br />
dass sie dabei innerlich verblutete. Wer wird diese Ärzte zur Verantwortung<br />
ziehen, dachte sie und sah Pepperl liebevoll an. Den<br />
Namen der Kleinen hatte sich Erni aussuchen dürfen. Es war ja<br />
ein Mädchen. Damals waren die liebevollen Erinnerungen an ihre<br />
ältere Schwester ausschlaggebend gewesen. Die harte Arbeit, die<br />
vielen Gespräche im abendlichen Kerzenschein und die tägliche<br />
Angst während des Krieges hatten Verbündete aus ihnen gemacht.<br />
Jetzt war sie tot.<br />
Zum Begräbnis nach Petzenkirchen war Poidl mitgekommen.<br />
Auf der Heimfahrt hatte er wieder über Herzschmerzen geklagt,<br />
16
Ich muss, sagte sie<br />
danach musste er fast einen Monat im Krankenstand bleiben.<br />
Herzflimmern, hatte der Doktor gesagt. Nach acht Tagen zurück im<br />
Dienst kollabierte er beim Zustellen. Silvester brachte ihn ein Rettungswagen<br />
zu Erni heim, bis zum Neujahrsmorgen kämpfte er mit<br />
dem Tod. Damals war auch der kleine Ernsti noch bei ihnen. Hätten<br />
sie ihn nach dem Tod der Schwester nicht mitgenommen, er wäre<br />
auch nicht mehr am Leben. Der liebe Gott hat es so eingerichtet,<br />
dachte Erni. So traurig sie auch über ihre Fehlgeburt gewesen war,<br />
so froh war sie, den Ernsti mit ihrer Muttermilch gerettet zu haben.<br />
Nach vier Monaten jedoch hatte Leopold darauf bestanden, dass<br />
sie den Kleinen wieder nach Niederösterreich zurückbrachte.<br />
Erni musste kurz eingenickt sein, jetzt stand Leopold vor ihr.<br />
– Was ist los mit dir, am Nachmittag liegst du schon im Bett?<br />
Erni legte nur den Finger auf den Mund und begleitete ihn in<br />
die Stube hinunter. Hildas Worte beim Seewirt fielen ihr ein. Aber<br />
wenn er in dieser Stimmung war, würde es wohl keinen Sinn haben,<br />
die vermeintlichen Sitzungen anzusprechen.<br />
Wochen vergingen, er kam oft spät heim. Manchmal hieß es, er<br />
habe bei seinen Eltern am Bauernhof mitgeholfen, dann sei wieder<br />
eine Parteisitzung gewesen, und immer öfter war er auch ‚auf<br />
einen Kartler‘.<br />
– Da können wir bald aus diesem Loch hier ausziehen. Ich<br />
gewinne immer, sagte er, wenn Erni ihn bat mehr daheimzubleiben.<br />
Immer öfter warf er ihr auch den einmaligen Wirtshausbesuch<br />
vor.<br />
– Von der Wirtin muss ich so etwas erfahren, sagte er an diesem<br />
Abend wieder einmal und schaute sie mit bedrohlich großen Augen<br />
an.<br />
Sie konnte das Bier riechen und sie wusste: Wenn er sich beim<br />
Ausziehen schwertat, dann wurden die Worte heftiger.<br />
– Was tust du am Vormittag im Gasthaus, was? Lässt unsere<br />
Pepperl alleine und vergnügst dich dort. So eine Rabenmutter! Das<br />
werde ich beim nächsten Besuch deinen Eltern erzählen, damit sie<br />
wissen, was sie mir da gegeben haben.<br />
– Hör auf, schrie Erni und wunderte sich selbst über ihren<br />
Ausbruch.<br />
17
Ich muss, sagte sie<br />
Hildas Worte waren ihr in den letzten Wochen zur drängenden<br />
Frage geworden, jetzt wollte sie es wissen:<br />
– Wo finden deine angeblichen Parteisitzungen statt? Ich habe in<br />
Schörfling die Hinterberger getroffen, die hat mir allerhand erzählt,<br />
