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<strong>Inhalt</strong><br />

<strong>AUFSÄTZE</strong><br />

Strafrecht<br />

Eine strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt<br />

Replik auf Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2008, 1<br />

Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn 67<br />

Internationales Strafrecht<br />

Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />

Von Prof. Dr. Morikazu Taguchi, Tokio 70<br />

Srafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante<br />

EU-Rahmenbeschluss zur transnationalen Vollstreckung<br />

von Freiheitsstrafen<br />

Von Wiss. Assistentin Dr. Christine Morgenstern, Greifswald 76<br />

Strafrecht<br />

Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender<br />

Absprachen bei Ausschreibungen gemäß § 298 StGB<br />

Von Wiss. Mitarbeiter David Pasewaldt, Hamburg 84<br />

Strafprozessrecht<br />

Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />

Von Rechtsanwältin Dr. Wiebke Arnold, Kiel 92<br />

<strong>URTEILSANMERKUNGEN</strong><br />

Strafprozessrecht<br />

BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06<br />

Zur Revisibilität der Beweiswürdigung beim<br />

freisprechenden Urteil („Bäcker von Siegelsbach“)<br />

(Wiss. Mitarbeiter Dr. Frank Dietmeier, M.A., Düsseldorf) 101<br />

BUCHREZENSIONEN<br />

Strafrecht<br />

Uwe Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in<br />

Deutschland, 2006<br />

(Prof. Dr. Michael Hettinger, Mainz) 106<br />

Heribert Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 7. Aufl., und<br />

Heribert Ostendorf, Jugendstrafrecht, 4. Aufl., 2007<br />

(Prof. Dr. Frank Neubacher, M.A., Jena) 109<br />

Susanne Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder<br />

sinnvolle Bereicherung des Sanktionenrechts?, 2004<br />

(Rechtsanwalt Dr. Andreas Mertens, Fachanwalt für Strafrecht,<br />

Köln) 111<br />

Steuerstrafrecht<br />

Oliver Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr<br />

strafrechtlicher Selbstbelastung, 2006<br />

(Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, Fachanwalt für Strafrecht,<br />

Fachanwalt für Steuerrecht, München) 113


Eine strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt<br />

Replik auf Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2008, 1<br />

Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn<br />

Wo zwei oder drei Strafrechtswissenschaftler beisammen<br />

sind, da ist er mitten unter ihnen, der strafrechtsdogmatische<br />

Bußprediger. Auf jedem Kongress und jeder Tagung ergreift<br />

er irgendwann das Wort, um mit bitterem Ernst oder heilsamem<br />

Spott die Sünden seiner andächtigen Zuhörer zu geißeln.<br />

Denn diese allein in ihrer Gelehrteneitelkeit und Ruhmbegierde,<br />

ihrer Originalitätssucht und ihrem Karrierismus<br />

trifft die Schuld daran, dass die deutsche Strafrechtswissenschaft<br />

ohne jeden Einfluss auf die Praxis und daher völlig<br />

unnütz ist. Deshalb verdienen sie es denn auch nicht besser,<br />

als dass die Praxis sie seit vielen Jahren mit konsequenter<br />

Nichtbeachtung straft. Lasset ab von eurem eitlen, unnützen<br />

Tun und besinnet euch auf die Bedürfnisse der Praxis, deren<br />

demütige Diener ihr doch sein sollt.<br />

Unter dem eindeutig Stellung nehmenden Titel „Zur Hypertrophie<br />

des Rechts, Plädoyer für eine Annäherung von<br />

Wissenschaft und Praxis“ ist in dieser Zeitschrift soeben eine<br />

weitere solche Bußpredigt aus der Feder von Thomas Rotsch<br />

erschienen. In der Einleitung präzisiert der Verfasser, was er<br />

unter Hypertrophie des Rechts versteht, nicht etwa die Flut<br />

von ständig geänderten Gesetzen oder die unberechenbare<br />

Kasuistik in der Rechtsprechung, sondern die Hypertrophie<br />

der Strafrechtswissenschaft, von der es heißt: „In keinem<br />

anderen Strafrechtssystem der Welt sind Strafrechtswissenschaftler<br />

mit einer solchen Akribie der letzten Verästelung<br />

einer praktisch irrelevanten Theorie auf der Spur. Dass aber<br />

eine bis zum Exzess betriebene Vergenauerung der Dogmatik<br />

in der an ganz anderen Notwendigkeiten ausgerichteten Praxis<br />

nicht mehr ankommt, liegt auf der Hand“ 1 . Akribie und<br />

Streben nach der größtmöglichen Genauigkeit, in jedem anderen<br />

Fachgebiet unverzichtbare Qualitätskriterien wissenschaftlicher<br />

Arbeit, sind also in der Strafrechtswissenschaft<br />

eher fehl am Platze.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Zeit, zu der die<br />

Strafrechtswissenschaft der Vorwurf der Theorielastigkeit<br />

und Praxisferne wohl zu Recht traf, weil sie nichts Wichtigeres<br />

zu tun hatte, als den Streit um die finale und die sog.<br />

kausale Handlungslehre mit dem Eifer eines Glaubenskrieges<br />

auszutragen und vor allem die Finalisten bestrebt waren, jede<br />

praktische Konsequenz allein aus ihrem Deliktssystem und<br />

seinen Begriffen abzuleiten. Zu Recht hat sich damals die<br />

Praxis auf diese Streitigkeiten nicht eingelassen. Aber das ist<br />

der Schnee vom vorigen Jahrtausend. Wie steht es um das<br />

Verhältnis von Wissenschaft und Praxis heute?<br />

Die Strafrechtswissenschaft ist den Konsequenzen der<br />

Auffassung des BGH, dass Mord und Totschlag verschiedene<br />

Delikte sind und demgemäß die höchstpersönlichen Mordmerkmale<br />

strafbegründende i.S.v. § 28 Abs. 1 StGB sind, 2<br />

1<br />

<strong>ZIS</strong> 2008, 1 (2, Spalte 2).<br />

2<br />

Seit BGHSt 1, 369 (370): „Wer in einer in § 211 StGB<br />

beschriebenen Weise einen Menschen tötet, wird nach dieser<br />

Bestimmung als Mörder bestraft, wer vorsätzlich tötet nach<br />

§ 212 StGB als Totschläger“. „Das Gesetz kennzeichnet eben<br />

mit aller Akribie in die feinsten Verästelungen nachgegangen.<br />

3 Ist also diese Akribie der Grund dafür, dass die seit über<br />

60 Jahren einhellig vorgebrachte Kritik der Wissenschaft an<br />

dieser Rechtsauffassung beim BGH immer noch nicht angekommen<br />

ist? Ist sie der Grund dafür, dass unsere höchsten<br />

Richter, statt sich mit dieser Kritik auseinander zu setzen, den<br />

Instanzgerichten, ganz ohne wissenschaftliche Akribie, immer<br />

neue Remeduren verordnen, um wenigstens die absurdesten<br />

Konsequenzen der eigenen Ausgangsthese zu umgehen?<br />

Dass auch diese Remeduren einer allzu akribischen<br />

wissenschaftlichen Prüfung nicht stand halten 4 liegt auf der<br />

Hand.<br />

die in § 211 StGB aufgeführten Begehensweisen der Tötung<br />

nicht als schwere Fälle des Totschlags, sondern als eine andere<br />

Straftat als Mord […]. § 50 Abs. 2 StGB kann jedoch auf<br />

die Beweggründe des § 211 StGB schon deshalb nicht zutreffen,<br />

weil sie nicht die Strafe schärfen, sondern die Strafbarkeit<br />

des Täters als Mörder erst begründen“ (S. 371 f.). Auch<br />

die Einführung des heutigen § 28 Abs. 1 StGB, also die Strafmilderung<br />

bei strafbegründenden persönlichen Merkmalen,<br />

hat dem BGH keinen Anlass gegeben, seine Auffassung der<br />

Mordmerkmale als strafbegründende zu überdenken (BGHSt<br />

22, 375 [377]; NStZ 1981, 299; StV 1984, 69; NStZ-RR<br />

2003, 139).<br />

3<br />

Küper, JZ 1991, 910; ders., JZ 2006, 1157 (1159); Puppe,<br />

in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar,<br />

Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2006, Band 1, §§ 28/29 Rn. 27<br />

f.; Horn, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />

zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 50. Lieferung, Stand: April<br />

2000, § 211 Rn. 25 ff.; Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.),<br />

Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2005, Vor<br />

§ 211 Rn. 136 ff.; Jähnke, in: ders./Laufhütte/Odersky<br />

(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 11. Aufl.<br />

2003, Vor § 211 Rn. 41 ff.; zuletzt zusammenfassend Geppert,<br />

Jura 2008, 34 (38 ff.).<br />

4<br />

Schon dass der BGH ganz selbstverständlich eine Strafbarkeit<br />

des Teilnehmers nach § 212 StGB annimmt, wenn er<br />

nicht weiß, dass der Täter ein Mordmerkmal erfüllt (BGHSt<br />

1, 369 [372]) steht zu seiner These im Widerspruch, dass<br />

Mord und Totschlag verschiedenartige Delikte seien. Gleich<br />

zwei Mal zu dieser These in Widerspruch steht die Lehre von<br />

den „gekreuzten“ Mordmerkmalen (BGHSt 23, 39; 50, 1 [9 f.]).<br />

Denn nach der These von den strafbegründenden Mordmerkmalen<br />

begründet weder das Mordmerkmal, das nur der<br />

Täter erfüllt, noch das Mordmerkmal, das nur der Teilnehmer<br />

erfüllt, dessen Strafbarkeit aus dem vollen Strafrahmen des<br />

§ 211 StGB. Um zu verhindern, dass die Beihilfe oder die<br />

versuchte Anstiftung zum Mord durch einen Beteiligten, der<br />

kein Mordmerkmal erfüllt, wegen der nach der Rechtsansicht<br />

des BGH gebotenen doppelten Strafmilderung nach § 49 StGB<br />

(= sechs Monate bis elf Jahre und drei Monate) milder bestraft<br />

wird, als wenn die Haupttat ein Totschlag wäre (dann nur<br />

einfache Anwendung des § 49 StGB auf den Strafrahmen des<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

67


Ingeborg Puppe<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Ist übermäßiges Bestreben nach Genauigkeit auch der<br />

