Leseprobe_Rogy
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Jeden Tag Cowboy<br />
Viktor <strong>Rogy</strong>
WOLFGANG KOCH<br />
JEDEN TAG COWBOY<br />
Viktor <strong>Rogy</strong><br />
Der Kunstrebell vom Wörthersee
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:<br />
Wolfgang Koch:<br />
Jeden Tag Cowboy. Viktor <strong>Rogy</strong>. Der Kunstrebell vom Wörthersee<br />
Wien, Hollitzer Verlag, 2020<br />
Covermotiv: Viktor <strong>Rogy</strong> (Ausschnitt), © Heinz W. Schmid 1983<br />
Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović<br />
Layout und Satz: Daniela Seiler<br />
Hergestellt in der EU<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
© Hollitzer Verlag, Wien 2020<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99012-819-0
INHALT<br />
Abkürzungen ............................................................................. 7<br />
Nomenklatur ............................................................................. 10<br />
Vorwort ...................................................................................... 13<br />
Dank ................................................................................... 35<br />
Erstes Kapitel<br />
DER GLORREICHE TEXASREITER / 1924–34 .................. 37<br />
Zweites Kapitel<br />
DER SIMULANT IN DER PFANNE / 1934–45..................... 61<br />
Drittes Kapitel<br />
ZWEI COLTS IN DER RUE DE LA GLACIÈRE / 1945–62...... 87<br />
Abbildungsteil I.................................................................... 139<br />
Abbildungsnachweis I ........................................................... 151<br />
Viertes Kapitel<br />
DICKE LUFT AUF DEN HERRENSITZEN / 1960–74 .......... 155<br />
Fünftes Kapitel<br />
DAS BLEIGERICHT AM LENDKANAL / 1974–82 ............... 215<br />
Abbildungsteil II .................................................................. 295<br />
Abbildungsnachweis II .......................................................... 326
Sechstes Kapitel<br />
ROTE LASCHE MIT ZÜNDSCHNUR / 1982–95................. 333<br />
Siebentes Kapitel<br />
DER TOTENGRÄBER WARTET SCHON / 1995–2004........ 437<br />
Letztes Kapitel<br />
NACHLEBEN FÜR EIN HALLELUJA................................. 511<br />
Interviewpartner*innen { }.................................................... 533<br />
Primäre Textquellen ( ).......................................................... 534<br />
Sekundäre Textquellen ( )...................................................... 537<br />
Archivquellen [ ]................................................................... 547<br />
Filmographie........................................................................ 548<br />
Einzelausstellungen............................................................... 549<br />
Gemeinschaftsausstellungen................................................... 551
ABKÜRZUNGEN<br />
AB-I<br />
Artists’ Book I: Viktor <strong>Rogy</strong>, »genie 84« (Ritter<br />
Verlag, Klagenfurt 1984)<br />
AB-II Artists’ Book II: Viktor <strong>Rogy</strong>, » I love you/<br />
PRIVATFILM« (Edition Selene, Wien 1998)<br />
BB<br />
BBU<br />
BM<br />
BYR<br />
dbp<br />
FPÖ<br />
h<br />
LH<br />
IKUC<br />
KGB<br />
Bella Ban (Isabella Ban-<strong>Rogy</strong>), bildende Künstlerin,<br />
zweite Ehefrau<br />
Bleiberger Bergwerks Union; Bergbau- und Hüttenwerksunternehmen<br />
Bürgermeister*in<br />
Bô Yin Râ (Joseph A. Schneiderfranken), Dichter,<br />
Maler, Mystiker, 1876–1943<br />
Die Beste Partei, Spaßpartei des Ideenfabrikanten<br />
Reinhard Eberhart<br />
Freiheitliche Partei Österreichs, rechtsnational<br />
Hauchlaut, <strong>Rogy</strong>-Mantra, symbolisiert Vitalität<br />
und Geist<br />
Landeshauptmann/frau, höchstes Regionalamt in<br />
Österreich, entspricht in Deutschland der Ministerpräsidentin/dem<br />
Ministerpräsidenten eines Bundeslandes<br />
Interkulturelles Center Volkshaus /Interkullturni<br />
center Ljudski dom, Klagenfurt/Celovec<br />
Komitee für Staatssicherheit; sowjetischer In- und<br />
Auslandsgeheimdienst 1954–91<br />
7
KTZ<br />
NSK<br />
Kärntner Tageszeitung, 1946–2014, mittelinks<br />
Neue Slowenische Kunst, interdisziplinäres Kunstkollektiv<br />
ab 1984<br />
NSKS Narodni svet koroških slovencev /<br />
Rat der Kärntner Slowenen<br />
NO!art<br />
NS<br />
NVZ<br />
NYC<br />
ÖBB<br />
ÖVP<br />
Antikunstbewegung, gegründet 1959 in NYC<br />
Nationalsozialismus; faschistische Ideologie der<br />
Hitler-Bewegung<br />
Neue Volkszeitung, für Kärnten und Osttirol,<br />
1945–90, mitterechts<br />
New York City, US-Stadt an der nordamerikanischen<br />
Ostküste<br />
Österreichische Bundesbahnen<br />
Österreichische Volkspartei, rechtskonservativ<br />
OM heiligstes Wort der Hindus, ohne Sanskritbuchstaben<br />
geschrieben, bedeutet nach BYR (1924): »Sein<br />
aus sich selbst«<br />
rem Reinhard Eberhart Museum in Villach-St. Ruprecht,<br />
2009–16<br />
SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs<br />
1918–34, Vorläuferin der SPÖ (Sozialdemokratische<br />
Partei Österreichs)<br />
S. I. L’Internationale situationniste /<br />
Situationistische Internationale, 1957–72<br />
Sir fd Franz Dreier, Klagenfurter Gastronom,<br />
Mäzen und <strong>Rogy</strong>-Schüler, 1950–96<br />
SPÖ siehe SDAP<br />
SS<br />
Schutzstaffel; elitäres Terror- und Unterdrückungsorgan<br />
im NS-Staat<br />
UBW Universität für Bildungswissenschaften Klagenfurt,<br />
1977–93, heute Alpe-Adria-Universität<br />
8
Unikum Universitätskulturzentrum Klagenfurt /<br />
Kulturni center univerze v Celovcu<br />
US<br />
United States, Vereinigte Staaten von Amerika<br />
WWI Erster Weltkrieg 1914–18<br />
WWII Zweiter Weltkrieg 1939–45<br />
ZERO<br />
ZKM<br />
Düsseldorfer Künstlergruppe mit puristischer<br />
Ästhetik, gegründet 1958<br />
Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe<br />
19C, 20C 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert, …<br />
9
NOMENKLATUR<br />
Appropriation Art<br />
Artists’ Book<br />
Bruitismus<br />
Caroline<br />
Catenaccio<br />
Conceptual turn<br />
Doppelgänger<br />
Enigma<br />
enigmatisch<br />
Enttschatschelung<br />
Fassadismus<br />
Aneignungskunst der The Pictures Generation<br />
ab 1974/77<br />
Künstlerbuch; eigenständige Kunstform<br />
ital. Rumorismo. Provokativ lärmende<br />
Musik des Futurismus ab 1909<br />
geborene Heidemarie Karoline Moser,<br />
erste Ehefrau, spätere Hudelist<br />
defensives Türriegel-System im Fußball,<br />
ermöglicht das schnelle Kontern<br />
ästhetische Wende zur Information in der<br />
Kunst ab Marcel Duchamp, 1913<br />
Überblendung oder Überbelichtung der<br />
Künstlerpersönlichkeit<br />
auch Aenigma; semantische Verrätselung,<br />
beredtes Schweigen, verweist auf das<br />
Unfassbare, Unbegreifbare<br />
undurchschaubar, unerklärlich;<br />
nicht abbild- und wahrnehmbar<br />
Entkitschung; räumliches Gestaltungsprinzip<br />
des <strong>Rogy</strong>ismus<br />
Abriss eines alten Gebäudes mit Ausnahme<br />
der Fassade<br />
Fin de Siècle kulturgeschichtliche Epoche um das Jahr 1900<br />
10
Form frisst<br />
Botschaft<br />
Geschlechtsdimorphismus<br />
Himavat<br />
<strong>Rogy</strong>-Formel, die den Sprachalltag reflek-<br />
tiert (© Arnulf Rohsmann, ehem. Leiter der<br />
Landesgalerie Klagenfurt)<br />
These von der Grundverschiedenheit von<br />
Mann und Frau<br />
Sanskrit für viel Schnee, davon Himalaya;<br />
Code von BYR (1913)<br />
Hypostase schreibt einer Sache, die bloß in Gedanken<br />
existiert, eine gegenständliche Realität zu<br />
(Kant)<br />
Inkarnation Wiederbelebung, Wiederbeseelung einer<br />
Figur der privaten Mythologie<br />
Ikonodulie Bilderverehrung<br />
Ikonoklasmus Zerstörung heiliger Bilder<br />
Kartenblock Werkgruppe aus rund eintausend Künstlerpostkarten<br />
(Mail Art)<br />
Kellnerblock kalligraphisches Spätwerk auf Zetteln,<br />
Karten, Leuchtschriften, Pop-ups<br />
Klassische Moderne erste Abstraktionsbewegung der Kunst ab<br />
1907 (Kandinsky, Mondrian)<br />
Künstlerphilosophie Denken und Meinen der Kunstproduzenten,<br />
abgerückt von der Disziplin der Kunstphilosophie<br />
oder Ästhetik<br />
Lone Star 1 Texasreiter Buck Duane, Romanfigur von<br />
Zane Grey 1914, Western-Ikone der USA<br />
Macchia<br />
flächenhafter Malstil bewegter Farbflecken<br />
Mail Art<br />
Post- bzw. Korrespondenzkunstbewegung ab<br />
1970<br />
Millennium kulturgeschichtliche Epoche um das Jahr 2000<br />
Nepotismus auf Günstlinge aller Art ausgedehnte<br />
Vetternwirtschaft; Relikt der ständischen<br />
patrimonialen Ordnung<br />
11
Paraphilosophie<br />
Proponismus<br />
Kunst als Lebensanweisung<br />
Zwang zur Zurschaustellung/ Publizität<br />
Reinkarnation Wiederverkörperung, Fort- oder Präexistenz.<br />
Was wiedergeboren wird und zu welchem<br />
Zweck, bleibt in der Vorstellung offen<br />
Retroavantgarde NSK (Neue Slowenische Kunst)-Begriff für<br />
den Rückgriff auf das Arsenal der Avantgarden,<br />
um Tabuisierungen auszuhebeln, und<br />
für die Sehnsucht nach dem großen Ganzen<br />
<strong>Rogy</strong>-Alphabet Abcdefghijklmnopquem (1990)<br />