sagte sie scharf und schaute ihm fest in die Augen.<br />
– Na und, sagte er, die kann dir höchstens gesagt haben, dass ich<br />
beim Seewirt war.<br />
Seine Stimme wurde lauter:<br />
– Statt zu arbeiten, spionierst du mir nach!<br />
Leopold zog das ‚Neue Volksblatt‘ aus der Tasche und warf es<br />
auf den Tisch:<br />
– Das sollte dich interessieren: In Lenzing gibt es eine Engelmacherin,<br />
die hat eine junge Frau ermordet. Hast du sie getroffen?<br />
Normalerweise sitzt sie schon am Vormittag beim Seewirt.<br />
Womöglich kannte er die auch, dachte Erni. Wortlos ging er<br />
in die Schlafkammer hinauf, wo schon die kleine Pepperl im<br />
Ehebett lag.<br />
Wieder einmal konnte Erni nicht mit Poidl reden. War er so<br />
grantig, weil sie ihm immer noch keinen Buben geschenkt hatte?<br />
Das zweite Kind wäre einer gewesen, hatten sie ihr im Spital<br />
gesagt. Obwohl sie bereits im sechsten Monat gewesen war, hatten<br />
sie ihr den Kleinen nicht gezeigt. Und Leopold hatte sie bei den<br />
Ärzten auch nicht unterstützt. Nur einmal war er ins Krankenhaus<br />
gekommen.<br />
Lange blieb Erni in der finsteren Küche sitzen, Tränen kullerten<br />
ihr über die Wangen. Sie faltete die Hände:<br />
– Lieber Vater im Himmel, lass meine Prüfung nicht gar so schwierig<br />
ausfallen, ich bitte dich, und ich werde weiterhin eine brave<br />
Ehefrau sein.<br />
Langsam wurde es ihr leichter. Sie zog sich aus, ging leise hinauf<br />
in die Schlafkammer. Er musste das Knarren der Stiegen gehört<br />
haben. Noch bevor sie ihre Pepperl zu sich nehmen konnte, stand<br />
er auf. Kein Wunder, dachte sie, nach dem vielen Bier drängt es<br />
ihn. Sie nahm die Kleine auf ihre Bettseite, drehte ihm den Rücken<br />
zu, bemühte sich gleichmäßig und ruhig zu atmen, als schliefe sie.<br />
Leopold kam zurück, legte sich hin. Er näherte sich, als passierte<br />
es zufällig.<br />
18
Ich muss, sagte sie<br />
– Entschuldige, sagte er, nachdem er die Hand auf ihren Bauch<br />
und zwischen Pepperl und sie geschoben hatte, du bist ja doch<br />
meine Liebste. Ich weiß auch nicht, warum ich immer so grantig<br />
werde.<br />
Erni konnte tief durchatmen. Hatte der Himmelvater ihr Gebet<br />
erhört? Sie legte ihre Hand auf seine, streichelte sie leicht, sagte<br />
nichts. Es war zu gefährlich, ihre Wünsche zu erklären. Er rückte<br />
noch näher, sie spürte seine Erregung. Sie war noch nicht bereit.<br />
– Die Kleine, sagte sie, aber er drehte sie schon um, zog sie auf<br />
seine Seite, schob ihr das Nachthemd hinauf.<br />
Seine Küsse waren wie früher, nur damals hatten sie nicht nach<br />
Bier gerochen. Er wartete nicht lange, legte sich auf sie drauf. Bist<br />
noch trocken heute, sagte er und speichelte sie kräftig ein. Hoffentlich<br />
ist es bald vorbei, und wenn nur Josefa nicht munter wird,<br />
dachte sie, da begann er schon zu keuchen.<br />
– Diesmal wirds ein Bub, sagte er, küsste sie noch flüchtig und<br />
drehte ihr den Rücken zu.<br />
Beim Frühstück sagte er nicht viel, hatte es eilig. Er war diese<br />
Woche zum Einkartieren dran. Vor sechs Uhr mussten alle Briefe<br />