Grund dafür, dass die in der Literatur kaum weniger einhellig<br />

geübte Kritik an der extrem subjektiven Täterlehre, 5 die den<br />

BGH in den Stand versetzt, jeden an der Vorbereitung eines<br />

Deliktes Beteiligten mit der Begründung zum Mittäter zu<br />

erklären, dass die gebotene Gesamtbetrachtung aller relevanten<br />

Umstände die Wertung ergibt, dass er „dieses enge Verhältnis<br />

zur Tat haben wollte“ 6 , beim BGH auch seit Jahrzehnten<br />

nicht ankommt?<br />

Eine „bis zum Exzess betriebene Vergenauerung“ ist es<br />

denn wohl auch, wenn die Wissenschaft 7 und inzwischen<br />

auch manch verzweifelter Praktiker 8 vergebens die Forderung<br />

erheben, der BGH möge seine Unterscheidung zwischen<br />

dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit bei Tötungsdelikten<br />

soweit vergenauern, dass wenigstens in den meisten<br />

Fällen voraussehbar ist, welche Sachverhaltswürdigung und<br />

welche Entscheidungsbegründung vor seinen Augen bestehen<br />

kann. Die Instanzgerichte geben sich gewiss auch hier alle<br />

Mühe, es dem BGH recht zu machen, und doch vergeht kein<br />

Monat, in dem nicht in der NStZ oder NStZ-RR eine höchst-<br />

§ 212 StGB = zwei Jahre bis elf Jahre und drei Monate),<br />

bemüht der BGH das konkurrenzrechtliche Institut der Sperrwirkung<br />

des milderen Tatbestandes, um eine Mindeststrafe<br />

von zwei Jahren zu begründen (BGH NStZ 2006, 34; 288<br />

[290]). Damit widerspricht er aufs Neue seiner Ausgangsthese.<br />

Denn nach dieser ist die Beihilfe oder der Anstiftungsversuch<br />

zum Mord durch einen Teilnehmer der kein Mordmerkmal<br />

erfüllt, der mildere und die Beihilfe oder versuchte<br />

Anstiftung zum Totschlag nun einmal der strengere Tatbestand.<br />

Auch der Vorschlag, der Frage, ob ein Anstifter ein<br />

Mordmerkmal erfüllt, ihre Relevanz durch den Erfahrungssatz<br />

zu nehmen, dass Auftragskiller heimtückisch vorzugehen<br />

pflegen (BGHSt 50, 1 [6 f.]; BGH NStZ 2006, 288 [289]), ist<br />

mit allgemeinen Grundsätzen der Teilnahmelehre nicht vereinbar.<br />

Wenn der Haupttäter ein anderes und schwereres<br />

Delikt erfüllt als mit dem Anstifter verabredet, so ist das ein<br />

qualitativer Täterexzess, für den der Anstifter auch dann nicht<br />

verantwortlich ist, wenn er erfahrungsgemäß damit rechnen<br />

muss.<br />

5 Schünemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), § 25<br />

Rn. 32 f.; ders., GA 1986, 293 (330); Roxin, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, Band 2, 2003, § 25 Rn. 25 f.; Joecks, in:<br />

ders./Miebach (Fn. 3), § 25 Rn. 27; Zaczyk, GA 2006, 411<br />

(412); Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2005, § 38<br />

Rn. 11 ff.; insbesondere Bespr. von BGHRR, § 25 Abs. 2<br />

Tatinteresse 5, § 39 Rn. 5 ff.<br />

6 Aus neuester Zeit BGH NStZ 2007, 531; 2006, 94; NStZ-<br />

RR 2004, 40 (41); 2002, 74 (75); StraFo 1998, 166; StV<br />

1983, 501; BGHRR, § 25 Abs. 2 Tatinteresse 5.<br />

7 Verrel, NStZ 2004, 309; Geppert, Jura 2001, 55 (59); Fahl,<br />

NStZ 1997, 392; Neumann in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen<br />

(Fn. 3), § 212 Rn. 14 ff.; Joecks (Fn. 5), § 16 Rn. 31;<br />

Canestrari, GA 2004, 210 (213); Rudolphi, in: ders. u.a. (Fn.<br />

3), § 16 Rn. 44; Puppe (Fn. 3), § 15 Rn. 34; dies., Strafrecht,<br />

Allgemeiner Teil, Bd. 1, 2005, § 16 Rn. 11 ff., mit Besprechung<br />

zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen.<br />

8 Trück, NStZ 2005, 233; Schneider (Fn. 3), § 212 Rn. 46 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

68<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

richterliche Entscheidung zum Tötungsvorsatz erscheint. 9<br />

Meistens wird den Instanzgerichten bescheinigt, dass sie es<br />

wieder einmal nicht Recht gemacht haben, weil sie entweder<br />

dem Umstand nicht ausreichend Rechnung getragen haben,<br />

dass bei äußerst lebensgefährlichen Gewalthandlungen der<br />

Tötungsvorsatz nahe liegt, oder dem Umstand, dass vor dem<br />

Tötungsvorsatz eine hohe Hemmschwelle steht. 10 Während es<br />

dem Strafrechtswissenschaftler Vogel „vorzugswürdig“ erscheint<br />

„die fallanschauungsgesättigten Rechtsprechungsformeln<br />

zugrunde zu legen und im übrigen unter Berücksichtigung<br />

aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden“ 11 handelt<br />

es sich nach dem Urteil eines Praktikers um „eine Leerformel,<br />

die von den Tatgerichten gar nicht ausfüllbar ist. Sie<br />

dient im Ergebnis dazu, dem BGH die jederzeitige Möglichkeit<br />

offen zu halten, auch ein in sich stimmiges Tatgerichtsurteil<br />

aufzuheben“. 12 Gebietet es also nun der Geist der Zeit,<br />

der Strafrechtswissenschaft übertriebene Akribie vorzuwerfen<br />

und ihr als Vorbild nicht-hypertrophen Strafrechts die<br />

Praxis des BGH vorzuhalten?<br />

Rotsch jedenfalls tut dies anhand der Frage, wann ein<br />

Vorgesetzter, der einen vollverantwortlichen Untergebenen<br />

irgendwie zu einer Straftat veranlasst, deren mittelbarer Täter<br />

ist. Unter Berufung auf eine „ungewöhnlich freimütige“ 13<br />

Äußerung des an der Entscheidung BGHSt 40, 218 beteiligten<br />

Bundesrichters Nack legt Rotsch dar, dass der BGH keineswegs<br />

die Roxinsche Lehre von der mittelbaren Täterschaft<br />

kraft Beherrschung eines organisatorischen Machtapparats<br />

adaptiert hat, sondern einen eigenen und viel weiteren Begriff<br />

der mittelbaren Täterschaft hinter einem vollverantwortlich<br />

handelnden unmittelbaren Täter vertritt, der auf jeden Firmenchef<br />

anwendbar ist, der sich bei seiner Erwartung, seine<br />

Untergebenen würden zu seinen Gunsten eine Straftat begehen,<br />

auf „regelhafte Abläufe“ stützen kann. 14 Dazu heißt es<br />

dann weiter: „Freilich hat sich die Rechtsprechung von der<br />

Idee Roxins in vielerlei Hinsicht längst entfernt, und mittlerweile<br />

so viele unterschiedliche Begründungsparameter verwandt,<br />

dass sie ganz pragmatisch in all denjenigen Fällen, in<br />

9<br />

Im Jahre 2007 wurden in diesen Zeitschriften 12 Judikate<br />

des BGH veröffentlicht, in denen er die Instanzgerichte darüber<br />

instruiert hat, wie sie ihre Entscheidung zwischen Vorsatz<br />

und Fahrlässigkeit bei Tötungsdelikten zu treffen und zu<br />

begründen haben (NStZ 2007, 150, 331, 639, 700; NStZ-RR<br />

2007, 43, 86, 141, 199, 267, 268, 304, 307).<br />

10<br />

Vgl. die Nachweise bei Schneider (Fn. 3), § 212 Rn. 12 ff.;<br />

Puppe (Fn. 3), § 15 Rn. 90 ff.<br />

11<br />

Vogel, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), § 15 Rn. 128.<br />

12<br />

Trück, NStZ 2005, 233 (238).<br />

13<br />

<strong>ZIS</strong> 2008, 1 (3, Spalte 1).<br />

14<br />

Nack, GA 2006, 342 (343 f.), der als Rechtsquelle dieses<br />

neuen Instituts der mittelbaren Täterschaft kraft „regelhafter<br />

Abläufe“ nicht nur ein obiter dictum in BGHSt 40, 218 (230)<br />

anführt, sondern zuerst ein Gespräch mit einem seiner Senatskollegen<br />

in einer Beratungspause, an das er sich „noch<br />

gut erinnert“: „Wir waren uns beide einig, dass eine – die<br />

praktisch bedeutsamste – Fallgruppe mit einbezogen werden<br />

musste: die vom Chef eines Unternehmens veranlasste Straftat“<br />

(GA 2006, 342 [343]).


Eine strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

denen sie den Hintermann für den eigentlichen Übeltäter hält,<br />

diesen eben auch als Täter bestrafen kann.“ Sodann urteilt<br />

Rotsch über die Stellungnahme der Wissenschaft dazu wie<br />

folgt: „Der natürlich weiter geführte wissenschaftliche Streit,<br />

an dem ich zugegebenermaßen nicht ganz unbeteiligt bin, ist<br />

unter praktischen Gesichtspunkten um so unverständlicher,<br />

als die Strafrahmen von Anstiftung und Täterschaft identisch<br />

sind, vgl. das Gesetz! Das ist die Hypertrophie des Strafrechts“<br />

15 . Als wahrer Büßer bekennt sich also Rotsch hier<br />

auch zu seinen eigenen Sünden, womit er sich wohltuend von<br />

den meisten Bußpredigern unterscheidet, die es vorziehen,<br />

ausschließlich die Sünden anderer mit ihrem Spott zu geißeln.<br />

16<br />

Aber zur Sache: Ist es „unter praktischen Gesichtspunkten“<br />

unverständlich, wenn sich die Strafrechtswissenschaft<br />

und eben auch der BGH einige Gedanken über den Unterschied<br />

zwischen Anstifter und mittelbarem Täter machen?<br />

Dass unser StGB nicht den allgemeinen Urheberbegriff verwendet,<br />

sondern ausdrücklich zwischen Anstiftung und Täterschaft<br />

unterscheidet (vgl. das Gesetz!), bringt hinreichend<br />

deutlich zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber den Anstifter<br />