Sauwastika auch Aswastika, linksgerichtetes altindisches<br />
Abwehrsymbol<br />
Selbstinterview von Heinz W. Schmid 1981–99 mit <strong>Rogy</strong><br />
entwickelte Darstellungsform, bei welcher<br />
der Interviewte sich selbst die Fragen stellt<br />
Sprezzatura Kunst, anstrengende Taten mühelos erscheinen<br />
zu lassen<br />
Stutz<br />
Nickname des Künstlers Hans Bischoffshausen;<br />
nicht zu verwechseln mit dem Literaturwissenschafter<br />
Jozej »Pepo« Strutz<br />
Swastika<br />
rechtsgerichtetes altindisches Glückssymbol<br />
und NS-Hakenkreuz<br />
Weiße Moderne auch Zweite Moderne; künstlerische Tendenz<br />
zu Minimalismus und Reduktion ab 1945<br />
12
VORWORT<br />
Viktor <strong>Rogy</strong>, der Enigmatiker unter Österreichs Kunstextremisten,<br />
hätte dieses Buch abhorresziert, denn er wollte mit Gewalt<br />
als der große Unverstandene dastehen. Im letzten Drittel seines<br />
Lebens erlaubte er niemand, ihn einfach zu fotografieren, er<br />
gab keine Interviews, sondern interviewte sich lieber selbst, er<br />
zensierte Kurator*innen bis hin zur Vernichtung eines Textes<br />
in der Druckmaschine. Nach <strong>Rogy</strong>s fundamentalistischer Vorstellung<br />
sollte im Grunde – außer ihm selbst – niemand über ihn<br />
sprechen dürfen. Der Bann wirkte so stark, dass erst 15 Jahre<br />
nach seinem Tod dieser erste Versuch einer Biographie unternommen<br />
wird. <strong>Rogy</strong>s Rigidität im Umgang mit sich und mit<br />
anderen gewährt mir heute großzügig Freiraum zur Einfühlung<br />
und Reflexion, sein Verwirrspiel verlangt aber auch eine besondere<br />
Verantwortung gegenüber den Kollaborateur*innen dieses<br />
Mannes und gegenüber seinen nicht wenigen Opfern.<br />
Ich rechne mich eher zu den Lädierten, ohne dass ich je aufgehört<br />
hätte, das Einzigartige an seiner Kunst zu studieren. <strong>Rogy</strong>s<br />
kleinem Freundeskreis erschien stets sein Privatleben als sein<br />
Meisterwerk. Doch noch heute ist mir seine verletzende Art,<br />
mit anderen umzuspringen, stärker in Erinnerung als die schönen<br />
Stunden gemeinsamer Gartenarbeit, wo wir uns direkt mit<br />
Erde, Stein und Holz auseinandersetzten und nur zwischendurch<br />
Laute von uns gaben. Man musste ein eingefleischter Masochist<br />
sein, um <strong>Rogy</strong>s Wirtshausreden, die alles ihm Unverständliche<br />
herabwürdigten, länger als ein paar Minuten zu ertragen.<br />
Man musste einen Lustgewinn ziehen aus der eigenen Hingabe,<br />
13
Wehrlosigkeit und der freiwilligen Unterwerfung, wie das ab<br />
etwa 1975 der engste Kreis um den Künstler im Dunst von Alkohol<br />
und Zigaretten nahezu allabendlich tat.<br />
Bereits zu Lebzeiten schieden sich die Geister an dem<br />
kompromisslosen Selbstdarsteller, Bildermacher und Liebhaber.<br />
Hat sich <strong>Rogy</strong> um Dinge gekümmert, auf die es wirklich ankommt?<br />
Ging es ihm um kunstimmanente Fragen, entwickelte er<br />
gar, wie das Universitätskulturzentrum Klagenfurt meint, kulturelle<br />
Widerstandsformen schlechthin? Es ist ja durchaus etwas<br />
Notwendiges im Misstrauen der Menschen vor dem Erscheinen<br />
der Kunst. Oft genug gerät ihr Auftritt nur zur eitlen Anspielung,<br />
zum gebrechlichen Anspruch. Für <strong>Rogy</strong> musste Kunst etwas die<br />
Routine Bedrohendes bewirken, musste festgefahrene Haltungen<br />
erschüttern, Hohn über das Meinunghaben ausgießen.<br />
Um sein Werk in einem größeren Bild wahrzunehmen, ist es<br />
daher notwendig, ein paar Schritte zurück zu treten. Dann erscheint<br />
es im Ganzen als eine Art Selbstporträt, fast kubistisch<br />
in seiner Komplexität, dominiert von Späßen, Schatten und Widersprüchen.<br />
<strong>Rogy</strong> stellte sich vor, dass er bestimmt dafür sei,<br />
handwerkliche Tradition und männliche Eleganz zu verteidigen,<br />
das religiöse Empfinden zu poëtisieren und den Kult der Kunst<br />
zu erneuern. Es stellte sich jedoch heraus, dass sein größtes Geschenk<br />
darin bestand, seine eigene Persönlichkeit in Bilder zu<br />
übersetzen. Sein Freunde hatten recht: sein Hauptwerk war das<br />
ständig missratende, in Vorwürfe und Beleidigungen mündende<br />
halböffentliche Privatleben.<br />
<strong>Rogy</strong>s Mutter Antonia antwortete auf die Frage, was ihr Sohn<br />
beruflich macht, mit: »Mein Sohn ist Lyriker.« Jahrzehnte nach<br />
den literarischen Cabarets der Wiener Gruppe entdeckte ihn einer<br />
von dessen Protagonisten, Friedrich Achleitner, für sich – zunächst<br />
als Lowspeed-Urbanisten und Designer, der in Glas und<br />
Stahl träumte, und gegen Lebensende dann auch als Dichterkollegen.<br />
<strong>Rogy</strong>s Ideale hießen »stiller Zecher«, »stiller Angeber« und<br />
»unbekannter Wirtshauszeichner« und er verfehlte alle drei täglich.<br />
Der Mann betete sechs Jahrzehnte lang unter Bach-Kantaten,<br />
14
prügelte sich mit Saufkumpanen, profanierte Mystik radikal,<br />
gründete und zerstörte eine Familie, schlug seine Frauen, erfand<br />
eine Schrift, legte jungen Menschen die Sporen an und band<br />
ihnen das Schwert der Kunst um. Er manipulierte Fans bis zur<br />
Hörigkeit, bejubelte in aller Öffentlichkeit den Mordversuch an<br />
einem Politiker und schuf dabei trotzdem – als Schnittmenge<br />
seiner Artikulation – ein künstlerisches Werk von seltener Dichte.<br />
Die Vermessenheit, durch Form unsterblich zu werden, durch<br />
Liebe dem Tod zu entrinnen, durch Fantasie die Wirklichkeit zu<br />
bezwingen – das ist der innere Sprengsatz von Kunst. Schade,<br />
dass <strong>Rogy</strong> mit seiner Hinwendung zu diesem Ziel weder Neid<br />
noch Wut oder Ignoranz in seinem Leben eliminierte.<br />
Was das Werk betrifft, so ist gewiss alles, was darüber gesagt<br />
werden kann, schwächer als das Werk selbst. Das hielt führende<br />
Intellektuelle rund um das Millennium nicht davon ab, es an<br />
prominenter Stelle zu kommentieren. 1 Nur die Mandarine des<br />
Kunstbetriebs, die Kurator*innen, die Geister, die selten auf eigenes<br />
Risiko und in eigener Sprache die Öffentlichkeit mit ihren<br />
Urteilen belästigen, verscheuchte der Künstler wie Fliegen.<br />
<strong>Rogy</strong> war nie und nirgendwo populär, er konnte es gar nicht<br />
sein. Wie viele österreichische Kunstschaffende dachte er, Beziehungen<br />
seien in der Kunst alles, man müsse nur möglichst<br />
viele wichtige Leute kennen, um Erfolg zu haben – und das<br />
widerstrebte ihm geradezu körperlich. Toleranz und Gelassenheit<br />
waren dem Mann, seit er sterbensknapp heil aus dem Krieg<br />
heimgekehrt war, unbekannt. Dennoch fand sein elitäres Idiom,<br />
zugleich enorm hoch und völlig unbestimmt, in zwei Städten<br />
und auf drei Schlössern ausreichend Gehör, um bis heute nicht<br />
wieder in Vergessenheit zu geraten.<br />
<strong>Rogy</strong> war kein Verfolgter und kein verkannter Künstler,<br />
wie man immer wieder liest, sondern ein vom überregionalen<br />
Kunstmarkt und dem Museumsbetrieb, den er harsch kritisierte,<br />
1 Achleitner, Aspetsberger, Kapfinger, Rohsmann, Zaunschirm<br />
15
oykottierter Retroavantgardist; er war ein Einzelkämpfer<br />
der an Außenseitern überreichen österreichischen Nachkriegsmoderne.<br />
Die Printredaktionen in Kärnten – vier Tageszeitungen,<br />
ein Monatsmagazin, eine Kulturzeitschrift – gingen mit<br />
<strong>Rogy</strong> keineswegs ignorant um; seine überspitzten Auftritte auf<br />
den Feldern der Kultur, der Politik und der Gastronomie verhalfen<br />
den Berichterstatter*innen zu leicht verdientem Zeilengeld.<br />
Die Galeristin Judith Walker meint sogar, <strong>Rogy</strong> habe mit seinen<br />
Spektakeln ernsthaften Kolleg*innen unnötig viel Raum gestohlen.<br />
Das Kleinfeuilleton führte den Künstler am liebsten als<br />
Beuys-Epigonen, obwohl er mit dem berühmten Deutschen nicht<br />
viel mehr gemeinsam hatte als ein trauriges Kriegsschicksal und<br />
eine Vorliebe für profane Materialien; andere Zeitgenoss*innen,<br />
mit denen seine Arbeit tatsächlich zu vergleichen gewesen wäre –<br />
Dieter Roth, Tomas Schmit, Július Koller, Ingeborg Strobl –<br />
waren in Kärntens Redaktionsstuben praktisch unbekannt.<br />
Die regionalen Medien wurden ab 1978 selten müde, auf das<br />
»Original«, den »Querdenker« und den »Avantgardisten« hinzuweisen.<br />
Noch ein halbes Jahrhundert davor waren antikes Erbe<br />
und Mehrsprachigkeit als die geistigen Grundlagen der Kärntner<br />
Kultur angesehen worden. Nach 1945 war die Antike als<br />
geistiger Bezugspunkt des Landes von der Kulinarik abgelöst<br />
worden; jedenfalls habe ich in Kärnten noch nie erlebt, dass die<br />
Besichtigung von Steinen aus der Römerzeit einem guten Essen<br />
vorgezogen worden wäre. Und Mehrsprachigkeit war zu <strong>Rogy</strong>s<br />
Zeiten – trotz der mentalitätsgeschichtlichen Diskriminierung<br />
der Slowen*innen – kein kulturelles Asset mehr, sondern der<br />
kommunikative Verkehrsstandard.<br />
Auf der Suche nach einem neuen Habitus, nach einer toposstiftenden<br />
Funktion, die Kärntens Einzigartigkeit und Anderssein<br />
zu einer neuen Geschmackslandschaft verschmolz,<br />