auf die Rayone aufgeteilt sein.<br />
– Ich komme heute gleich heim, sagte er und küsste sie auf die<br />
Stirn, bevor er ging.<br />
Josefa schlief noch fest. Erni nahm das ‚Volksblatt‘ vom Vortag<br />
zur Hand. ‚Lenzing: Kindesmutter mit Radpumpe ermordet‘,<br />
stand auf der Titelseite. Eine Frau K. habe einer jungen Mutter<br />
die Leibesfrucht mit einer Fahrradpumpe nehmen wollen. Dadurch<br />
sei bei der 28-jährigen Frau die Herzkammer geplatzt. Sie<br />
soll bereits nach einer Viertelstunde tot gewesen sein. Dr. Muhr, ein<br />
Frauenarzt, wird zitiert: ‚Endlich haben wir diese Mörderin, die hat<br />
ihr Unwesen schon vor dem Krieg getrieben.‘ Zwanzig Jahre lang soll<br />
Frau K. diese Verbrechen bereits begangen haben. Sie, ihr Lebensgefährte<br />
sowie der Gatte der Verstorbenen waren wegen Beihilfe<br />
und Erfüllung des Tatbestandes nach § 144 sofort verhaftet<br />
worden. Ein fünfjähriger Knabe sei nun mutterlos. Manche Menschen<br />
haben keinen Funken Ehrgefühl, dachte Erni.<br />
Das Begräbnis der jungen Frau war für den nächsten Tag angesetzt.<br />
Erni wollte hingehen. Es interessierte sie zu sehen, was so<br />
19
Ich muss, sagte sie<br />
eine Mörderin anrichtete. Vielleicht würde sie erfahren, warum<br />
ihr Leo angedichtet hatte, dass sie diese Frau vom Seewirt kenne.<br />
Kannte etwa er sie von dort?<br />
Vor dem Friedhof begann Josefa zu weinen.<br />
– Rad fahren, Rad fahren, schluchzte sie und wollte nicht aus<br />
dem Sitz genommen werden.<br />
Erni sah den kleinen Trauerzug. Wieso war da kein Pfarrer dabei?<br />
Fast alle Frauen trugen Alltagskleider, hatten sich aber schwarze<br />
Tücher um den Arm oder um den Hals gebunden. Nur eine Frau,<br />
die mit kleinem Abstand hinter den anderen ging, trug ein bodenlanges<br />
schwarzes Kleid, und sie kam ihr bekannt vor. Erni meinte<br />
sich an das sonderbare Symbol aus Silber zu erinnern, das sie trug.<br />
Ja, bei ihrer Freundin Hilda hatte sie diese Frau gesehen. Wieso war<br />
sie hier? Erni setzte sich Josefa auf die Schultern, was der Kleinen<br />
immer gefiel, und näherte sich langsam dem Trauerzug. Der Kies<br />
schien unter ihren Schritten besonders laut zu knirschen. Die Frau<br />
drehte sich zu ihr um.<br />
– Ist die Tote eine Bekannte von Ihnen?, fragte Erni leise.<br />
Die Frau schaute sie erst nur an und ihre Augen schienen immer<br />
größer zu werden.<br />
– Nicht jetzt, zischte sie dann, kam bedrohlich nahe und flüsterte:<br />
Wenn du etwas wissen willst, warte nach dem Begräbnis vor der<br />
Friedhofsmauer auf mich.<br />
Eine rote Fahne steckte im aufgeschütteten Erdhaufen. Erni war<br />
zu weit weg, um zu verstehen, was der Mann am offenen Grab<br />
sagte. Am Ende hob er die Hand auf Kopfhöhe. Zuerst dachte Erni<br />
an jene vorgestreckten rechten Arme, die sie noch gut in Erinnerung<br />
hatte, dieser Mann aber machte kurz eine Faust. Blumen<br />
wurden ins Grab geworfen. Eine ältere Frau mit Hut hielt einen<br />
kleinen Buben an den Schultern. Er weinte, nein, er schrie.<br />
Erni ging als Erste vom Friedhof und setzte sich mit Pepperl auf<br />