trotz der Identität der Strafrahmen in der Regel milder beurteilt<br />

und bestraft sehen will, als den Täter. Die Hypertrophie<br />

des Strafrechts besteht nach Auffassung von Rotsch aber<br />

wohl vor allem darin, dass die Strafrechtswissenschaft trotz<br />

der „ganz pragmatischen“ Lösung des BGH doch nicht aufhört,<br />

sich um eine gerechte und klare Unterscheidung zwischen<br />

Anstiftung und mittelbarer Täterschaft zu bemühen,<br />

und daran zu zweifeln, dass jeder Chef, z.B. ein Kleinunternehmer<br />

17 , ein Tierarzt 18 oder Rechtsanwalt 19 , als mittelbarer<br />

15 <strong>ZIS</strong> 2008, 1 (3, Spalte 2).<br />

16 Z.B. Naucke, ZStW 85 (1973), 399 (403 ff.), der zum Beleg<br />

für die praktische Unverbindlichkeit der Strafrechtswissenschaft<br />

u.a. anführt, dass sich in der Festschrift für Kohlrausch<br />

von 1944 kein Protest gegen die Todesstrafe im<br />

Kriegsstrafrecht findet (S. 406); vor allem aber Burkhardt, in:<br />

Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft<br />

vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 111 ff. (141 ff.),<br />

der als Beispiel für „das Elend“ der deutschen Strafrechtswissenschaft<br />

seinen Zuhörern eine amüsant zusammengestellte<br />

Zitatenparade von Diskussionsbeiträgen zur aberratio ictus<br />

vorführt, die er selbst (a.a.O., Fn. 114) als „katastrophal“<br />

bezeichnet, weil die praktische Bedeutung der Frage, ob der<br />

Täter, der auf A zielt aber B trifft, wegen versuchter oder<br />

vollendeter Körperverletzung strafbar sei, um die es doch<br />

ausschließlich gehe, in krassem Missverhältnis zu dem in<br />

dieser Diskussion getriebenen dogmatischen und auch philosophischen<br />

Aufwand stehe. Aber den kurz zuvor erschienenen<br />

Aufsatz von Burkhardt über „abweichende Kausalverläufe<br />

in der analytischen Handlungstheorie“ in der Festschrift<br />

für Nishihara von 1998, in dem die angloamerikanische philosophy<br />

of action bemüht wird, um die h.L. von der Maßgeblichkeit<br />

der aberratio ictus zu begründen, findet man in dieser<br />

Lachparade nicht.<br />

17 BGH NStZ 1998, 568; Nack, GA 2006, 342 (344).<br />

18 BGH JR 2004, 245, mit Anm. Rotsch.<br />

Täter zu bestrafen ist, wenn er aufgrund „regelhafter Abläufe“<br />

von seinen Untergebenen die Begehung einer Straftat<br />

erwartet. Praktisch und nicht hypertroph ist es, „mit Hilfe<br />

vieler Parameter“, stets denjenigen, den man „für den eigentlichen<br />

Übeltäter hält“, auch zum Täter zu machen. Um zu<br />

entscheiden, ob man den Chef für den „eigentlichen Übeltäter“<br />

halten will, unter welchen Voraussetzungen und aus<br />

welchen Gründen man dies tut, bedarf es offenbar keiner<br />

weiteren Vergenauerung der Entscheidungskriterien, erst<br />

recht keines weiteren strafrechtsdogmatischen oder gar<br />

rechtsphilosophischen Nachdenkens.<br />

Was soll also nun ein bußfertiger Strafrechtswissenschaftler<br />

tun? Rotschs Gewährsmann für nicht hypertrophes Strafrecht,<br />

Bundesrichter Nack, lobt die Reaktion der Gerichte auf<br />

die von seinem Senat ins Leben gerufene neue Rechtsfigur<br />

der mittelbaren Täterschaft mit den folgenden Worten: „Das<br />

Kriterium der regelhaften Abläufe hat sich seitdem in der<br />

Rechtsprechung insgesamt und auch beim BGH durchgesetzt.<br />

Die Gerichte haben das so definierte Institut der mittelbaren<br />

Täterschaft schlicht angewandt und nicht weiter hinterfragt,<br />

was sicher daran lag, dass es den Problemen der Praxis am<br />

besten Rechnung trägt.“ 20<br />

19 BGH – 5 StR 268/99, UA S. 16 f. (insoweit in NStZ 2000,<br />

596 nicht abgedruckt).<br />

20 GA 2006, 342 (344).<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

69


Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht*<br />

Von Prof. Dr. Morikazu Taguchi, Tokio<br />

I. Einführung<br />

Das Strafprozessrecht ist immer ein politisches Produkt. Das<br />

gilt nicht nur für die rechtspolitische, sondern auch für die<br />

rechtstheoretische Seite des Strafprozessrechts. Deutschland<br />

und Japan sind im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen besiegt<br />

und von den Alliierten besetzt worden. Aber es gab einen<br />

großen Unterschied bezüglich des Einflusses der politischen<br />

Situation im Hinblick auf das Strafprozessrecht beider Länder.<br />

Deutschland wurde nicht vom anglo-amerikanischen<br />

Recht beeinflusst und hat bisher auch wenig Interesse daran<br />

gezeigt, abgesehen von Herrmann in Augsburg. 1 Dagegen<br />

wurde Japan besonders vom Parteiprinzip des angloamerikanischen<br />

Rechts beeinflusst. Das Prinzip hat sich sehr<br />

stark auch auf den Bereich des Prozessgegenstands ausgewirkt.<br />

Heute haben wir viele gemeinsame strafrechtliche Probleme,<br />

z.B. die organisierte Kriminalität, die Wirtschaftskriminalität,<br />

die Computerkriminalität usw. Sich mit diesen<br />

weltweiten, allgemeinen Problemen auseinanderzusetzen, ist<br />

natürlich eine wichtige Aufgabe der Rechtsvergleichung.<br />

Aber zugleich ist es meiner Meinung nach auch eine wichtige<br />

Aufgabe, sich mit nicht allgemeinen, sondern mehr speziellen<br />

Problemen einzelner Länder auseinanderzusetzen und so das<br />

gegenseitige Verständnis zu vertiefen. Deswegen greife ich<br />

hier ein für Deutschland ziemlich fremdes Thema auf.<br />

Natürlich gibt es bereits wichtige Aufsätze in deutscher<br />

Sprache, die die Eigenschaften des japanischen Strafprozessrechts<br />

vorgestellt haben. Besonders lesenswert sind die Aufsätze<br />

von Herrmann und Hirano 2 aus dem Jahre 1990 3 und<br />

von Itoda 4 aus dem Jahre 1982. 5 Aber ich habe diesen Beiträgen<br />

zwei Bemerkungen hinzuzufügen. Erstens ist es eine Tat-<br />

* Universität Waseda, Tokio, Japan; derzeit Gastforscher am<br />

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales<br />

Strafrecht in Freiburg i.Br. Der Beitrag geht auf einen Vortrag<br />

zurück, den ich am 5. November 2007 vor der Juristischen<br />

Fakultät der Universität Augsburg gehalten habe. Ich<br />

bedanke mich sehr bei Professor em. Dr. Joachim Herrmann<br />

und Professor Dr. Henning Rosenau für die Gelegenheit zu<br />

diesem Vortrag und zu diesem Beitrag. Frau Petra Lehser<br />

vom Max-Planck-Institut möchte ich herzlich für ihre große<br />

sprachliche Unterstützung danken.<br />

1<br />

Vgl. Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung<br />

nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens,<br />

1971.<br />

2<br />

Verstorbener Professor an der Universität Tokio.<br />

3<br />

Vgl. Herrmann, in: Coing u.a. (Hrsg.), Die Japanisierung<br />

des westlichen Rechts – Japanisch-deutsches Symposion in<br />

Tübingen vom 26. bis 28. Juli 1988, 1990, S. 397 ff; Hirano,<br />

in: Coing (a.a.O.), S. 387 ff.<br />

4<br />

Professor em. an der Universität Ritsumeikan in Kyoto.<br />

5<br />

Vgl. Itoda, in: Oehler (Hrsg.), Strafrechtliche und strafprozessuale<br />

Fragen aus dem japanischen Recht, Japanisches Recht,<br />

Bd. 11, 1982, S. 45 ff. Vgl. auch Saeki, in: Oehler (a.a.O.),<br />

S. 71 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

70<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

sache, dass das japanische Parteiprinzip ein klarer Kompromiss<br />

mit der Instruktionsmaxime war. Und zweitens, dass das<br />

so stark abgeänderte Parteiprinzip sich besonders seit den<br />

90er Jahren wieder sehr stark in Richtung angloamerikanisches<br />

Parteiprinzip neigt. Gerade deswegen ist<br />

heute noch das Prozessgegenstandsproblem eine sehr wichtige<br />

Aufgabe in Japan.<br />

II. Die Entstehungsgeschichte der japanischen Strafprozessordnung<br />

1. Der politische Prozess der Gesetzgebung<br />

a) Die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete das Kommando der<br />

Alliierten zunächst die Reform der japanischen Verfassung.<br />

Am 3. November 1946 wurde die neue Japanische Verfassung<br />

verkündet. Das Kommando der Alliierten wurde „General<br />

Headquarters“, kurz GHQ, genannt. Nach Meinung des<br />

GHQ sollte die alte Strafprozessordnung, die 1922 nach dem<br />

Vorbild des deutschen Rechts verkündet worden war, auch<br />

vollständig reformiert werden. Nur diese beiden Gesetze<br />

wurden nach dem Krieg vollständig reformiert. Die japanische<br />

Seite begann mit der Reformarbeit im August 1946.<br />

Aber ihr Entwurf entsprach in wesentlichen Punkten nicht<br />

den Vorstellungen des GHQ. Deshalb wurde ein besonderer<br />

Beratungsausschuss eingesetzt.<br />

Die förmlichen Ausschussmitglieder bestanden aus vier<br />

amerikanischen und elf japanischen Juristen. Außerdem gab<br />

es je 15 bis 20 nicht förmliche Mitglieder. Unter den japanischen<br />

förmlichen Mitgliedern waren neben den Praktikern<br />

auch zwei Universitätsprofessoren: Professor Dr. Shigemitsu<br />

Dando von der Universität Tokio und Professor Dr. Kinsaku<br />

Saito von der Universität Waseda. Wir wissen heute über den<br />

Gesetzgebungsprozess genau Bescheid. Das ist der Tatsache<br />

zu verdanken, dass Professor Dando viele Dokumente hinterlassen<br />

und in seinem Buch auch interne Verhältnisse beschrieben<br />

hat. 6<br />

Es gibt eine interessante Episode. Am Anfang waren die<br />

amerikanischen Kommissionsmitglieder nur Juristen, die<br />

nicht genügend Kenntnisse vom deutschen Recht hatten.<br />

Daher konnten sie mit den japanischen Juristen, die bis dahin<br />

hauptsächlich die deutsche Strafprozessrechtswissenschaft<br />

studiert hatten, keine hinreichend ineinandergreifende Diskussion<br />

führen. Deswegen hat das GHQ Dr. Alfred C. Oppler<br />

in den Ausschuss geschickt. Er war Deutscher, ehemals Richter<br />

am Bundesverwaltungsgericht in Berlin und von den Nationalsozialisten<br />

in die USA vertrieben worden. In der Folge<br />

kam es zu einer heftigen Diskussion zwischen den amerikanischen<br />

und den japanischen Juristen.<br />

Der verstorbene Professor Saito war mein Doktorvater.<br />

Daher konnte ich unmittelbar von ihm viel darüber erfahren.<br />

Und es gibt noch eine weitere, sehr interessante Episode.<br />

Wenn die japanische Seite kurz davor war, über die amerika-<br />

6<br />

Vgl. Dando, Waga Kokoro no Tabiji [Mein innerer Weg],<br />

1987, S. 110 ff. (auf Japanisch).


Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

nische Seite zu siegen, sagte die amerikanische Seite: „Ja, wir<br />

haben die japanischen Meinungen verstanden. Also schicken<br />

wir die zwei Meinungen zu dem Kommandeur Douglas Mac-<br />

Arthur, damit dieser entscheidet.“ Das war ein gefährliches<br />

Zeichen, weil es damals klar war, dass MacArthur keinesfalls<br />

die japanische, sondern immer die amerikanische Meinung<br />

annehmen würde. Wenn also klar wurde, dass die japanische<br />

Seite sich fast durchsetzen konnte, musste sie einen Kompromiss<br />

vorschlagen, der den Mittelweg beider Meinungen<br />

ging. 7<br />

b) Die Aufnahme des Begriffs „Count“ (Klagegrund)<br />

Die Aufnahme des Begriffs des Klagegrundes war schon<br />

politisch unentbehrlich. Aber die Auffassung der Japaner<br />

hinsichtlich der Möglichkeit der Verhandlung innerhalb der<br />

Tatidentität war auch überzeugend. Ein Kompromiss war das<br />

Klagegrundänderungssystem. Ich zitiere hier eine Diskussion<br />

über die Klagegrundänderung im Mai 1948. 8<br />

Die Amerikaner sagten: Der Zweck der Anklageschrift<br />

besteht in der Verteidigung des Angeklagten.<br />

Daraufhin die Japaner: Z.B. lautet die Anklage auf Raub,<br />

aber das Gericht stellt stattdessen eine Erpressung fest und<br />

befiehlt dem Staatsanwalt die Änderung der Anklageschrift<br />

vom Raub zur Erpressung. Wenn der Staatsanwalt dennoch<br />

die Anklageschrift nicht verändert, ist der Angeklagte dann<br />

unschuldig?<br />

Die Amerikaner sagten: Ja, natürlich ist er unschuldig.<br />

Daraufhin die Japaner: Aber es ist eine Tatsache, dass er<br />

jemandem drohte und jemandem etwas wegnahm. Und ein<br />

Raub und eine Erpressung beziehen sich auf denselben Sachverhalt.<br />

Die Amerikaner: Deswegen gibt der vorsichtige Staatsanwalt<br />

beide Klagegründe an. Es handelt sich nicht um eine<br />

Tatsache, sondern nur um einen Klagegrund.<br />

Nach der amerikanischen Auffassung wurde der Angeklagte<br />

nicht wegen der Erpressung, die nicht in der Anklageschrift<br />

stand, angeklagt. Sie kannten den Begriff der Tatidentität<br />

nicht. Um wegen Erpressung zu verurteilen, war ein<br />

Kompromiss nötig, nämlich ein System zur Änderung der<br />

Anklageschrift.<br />

Nach solchen Diskussionen wurde der Entwurf am 10. Juli<br />

1948 im Parlament verabschiedet und trat am 1. Januar<br />

1949 in Kraft. Vielleicht war es nur in dieser besonderen<br />

politischen Situation möglich, dass ein gemischtes Rechtssystem<br />

aus dem amerikanischen und dem deutschen Strafprozessrecht<br />

entworfen worden ist.<br />

7<br />

Aber zugleich sollte nicht übersehen werden, dass Oppler<br />

damals aus der Erinnerung berichtete: „Wir mussten uns dazu<br />

ermahnen, dem kontinental-europäischen japanischen Rechtssystem<br />

das Wohl des angelsächsischen Rechtssystems nicht<br />

aufzunötigen“, Jurist 551 (1974), 70 (auf Japanisch).<br />

8<br />

Vgl. Matsuo, Keijihougaku no Chihei (Collection of Essays<br />

on Criminal Justice: An Academic Lawyer’s Perspective),<br />

2006, S. 122 ff. (auf Japanisch).<br />

2. Die neuen Vorschriften über den Prozessgegenstand<br />

a) Die genauere Beschreibung des Klagegrundes<br />

In der Anklageschrift wird die Tatsache der öffentlichen<br />

Anklage dargestellt (§ 256 Abs. 2b jap. StPO). Den Begriff<br />

„Tatsache der öffentlichen Anklage“ könnte man anders<br />

ausdrücken als „die Tatsache an sich“, oder wenn ich den<br />

deutschen Begriff benutze, als „konkretes Vorkommnis“.<br />

Wie man diese Tatsache beschreiben soll, zeigt Absatz 3 sehr<br />

ausführlich. Danach muss „bei der Darstellung der Tatsache<br />

der öffentlichen Anklage der Klagegrund deutlich werden“.<br />

Das Wort „Klagegrund“ bedeutet auf Englisch „Count“.<br />

Dieser Paragraph gehörte zu einem der schwierigsten Paragraphen<br />

der japanischen Strafprozessordnung. Warum man in<br />

der Anklageschrift den Klagegrund klar beschreiben muss,<br />

warum die Tatsache an sich nicht ausreicht, werde ich später<br />

ausführen.<br />

b) Die Veränderung des Klagegrundes<br />

Wenn in der Hauptverhandlung eine neue Tatsache bekannt<br />

geworden ist, gibt es zwei Möglichkeiten. Einerseits kann der<br />

Richter im Hinblick auf den ursprünglichen Klagegrund<br />

freisprechen. Der Staatsanwalt kann sodann eine neue Anklage<br />

erheben, ähnlich wie im anglo-amerikanischen Rechtssystem.<br />

Andererseits kann der Staatsanwalt den alten Klagegrund<br />

in einen neuen verändern und der Richter kann darüber<br />

urteilen. Japan hat dieses System übernommen. § 312 Abs. 1<br />

jap. StPO besagt: „Das Gericht muss, wenn die Staatsanwaltschaft<br />

dies beantragt und soweit die Identität der Tatsache<br />

nicht berührt wird, Nachträge, Rücknahmen, Änderungen des<br />

Klagegrundes oder der Strafvorschriften, die in der Anklageschrift<br />

genannt werden, zulassen.“<br />

Das war ganz anders, als es das System im angloamerikanischen<br />

Recht und auch im deutschen Recht vorsieht,<br />

weil jenes in der Regel die Änderung des Klagegrundes und<br />

dieses den Begriff des Klagegrundes nicht anerkannte. Man<br />

könnte sagen, es liegt gerade in der Mitte zwischen beiden<br />

Systemen. Für den sogenannten Mittelweg oder den Kompromiss<br />

eröffnen sich zwei Möglichkeiten, eine einfache<br />

Zusammenfügung oder eine konsequente Vereinigung von<br />

zwei Systemen. Die strafprozessrechtswissenschaftliche<br />

Geschichte nach dem Krieg war geprägt von den starken<br />

Bemühungen, diese grundsätzlich unterschiedlichen Systeme<br />

zu vereinigen.<br />

III. Die Einbürgerung des Begriffs „Count“ in Japan<br />

1. Tatsachen-Theorie vs. Count-Theorie<br />

a) Der Streit der Auslegung<br />

Die traditionelle Auffassung vom Prozessgegenstand, die<br />

ähnlich wie die der deutschen Lehre war, behauptete, der<br />

Klagegrund sei nicht der Prozessgegenstand, sondern nur ein<br />

Begriff für den Schutz des Angeklagten.<br />

Der Prozessgegenstand solle auch im neuen Strafprozessrecht<br />

die Tatsache an sich sein. Deswegen ändere das Gericht<br />

nicht den Prozessgegenstand, wenn es den Angeklagten ohne<br />

ein Klagegrundänderungsverfahren wegen eines anderen als<br />

des ursprünglichen Klagegrundes verurteilte. Der Fehler, dass<br />

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Morikazu Taguchi<br />

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das von § 312 jap. StPO geforderte Verfahren nicht durchgeführt<br />

wird, sei nicht ein absoluter, sondern nur ein relativer<br />

Grund für die Aufhebung des Urteils. Dagegen behauptete<br />

die neue Auffassung, der Klagegrund solle jetzt der Prozessgegenstand<br />

im neuen Strafprozessrecht sein. Deswegen ändere<br />

das Gericht den Prozessgegenstand, wenn es den Angeklagten<br />

wegen eines anderen als des ursprünglichen Klagegrundes<br />

ohne ein Klagegrundänderungsverfahren verurteilte.<br />

Das Urteil müsse deshalb aufgehoben werden.<br />

Die erste Auffassung kann man die Tatsachen-Theorie 9 ,<br />

die zweite die Count-Theorie 10 nennen. Beide Auffassungen<br />

waren als Auslegung der geltenden Strafprozessordnung<br />

theoretisch möglich, und jede hatte aber andere Grundlagen<br />

hinsichtlich der rechtspolitischen Prinzipien: die Instruktionsmaxime<br />

oder das Parteiprinzip. Dieser Gegensatz war der<br />

grundlegende Streitpunkt in der Strafprozessrechtswissenschaft<br />

nach dem Krieg.<br />

b) Der Triumph der Count-Theorie<br />

Der Streit endete mit dem Triumph der Count-Theorie. Die<br />

Gründe dafür lagen hauptsächlich im Opportunitätsprinzip 11<br />

und dem sogenannten „Prinzip der Anklageschrift allein“.<br />

Hier möchte ich insbesondere das Letztere erklären.<br />

Nach der alten Strafprozessordnung konnte der Staatsanwalt<br />

alle Protokolle mit der Anklageschrift an das Gericht<br />

schicken. Der Richter konnte diese Protokolle vor der Hauptverhandlung<br />

prüfen und am Anfang der Hauptverhandlung<br />

den Angeklagten vernehmen. Nach dem Parteiprinzip besteht<br />

jedoch die Gefahr, dass der Richter mit einem Vorurteil die<br />

Hauptverhandlung leitet, weil der Verdacht des Staatsanwaltes<br />

aufgrund der Aktenkenntnis übernommen wird. Daher<br />

besagt § 256 Abs. 6 jap. StPO: „Der Anklageschrift dürfen<br />

weder Schriftstücke noch andere Gegenstände beigefügt<br />

werden; ebenfalls darf der <strong>Inhalt</strong> von Schriftstücken nicht<br />