nahmen Bürgertum und Mittelstand, nachdem der Wohlstand<br />
wieder aufgebaut worden war, auch die Fremdkörper unter die<br />
Lupe. Ja, die gebildete Schicht war sichtlich stolz darauf, dass<br />
Viktor <strong>Rogy</strong> letztlich im Land geblieben und nicht, wie so viele<br />
16
andere Kulturschaffende und Intellektuelle, dauerhaft nach<br />
Graz, Wien, Berlin, Paris oder NYC abgewandert war.<br />
Die Stationen von <strong>Rogy</strong>s wundersamer Lebensreise lauteten<br />
Gailitz, Villach, Leoben, Villach, Wien, Villach, Paris, Villach,<br />
Klagenfurt, Saager, Ehrenhausen, Damtschach, Klagenfurt. Der<br />
Autodidakt aus einer roten Eisenbahnerfamilie mit Wurzeln in<br />
beiden Volksgruppen gehörte zu den Millionen Männern, deren<br />
Jugend im Krieg militärisch verheizt wurde. Sein Leben als<br />
Landser der deutschen Wehrmacht war jede Minute von Angst<br />
und Fluchtgedanken bestimmt, er machte seine erste sexuelle<br />
Erfahrung unter Todesgefahr und erwarb in Uniform jene<br />
Fähigkeiten zu täuschen und zu simulieren, die ihm das Überleben<br />
als Frontschwein sicherten. So kannte <strong>Rogy</strong> in den Wiederaufbaujahren<br />
bereits sein wichtigstes Talent und suchte nach dem<br />
dazu passenden Lebensplan. Im ersten Jahrzehnt wandte er sich<br />
beinahe allen Musen zu, schwang die Beine am Sportplatz und<br />
auf dem Tanzparkett, ließ die Hand zeichnen und modellieren,<br />
lauschte Sektenpredigern und las Philosophen, bis die Unruhe<br />
mit der Entdeckung des österreichischen Rimbaud, Georg Trakl,<br />
1956 ein vorläufiges Ende fand.<br />
Auf der Liste der überragenden Persönlichkeiten, die er in seinem<br />
Leben face-to-face aufsuchte, stehen: ein Freund Egon Schieles,<br />
der Grafiker und Tiermaler Ludwig Heinrich Jungnickel, der<br />
Ausdruckstänzer Harald Kreutzberg und zwei der drei Töchter<br />
des deutschen Mystikers Bô Yin Râ (BYR). Alle anderen VIPs, für<br />
die sich der Bewunderungskünstler in Wort und Bild erwärmte,<br />
waren Verstorbene aus Europa, Asien und den USA. <strong>Rogy</strong> reinkarnierte<br />
seit dem Krieg der Reihe nach als Sindelar, Sokrates,<br />
Runge, Kainz, Kreutzberg, Rodin, Trakl und Mallarmé. 2 Seine<br />
Entwicklung zum Künstler geschah radiär, wie durch Diffusion,<br />
mit der Person als Epizentrum, die stärker in die eine oder andere<br />
Richtung weiterarbeitet. Während die Montparnasse-Pilger Maria<br />
2 Anmerkung zum Manuskript Koch, Der Lehmstecher Gottes (1993)<br />
17
Lassnig und Arnulf Rainer den immer noch munteren Surrealisten-Papst<br />
André Breton aufsuchten, zog <strong>Rogy</strong> Ende 1959 mit Hans<br />
Bischoffshausen mitten unter die allerärmste Pariser Bohème.<br />
Der Maler und Museumshasser Bischoffshausen fand bei der<br />
ZERO-Gruppe Anschluss; der gelernte Maurer <strong>Rogy</strong> versuchte<br />
indessen ohne Französischkenntnisse an die literarischen Symbolisten<br />
anzudocken. Das ging nur im ersten Fall gut. Zurück in<br />
Österreich wandte <strong>Rogy</strong> sich mit erschütternder Konsequenz der<br />
minimalistischen Bildhauerei zu. Zu einem lebenslangen Hakenschlagen<br />
und Häuten gezwungen, erwarb er sich eine Reihe neuer<br />
Fertigkeiten, lernte Glasblasen und Windelwechseln, lackierte<br />
Stuck und entwarf Grabsteine. Die Arbeit am Stein und am Metall<br />
führte ihn durch Ateliers auf Kärntner Schlössern bis hin zu einem<br />
Symposion in die USA, wo er sich mit dem in Frankreich lebenden<br />
japanischen Bildhauer Mizui Yasuo anfreundete.<br />
<strong>Rogy</strong> wusste sehr gut, dass man sich selbst manchmal mit anderen<br />
Begründungen für sein Leben überraschen muss. Also vollzog<br />
er den Übergang vom bearbeiteten Material zur Fundkunst<br />
in Schritten, die er gemäß der Strenge der Beziehungen im Werk<br />
verfolgte. In den 1970er-Jahren wandte er sich, mit einer starken<br />
Tendenz zur Verinnerlichung, den konzeptuellen Künsten<br />
zu und überließ die analoge Reproduktion seiner Ideen anderen.<br />
Einige Jahre ging er im Rausch und in der Arbeit richtig auf,<br />
wollte Dinge zugleich zum Nichts und zum Alles machen, dann<br />
begann er Fragen auch außerhalb der Form zu stellen. Von seiner<br />
künstlerischen Impetuosität überzeugt, erweiterte er am Ende<br />
des Jahrzehnts den Readymade-Begriff um zwei Dimensionen:<br />
Gedrucktes und Gebautes. Unter der Akklamation prominenter<br />
Kulturkritiker*innen ermächtigte sein hochfliegender Geist<br />
sich selbst, setzte spektakuläre Aktionen für den Ensembleschutz<br />
und designte drei Klagenfurter Innenstadt-Lokale. Die Ausdrucksfähigkeit<br />
von <strong>Rogy</strong>s Do-it-yourself-Aktivismus war ein<br />
einziger verbaler Exzess. Mitten im Krisensumpf der kulturellen<br />
Schieflagen stilisierte er sich zu einer tragischen Figur, einem<br />
Entgrenzer par excellence.<br />
18
Auf Einladung von Franz Dreier, einem von einem Dutzend<br />
privater Gönner, kehrte der »entwichene Löwe«, der »Flieger mit<br />
Affen«, als Gesamtkunstwerker in der Gastronomie ein. Das war<br />
für die Kleinstadt Klagenfurt reichlich übermütig, entsprach<br />
aber genau jener lebenslangen Vorliebe des Künstlers für die<br />
undurchdringliche Gestalt des Gents – verkörpert im Texasreiter,<br />
im Architekten Adolf Loos, im Schauspieler und Regisseur<br />
Erich von Stroheim und einigen anderen Überbelichteten und<br />
Überblendeten aus <strong>Rogy</strong>s privater Kosmologie. 1981/82 fanden<br />
er und die junge Künstlerin und Bühnengestalterin Isabella Ban<br />
(BB) ineinander reale Lebensmenschen, das universitäre Milieu<br />
begann sich seiner Kunst zu öffnen. Von einem Durchbruch,<br />
oder auch nur von einer dauernden Akzeptanz im Ausstellungsgeschehen,<br />
konnte aber auch zwanzig Jahre später noch nicht die<br />
Rede sein. Der internationale Kunsthandel schreckte vor der unbekümmert<br />
dreisten Obszönität <strong>Rogy</strong>s zurück wie der Teufel<br />
vor dem Weihwasser.<br />
<strong>Rogy</strong> – Privatbeter, radikaler Flüchtling der Kunstgeschichte –<br />
leistete sich sechs Jahrzehnte hindurch den Luxus, sich selbst<br />
zu erschaffen, einen Lebenstext zu knüpfen, sich auszusetzen,<br />
statt sich zu setzen, alles in Frage zu stellen, statt sich zu entwerfen.<br />
Er leistete sich den Luxus, sich selbst zum Unsichtbaren<br />
zu stilisieren und durch Offenheit der Welt überschwänglichen<br />
Reichtum zu spenden. Das blieb nicht unbemerkt, er fand<br />
überregional Beachtung: Schriftsteller schätzten seinen Esprit,<br />
führende Intellektuelle schrieben über das Fabeltier. Doch was<br />
sich im Diskurs nicht halten konnte, fiel aus dem System Kunst<br />
immer wieder hinaus. Franz Dreier war Mitte der 1990er-Jahre<br />
bereits hoch verschuldet und riss das Künstlerpaar durch seinen<br />
jähen Tod in einen finanziellen Abgrund. Der tragische Unfall<br />
des Gastro-Mäzens sah für die Zeitgenossen wie die bittere Konsequenz<br />
einer hochriskanten Gruppenspekulation aus.<br />
Zu diesem Zeitpunkt schritt <strong>Rogy</strong> bereits auf die achtzig zu.<br />
Documenta-Leiter Harald Szeemann hatte 1972 seine »individuelle<br />
Mythologie« in der Abteilung für Sonderlinge, die in ihrer<br />
19
eigenen Welt und Symbolen und Worten lebten, übersehen. Das<br />
war bei dem damals noch ephemeren Werk <strong>Rogy</strong>s verzeihlich.<br />
Doch Szeemann übersah <strong>Rogy</strong> 1996 ein weiteres Mal, als er für<br />
die Ausstellung »Austria im Rosennetz« eigens die austriakischen<br />
Kunstsonderlinge im Geniewald sichtete. Der Kärntner hätte<br />
unter den 180 Einträgen des Biographariums zwischen so schillernden<br />
Gestalten wie Padhi Frieberger, Franz Huemer, Josua<br />
Klein, Erich Mallina und Max Riccabona natürlich unbedingt<br />
Platz erhalten müssen.<br />
Als zum Millennium der zweite politische Rechtsruck in<br />
Österreich einsetzte, lag die internationale »Waldheim-Affaire«<br />
bereits zwölf Jahre zurück. <strong>Rogy</strong>s selbstgebasteltes Repertoire<br />
an Zaubersprüchen und die radikale Exartikulation seiner Kunst<br />
wirkten zu dem Zeitpunkt schon leicht angestaubt. Eine neue digitale<br />
Realität hatte sich flächendeckend ausgebreitet und ließ die<br />
in zwei Künstlerbüchern und einem umfangreichen Kartenblock<br />
vorliegende Selbstbebilderungskunst des Autodemiurgen plötzlich<br />
wie Selfies ohne Ladekabel erscheinen. In dieser Situation erzwang<br />
<strong>Rogy</strong> durch undisziplinierbaren politischen Aktionismus,<br />
durch die Freisetzung einer intensiven und entzündlichen Rede<br />
sowie durch seine aggressive Körperinszenierung kurz internationale<br />
Aufmerksamkeit. Einer Sintflut an gedruckter, erzählter,<br />
elektronischer und virtueller Information stellte er präsentische<br />
Brachialakte entgegen, wohl wissend, dass auch diese nur einen<br />
Bruchteil länger als digitale Häppchen bestehen würden.<br />
Hatte <strong>Rogy</strong> bereits in den Kämpfen um zwei Verkehrsbauten<br />
1985 und 1988 Rimbauds Forderung, das Leben zu ändern und<br />
die Kunst nicht zu einem Werkzeug der Gesellschaftsveränderung<br />