eine Bank neben dem Eingang. Langsam kamen die Trauergäste<br />
durch das Friedhofstor. Die sonderbare Frau nahm neben Erni<br />
Platz und schaute sie mit durchdringendem Blick an.<br />
– Ich weiß, wer du bist, sagte sie. Als Freundin von Hilda sollst<br />
du erfahren, wie es wirklich war.<br />
20
Ich muss, sagte sie<br />
Erni rückte ein wenig zur Seite. Diese Frau soll eine Freundin<br />
von Hilda sein?, dachte sie, sagte dann aber leise:<br />
– Die Frau hat ihr Kind getötet und ist dabei auch noch selbst<br />
umgebracht worden. Ist das nicht furchtbar?<br />
– Die Tote war eine Arbeiterin. Als sie schwanger wurde, war ihr<br />
Mann schon länger arbeitslos, weil niemand einen Kommunisten<br />
einstellen wollte. Sie haben nicht gewusst, wie sie noch ein weiteres<br />
Kind ernähren hätten sollen, und baten meine Schwester um<br />
Hilfe. Verzweifelten Frauen wird in unserem scheinheiligen Land<br />
ja nicht geholfen, und wer ihnen beisteht, gilt als Verbrecher. Dann<br />
passieren traurige Unfälle wie dieser, weil ein Einzelner bei sich<br />
zu Hause natürlich nicht die medizinische Ausrüstung hat, die<br />
ein Spital dafür hätte. Bisher konnte meine Schwester noch jeder<br />
Frau helfen, die in Not geraten war, und es gab dabei noch nie<br />
Komplikationen.<br />
Sitze ich jetzt neben der Schwester der Mörderin?, dachte Erni.<br />
Will die mir erzählen, dass das Töten eines ungeborenen Kindes<br />
etwas ganz Normales ist? Die Frau sagte lange Zeit nichts, schaute<br />
Erni noch einmal tief in die Augen. Dann schloss sie die Lider,<br />
presste ihren Atem durch den halb offenen Mund.<br />
– Du hast sicher im schwarzen Landesblatt diesen Schwachsinn<br />
mit der Radpumpe gelesen, sagte sie, ohne Erni dabei anzuschauen.<br />
Wann genau hast du geheiratet?, fragte sie dann.<br />
– Im September 1946.<br />
– Und wann wurde deine Tochter geboren?<br />
Erni verstand. Von September bis März gingen sich die neun<br />
Monate nicht aus. Auch sie und ihr Poidl hatten nicht gewartet, bis<br />
sie offiziell Mann und Frau waren.<br />
– Eines sollst du auch wissen, holte die Frau Erni aus ihren<br />
Gedanken, meine Schwester, die Theresia Kiesl, und dein Mann<br />
kennen sich ganz gut. Erst vor einigen Tagen waren sie gemeinsam<br />
beim Seewirt. Vielleicht solltest du ihn einmal fragen.<br />
Noch bevor Erni ihre Gedanken ordnen konnte, war die Frau<br />
gegangen. Schnell schob sie Pepperls Füße in den Kindersitz und<br />
fuhr ihr nach. Erni klingelte, die Frau drehte sich um.<br />
– Darf ich Sie noch etwas fragen?<br />
Die Frau nickte nur. Wieder sah Erni diese großen Augen.<br />
21
Ich muss, sagte sie<br />
– Zwei Fragen habe ich: War etwas mit meinem Poidl und Ihrer<br />
Schwester?<br />
Erni stockte, dann fragte sie mit gedämpfter Stimme:<br />
– Hat Ihre Schwester diese Sachen gemacht, weil sie nicht an<br />
Gott glaubt? Oder ist sie gar Kommunistin?<br />
Erni war überrascht, dass die Frau über ihre Fragen sogar ein<br />
wenig schmunzelte.<br />
– Keine Sorge, sagte sie, meine Schwester war mit deinem Briefträger<br />
nicht im Bett. Sie ist gut zehn Jahre älter, aber aufpassen<br />