zitiert werden, wenn zu befürchten ist, dass das Gericht dadurch<br />

im Voraus in Bezug auf den Fall beeinflusst wird.“<br />

Dies wird „Prinzip der Anklageschrift allein“ genannt. 12 Das<br />

ist ein ziemlich seltsamer Begriff. Es bedeutet, dass der<br />

Staatsanwalt nur eine Anklageschrift an das Gericht schicken<br />

darf.<br />

9 Z.B. Dando, Keijisoshouho-koyo [Grundriss des Strafprozessrechts],<br />

7. Aufl. 1967, S. 204 (auf Japanisch); ders., Japanese<br />

Criminal Procedure, übersetzt von George Jr., 1965,<br />

S. 173 (auf Englisch); Saito, Keijisoshouho [Strafprozessrecht],<br />

Bd. 1, 1961, S. 100 f. (auf Japanisch).<br />

10 Z.B. Hirano, Keijisoshouho [Strafprozessrecht], 1958,<br />

S. 131 ff. (auf Japanisch); Matsuo, Keijisoshouho [Strafprozessrecht],<br />

Bd. 1, 2. Aufl. 1999, S. 172 ff. (auf Japanisch);<br />

Tamiya, Keijisoshouho [Strafprozessrecht], 2. Aufl. 1996,<br />

S. 185 ff. (auf Japanisch).<br />

11 Seit der im Jahr 1880 verkündeten ersten japanischen StPO<br />

ist Japan – anders als Deutschland – immer dem Opportunitätsprinzip<br />

gefolgt (vgl. § 248 jap. StPO im geltenden Gesetz).<br />

Über die Besonderheiten des japanischen Opportunitätsprinzips<br />

vgl. Herrmann (Fn. 3), S. 413 f.<br />

12 Vgl. Hirano (Fn. 3), S. 392; Saeki (Fn. 5).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

72<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

Der Staatsanwalt kann weder Beweise noch eine Liste der<br />

Beweise mit der Anklageschrift beim Gericht einreichen.<br />

Infolgedessen kennt der Richter vor der Hauptverhandlung<br />

Einzelheiten des Verbrechens nur, soweit er sie dem <strong>Inhalt</strong><br />

der Anklageschrift entnehmen kann. Der Richter darf die<br />

Verhandlung nur anhand der Anklageschrift führen. Die<br />

Beweisanträge werden also zuerst durch die Parteien gestellt,<br />

und die Zeugenbefragung wird auch zuerst im Kreuzverhör<br />

durchgeführt. 13 Das ist ein Kernbereich des Parteiprozesses.<br />

Der Grund für dieses System liegt hauptsächlich in dem Gebot,<br />

die Neutralität des Richters zu wahren.<br />

Jedenfalls ist der Richter an den Klagegrund in der Anklageschrift<br />

gebunden. Das wird „die Bindungskraft des<br />

Klagegrundes“ genannt. Aber im Gesetz bleibt noch der<br />

Begriff der „Tatsache“ oder der „Tatidentität“. Nach der<br />

Auslegung der Count-Theorie soll der Begriff der Tatsache<br />

nur der Begrenzung der Änderung des Klagegrundes dienen<br />

und ist nicht Prozessgegenstand. Insofern blieb der Begriff<br />

der Tatsache oder der Tatidentität auch in der Count-Theorie<br />

bestehen. Die Grenze der Tatidentität ist identisch mit der der<br />

Tatsachen-Theorie. Die Begründung dafür besteht aber nicht<br />

in der Prozessgegenstandslehre, sondern in der gleichzeitigen<br />

Verfolgungsmöglichkeit der Tatsachen an sich durch den<br />

Staatsanwalt. 14<br />

2. Die Entscheidungen<br />

a) Die Notwendigkeit der Veränderung des Klagegrundes<br />

Es besteht heute kein Zweifel daran, dass der Japanische<br />

Höchste Gerichtshof die Count-Theorie anerkannt hat. Aber<br />

hier stellt sich das Problem, was „die neue Tatsache“ bedeutet.<br />

Es ist klar, dass die unwesentlich veränderte neue Tatsache,<br />

z.B. dass 101 Euro anstatt 100 Euro gestohlen wurden,<br />

keine neue Tatsache in diesem Sinne ist. Man kann es ein<br />

Problem „der Identität des Klagegrundes“ nennen. Nach der<br />

herrschenden Meinung und aufgrund gerichtlicher Entscheidungen<br />

hängt die Frage, ob eine „neue Tatsache“ gegeben ist,<br />

nicht davon ab, wie groß der Unterschied zwischen den Tatsachen<br />

ist, sondern wie stark die Verteidigung des Angeklagten<br />

dadurch beeinflusst wird. 15<br />

13<br />

Nach dem Gesetz sind die Beweiserhebung und die Zeugenprüfung<br />

von Amts wegen auch möglich (§§ 298 Abs. 2,<br />

304 Abs. 1 jap. StPO), aber sie bilden unter der Herrschaft<br />

des Parteiprinzips nur die Ausnahme.<br />

14<br />

Die objektive Grenze für die Änderung des Klagegrundes<br />

und für die Rechtskraft (ne bis in idem) stimmt überein, und<br />

zwar wird letztere vom sogenannten „double jeopardy“-<br />

Prinzip ähnlich wie im anglo-amerikanischen Recht bestimmt.<br />

15<br />

Nach den Entscheidungen und der h.M. soll der Grad der<br />

Beeinflussung danach bemessen werden, ob allgemein die<br />

Möglichkeit besteht, dass der Angeklagte benachteiligt wird,<br />

nicht, ob es einen konkreten Nachteil gibt.


Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

b) Die Anordnung der Veränderung des Klagegrundes von<br />

Amts wegen<br />

Es gibt noch ein wichtiges Problem. § 312 Abs. 2 jap. StPO<br />

besagt: „Das Gericht kann Nachträge oder Änderungen des<br />

Klagegrundes oder der Strafvorschriften anordnen, wenn es<br />

dies im Hinblick auf den Verlauf der Verhandlung für angemessen<br />

hält.“ Nach dieser Vorschrift kann das Gericht dem<br />

Staatsanwalt aufgeben, dass er den alten Klagegrund in den<br />

neuen Klagegrund ändert. Aber diese Auslegung steht im<br />

Widerspruch zu dem Verständnis des Prozessgegenstandes<br />

der Count-Theorie.<br />

Deswegen hat der Höchste Gerichtshof zwei Entscheidungen<br />

gefällt. Ich berichte kurz den Sachverhalt der ersten<br />

Entscheidung. Der Angeklagte stritt mit einem Mann in einer<br />

Gaststätte. Er bedrohte ihn mit einem geladenen Jagdgewehr.<br />

Die Frau des Angeklagten wollte ihn aufhalten. Als er seine<br />

Frau zur Seite schieben wollte und sich bewegte, erschoss er<br />

den anderen Mann in der Gaststätte. Der Verletzte war tot.<br />

Der Staatsanwalt klagte den Mann wegen vorsätzlicher Tötung<br />

an und wollte den Klagegrund nicht in den der fahrlässigen<br />

Tötung ändern. Die erste Instanz sprach den Angeklagten<br />

frei.<br />

In dieser Situation entschied der Höchste Gerichtshof, das<br />

Gericht habe in der Regel keine Pflicht zur Anordnung der<br />

Klagegrundänderung, auch wenn die Möglichkeit, dass eine<br />

neue Tatsache bewiesen wird, hoch einzuschätzen sei. Aber<br />

ausnahmsweise müsse es die Klagegrundänderung dem<br />

Staatsanwalt gegenüber anordnen, wenn die neue Tatsache<br />

schwer und die Beweise eindeutig seien. In diesem besonderen<br />

Fall musste das Gericht dem Staatsanwalt also die Klagegrundänderung<br />

aufgeben. 16<br />

Es gibt noch eine wichtige Entscheidung. Wenn der<br />

Staatsanwalt trotz der Anordnung des Gerichts den Klagegrund<br />

nicht ändert, bleibt der alte Klagegrund weiter bestehen.<br />

Mit anderen Worten, die Anordnung des Gerichts hat<br />

keine Gestaltungskraft. 17 Die Aufstellung des Prozessgegenstandes<br />

ist demgemäß ausschließlich eine Aufgabe des<br />

Staatsanwaltes, nicht des Richters.<br />

IV. Die neue Entwicklung der Frage des Prozessgegenstandes<br />

1. Die Veränderung der „Issues“ (Streitpunkte)<br />

In der Frage des Prozessgegenstandes zeigt sich heute in<br />

Japan noch eine weitere Entwicklung. Ein Anzeichen dafür<br />

gab es schon in einer Entscheidung des Höchsten Gerichtshofes<br />

im Jahre 1983.<br />

Der Staatsanwalt behauptete, die Verschwörung für ein<br />

Verbrechen habe „zwischen dem 12. März und dem<br />

14. März“ stattgefunden. Aber der Streitpunkt in der Hauptverhandlung<br />

war nur, ob die Verschwörung „am 13. März“<br />

stattfand. Der Angeklagte behauptete, ein Alibi für diesen<br />

16<br />

Beschluss vom Höchsten Gerichtshof vom 12.12.1968,<br />

Keishu 22-12-1352 (auf Japanisch).<br />

17<br />

Urteil vom Höchsten Gerichtshof vom 28.4.1965, Keishu<br />

19-3-270 (auf Japanisch). Infolgedessen wird das Gericht den<br />

Angeklagten wegen des alten Klagegrundes freisprechen.<br />

Zeitpunkt zu haben. Die erste Instanz indes stellte plötzlich<br />

eine Verschwörung „am 12. März“ im Urteil fest und verurteilte<br />

ihn entsprechend. Der Höchste Gerichtshof sagte, das<br />

sei eine unzulässige Überraschung für den Angeklagten und<br />

deshalb rechtswidrig. Wenn das Gericht eine Verschwörung<br />

„am 12. März“ feststellen wolle, müsse es ein Verfahren zur<br />

Änderung des Streitpunktes durchführen. 18<br />

Aufgrund dieser Entscheidung ist der Richter nicht nur an<br />

den Klagegrund, sondern auch an die konkreten Streitpunkte<br />

in der Hauptverhandlung gebunden. Das Prinzip des Klagegrundes<br />

wird hier in Wirklichkeit noch weiter ausgedehnt.<br />

Dieser Standpunkt des Höchsten Gerichtshofes wurde später<br />

mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 bestätigt. 19<br />

2. Das neue Vorbereitungsverfahren für die Streitpunkte und<br />

die Beweise vor der Hauptverhandlung seit 2005<br />

Der Standpunkt, auf die Streitpunkte großes Gewicht zu<br />

legen, wurde von der neuen Reform der Strafprozessordnung<br />

aus dem Jahre 2004 noch verstärkt. Das neu eingeführte Laienrichtersystem<br />

beginnt ab 2009. Um die Hauptverhandlung<br />

vor dem Laienrichtergericht reibungslos zu vollziehen, wurde<br />

ein neues Vorbereitungsverfahren in die Strafprozessordnung<br />

aufgenommen. Es wird „das Ordnungsverfahren vor der<br />

Hauptverhandlung“ genannt. Diese neue Strafprozessordnung<br />

trat im Jahre 2005 in Kraft. 20<br />

Nach dem neuen Gesetz können die Parteien in der Regel<br />

in der Hauptverhandlung keine anderen Streitpunkte mehr<br />

vortragen als die, die im Vorbereitungsverfahren bestimmt<br />

worden sind. Natürlich ist der Richter auch an diese Streitpunkte<br />

gebunden. Man dachte, je klarer und konkreter der<br />

Prozessgegenstand bestimmt ist, desto leichter kann der Laienrichter<br />

den <strong>Inhalt</strong> der Hauptverhandlung verstehen und<br />

auch die Hauptverhandlungsdauer verkürzt werden. Aber<br />

dafür muss besonders der Verteidiger des Angeklagten im<br />

Vorbereitungsverfahren sehr sorgfältig die Streitpunkte be-<br />

stimmen. Die Aufgabe des Verteidigers ist enorm wichtig<br />

geworden. 2004 wurde auch das Verteidigungssystem sehr<br />

weitreichend verbessert. 21<br />

18<br />

Urteil vom Höchsten Gerichtshof vom 13.12.1983, Keishu<br />

37-10-1581 (auf Japanisch).<br />

19<br />

Beschluss vom Höchsten Gerichtshof vom 11.4.2001,<br />

Keishu 55-3-127 (auf Japanisch).<br />

20<br />

Vgl. The Justice System Reform Council (Hrsg.), Recommendations<br />

of the Justice System Reform Council – For a<br />

Justice System to Support Japan in the 21st Century –, 2001,<br />

p. 31 (“A new preparatory procedure presided over by the<br />

court should be introduced in order to sort out the contested<br />

issues and to establish a clear plan for the proceedings in<br />

advance of the first trial date.”); http://www.kantei.go.jp/<br />

foreign/judiciary/2001/0612report. html.<br />

21<br />

Z.B. wurde das neue Pflichtverteidigungssystem im Ermittlungsverfahren<br />

eingeführt.<br />

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Morikazu Taguchi<br />

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3. Das neue Laienrichtergericht ab 2009<br />

Wie schon erwähnt, ist das neue Laienrichtergesetz im Jahre<br />

2004 erlassen worden; es wird ab 2009 in Kraft treten. 22 Das<br />

Laiengericht besteht aus drei Berufsrichtern und sechs Laienrichtern<br />

(oder bei leichteren Fällen einem Berufsrichter und<br />

vier Laienrichtern). Im neuen System werden die Laien nur<br />

für eine Strafsache gewählt, ähnlich wie im angloamerikanischen<br />

Schwurgerichtssystem. Es gibt keine Amtsdauer<br />

des Laienrichters. Aber sie können an der Verhandlung<br />

nicht nur bei der Schuldfrage, sondern auch bei der Frage der<br />

Strafzumessung teilnehmen, ganz ähnlich wie im deutschen<br />

Schöffengerichtssystem. 23<br />

Da es das Laiengericht heute noch nicht gibt, kann ich<br />

hier natürlich nur meine Vermutung über seine Funktionsweise<br />

äußern. Wie ich bereits erwähnte, hat der japanische<br />

Laienrichter keine Amtsdauer, er beschäftigt sich immer nur<br />

mit einer Strafsache. Der deutsche Schöffe beschäftigt sich<br />

mit den Strafsachen vier oder fünf Jahre lang. Daher hat er<br />

die Möglichkeit, dass er mit den Strafverfahren etwas vertraut<br />

wird. Weil der japanische Laienrichter dagegen immer ein<br />

reiner Laie bleibt, gibt es ein starkes Verlangen, dass der<br />

Prozessgegenstand und die Streitpunkte immer gleich und<br />

klar bleiben sollen 24 . Erst dann, wenn die Laienrichter den<br />

Prozessgegenstand ausreichend verstehen können, können sie<br />

die Vorgänge der Hauptverhandlung verstehen und ihre Aufgabe<br />

als Laienrichter erfüllen. Dass der <strong>Inhalt</strong> der Hauptverhandlung<br />

verständlich für die Laienrichter wird, bedeutet<br />

zugleich, dass er auch verständlich für den Angeklagten wird.<br />

Das ist meiner Meinung nach der wichtigste Effekt des Laienrichtersystems.<br />

Im Laiengericht wird also die Bedeutung des Klagegrundes<br />

und der Streitpunkte noch größer und es wird nicht nur<br />

aus dogmatischen, sondern auch aus praktischen Gründen<br />

wichtiger, dass eine neue Tatsache oder neue Streitpunkte<br />

nicht erst in der Hauptverhandlung aufgedeckt werden. Aufgrund<br />

dieser neuen Entwicklungstendenz wird sich meiner<br />

Ansicht nach das Verständnis des Prozessgegenstandes noch<br />

22<br />

Gesetz über die Teilnahme der Saiban-in [Laienrichter] an<br />

der strafprozessualen Hauptverhandlung, 2004. Vgl. The<br />

Justice System Reform Council (Fn. 20), p. 69 (“Through<br />

having the people participate in the trial process, and through<br />

having the sound common sense of the public reflected more<br />

directly in trial decisions, the people’s understanding and<br />

support of the justice system will deepen and it will be possible<br />

for the justice system to achieve a firmer popular base.”).<br />

23<br />

Bei der Abstimmung haben die Laien das gleiche Stimmrecht<br />

wie die Berufsrichter. Allein mit einer Mehrheit Seitens<br />

der Laien kann der Angeklagte aber nicht verurteilt werden.<br />

Das Mehrheitsprinzip soll nur dann wirksam sein, wenn die<br />

Stimmen der Berufsrichter zusammen mit den Stimmen der<br />

Laien eine Mehrheit ergeben.<br />

24<br />

Bezüglich der Beweisaufnahme werden auch das Mündlichkeitsprinzip<br />

und das Unmittelbarkeitsprinzip gestärkt. Die<br />

Praxis, die Protokolle der Ermittlungsorgane als Ausnahme<br />

vom Prinzip des Verbots des Beweises vom Hörensagen in<br />

der Hauptverhandlung zuzulassen, wird sich von nun an nicht<br />

mehr harmonisch mit diesen Prinzipien vereinbaren lassen.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

74<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

weiter in Richtung der Count-Theorie, also nach dem Parteiprinzip<br />

hin verschieben.<br />

V. Schluss<br />

Der Strom des Prozessgegenstandes fließt von der Tatsache<br />

an sich über den Klagegrund in Richtung des Streitpunkts,<br />

und er wird nicht mehr zurückfließen können. Die Bedeutung<br />

dieses Stroms ist, dass die Zuständigkeit für die Festlegung<br />

des Prozessgegenstandes sich vom Richter zu den Parteien,<br />

besonders zum Staatsanwalt und Verteidiger, verschiebt. Das<br />

bedeutet auch, dass die Aufgaben der Parteien in der Strafjustiz<br />

wichtiger werden. Bis heute spielte hauptsächlich der<br />

Richter die zentrale Rolle, auch wenn die Count-Theorie die<br />

herrschende Meinung geworden ist. Aber von nun an werden<br />

die Parteien eine sehr wichtige Rolle spielen müssen, nicht<br />

nur im theoretischen, sondern auch im praktischen Sinne.<br />

Auf der verlängerten Gerade liegt das Problem, ob der<br />

Angeklagte ein Schuldanerkenntnis („guilty plea“) abgeben<br />

kann, wie es im anglo-amerikanischen Recht der Fall ist. 25<br />

Obwohl das in Japan umstritten ist, stehe ich dem positiv<br />

gegenüber. Aber ich vertrete leider noch die Meinung der<br />

Minderheit. 26 Natürlich halte ich auch das amerikanische<br />

Schuldantwortsystem („arraignment“) infolge der Verhandlung<br />

nur unter den Parteien („plea bargaining“) nicht für gut.<br />

Ein mit einer Art von Wahrheitsprinzip übereinstimmendes<br />

Schuldantwortsystem, also ein etwa nach dem kontinentaleuropäischen<br />

Recht verbessertes System, ist meiner Meinung<br />

nach wünschenswert.<br />

In dieser Hinsicht ist die Absprache-Praxis in Deutschland<br />

sehr interessant. Ob das Wesen der Absprache eine Verständigung<br />

zwischen den Parteien oder eine Anerkennung des<br />

Geständnisses des Angeklagten durch das Gericht ist, ist<br />

besonders interessant. 27 Ich möchte meine Aufmerksamkeit<br />

aus rechtsvergleichender Sicht auch darauf richten, ob der<br />

deutsche Gesetzgeber in Zukunft jedenfalls die Absprache<br />

gesetzlich regeln wird, wozu der Große Senat des Bundesgerichtshofes<br />

„appelliert“ hat. 28<br />

Allerdings ist die rechtliche Situation in Japan sehr flexibel.<br />

Es gibt viele Elemente, die in Bewegung geraten sind,<br />

z.B. das neue Laienrichtersystem 29 , das neue Vorbereitungs-<br />

25<br />

Das ist natürlich eine Diskussion für die Gesetzgebung,<br />

weil § 319 Abs. 2 StPO bestimmt, dass der Angeklagte in<br />

keinem Fall allein aufgrund seines Geständnisses verurteilt<br />

werden darf.<br />

26<br />

Vgl. Taguchi, Keijisoshoho [Strafprozessrecht], 4. Aufl.<br />

2006, S. 32 (auf Japanisch); ders., Keijisosho no mokuteki<br />

[Der Zweck des Strafprozesses], 2007, S. 1 ff., 21 ff. (auf<br />

Japanisch). Positiv auch Tamiya (Fn. 10), S. 409. Die traditionelle<br />

Lehre (z.B. Dando, Jurist 930 [1989], 5 [auf Japanisch])<br />

verneint dies hingegen ausdrücklich. Der Standpunkt<br />

der h.M. ist nicht eindeutig.<br />

27<br />

Vgl. z.B. Meyer-Goßner, NStZ 2007, 425.<br />

28<br />

Vgl. BGHSt 50, 40 (64).<br />

29<br />

Z.B. ist nach einer Meinungsumfrage vom Amt des Kabinetts<br />

im Dezember 2006 die Antwort des Volkes: ich möchte<br />

am Strafgericht teilnehmen (20,8%); wenn es möglich ist,<br />

möchte ich nicht teilnehmen, aber wenn dies meine Pflicht


Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

system und das neue Verteidigungssystem usw. Am Anfang<br />

meines Beitrags habe ich gesagt, das Strafprozessrecht sei<br />

immer ein politisches Produkt. Ob sich die Prozessgegenstandslehre<br />

in Japan in Zukunft wandeln wird, wie ich hier<br />

geschrieben habe, hängt letztendlich davon ab, ob das japanische<br />

Volk sich von seiner traditionell starken Abhängigkeit<br />

vom Staat befreien kann. 30 Japan befindet sich heute in einer<br />

Zeit der Prüfung seit der großen Reform nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg. Ich hoffe, es wird nicht mein Traum bleiben, dass<br />