umzukrempeln, verraten, so gab er nun jede Zurückhaltung<br />
gegenüber dem Souverän auf. Er ließ sich von der Selbstviktimisierung<br />
einer sprachlosen politischen Linksopposition<br />
mitreißen, simulierte mit schweren Zeichen eine geschockte<br />
Öffentlichkeit in Österreich und hauchte so dem Rock ’n’ Roll<br />
wieder Leben ein. Schlagartig brach eine Lawine von Solidaritätsbekundungen<br />
über das selbsterschaffene Künstlerpaar herein.<br />
20
Spitzenvertreter*innen der Sozialdemokratie, die <strong>Rogy</strong> zwanzig<br />
Jahre lang als »Nazis« und »Schweine« verhöhnt hatte, hofierten<br />
nun den Rebellen, weil er deren konservative Gegner verhunzte.<br />
Politisch aktive Menschen müssen in einer Demokratie in der<br />
Lage sein, konträre und extreme Meinungen auszuhalten. Das<br />
aber war im Jahr 2000 weder die Belegschaft des Café OM noch<br />
waren es ihre Kontrahenten. Der Raum des Diskutablen war damals<br />
so klein wie der Begriff »Nazi« suggeriert, ohne ein klares<br />
Verständnis dafür, wo genau dieser Raum endet und Meinungen<br />
verfassungsfeindlich werden.<br />
Eine Biographie, in welcher der Charakter des Beschriebenen<br />
auf den ersten Blick verständlich ist, wäre der Wirklichkeit untreu.<br />
Ich hüte mich vor Pauschalbegeisterung ebenso wie vor<br />
allzu nahe liegender Ablehnung. Zum intellektuellen Abenteuer<br />
kann die <strong>Rogy</strong>-Rezeption nur werden, wenn sie die Konflikte<br />
zwischen Spiritualisierung und Modernismus, zwischen bewusster<br />
Reduktion und existenziellem Exzess nicht versöhnen will,<br />
sondern radikal auf die Spitze treibt.<br />
Kunsttheoretisch bezog <strong>Rogy</strong> sich auf die erste Abstraktionsbewegung<br />
der Kunst, mit ihrem entschieden platonisch-idealistischen<br />
Gepräge, wie sie von 1907 an durch die Meister der<br />
klassischen Moderne 3 ausgelöst worden war. Damals hatte die<br />
wissenschaftliche Analyse zahlreiche Kategorien der okzidentalen<br />
Denktradition wie Gott, Wirklichkeit, Geschichte, Gesellschaft,<br />
Zeit, Ich, Kunst, Sinn, Wert ausgehöhlt. Das moderne<br />
Künstlertum war das Ergebnis der Entdeckung seiner Voraussetzungen,<br />
und wie immer in der Kunst lagen gewisse Dinge<br />
gleichzeitig in der Luft.<br />
Nach 1945 waren sämtliche Türen bereits eingerannt, das<br />
Original seiner Originalität gründlich entkleidet. Nur in der<br />
Provinz funktionierte der Aufstand des Geistes noch einmal, nur<br />
3 Kandinsky, Mondrian<br />
21
in der Provinz ratterte die Kunst auf der Achterbahn eine Ehrenrunde.<br />
In diesem Sinn nahm <strong>Rogy</strong> teil an der Zweiten oder Weißen<br />
Moderne, die von Reduktionisten, Minimalist*innen und<br />
Arte Povera zu einer Demonstration des Verzichts geführt wurde.<br />
»Ausschnitt, Auswahl ist meine Arbeit«, erklärt der Künstler<br />
1993. 4 Seit seiner Kindheit betrachtete er den Film als Zinken<br />
einer geheimen Bruderschaft, seit seiner Jugend war er bestrebt,<br />
in seinem Raum den ursprünglichen Raum des Schaffens zu<br />
sehen. Nicht er war der Magie verfallen, sondern Kunstmarkt,<br />
Ökonomie und Polis waren es. Nur bei Sport, Religion und Küche<br />
machte <strong>Rogy</strong> rühmliche Ausnahmen – diese drei Sphären<br />
befanden sich mit dem Künstler in einer Anderswelt, in der sein<br />
paraphilosophisches Denken die Musen herbeirief, Wildwestfilme<br />
wachküsste und »Gunstwerke« in einem großartigen Durcheinander<br />
auf Servietten und Bierdeckeln skizzierte.<br />
Tatsächlich sieht der <strong>Rogy</strong>ismus heute erfrischend aktuell aus,<br />
nimmt man seinen Mystizismus ernst. Reduktion und Minimalismus<br />
waren bei diesem Künstler durchaus mehr als der eitle<br />
Versuch, die anerkannten Meister durch noch größere Rigidität<br />
(»Was ist schlicht? Schlicht.«) aus dem Feld zu schlagen. <strong>Rogy</strong><br />
verknüpfte seine Bescheidenheitsgesten mit einem ungeheuerlichen<br />
Totalanspruch. Seinem anfänglichen Konzept der Poësie<br />
als Pose war das Konzept der Kunst als Pose gefolgt, und diesem<br />
das von der Politik als Pose.<br />
Die <strong>Rogy</strong>-Poetry explodierte irgendwo zwischen Trottel-Comedy,<br />
Stammtisch und Konkreter Dichtung. Seit ein Berichterstatter<br />
im Mai 1968 von einem »Neodadaisten« gesprochen<br />
hatte, vereinnahmte <strong>Rogy</strong> unter dem eigenen Namen alles,<br />
was besser und anders war als er selbst: Mundartdichtung, Beat<br />
Generation, Underground-Literatur. Dass die Dadaisten Hugo<br />
Ball, Francis Picabia und Kurt Schwitters Syntax und Grammatik<br />
zerstören wollten, statt mit ihr zu langweilen, dass der<br />
4 Anmerkung zum Manuskript Koch, Der Lehmstecher Gottes (1993)<br />
22
Beat-Autor William S. Burroughs mit Drogen experimentierte,<br />
statt den Wunsch nach Vollnarkose hervorzurufen, dass Ernst<br />
Jandl die Alltagssprache zerlegte, statt sie zu verdoppeln und<br />
Thomas Kling die Schriftsprache im Laut vervielfältigte, statt<br />
ihren Sinngehalt einzuschränken, war dem Kärntner Kleinfeuilleton<br />
so egal wie <strong>Rogy</strong> selbst. Die Provinz hatte ihren »Avantgardisten«,<br />
und für den war Schaffen nichts anderes als das tiefe<br />
Auskosten eines gottesfürchtigen Schauers und eine publikumsorientierte<br />
Selbstinszenierung.<br />
»Wenn man spuckt, ist die Spucke im Napf«, tönte die einköpfige<br />
<strong>Rogy</strong> Armee Fraktion am Wörthersee und setzte mit »Bumsdidradiwaberl«<br />
oder »Will Vogel behalten« noch einen Witz drauf.<br />
Weil jeder Sieg der Sprücheklopferei ein Sieg über die Langeweile<br />
war, wurden <strong>Rogy</strong>s Sager und Kalauer – im Gegensatz zum<br />
Dadaismus – statt mit Furcht und Hass mit Schulterklopfen quittiert.<br />
Die Wortdichtung enthielt schroff unbotmäßiges Potential:<br />
»Politiker ist fickangestellter Ochse« – »Mein Wahllokal ist in<br />
deinem Slip« – »Politische Ambition = Amputation«.<br />
Gewiss waren die Dreier-Lokale der richtige Ort, um das liberale<br />
Ideal der Redefreiheit zu erproben. Dagegen war nichts<br />
einzuwenden. Wer sich aber eine Bühne baute, um seine drei<br />
Freunde in einer Hemmungslosigkeit zuzuschwallen, für die<br />
ihm am fremden Tresen die Zuhörerschaft fehlte, der testete<br />
nicht die Kunstfreiheit aus, sondern bediente sich ihrer in missbräuchlicher<br />
Absicht.<br />
Noch ein Wort zum bildnerischen Werk, das dank seiner frappierenden<br />
Polyvalenz zu immer neuer Interpretationsartistik<br />
einlud. In <strong>Rogy</strong>s Hochosterwitzbärtchen zum Beispiel erkannte<br />
Jozej Strutz »den Platzhalter seiner adeligen Zigeunerherkunft«,<br />
Marlene Streeruwitz und Alfred Goubran wollten »Charlie<br />
Chaplin«, Friedbert Aspetsberger wiederum »Chaplins Diktator«<br />
erkannt haben. Jede Interpretation beleuchtete einen Aspekt,<br />
lotete nicht geahnte Untiefen der Gesichtsäußerung aus. Dem<br />
Geheimnis des Hochosterwitzbärtchens ließ sich allerdings nicht<br />
erschöpfend auf den Grund gehen. – Dieser ultimative Wider-<br />
23
stand ist es schließlich, der einen wesentlichen Unterschied zwischen<br />
Dichtung und Diskurs, zwischen Kunstwerk und Interpretation<br />
ausmacht.<br />
Die <strong>Rogy</strong>-Debatten waren immer von großen Strömen des<br />
Nichtverstehens durchflutet. Für einen Fremdenverkehrsreferenten<br />
zeugte es von Modernität, auf Rollerskates durch den<br />
Park zu brettern; Denkmäler ohne ein Fluidum von Romantik<br />
aber verboten sich für ihn von selbst. Ein Wirtschaftskämmerer<br />
verstand nicht, wie ein Restaurantbetreiber »Hau ab!« an die<br />
Tür schreiben konnte und übersah dabei, dass da jemand unter<br />
Aufbietung aller Reserven pulsierendes Leben in die Stadt<br />
stemmte und so lieferte, was der Wirtschaft ja am meisten fehlt:<br />
Unternehmergeist. Ein Politiker meinte, nichts fördern zu dürfen,<br />
was das Selbstdarstellungspathos der Obrigkeit nach Strich<br />
und Faden verarschte; er versuchte, die Kultur zu einer Provinz<br />
der Politik zu machen und Kunst nur dort mit Geldgeschenken<br />
zu bedienen, wo sie sich in den Dienst am Gemeinwesen stellte.<br />
Dass es auch anders ging, war in der benachbarten Steiermark<br />
zu sehen: dort übernahm das Land selbstverständlich die Stromrechnung<br />
für Franz Gsellmanns 1958–81 erbaute Weltmaschine<br />
am Bauernhof in Kaag. In Kärnten schüttelten die Verantwortlichen<br />
bei solchen Dingen verlässlich den Kopf.<br />
Ich hänge nicht der Idee an, Künstler*innen und Schriftsteller*innen<br />
hätten angenehme Menschen mit durchgängig einwandfreien<br />
Ansichten und einem tadellosen Lebenslauf zu sein,<br />
doch <strong>Rogy</strong> überspannte den Bogen, er hat mit peinlichen und<br />
teils niederträchtigen öffentlichen Einlassungen jene Bekanntheit<br />
erreicht, die ihm mit den beinahe am Nullpunkt der Sichtbarkeit<br />
angesiedelten Werken versagt blieb. Er publizierte nicht<br />
in Form von Argumenten, sondern in Form von pamphletartigen<br />
Texten und Schmähpostkarten mit poëtischer Lizenz. Ab<br />