würde ich schon auf ihn. Wenn die Reserl gewollt hätte, ich glaube,<br />
er hätte sich nicht gewehrt. Zur zweiten Frage sollten wir uns noch<br />
einmal hinsetzen, da vorne ist ein Holzstoß.<br />
Erni setzte Pepperl in die Wiese.<br />
– Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie auch duze?, fragte sie.<br />
– Anna, sagte die Frau nur und richtete den Blick in die Ferne.<br />
– 1934 waren wir beide glühende Sozialdemokratinnen, begann<br />
sie. Als wir nach dem Putsch der Austrofaschisten an einer Demonstration<br />
teilnahmen, sperrten uns die Hahnenschwanzler ein. Nur<br />
zwei Wochen, aber von da an waren wir registriert. Die Akten<br />
haben dann die Nazis übernommen und alle Sozialdemokraten<br />
und Kommunisten eingesperrt, die nicht bereit waren, einer der<br />
NS-Organisationen beizutreten. So gesehen verdanken wir es dem<br />
Dollfuß, dass uns die Nazis verhaftet haben. Wir sind in Mauthausen<br />
gelandet.<br />
Dollfuß? Den hatte Ernis Vater über alles verehrt, ihn als edlen<br />
Menschen dargestellt. Dollfuß sollte dafür verantwortlich gewesen<br />
sein, dass jemand nach Mauthausen gekommen ist? Sie wagte<br />
nicht, Anna zu unterbrechen.<br />
– Von Mauthausen, erzählte diese weiter, wurden wir in eine<br />
Außenstelle gebracht, das Frauenkonzentrationslager Lenzing. Die<br />
Zwangsarbeit in der Zellwollfabrik war schlimm genug, aber wir<br />
sollten auch an Ernährungsversuchen mit einer Mycel-Biosyn-<br />
Wurst teilnehmen. Irgendwie ist durchgesickert, dass es in Dachau<br />
und in Buchenwald bei ähnlichen Versuchen zahlreiche Tote gegeben<br />
hat. Die SS wollte gemeinsam mit der Firma Dr. Oetker für die<br />
Truppen künstliche Würste aus Industrie-Abfällen herstellen. An<br />
uns wollten sie es ausprobieren.<br />
22
Ich muss, sagte sie<br />
Erni musste an die Kriegsjahre am Bauernhof denken. Zu<br />
essen hatten sie immer genug gehabt. Von Mauthausen hatte sie<br />
nach dem Krieg erfahren, aber dass es in Lenzing auch ein Lager<br />
gegeben hatte? Oetker-Produkte wollte sie jedenfalls keine mehr<br />
kaufen.<br />
– Wir haben diese Versuche gefürchtet und wollten sie auf keinen<br />
Fall mitmachen. Wenn wir nebeneinander an einer Maschine standen,<br />
haben wir zu planen begonnen, da war es so laut, dass uns<br />
niemand hören konnte. Im Herbst 1943 täuschten wir vor, eine<br />
Biosynwurst gegessen zu haben, und simulierten Koliken. Danach<br />
gelang uns die Flucht aus dem Krankentransport. Ein Bauer in<br />
Reibersdorf fand uns in seinem Heustadel. Er nahm uns auf und<br />
gab uns als tschechische Arbeiterinnen am Hof aus. Wir durften<br />
mit niemandem reden, wurden von ihm aber bis Kriegsende sogar<br />
recht gut versorgt. Ob er wusste oder nur vermutete, dass meine<br />
Schwester ungewollte Schwangerschaften beenden kann, wissen<br />
wir bis heute nicht. ‚Könnt ihr vergewaltigten Frauen helfen?‘,<br />
fragte er nur, und meine Schwester nickte. Sie brachten noch<br />
während des Kriegs Frauen zu uns. Allen wurden die Augen verbunden.<br />
Ob das tatsächlich lauter Schwangerschaften nach Vergewaltigungen<br />
waren, wussten wir natürlich nicht. Wir halfen einfach,<br />