1981 äußerte er sich irrlichternd, verstiegen und verquast zur<br />
Kultur- und zur Regierungspolitik, zum österreichischen Baugeschehen,<br />
zum Papst, zu einer Theateraufführung, zu einem<br />
24
Gerichtsprozess. Sein Werk gehört gewiss zu den eigensinnigsten<br />
der europäischen Nachkriegsmoderne, doch manche Künstler*innen<br />
sind so: Sie missbrauchen ihre Sensibilität und treten<br />
in einen Bezirk ein, in dem jedes dumme Wort, das sie sagen,<br />
auf sie zurückfällt. Sie instrumentalisieren ihre Sonderstellung<br />
in der Gesellschaft mit bizarren Äußerungen, als wären sie nicht<br />
die Schöpfer*innen bedeutender Werke. Die Frage ist: Fallen<br />
ihre dummen Sprüche auch auf ihre bedeutenden Werke zurück?<br />
Strawinsky soll einmal gefragt worden sein, ob er für die<br />
»Kunst für das Volk« oder für die »Kunst für die Kunst« eintrete,<br />
und er gab »Kunst für Gott« zur Antwort. Das hätte <strong>Rogy</strong><br />
sicherlich gefallen. Er veranstaltete eine Kunst, die man nicht<br />
recht begreifen kann, wenn man sie allein als Kunst sieht. Aus<br />
<strong>Rogy</strong> hätte unter anderen Umständen locker ein zweiter Josef<br />
Váchal werden können; dieser tschechische Künstler und Autor<br />
schrieb schon in <strong>Rogy</strong>s Geburtsjahr den »idealen Schundroman«<br />
und designte ein Privathaus in Litomyšl zu einem spiritistischen<br />
Gesamtkunstwerk, dem Portmoneum. Doch <strong>Rogy</strong> war kein<br />
Prosaist und kein Behübscher.<br />
Aus <strong>Rogy</strong> hätte vielleicht der Erbauer eines weiteren Perpetuum<br />
mobile werden können, wie aus dem Steirer auf dem Bauernhof<br />
in Kaag. Doch <strong>Rogy</strong> war weder ein Hoferbe noch technisch interessiert.<br />
Sein minimalistischer Werkblock reihte sich ein in die<br />
großen Weltrecherchen nach dem Krieg, wie sie vom Schweizer<br />
Armand Schulthess mit seiner Bibliothek im Wald, vom Extremwanderer<br />
Jürgen von der Wense mit seinem Deutschlandbuch<br />
und von Ian Hamilton Finlay mit dem Revolutionsgarten Little<br />
Sparta abgesteckt wurden.<br />
Ich weise diesem Hyperindividualisten und Art-Zirzensiker<br />
aus der österreichischen Provinz in Kenntnis seiner Produktionsbedingungen<br />
keine Heldenrolle zu. <strong>Rogy</strong>s Biographie ist von<br />
außerordentlicher Intensität, gründlich durchwirkt von Jähzorn,<br />
Tätlichkeit und Alkoholdelirien. <strong>Rogy</strong>s krypto-theologisches<br />
Denken, seine Clowntexte, sein Bedürfnis nach Ehrfurcht und<br />
Erschauern vor Kunst und Natur, sein Zwang zur narzisstischen<br />
25
Selbstbespiegelung, die mystische Eigenerfahrung, der Wille<br />
zum unabdingbaren Selbstbesitz formulierten für ihn die Einsicht<br />
in das, was nicht von dieser Welt ist. Für mich formuliert das Unvollendete<br />
und Widersprüchliche an ihm eher die Einsicht in die<br />
Uneinsehbarkeit der Welt und ihre Verhältnisse. Das Denken ist<br />
so unermesslich, dass man wohl nie an ein Ende gelangen wird.<br />
Vor seiner Abberufung ging <strong>Rogy</strong> in seinem Werk beinahe<br />
spurlos unter, am Ende stand dieser Einzige mit dem Eigentum<br />
eines Fast-Nichts da und mit der Reihe sagenhafter Figuren, die<br />
er aus sich gemacht hat: mit dem Ritter von der traurigen Gestalt,<br />
dem bettelnden Hellseher, dem Architekten von der Seele<br />
her, dem »Plus mehr oder weniger«-Erfinder, dem Puristen im<br />
spitzwinkeligen Vorfreudenspagat, dem 17-köpfigen Inkarnationswunder,<br />
dem Siegelwahrer monströser Vergangenheiten in<br />
der Kollektivlegende Österreichs.<br />
Sein Dasein war eine einzige Reminiszenz an das absolute<br />
Subjekt. Als Mittfünfziger behauptete <strong>Rogy</strong>, von Geburt<br />
an Bildhauer zu sein, was eine Spitze gegen den Akademismus<br />
war. <strong>Rogy</strong> verstand das Rollenspiel, verhedderte sich darin<br />
aber ebenso verlässlich wie in seiner Geniekritik oder in seinem<br />
Kampf gegen die Herdenmentalität. Häufig rettete er sein eigenes<br />
Leben, indem er über Gestolperte trampelte. Er bestand mit<br />
unfreundlicher Miene auf seine Deutungshoheit unter Betrunkenen,<br />
er degradierte die zermürbten Zuhörer*innen durch das<br />
Erhabene der Kunst und die Kunstschaffenden zu Günstlingen<br />
der Macht.<br />
Künstler-Biographien sind nicht dazu da, das Verhältnis von<br />
Kunst und Moral zu diskutieren, und Kunstwerke sind keine<br />
Nahestehenden, denen wir eine Freundschaft kündigen oder<br />
ihren Ruhm bestreiten, weil sich ihre Schöpfer*innen unverzeihlich<br />
verhalten haben. Die meisten Werkkommentare sagen,<br />
<strong>Rogy</strong> habe vom Publikum eine Wahrnehmungsintensivierung<br />
verlangt, er forderte eine zu erledigende Bewusstseinsarbeit. Genaue<br />
Wahrnehmung sei eine Art Denken, und genaues Denken<br />
eine Art Wahrnehmung. Andere Interpretationen versichern,<br />
26
<strong>Rogy</strong> rekurrierte auf den spielerischen Charakter von Kunst.<br />
Doch Wahrnehmungsintensivierung und spielerische Erweiterung<br />
des Lebens sind zwei ausgelutschte Perspektiven der<br />
Kunstbetrachtung. <strong>Rogy</strong> hat durchaus mehr zu bieten, nämlich<br />
ein inkohärentes, aber faktisch funktionierendes Ensemble von<br />
ästhetischen Vermittlungen. Skriptorale Formgebung zum Beispiel<br />
kann auch als Passage der Zeit gelesen werden; dann zeigt<br />
der Individualstil der Handschrift das Lebensalter eines Menschen<br />
wie im Übergang der Jahreszeiten an.<br />
Wo <strong>Rogy</strong> bewusst agierte, zündete er den inneren Sprengsatz<br />
von Kunst, er bezwang die Wirklichkeit durch Fantasie,<br />
indem er sie designierte. Für ihn war sein Reich schlicht nicht<br />
von dieser Welt, die der anderen hingegen eine gedachte und<br />
aus Bequemlichkeit herbeifantasierte. War es denn wirklich so<br />
vermessen zu glauben, dass der steinerne Lindwurm – entgegen<br />
jeder kunsthistorischen Kenntnis – ein Ort des Mysteriums war?<br />
Konnte ein sensibler Mensch auf Dauer übersehen, dass die Kaufwütigen<br />
die Betrunkenen waren und nicht die Obdachlosen, die<br />
ihnen in den Fußgängerzonen den Weg verstellen? Und durfte<br />
ein erwachsener Mensch wirklich ignorieren, dass der Krieg<br />
ein blutiges Gestümper war, dem gegenüber jede Geliebte viel<br />
besser töten kann? 5<br />
<strong>Rogy</strong>s unbedingter Lebensanspruch beugte sich dem ebenso<br />
unbedingten Stilisierungswillen in der Gestaltung von Bildern,<br />
die staunen machen. Sein puristischer Zugriff verdankt sich einer<br />
glühenden Verehrung von Duchamp und Loos – was er unablässig<br />
betonte. Seine Rezeption als »Kärntner Original« und als »politischer<br />
Widerstandskünstler« ignoriert aber noch eine weitere Zugehörigkeit,<br />
nämlich die zur internationalen Avantgarde der Pictures<br />
Generation, die mit Strategien des Fake frühzeitig jene Überproduktion<br />
von Bildern und Images reflektierte, welche dann erst im<br />
digitalen Zeitalter ihre eminente Wucht entfalten sollte.<br />
5 Gedicht von Martin Opitz, Ach Liebste lass uns eilen (1624)<br />
27
Jedes von <strong>Rogy</strong>s Werken war ein pataphysischer Abdichtungsversuch<br />
gegen das Provinzielle und gegen den Qualitätsverlust<br />
durch das bloß Gutgemeinte, jede seiner Arbeiten war eine orkanartige<br />
Berauschung am Handwerklichen und am Stofflichen,<br />
ein Kinnhaken gegen die Verschönerer und ein Kniefall vor der<br />
Majestät der Unsicherheit.<br />
<strong>Rogy</strong> schuf in den Spannungsfeldern von Wort und Bild, von<br />
Disziplin und Exzess ein von Alkoholismus und Schimpftiraden<br />
umstelltes Lebenswerk, das durch meine Aufarbeitung der<br />
biographischen Hintergründe in einem neuen Licht erscheinen<br />
wird. Ich frage, woher seine Starrsinnigkeit kam, welche bitteren<br />
Erfahrungen seinen Instinkt formten und in welchen Fällen<br />
sein Gezeter – trotz aller Zeichen der Nonkonformität – eben<br />
doch nicht mehr war als der Ausdruck des berüchtigten »gesunden<br />
Volksempfindens«.<br />
Ich bin kein Freund menschelnder Kunstgeschichtsschreibung.<br />
Ich kannte <strong>Rogy</strong> ab 1977, wohnte im darauffolgenden Jahrzehnt<br />
fünf Jahre lang als sein Nachbar in der Kärntner Gartenvilla der<br />
Malerin Maria Lassnig, ich verhalf ihm zu mehreren Auftritten,<br />
publizierte über ihn und besuchte diesen sensiblen und unnachgiebigen<br />
Solitär der Nachkriegskunst das letzte Mal 69 Tage vor<br />
seinem Tod.<br />
Das Sicheinlassen auf Kunst ist an sich etwas Seltenes und wenigen<br />
vorbehalten; man ist schutzlos gegenüber den verwirrenden<br />
Zeichen auf diesem Feld. Der Vater des Schizophrenie-Begriffs,<br />
Eugen Bleuler (1857–1939), hat für das Nebeneinander<br />
zweier Wertungen das Wort Ambivalenz erfunden. Man hüte<br />
sich allerdings davor, warnt Bleuler, »Gegensatzpaare und Ambivalenzen<br />
zu konstruieren, wo keine sind. Man spricht oft von<br />
Widersprüchen in einem Charakter [...]. Dabei liegen Widersprüche<br />
nicht in den Sachverhalten, sondern nur in unseren Auffassungen«.<br />
– Ob ich dieser Gefahr restlos entgangenen bin oder<br />
<strong>Rogy</strong>s Biographie Widersprüche untergejubelt habe, die gar<br />
keine sind, beurteilt die Leserschaft. Nach meinem Dafürhalten<br />
waren bei ihm durchaus verschiedenwertige Eigenschaften vor-<br />
28
handen. Der Grund für meine ambivalenten Gefühle gegenüber<br />
<strong>Rogy</strong>s Parforceritt liegt gerade im konsequenten Auseinanderhalten<br />
von Licht- und Schattenseiten der Person, sowie im Differenzieren<br />
von gelungenen und problematischen Werken, an<br />
welche die entsprechenden Gefühlswerte geknüpft sind.<br />
Bleuler wollte auch nicht als Gegensatz gelten lassen, wenn<br />
ein Mensch einmal ein korrektes und dann wieder ein lockeres<br />
Leben führte. »Das Gute beweist nicht seine Tüchtigkeit, das<br />
Schlimme nicht eine besonders schlechte Neigung.« Bleuler hielt<br />
die alternierenden Züge für die Folge eines schwachen Charakters.<br />
6 In <strong>Rogy</strong> waren verschiedenwertige Eigenschaften immer<br />
gleichzeitig vorhanden. Als ein schwacher Charakter wäre er<br />
kaum in der Lage gewesen, eine einzige seiner Performances<br />
durchzustehen.<br />
Jemanden von A bis Z zu loben, scheint mir entwürdigend,<br />
weil dabei aus den Augen gerät, was über das Spektrum des Lobenswerten<br />
hinausgeht. Ich sehe keinen Grund, mich von meinem<br />
inneren Tumult gegenüber <strong>Rogy</strong> zu verabschieden, die<br />
Schwierigkeiten des Urteils zu externalisieren und ein idealisiertes<br />
Bild zu entwerfen, in dem die widersprüchlichen Tendenzen<br />
miteinander versöhnt und als Komponenten einer reichen<br />
Persönlichkeit glorifiziert werden. Zwischen der nachgiebigen<br />
Hinwendung zu einem Menschen, der aggressiven Einstellung<br />
ihm gegenüber und der distanzierten Abwendung von ihm lässt<br />
man am besten Ausgewogenheit walten. 7<br />
Warum sind wir Sterblichen künstlichen Systemen, die sich<br />
Zahlen und Formeln problemlos merken und die mechanisch<br />
korrekt schlussfolgern, überlegen? Weil wir Widersprüche besser<br />
aushalten können. Wir jonglieren im Unterschied zu Rechnern<br />
mit falschen und widersprüchlichen Informationen und<br />
überarbeiten dabei ständig unsere Wissensbasis. Dieses Flüssige<br />
6 Bleuler (1914)<br />
7 Horney (1945)<br />
29
ist auch das Element des Biographierens, das ein doppelwertiges<br />
Schwanken erzeugt bei dem, was sich nicht verdeutlichen lässt.<br />
<strong>Rogy</strong> hat sich der Gralssuche der Avantgarde nach einem schieren<br />
Akt der Rebellion angeschlossen; er richtete ein ungeheures<br />
Gebäude in sich auf, um es dann nicht zu beziehen. Kann so ein<br />
Außenseiter für den Ausweis des allgemeinen Geisteszustands<br />
von Millionen Menschen stehen? Nicht direkt, das nicht, aber<br />
in der Äußerungssituation der Biographie gelingt es vielleicht,<br />
gewisse Unbeweglichkeiten der Kulturgeschichte zu überwinden.<br />
Ich vertiefe vor der Kontrastfolie dieses statuarischen<br />
Banditen in der Untersuchung vier Thesen:<br />
1. KUNST ALS DENKMODUS. Ist die bildende Kunst nur<br />
eine »angewandte Philosophie«, die Dinge erspürt, welche dem<br />
Bewusstsein unzugänglich sind? Sind ästhetische Vorgänge eine<br />
Anrede an die Gemüter und Geister, ein bloßes »Entwicklungsmoment<br />
des Geistes« 8 oder »Vorstadien der Erkenntnis« 9 , also ein<br />
Trainingslager des Denkens? Liegt die Bedeutung der Kunst in<br />
einer Hinterwelt, die erst vom diskursiven Geist in seiner vollen<br />
Dimension erschlossen werden kann? Oder handelt es sich um<br />
eine Anstrengung, in einem bestimmten Bereich eine Äquivalenz<br />
aller anderen Bereiche zu verwirklichen? Handelt es sich<br />
bei der Kunst um eine Form des universalisierten Denkens, in<br />
dem wir zuweilen echtes Wissen über den Gegenstand erlangen,<br />
ohne dazu verdammt zu sein, nach Maßgabe des Auges oder<br />
nach Maßgabe der Sprache allein abzuwägen? 10<br />
2. ÄSTHETIK VERSUS ETHIK. Wird gelungene Kunst von<br />
guten Menschen hervor gebracht, oder ist es auch möglich, dass<br />
schlechte Menschen schöne Dinge hervorbringen? Der Schrift-<br />
8 Hegel, Phänomenologie (1817)<br />
9 Wiener, Verbesserung (1969)<br />
10 Koch (2019)<br />
30
steller und Musiker Alfred Goubran, der als Freund und Verleger<br />
nur die besten Erfahrungen mit <strong>Rogy</strong> gemacht hat, vertritt die<br />
erstere Position, 11 andere aber erfuhren in ihren Begegnungen<br />
mit <strong>Rogy</strong> drastisch, dass zwischen dem Guten und dem Schönen<br />
keine zwingende Verbindung existiert. Betrachten wir also das<br />
Schöne als Ausdruck eines Inhalts, als das Interessante, das recht<br />
Getane, oder ist es selbst ein Inhalt? Ohne Frage wirkt es angenehm,<br />
wenn das Wahre und Gute als schön erscheint – aber ist<br />
das für das Leben auch notwendig?<br />
3. WERT DER ABSTRAKTION. War die wichtigste und am<br />
meisten bekämpfte und skandalisierte Innovation der modernen<br />
Kunst die Loslösung vom Gegenstand? Und wiederholt – wie der<br />
Filmkritiker Horst Dieter Sihler meint – die Überwindung, Stilisierung<br />
und Abstraktion des Gegenstandes nur einen Prozess,<br />
den die prähistorischen Künstler*innen vor Jahrzehntausenden<br />
mit unerschöpflicher Kreativität durchliefen? 12 Entscheidet sich<br />
gar das Urteil, ob etwas provinziell ist, oder nicht, am Mut der<br />
Kreativen zur ungegenständlichen Form und zur Überwindung<br />
des Figurativen?<br />
4. VERLUST DER MORAL. Wurde im letzten Jahrhundert<br />
Kultur ein gesellschaftliches Phänomen und die Moderne zu ihrem<br />
Hauptantrieb? Sind Leben (Handeln) und Kunst (Imagination)<br />
so miteinander verschmolzen, dass man von einer Ästhetisierung<br />
der Existenz sprechen kann? Ist – wie Modris Eksteins<br />
sagt – damit auch der unumstößliche moralische Kodex, wonach<br />
Handeln und Verhalten anhand derselben Prinzipien zu interpretieren<br />
sind, verschwunden? 13 Sind Innerlichkeit, Minimalismus,<br />
Abstraktion und Mythenbildung in den Künsten und Identitäts-<br />
11 Goubran {2019}<br />
12 Sihler (2009)<br />
13 Eksteins (1989)<br />
31
ehauptung, Primitivismus, Glückserzählung und Mythenbildung<br />
in der Politik verwandte Erscheinungen?<br />
Mir geht es also nicht allein darum, den Künstler in seinem ganzen<br />
bildsprachlichen und paratextuellen Material zu erfassen,<br />
sondern einer Hauptströmung der Kunst im 20C nachzuspüren:<br />
dem Minimalismus. »Der kulturelle und geistige Wiederaufbau<br />
in der Nachkriegszeit vollzog sich weitaus schwieriger als der<br />
materielle«, erinnert sich Sihler. 14 Vielleicht, weil zu viele Menschen<br />
Kultur als das große Arrangement zur dauerhaften Vermeidung<br />
von Gewaltkonflikten ansahen. Ich gehörte zu jenen,<br />
die vor 35 Jahren das <strong>Rogy</strong>-Miasma mit verbreitet haben; unsere<br />
Sympathie für sein gewagtes Querstehen machte den Kunstrebellen<br />
zu einem intellektuellen Inventar am Wörthersee.<br />
Seitdem gilt <strong>Rogy</strong> in der österreichischen Kunst mehr als Kult<br />
denn als Schöpfer, als eine irrationalistische Bewegung in der<br />
angeblich rationalen Disziplin des ästhetischen Minimalismus.<br />
<strong>Rogy</strong>s Anhänger*innen versichern bis heute, dass ihn niemals<br />
jemand wirklich verstanden hat, dass er grundsätzlich in allen<br />
Fragen recht hatte und die einzige Schwierigkeit darin bestand<br />
zu wissen, was er überhaupt meinte. Die Hardcore-Fans sagen,<br />
keine Beschreibung dieses Mannes sei ihm wirklich angemessen;<br />
keine definitive Interpretation fange die wahren Absichten des<br />
Anti-Genies ein. <strong>Rogy</strong> rutscht wie Sand durch die Finger. Kein<br />
Schlag kann landen, denn der echte Viktor ist immer woanders.<br />
Diese Rhetorik hat kluge Leute eingeschüchtert und nachhaltig<br />
vergrätzt. Gewiss gewinnt das Leben einer jeden Künstlerin<br />
und eines jeden Künstlers seine Folgerichtigkeit aus dem chaotischen<br />
Grund der Welt heraus, wobei das vorhandene Fassungsvermögen<br />
nie hinreicht, die einzelnen Komponenten in ihrem<br />
Zusammenwirken zu überblicken. Aber es gibt keinen Grund,<br />
neurotische Ansprüche gegenüber der Welt zu erheben und den<br />
14 Sihler (2016)<br />
32
Stolz auf die imaginären Eigenschaften unseres idealisierten<br />
Selbsts auf eine Künstlerpersönlichkeit zu übertragen.<br />
Einer der häufigsten Sätze, die ich bei meinen Recherchen in<br />
Kärnten hören musste, war: »Mei Gott, wi hotn dos bloß g’hasn?«<br />
(Mein Gott, wie hat das nur geheißen?) Die Zeit, um den Wissensraum<br />
des <strong>Rogy</strong>ismus einem breiten Publikum zugänglich<br />
zu machen, wird immer knapper. Ich ziehe die Werke nicht zu<br />
Illustrationszwecken eines Lebens oder einer Epoche heran.<br />
Kunst ist, sofern man sie in ihrem Eigensinn ernst nimmt, nicht<br />
dazu da, etwas zu illustrieren. Die einzige seriöse Methode, sich<br />
die Dinge gegenwärtig zu machen, ist, sie in unserer Zeit vorzustellen<br />
und nicht uns in der ihren. Die Arbeiten historisch zu<br />
lesen bedeutet zugleich aber auch, die Dinge vom Standpunkt<br />