und meine Schwester verletzte keine einzige Frau. Nach dem Krieg<br />
war das Elend in unserer Gegend immer noch sehr groß, aber das<br />
weißt du ja. Und die Reserl half weiterhin, wenn eine Frau sehr<br />
verzweifelt war. Wie jene Mutter, die wir gerade beerdigt haben.<br />
Jetzt sitzt meine Schwester im Gefängnis.<br />
Erni sah die Tränen in Annas Augen. Die beiden Frauen schwiegen,<br />
die Kleine quengelte ein wenig.<br />
– Du hast ein liebes Mäderl, sagte Anna. Wie heißt sie?<br />
– Josefa, aber wir sagen Pepperl zu ihr.<br />
Erni nahm ihre Tochter in die Arme, drückte sie:<br />
– Ich habe vor kurzem eine Fehlgeburt gehabt. Ein Bub wäre es<br />
geworden. Wie kann sich eine Frau gegen ein Kind entscheiden?<br />
Erni ließ das Kinn auf die Brust sinken.<br />
– Vielleicht bist du nicht katholisch, sagte sie dann, aber weißt<br />
du, ich glaube schon an den lieben Gott und an den Papst.<br />
Annas Blick wurde wieder strenger.<br />
23
Ich muss, sagte sie<br />
– Der Glaube an einen Gott ist mir längst vergangen, sagte sie,<br />
und die Kirche, da kommt mir eher das Speiben. Einige schwangere<br />
Frauen kamen zu meiner Schwester und vertrauten ihr an, dass sie<br />
das Kind deshalb unmöglich bekommen konnten, weil ein Pfarrer<br />
der Vater war. Hättest du so eine Frau weggeschickt, sie in ihrer<br />
Not alleine gelassen, obwohl du gewusst hättest, dass du ihr helfen<br />
kannst?<br />
Beinahe unmerklich zuckte Erni die Schultern und blickte zu<br />
Boden, dann setzte sie ihre Pepperl wieder in den Kindersitz.<br />
– Ich muss, sagte sie. Wenn er heimkommt und das Essen ist<br />
nicht fertig …<br />
Vor der Nationalratswahl musste Erna noch einige Zettel verteilen.<br />
Drei Nachbarinnen nickten und bedankten sich. Dadurch ermutigt<br />
fuhr sie mit dem Rad zu Hilda. Die war wieder einmal nicht daheim<br />
und Erni schob das kleine Flugblatt durch den Türspalt:<br />
ÖSTERREICH<br />
steht am 13. MAI<br />
vor einer folgenschweren Entscheidung:<br />
Gebet und Opfer sind unüberwindliche Waffen.<br />
Ich verpflichte mich, bis zum 13. Mai<br />
1. täglich zumindest 1 Gesätzchen Rosenkranz zu beten<br />
2. täglich ein Opfer von mir zu fordern<br />
3. noch 4 Christen zu gewinnen, die dasselbe zu tun bereit<br />
sind und mit mir einen lebenden Rosenkranz bilden.<br />
Maria<br />
Du erhabene Schutzfrau Österreichs!<br />
Breite Deine Hände aus über unser<br />
Volk und Land!<br />
24
Ich muss, sagte sie<br />
Segne unsere Felder und Fluren –<br />
segne alle Stätten unserer Arbeit –<br />
segne unsere Dörfer und Städte –<br />
segne alle Menschen, die darin wohnen!<br />
Heilige unsere Familien!<br />
Führe die Jugend zu Christus!<br />
Erbitte den Regierenden<br />
Weisheit und Gerechtigkeit!<br />
Schenke dem Volke<br />
Einigkeit und Liebe!<br />
Bewahre unserem Land<br />
den Frieden und die Freiheit!<br />
Gib der Kirche unserer Heimat<br />
apostolischen Eifer!<br />
Laß alle Heimatlosen Heimat finden –<br />
und führe unsere Toten<br />
zur ewigen Heimat!<br />
Heiliger Leopold, laß Dir Land<br />
und Menschen empfohlen sein!<br />
AMEN<br />
25