der Gegenwart, von unseren Urteilen her zu entbinden.<br />
Ich setzte in Jeden Tag Cowboy das Reden über Kunst einem<br />
weiteren Säurebad aus. Es geht nicht um das Einscheren in eine<br />
Gemeinschaft der Wohlmeinenden, sondern um einen Skeptizismus,<br />
der sich mit der reizvollen Konfusität der Verhältnisse<br />
arrangiert, unter denen wir leben.<br />
Auf der theoretischen Ebene verlangt mir <strong>Rogy</strong>s Rollenspiel<br />
zwischen Ontologie und Semiotik einiges ab. Es gibt heute leider<br />
ein ungerechtfertigtes Nachlassen des Interesses am Allgemeinen.<br />
Die Berichterstattung in Massen- und Netzmedien<br />
nähert sich Kunst heute nahezu ausschließlich über Biographisches,<br />
bedient bedenkenlos das nie erlahmende Interesse an der<br />
individuellen Persönlichkeit. Die Theorie wehrt diesen Zugang<br />
zur Kunst als trivial und irrelevant ab. Ihre Arbeitshypothese<br />
bestreitet, dass es einen determinierenden Zusammenhang zwischen<br />
den Künstler*innen und der Bedeutung der von ihnen<br />
geschaffenen Werke gibt. Für die Theorie ist Kunst selbstreferentiell<br />
und selbstreflexiv – also bedeutungslos für das Leben,<br />
das gewöhnliche Leute führen. Als der Weisheit letzten Schluss<br />
wird man diese Position nicht gelten lassen können. Als Arbeitshypothese<br />
aber erfüllt der Ansatz die unverzichtbare Funktion,<br />
33
eine Interaktion im Spannungsfeld von Reflexion und Kreation<br />
zu intendieren. Nur so gelangt das Ineinanderfließen von biographischen<br />
und kunsthistorischen Horizonten über das Unterhaltsame<br />
hinaus zur Darlegung von Zusammenhängen und der<br />
ausdrücklichen Erkenntnis seiner Organisation.<br />
Grundlage dieser Biographie sind Aufzeichnungen aus Briefen,<br />
Journalen und Kalendern, aus Urkunden und Lose-Blatt-Sammlungen,<br />
Mails, Notizheften, Telegrammen, Typoskripten und<br />
Zeitungsausrissen. <strong>Rogy</strong>s Kontakte werden entweder biographisch<br />
nachgewiesen oder ideell belegt. Ich ignoriere weitgehend<br />
die elaborierte Kleinschreibung des <strong>Rogy</strong>-Undergrounds.<br />
Man begegnet in meiner Studie Künstlerpersönlichkeiten, die<br />
mit ihm noch nie in Verbindung gebracht wurden: Johannes<br />
Baader, Ian Finley, Wopko Jensma, Paul Outerbridge, Matthew<br />
Buckingham u. a. Dabei wechselt die Darstellung gelegentlich<br />
von einer effektorientierten Seh- und Redeweise zu einer rezeptionsorientierten.<br />
<strong>Rogy</strong>s reinkarnationsgläubige Religiosität des<br />
Spiritismus und sein aggressiver Auftritt als Alkoholiker werden,<br />
befreit vom Zwang der chronologischen Abfolge, eher in<br />
Assoziationsfeldern und zirkulären Referenzen nachgezeichnet.<br />
Mein ambivalentes Urteil über den Retroavantgardisten besteht<br />
nachdrücklich auf einem veränderten, über sich selbst aufgeklärten<br />
Umgang mit Kunst. Dass ich <strong>Rogy</strong> auf die Waage lege,<br />
ist von größerer Bedeutung, als ob ich ihn für leicht oder schwer<br />
befinde. Mögen bald weitere Sophismata entstehen, damit dieser<br />
Künstler in der Literatur wieder mitten unter uns ist.<br />
Dadabalkan, August 2020<br />
34
DANK<br />
Reinhard Antolitsch, Josef Bacher, Bella Ban-<strong>Rogy</strong>, Franz Böcksteiner,<br />
Dieter Bogner, Caroline, Susanne Dörfler, Werner Dreier,<br />
Christel Dreiling, Reinhard Eberhart, Gisela Erlacher, Gerhard<br />
Fresacher, Franz Freytag, Tove Grolitsch, Alfred Goubran, Stefan<br />
Gyurko, Jörg Haider†, Sibylle von Halem, Angelika Hergovich,<br />
Heiderose Hildebrand, Mirko Hofer, Werner Hofmeister, Anna<br />
Hoisl-Srienc, Tomas Hoke, Michael Hüttler, Stephan Jank, Walter<br />
Joebstl, Alfred Joham, Peter Kaiser, Edith Eva Kapeller, Birgit Kassl,<br />
Christian Kircher, Ingrid Klitzsch, Andrea Koch, Samo Kobenter,<br />
Wilfried Kofler, Bianca Kos, Christian Kos, Emil Krištof, Alexander<br />
Kandut, Regina Knapp, Helgard Kraigher, Peter A. Krobath, Josef<br />
Leb, Otto Mittmannsgruber, Sigrun Müller, Alexander Nickl, Hermann<br />
Obiditsch jr., Klaus Oberhammer, Eva Obermayr, Engelbert<br />
Obernosterer, Brigitte Orsini-Rosenberg, Markus Orsini-Rosenberg,<br />
Albin Ortner, Theresa Pasterk, Klaus Pertl, Gerhard Pilgram,<br />
Hans Peter Premur, Ernst Peter Prokop, Uta Puxkandl-Hildebrand,<br />
Christian Reder, Edith <strong>Rogy</strong>, Gregor <strong>Rogy</strong>, Maria-Elisabeth<br />
<strong>Rogy</strong>, Raffaela <strong>Rogy</strong>, Arnulf Rohsmann, Margot Ruhsland, Gerda<br />
Sandriesser, Ulricke Semmelrock, Adolf Scherer, Andreas Scherer,<br />
Horst Dieter Sihler, Heinz W. Schmid, Robert Sommer, Gabriele<br />
Sonne, Heidi Spacek-Sidon, Ruth Strassnig, Josej »Pepo« Strutz, Heinz<br />
W. Schmid, Wolfgang Tomaschitz, Günther Trauhsnig, Monika<br />
Tschofenig-Hebein, Werner Überbacher, Josef K. Uhl, Wolfgang<br />
Walkensteiner, Annemarie Weber, Lojze Wieser, Peter Wiesflecker,<br />
Christine Wetzlinger-Grundnig, Heimo Wukounig, Bärbl Zechner,<br />
Johanes Zechner, Hilde Zimmermann, Richard Zöttl.<br />
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Weiters den Kultur- und Forschungsinstitutionen: Deutsches<br />
Tanzarchiv, Köln. Galerie Freihausgasse / Galerie der Stadt Villach.<br />
Institut für Applausforschung, Wien. Institut ohne direkte Eigenschaften<br />
(IODE), Wien. Kulturabteilungen der Städte Klagenfurt,<br />
Villach und Wien sowie Kulturabteilung des Landes Kärnten.<br />
Museum Moderne Kunst Kärnten (MMKK). Stiftung Bô Yin Râ,<br />
Schweiz. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.<br />
Privatstiftung RD Foundation Vienna. Sammlung Dieter und<br />
Gertraud Bogner. Sondersammlung der Steiermärkischen Landesregierung.<br />
Universitätskulturzentrum Klagenfurt / Kulturni<br />
center univerze v Celovcu (UNICUM). Verein für historische Forschung,<br />
Wien. Vermessung Stadtgemeinde Leoben.<br />
36
ERSTES KAPITEL<br />
DER GLORREICHE TEXASREITER<br />
1924–34<br />
Afrika ▪ Vikerl ▪ Buck Duane ▪ Rodsch<br />
In der Abgeschiedenheit der Schütt machen die Felsen und Bäume ihre<br />
Lage unter sich aus. Eine große Ruhe liegt über dem Ganzen. Was für<br />
ein Aufatmen, wenn die Kinder aus der Enge der Arbeiterbehausung<br />
schlüpfen und die Aubrücke überqueren, wo man durch das dürftige Geäst<br />
des Auenholzes nur den Himmel sieht und keinen Schlot, kein Haus,<br />
keinen Zug, keinen Kummer; wo Wald und Fluss so beredt rauschen,<br />
dass der kleine Lärm ausgelassener Kinder darin verschwindet. Auf dem<br />
Boden der Schotterbänke stochernd verfließen die Geschwister zuerst in<br />
der Schlitza und dann in der Gaile, wie Gailitz und Gail hier heißen,<br />
hüpfen als Wasseramseln umher oder segeln als Wanderfalken über den<br />
Fichten. Die Gegend bietet tausenderlei Möglichkeiten, unauffindbar<br />
zu werden.<br />
Sie sind zu viert, Peter, Robert, Viki und die Jüngste, Antonia, Toni<br />
genannt – die <strong>Rogy</strong>s aus einer Doppelbaracke im nahen Industrieort<br />
Gailitz. Eisenbahnerkinder, Frischlinge vom Sternbild des Laubfrosches,<br />
die sich in der Natur so souverän bewegen wie die Dorfkinder, zu denen<br />
sie nicht gehören. Sie jagen die Hornottern und Vipern von den warmen<br />
Steinen, erkennen Wildfährten und den mörderisch blauen Ziegentod 15 ,<br />
bei dessen leisester Berührung die Lippen zu prickeln beginnen und die<br />
Zunge ertaubt. Es sind freie Geschöpfe, sie zerdehnen auf unbetretenen<br />
Felsen im reinen Wasser ihre Zeit, Kinder, die sich an niemanden erinnern<br />
wollen, noch kein Strudel aus Konsensteilchen, wie wir heute,<br />
sondern im Ganzen einer Existenz vollständig. Gehorchen hieße auf<br />
15 Eisenhut (Aconitum)<br />
37
eigene Entscheidungen verzichten, brav sein hieße die Ursprünglichkeit<br />
aufgeben, Stillsitzen das Gehen und Hüpfen verlernen.<br />
Im Wald liegt von Frost und Wasser zerklüfteter Fels, der polternd<br />
in die Auen herabgestürzt ist und alles zerschmettert hat, was ihm in<br />
die Quere kam. Murenabgänge und Herbststürme haben komplette<br />
Waldflanken niedergefegt. Der Gailfluss schimmert türkis, am Ufer<br />
feiner Sand wie am Meer und weißgrau gesprenkelte Flusssteine, deren<br />
Schichtungen von den Urgewalten der Vorzeit künden. Hier lieben sie<br />
das Spielen, ohne es schön zu finden; hier wissen sie nie, was in ihnen<br />
vorgeht, warum es auf diese Weise vorgeht und woher die ihr Dasein ausmachenden<br />
Energien stammen. Nur gelegentlich reichen die Sirenen der<br />
Fabriken, die Pfiffe der Lokomotiven noch in die abseitigsten Auen und<br />
das Signal einer Streckenlokomotive, die sich durch das Kanaltal gebohrt<br />
hat, durchschneidet das Schweigen, das über dem Wasserrauschen liegt.<br />
AFRIKA<br />
Das erste Foto der Welt wurde 1826 von Joseph Niepce mit einer<br />
Camera Obscura aufgenommen. Auf einer mit Erdpech beschichteten<br />
Zinnplatte entstand nach einer Belichtungszeit von<br />
acht Stunden das Bild einer französischen Landschaft. Dieses<br />
historische Faktum lehrt uns zweierlei: Das Neue will geduldig<br />
erwartet werden; und das Neue schließt mit erhobenem Haupt<br />
und ausgestreckter Hand an das Alte an, im Fall des revolutionären<br />
Mediums Fotografie mittels des Sujets direkt an jenes Genre<br />
der Malerei, das überhaupt erst Ende des 16Cs Eigenständigkeit<br />
erhalten hat: an die Landschaftsdarstellung.<br />
<strong>Rogy</strong>s Kindheitslandschaft und die vor der seelischen Not rettende<br />
Insel am Ende des WWII sind die Flussauen, wo Schlitza<br />
und Gaile nahe Villach müde zusammenfließen, an der Sonnenseite<br />
des unteren Gailtals, im ausgedehnten Bergsturzgebiet des<br />
Dobratsch, durch das noch vor wenigen Augenblicken römische<br />
Postkutschen geruckelt sind. Links und rechts vom Gailfluss fragmentieren<br />
langgestreckte Gebirgszüge den Blick, und während<br />
38
die nördlichen Bergketten – Gailtaler Alpen und Lienzer Dolomiten<br />
– geologisch zur eurasischen Kontinentalplatte gehören,<br />
sind die Karnischen Alpen entlang des Südufers ein paar Millionen<br />
Erdjahre älter und bilden den Schluss und den Beginn, ja,<br />
tatsächlich: des afrikanischen Kontinents.<br />
Verlassen wir das paranoide Zustandsbild der Gesteine, denn<br />
die Kinder – alles beginnt mit Kindern – wissen andere, handfestere<br />
Widersprüche neben sich, die sie auf ihrem Leib spüren.<br />
Jede Bewohnerin und jeder Bewohner des unteren Gailtales ist<br />
in den 1930er-Jahren ja nur eine Tür in die Berge hinein. 16 Die<br />
Bauersleute bewirtschaften die Almen, die Arbeiter*innen rösten<br />
in der Lithoponefabrik schwefelige Säuren aus dem Bleistein. Die<br />
Landschaft, die mir meine Camera Obscura zeigt, ist also eine<br />
Landschaft der Fragen und der Behauptung von Überlegenheiten.<br />
In den Dörfern dieses Erdenwinkels bewahren die Menschen<br />
noch patriarchalische Sitten und unpolitische Lebensformen.<br />
Die Gehöfte spinnen seit Jahrhunderten am Blutnetz ihrer Clans,<br />
Konflikte untereinander werden über Generationen weitergetragen<br />
und prallen im 20C auf eine Moderne, welche die Form<br />
von Förderband, Schiene und Ferien-Freizeit angenommen hat.<br />
Ausgerechnet in Arnoldstein, in einer karantanischen Bauerngegend,<br />
wo das Tal jeder Saat gnädiger ist als weiter im Westen,<br />
schnauft das Dampfross und rattert die Dieselelektrische, in den<br />
Gassen stehen noch die dunklen Scheunen der Großväter.<br />
Auch nachdem die Bahn in das Gebirge eingedrungen ist,<br />
herrschen in den Seitentälern und auf den Höhen weiter finstere<br />
Mächte, thronen Gottheiten, die in Blitz und Donner ihre Macht<br />
anzeigen. Wollen die Menschen in der Einschicht die Unbilden<br />
ohne den Alkoholteufel überstehen, ist es ratsam, ihren Willen<br />
zu erkunden und zu befolgen. Das kann durch jagdliche Schonung<br />
des Wildes geschehen, durch Düngen der Äcker oder Errichten<br />
von Dämmen. Die Männer im Wald und auf den Feldern<br />
16 Perkonig, Gail, stilles Draukind (1935)<br />
39
sind seit jeher schweigsam, ihr Tun verlässt sich nie auf Worte,<br />
weshalb sie auch nichts mehr verachten als die Dampfplauderer<br />
und die Gendarmen in den Zügen. Die Dörfer sind nur das notwendige<br />
Zubehör der Äcker und Wälder, in denen die auf raue<br />
Witterungsverhältnisse eingestellten Feld- und Holzarbeiter*innen<br />
sich stärken und übernachten. Ihre Familien vertrauen den<br />
Schwingen der Natur und versuchen zu erraten, wohin das Pendel<br />
des Wetters als nächstes ausschlägt.<br />
Die Kinder weichen bei ihren Streifzügen allen auf Krummstöcken<br />
gestützten Gestalten aus, sie sehen abgewitterte Marterln,<br />
kennen die Holz verarbeitenden Werkstätten und die Kartoffelkeller.<br />
Das Landvolk ist unfähig, abseits des Gewohnten<br />
zu leben; ein Umstand, der es oft selbst rührt. In der Umgebung<br />
von Gailitz stehen kuhäugige Dörfer vor dem Hinterglasbild des<br />
Himmels, 17 in den Ställen hängen Laternen, Fuhrwerker knallen<br />
mit der Peitsche, wenn sie ihre Wagen aufs Feld hinaus lenken.<br />
Im Winter wird auf den Höfen geschlachtet; dann wetzen<br />
die Kinder im dampfenden Sautrog, der komischerweise immer<br />
eckig ist, die Borsten von der Haut. Am Tisch Brot, Speck und<br />
volle Krüge, Ritschert oder Polenta-Sterz mit Sauermilch.<br />
Zu feierlichen Anlässen besingt man gemeinsam die herrschende<br />
Stimmigkeit. Die Bauersleut leben de facto heidnisch<br />
mit einem vorgeblendeten Christentum. Sie denken, dass sie<br />
der Bescheidenheit ihres Besitzes die Tugend der Bescheidenheit<br />
verdanken, und die Hofmenschen sind froh, dass Gott sie mit<br />
Großmut gesegnet hat. Sie machen ihre Lebensweise nicht vom<br />
eigenen Willen, sondern vom Lichthören und vom Regenspüren<br />
abhängig; ein Leben, das sich um Weizen, Heu und Vieh dreht.<br />
Zu Ostern stecken sie geweihte Zweige in die Äcker, damit das<br />
Korn darauf gedeihe, obwohl sie wissen, dass der ausgestreute<br />
Mist das Wachstum befördert. Wir reden von Männern und<br />
Frauen, die ihr Tun und Lassen nie auf Diskussionen stützen und<br />
17 Lindner, Kindheitserinnerung (1987)<br />
40
die Schönrednern, Intellektuellen und Politikern aus dem Weg<br />
gehen. Seit dem Schwenken der roten Fahnen nach dem Krieg<br />
verzeihen sie besonders den jüdischen Sozialisten und Kommunisten<br />
nichts, ertränken sie in der Suppe, zerschneiden sie<br />
beim Braten. 18<br />
Andere Menschen haben im Dreiländereck bereits eine brauchbare<br />
Alternative zum Alten gefunden. Ich meine die Eisenbahner<br />
und Arbeiter*innen, die »Wirthausstumpfsinn« und »Unkultur«<br />
verachten und deren Verstandes- und Seelenkräfte von der Mobilität<br />
der Güter und Waren bestimmt wird, vom wirtschaftlichen<br />
Erfolg der Industrien. Fortschrittler, unerbittlich in ihren Hoffnungen<br />
auf Wohlfahrt und Gerechtigkeit unter dem Himmel.<br />
Die Familien teilen sich Baracken mit Plumpsklos vor der Tür,<br />
die Männer hängen sich Spiegel zum Brunnen und rasieren sich<br />
im Freien. Am Tisch Brot, Wurst und Warmbier, Hendlsuppe<br />
oder Krautsalat; Schnitzelspeise gibt es nur als Hochzeitsmahl.<br />
Wir reden von Männern und Frauen, die ihr Tun und Lassen auf<br />
Pläne stützen, und die nichts mehr verlachen als das Ausgeliefertsein<br />
an jenes Naturgeschehen, dem sie ihr Leben verdanken.<br />
Wir reden von einer Existenz, die sich um Dienstzeiten, Kohle<br />
und den Geldwert dreht. Menschsein heißt unter diesen Gestalten,<br />
deren Gemüts- und Geisteskräfte nicht an den Bergkämmen<br />
brechen, Rebell*in sein, Empörer*in gegen den öden tierischen<br />
Kreis- und Leerlauf der Dinge.<br />
Im WWI ist auf den Hochebenen von den Dolomiten bis zum<br />
Isonzo viel gestorben worden, möglicherweise auch um diese<br />
unüberwindlichen Gegensätze im Granatenregen auszulöschen.<br />
Die Alten reden noch davon. 1930 zwingt die Weltwirtschaft<br />
zur Kündigung von einem Viertel der Belegschaft der Betriebe,<br />
1932 erlässt die Regierung einen Bleizoll und ein Bleieinfuhrverbot,<br />
und 1934 wird in Gailitz die Bleifarbenfabrik wiedererrichtet,<br />
um halb Europa mit Chinesischem Permanentweiß zu<br />
18 Kafka (1920)<br />
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versorgen. Die Werktätigen hausen immer noch in sehr bescheidenen<br />
Obdachen, die Fundamente aus Bachsteinen, der Überbau<br />
aus dem Holz der Umgebung zusammengefügt. Und die Abwässer<br />
der Bleihütte veröden die Schlitza auf Jahrzehnte.<br />
VIKERL<br />
Im Jahr, als der zukünftige Künstler am 27. Juli in Gailitz/Ziljica<br />
bei Arnoldstein geboren wird, 19 1924, sind zu ihm verwandte<br />
Geister schon heftig am Werk. Der tschechische Künstler und<br />
Autor Josef Váchal zum Beispiel freskiert gerade das Haus von<br />
Josef Portman in Litomyšl vom Boden bis zur Decke. Als <strong>Rogy</strong><br />
ein Jahr alt ist, ereignet sich 96 Kilometer weiter im Westen ein<br />
Kunstskandal. Der Osttiroler Albin Egger-Lienz malt im Bildzyklus<br />
der Kriegergedächtniskapelle jener Stadt, deren Namen<br />
er trägt, Christus den Auferstandenen als »Indianerhäuptling«.<br />
Jedenfalls sagen die Leute das und finden es empörend. Und<br />
1926 tritt ein gewisser Matthias Sindelar, den seine Teamkameraden<br />
»Motzl« nennen, bei der Wiener Austria als Mittelstürmer<br />
ein. Der wird das Kind an der Straße nach Italien, das alle »Vikerl«<br />
rufen, schon in Kürze beschäftigen, sobald der kleine <strong>Rogy</strong><br />
versteht, wie das Spiel läuft und wo Männer verletzlich, traurig<br />
und weinerlich sein dürfen, ohne deswegen in ihrer Männlichkeit<br />
verächtlich gemacht zu werden.<br />
Noch aber ist es nicht soweit. Vikerls älteste Eindrücke sind<br />
solche von der Natur und von seiner sanften Mutter Antonia, 20<br />
die er sein Leben lang »Mamale« nennt. Was die Mutter und die<br />
Kinder brauchen, das fliegt ja dem Vater nicht zu. Er muss es erst<br />
selbst schaffen, durch Einsatz und Arbeitsdisziplin. Morgens,<br />
19 Hebamme Luzia Tarmann; röm-kath. getauft am 20. Aug. 1924<br />
20 Geboren am 31. Aug. 1901 am Rote Esse in Westfalen, Deutschland.<br />
Eltern: Johann Juvan, Clothhilde Juvan<br />
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