Japan diese Prüfung bestehen kann, auch wenn dafür sicherlich<br />

mehr Zeit erforderlich sein wird.<br />

VI. Anhang<br />

Japanische Strafprozessordnung (Auszug)<br />

§ 256 StPO (Anklageschrift)<br />

(1) Die Erhebung der öffentlichen Anklage erfolgt durch<br />

Einreichen der Anklageschrift.<br />

(2) Die Anklageschrift muss folgende Einzelheiten enthalten:<br />

(a) den Namen des Angeklagten und hinreichende Merkmale,<br />

um den Angeklagten zu identifizieren,<br />

(b) die Tatsache der öffentlichen Anklage,<br />

(c) die gesetzliche Bezeichnung der Straftat.<br />

(3) Bei der Darstellung der Tatsache der öffentlichen Anklage<br />

muss der Klagegrund deutlich werden. Zur Klarstellung<br />

des Klagegrundes ist der Straftatbestand nach Zeit, Ort und<br />

Tathergang soweit wie möglich zu bestimmen.<br />

(4) Die strafbare Handlung muss durch Angabe der anzuwendenden<br />

Gesetzesvorschriften erfolgen. Ein Irrtum in<br />

der Angabe der anzuwendenden Gesetzesvorschriften berührt<br />

die Wirksamkeit der Anklage nicht, es sei denn, dass daraus<br />

ein erheblicher Nachteil für die Verteidigung des Angeklagten<br />

entstehen könnte.<br />

(5) Mehrere Klagegründe und mehrere Strafvorschriften<br />

können eventualiter oder kumulativ dargestellt werden.<br />

(6) Der Anklageschrift dürfen weder Schriftstücke noch<br />

andere Gegenstände beigefügt werden; ebenfalls darf der<br />

<strong>Inhalt</strong> von Schriftstücken nicht zitiert werden, wenn zu befürchten<br />

ist, dass das Gericht dadurch im Voraus in Bezug<br />

auf den Fall beeinflusst wird.<br />

§ 312 StPO (Änderungen der Anklageschrift)<br />

(1) Das Gericht muss, wenn die Staatsanwaltschaft dies<br />

beantragt und soweit die Identität der Tatsache nicht berührt<br />

wird, Nachträge, Rücknahmen, Änderungen des Klagegrundes<br />

oder der Strafvorschriften, die in der Anklageschrift genannt<br />

werden, zulassen.<br />

(2) Das Gericht kann Nachträge oder Änderungen des<br />

Klagegrundes oder der Strafvorschriften anordnen, wenn es<br />

ist, muss ich teilnehmen (44,5%); auch wenn es meine Pflicht<br />

ist, möchte ich nicht teilnehmen (33,6%). Nach dieser Untersuchung<br />

ist die Haltung des Volkes zur Teilnahme an der<br />

Strafjustiz noch nicht positiv.<br />

30<br />

Hirano (Fn. 3), S. 394, hat geschrieben: „Die Japaner bringen<br />

der staatlichen Autorität mehr Vertrauen entgegen als<br />

andere Völker.“<br />

dies im Hinblick auf den Verlauf der Verhandlung für angemessen<br />

hält.<br />

(3) Das Gericht muss die Angeklagten unverzüglich über<br />

die nachgetragenen, zurückgenommenen oder abgeänderten<br />

Teile in Kenntnis setzen, wenn Nachträge, Rücknahme oder<br />

Änderungen des Klagegrundes oder von Strafvorschriften<br />

erfolgen.<br />

(4) Glaubt das Gericht, befürchten zu müssen, dass Nachträge<br />

oder Änderungen des Klagegrundes oder Strafvorschriften<br />

einen wesentlichen Nachteil für die Verteidigung des<br />

Angeklagten darstellen könnten, so muss es auf Antrag des<br />

Angeklagten oder seines Verteidigers durch Beschluss die<br />

Hauptverhandlung für die Dauer aussetzen, die der Angeklagte<br />

für die Vorbereitung seiner ausreichenden Verteidigung<br />

benötigt.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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75


Strafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante EU-Rahmenbeschluss zur transnationalen<br />

Vollstreckung von Freiheitsstrafen<br />

Von Wiss. Assistentin Dr. Christine Morgenstern, Greifswald<br />

I. Einleitung: Das Problem der ausländischen Inhaftierten<br />

in europäischen Gefängnissen<br />

In europäischen Gefängnissen sitzen viele Ausländer ein, in<br />

der Regel sind sie, gemessen an der Bevölkerung, insgesamt<br />

überrepräsentiert. 1 Viele von ihnen stammen aus anderen EU-<br />

Staaten, wobei die Situation in den Mitgliedstaaten ganz<br />

unterschiedlich ist. Genaue Angaben lassen sich nicht machen,<br />

weil viele Staaten EU-Bürger nicht gesondert in Statistiken<br />

ausweisen. In England und Wales 2 sind z.B. gut die<br />

Hälfte aller inhaftierten Ausländer Europäer. In Schweden 3<br />

kommt knapp die Hälfte der ausländischen Gefangenen aus<br />

anderen nordischen Staaten, wohingegen etwa in Spanien die<br />

Mehrzahl der ausländischen Gefangenen keine Europäer<br />

sind. 4 Ausländer, die ihren Lebensmittelpunkt nicht in dem<br />

Staat haben, in dem sie verurteilt wurden und nun inhaftiert<br />

sind, sind im Gefängnis oft isoliert. Besonders problematisch<br />

ist, dass sie nach ihrer Entlassung zumeist abgeschoben werden<br />

– geeignete Resozialisierungsbemühungen, ebenso wie<br />

angemessene Entlassungsvorbereitungen sind kaum möglich.<br />

Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, Ausländer ihre<br />

Strafe in ihrer Heimat verbüßen zu lassen. Während dies<br />

international schwierig sein mag, sollte innerhalb der Europäischen<br />

Union eine solche transnationale Vollstreckung leichter<br />

zu realisieren sein.<br />

So einigte sich der Rat der Justiz- und Innenminister 5 am<br />

15.2.2007 weitgehend auf die Formulierung eines Rahmenbeschlusses<br />

zur Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen<br />

Anerkennung von Urteilen in Strafsachen. Dabei soll die EUweite<br />

Vollstreckung derjenigen Urteile, durch die eine freiheitsentziehende<br />

Strafe oder Maßnahme verhängt wird, ermöglicht<br />

bzw. erleichtert werden, wenn bestimmte Voraussetzungen<br />

erfüllt sind. Bislang basierte die Überstellung ausländischer<br />

Gefangener in ihre Heimat innerhalb Europas im<br />

Wesentlichen auf bilateralen Abkommen oder auf dem Übereinkommen<br />

des Europarates über die Überstellung verurteilter<br />

Personen vom 21.3.1983. 6 Das Verfahren wird im Allgemeinen<br />

als kompliziert und langwierig empfunden. Als<br />

1 Van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, in: dies.<br />

(Hrsg.), Foreigners in European Prisons, 2007, S. 7.<br />

2 Hammond, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/<br />

Dünkel (Fn. 1), S. 823.<br />

3 Johnson, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dün-<br />

kel (Fn. 1), S. 787.<br />

4 De la Cuesta, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/<br />

Dünkel (Fn. 1), S. 758.<br />

5 Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums vom<br />

15. Februar 2007, abrufbar unter http://www.bmj.de.<br />

6 Convention on the Transfer of Sentenced Persons, CETS<br />

No. 112. Alle Konventionen des Europarates sind (mit Ratifizierungsstand<br />

und weiteren Erläuterungen) abrufbar unter<br />

http://www.conventions.coe.int.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

76<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

Haupthindernis gilt 7 zum einen das Zustimmungsbedürfnis<br />

des Betroffenen und zum anderen, dass der Heimatstaat zur<br />

Übernahme in der Regel nicht verpflichtet ist. Ein Zusatzprotokoll<br />

zum Übereinkommen von 1997, 8 das die Zustimmung<br />

der inhaftierten Person nicht mehr in allen Fällen für erforderlich<br />

hält, wurde nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert.<br />

Derzeit gilt also für den Regelfall, dass der ausländische<br />

Straftäter, unabhängig ob Bürger der Europäischen Union<br />

oder nicht, die Freiheitsstrafe in dem Staat verbüßt, in dem er<br />

auch verurteilt wurde. 9 Erst danach wird er im Rahmen eines<br />

ausländerrechtlichen Verfahrens in seine Heimat abgeschoben,<br />

wo dies möglich ist. Allerdings ist die tatsächliche Verbüßungszeit<br />

z.B. in Deutschland wegen der folgenden ausländerrechtlichen<br />

Maßnahmen gem. § 456a StPO regelmäßig<br />

kürzer, eine Abschiebung erfolgt teilweise (je nach Verwaltungsvorschriften<br />

der Bundesländer) schon nach Verbüßung<br />

von einem Drittel der Strafe. 10<br />

II. Rechtlicher Hintergrund: Das Prinzip der gegenseitigen<br />

Anerkennung<br />

Alleinige rechtliche Grundlage für die Überstellung ausländischer<br />

Strafgefangener innerhalb der europäischen Union soll<br />

nach dem Willen des Rates der Europäischen Union zukünftig<br />

also der „Rahmenbeschluss betreffend die Anwendung<br />

des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen<br />

in Strafsachen, durch die Haftstrafen oder freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen verhängt werden, zum Zweck der Vollstreckung<br />

in der Europäischen Union“ (bzw. dessen nationale<br />

Umsetzungsgesetze) sein. Dieses Titelungetüm ersetzt den<br />

griffigeren, aber umstrittenen ursprünglichen Titel „Europäische<br />

Vollstreckungsanordnung“. 11<br />

Auch obwohl die Europäische Union im Strafrecht grundsätzlich<br />

nicht Recht setzend tätig werden kann, gibt es bekanntlich<br />

in beständig zunehmendem Maße Aktivitäten, die<br />

Auswirkungen auf die Entstehung nationaler strafrechtlich<br />

7<br />

Rat der Europäischen Union, Addendum zur Initiative zum<br />

Rahmenbeschluss vom 22.4.2005, 5597/05 Add. 1; vgl. auch<br />

Lemke, ZRP 2000, 173, und Mix, Die Vollstreckungsübernahme<br />

im Internationalen Strafrecht, 2003, S. 110 f., mit Hinweisen<br />

auf die tatsächlichen Schwierigkeiten, die sich aus<br />

bürokratischen Hindernissen, eklatanten Unterschieden bei<br />

der Strafzumessung und der Strafrestaussetzung ergeben.<br />

8<br />

Additional Protocol to the Convention on the Transfer of<br />

Sentenced Persons, CETS No. 167.<br />

9<br />

Der o.g. Studie zufolge werden Staatsbürger, die in der<br />

Fremde inhaftiert sind, von ihren Heimatstaaten insgesamt<br />

wenig unterstützt; das gilt auch innerhalb der Europäischen<br />

Union, vgl. van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel<br />

(Fn. 1), S. 77.<br />

10<br />

Übersicht bei Schmidt, Verteidigung von Ausländern,<br />

2. Aufl. 2005, S. 199 ff.<br />

11<br />

Vgl. European Parliament, 2006, Position, 1st reading,<br />

14.6.2006, Doc. T6-0256/2006.


Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

relevanter Normen haben. 12 Es wird sogar davon gesprochen,<br />

dass sich solche Zentralisierungstendenzen in „atemberaubender<br />

Weise durchgesetzt“ hätten. 13 Dabei ist traditionell<br />

allerdings nur von einer Annäherung der nationalen Strafgesetze<br />

die Rede. Fraglich ist aber, ob das politische Programm<br />

der EU zunehmend durch eigene Rechtsetzungsinitiativen auf<br />

die – nach Brüsseler Auffassung – schleppenden Vereinheitlichungsbemühungen<br />

reagieren will. Aus verschiedenen Dokumenten<br />

der jüngeren Zeit geht hervor, dass man hier mit<br />

den Mitgliedstaaten unzufrieden ist, sei es, dass formuliert<br />

wird: „Es müssen entschiedene Anstrengungen unternommen<br />

werden, um das gegenseitige Verständnis zwischen den Justizbehörden<br />

und den verschiedenen Rechtsordnungen zu<br />

verbessern.“; dass festgestellt wird: „Die justizielle Zusammenarbeit<br />

in Straf- und Zivilsachen könnte durch die Festigung<br />

des gegenseitigen Vertrauens […] noch weiter gestärkt<br />

werden“ 14 oder dass Umsetzungsmängel beim Europäischen<br />

Haftbefehl moniert werden.<br />

Nach dem Vertrag von Maastricht will die Europäische<br />

Union langfristig auf eine Rechtsvereinheitlichung im Strafrecht<br />

zusteuern, um in bestimmten Bereichen (zunächst Organisierte<br />

Kriminalität, Terrorismus, illegalem Drogenhandel,<br />

vgl. Art. 29 Abs. 2 dritter Spiegelstrich EUV und Art. 31e<br />

EUV) wirksame gemeinsame Maßnahmen ergreifen zu können.<br />

Unabhängig also von der Frage, ob Kriminalstrafrecht<br />

durch das Völkerrechtssubjekt EG originär geschaffen werden<br />

kann, wird im Rahmen der sog. Dritten Säule der EU, der<br />

intergouvernementalen „Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen (PJZS)“ eine Harmonisierung<br />

(oder auch „Europäisierung“) der Strafvorschriften vorangetrieben.<br />

Das Mittel der Wahl ist dabei der Rahmenbeschluss<br />

nach Art. 34 Abs. 2 S. 2b EUV, der parallel zur Richtlinie der<br />

EG konstruiert ist und bestimmte Mindeststandards zur Verringerung<br />

von Unterschieden zwischen den nationalen Strafrechtsordnungen<br />

setzen soll. Diese Rahmenbeschlüsse sind<br />

für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels<br />

verbindlich, überlassen ihnen aber die Wahl und Form der<br />

Mittel. Rechtsangleichung und Rechtsetzung sind allerdings<br />

nicht mehr immer zu trennen.<br />

Die Minimalfassung der reformierten vertraglichen<br />

Grundlage für die Europäische Union, der sog. Reformvertrag<br />

15 berücksichtigt ein Prinzip bei der Verwirklichung des<br />

Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts besonders:<br />

das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung 16 von gerichtli-<br />

12<br />

Lorenzmeier, <strong>ZIS</strong> 2006, 576.<br />

13<br />

Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (282).<br />

14<br />

Beide Zitate aus dem Haager Programm zur Stärkung von<br />

Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union<br />

(2005/C 53/01, 53/11 f.).<br />

15<br />

Nachdem ein Verfassungsvertrag für Europa gescheitert<br />

ist, wird der auf dem EU-Gipfel vom 18./19.10.2007 in Lissabon<br />

beschlossene Reform- (zuvor: Grundlagen-)vertrag<br />

große Teile des Verfassungsentwurfes übernehmen; vgl. zu<br />

den neuen Entwicklungen Rabe, NJW 2007, 3153.<br />

16<br />

Hierzu Gleß, ZStW 116 (2004), 353; Böse, in: Mommsen/<br />

Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2004,<br />

S. 233 ff.; sehr kritisch Schünemann, ZRP 2003, 185.<br />

chen und außergerichtlichen Entscheidungen (Art. I-42 und<br />

Art. III-257 des Verfassungsvertrages vom 29.10.2004 über<br />

die Verfassung der Europäischen Union). Schon jetzt wird<br />

die gegenseitige Anerkennung in Strafsachen (auch wenn das<br />

sprachliche Bild eher verwirrend ist) als „Eckstein“ der dritten<br />

Säule, also der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen, bezeichnet. 17 Dieses Prinzip soll die<br />

politische Erklärung von gegenseitigem Vertrauen in das<br />

rechtsstaatliche Zustandekommen von justiziellen Entscheidungen<br />

in allen Mitgliedstaaten der EU konkretisieren. Danach<br />

sollen Entscheidungen der Strafjustiz eines Mitgliedstaats<br />

in allen anderen Mitgliedstaaten der EU gleichermaßen<br />

anerkannt werden. Die Überlegung ist – schlicht formuliert –,<br />

dass das mit dem Beitritt zur EU von den Mitgliedstaaten<br />

untereinander gezeigte Vertrauen eine ausreichende Grundlage<br />

für eine solche gegenseitige Anerkennung, also der Verkehrsfähigkeit<br />

auch strafrechtlicher Entscheidungen, ist.<br />

Warum sollte man sich auf eine Entscheidung eines französischen<br />

Richters oder eines litauischen Staatsanwaltes nicht<br />

ebenso verlassen können wie auf die eines deutschen? Die<br />

politische Etablierung dieses Prinzips folgt der Einsicht, dass<br />

eine umfassende Angleichung der Strafrechtsordnungen<br />

unrealistisch ist, sie trägt überdies auch grundsätzlich dem<br />

Gesichtspunkt der Subsidiarität (Art. 2 EUV; Art. 5 EGV;<br />

Art. 23 Abs. 1 GG) Rechnung. 18<br />

Auf diese Weise soll über eine komplizierte bilateral oder<br />

multilateral angelegte Rechtshilfe hinausgegangen werden.<br />

Erklärtes Ziel ist eine gesteigerte Effizienz und ein gewisser<br />

Ausgleich für die durch den Wegfall der Grenzkontrollen<br />

erschwerte Arbeit der Strafverfolgungsbehörden, die eben<br />

auch mehr grenzüberschreitendes Verbrechen mit sich gebracht<br />

haben dürfte. In den Schlussfolgerungen von Tampere<br />

heißt es ausdrücklich: „Straftäter dürfen keine Möglichkeiten<br />

finden, die Unterschiede in den Justizsystemen der Mitgliedstaaten<br />

auszunutzen.“ Dass die Sicherheit der Unionsbürger<br />

stets so betont wird (so heißt es z.B. im Entwurf des Verfassungsvertrags<br />

in Art. III-257 Abs. 3: „Die Union wirkt darauf<br />

hin, […] ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“;<br />

ähnlich formuliert Art. 29 EUV) und die Bürgerfreiheiten<br />

hintan stehen müssen, wird immer wieder kritisiert. 19 Der<br />

Eindruck, man könne sich insbesondere auf transnationaler<br />

Ebene freiheitsschützende Schranken für strafverfolgungsrechtliche<br />

Eingriffe angesichts der Bedrohungen durch Terrorismus<br />

und massive grenzüberschreitende Kriminalität immer<br />

weniger leisten, spiegelt dabei ein sich in der Kriminalpolitik<br />

national wie „global verbreitendes Bedürfnis an Sicherheit,<br />

17 Nr. 33 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen<br />

Rates in Tampere (15./16.10.1999), http://www.<br />

europa.eu.int/council/off/conclu/oct99/oct99_de.htm; bestätigt<br />

z.B. durch das Haager Programm zur Stärkung von Freiheit,<br />

Sicherheit und Recht in der Europäischen Union (2005/<br />

C 53/01).<br />

18 Wasmeier, ZEuS 2006, 23 (31 f.).<br />

19 Z.B. Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (276); Hassemer,<br />

ZStW 116 (2004), 307.<br />

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77


Christine Morgenstern<br />

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Kontrolle und Bestrafung“ 20 wider. Zumeist entzündet sich<br />

die teils heftige Kritik am ersten konkreten Rahmenbeschluss<br />

des Rates oder auch dessen nationalen Umsetzungen, dem<br />

Europäischen Haftbefehl von 2002. 21<br />

III. Der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsübernahme<br />

Vor dem geschilderten Hintergrund ist es auf europäischer<br />

Ebene folgerichtig, nicht nur bei der Strafverfolgung, sondern<br />

auch bei der Strafvollstreckung praktikable Instrumente zur<br />

grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung zu schaffen. Vor-<br />

weg ist zuzugeben, dass es sich bei dem Versuch, ein einheitliches,<br />

effizientes und dabei gerechtes Instrument für die<br />

transnationale Vollstreckung zu entwerfen, um ein schwieriges<br />

Unterfangen handelt. Das wird dann klar, wenn man die<br />

widerstreitenden Interessen der Akteure, d.h. des betroffenen<br />

Verurteilten, des Urteilsstaates und des Heimat- (später also<br />

des Vollstreckungs-)staates, bedenkt: 22<br />

1. Die Interessen der Beteiligten<br />

Im Interesse des Verurteilten liegt es zumeist, die Strafe zu<br />

Hause abzubüßen, wo er sein gewohntes und seiner Resozialisierung<br />

eher förderliches Umfeld vorfindet bzw. während<br />

der Haft zu ihm leichter Kontakt aufrecht erhalten kann.<br />

Selbst wenn dies nicht so ist, kann für ihn die Haft im Ausland<br />

eine besondere zusätzliche Härte bedeuten, die er vermeiden<br />

will. Manchmal wird ein Rückkehrwille nicht vorhanden<br />

sein, etwa, wenn die Haftbedingungen im Urteilsstaat<br />

als angenehmer empfunden werden, die Aussetzungsregeln<br />

günstiger sind oder das langwierige und im Ausgang unsichere<br />

Verfahren gescheut wird. 23 Der Urteilsstaat hingegen wird<br />

in der Regel die Haft an einem Ausländer nicht selbst vollstrecken<br />

wollen, es sei denn, er befürchtet eine nationalen<br />

Interessen (bzw. Strafzwecken) zuwiderlaufende Strafvollstreckung<br />

im Ausland, etwa durch eine aus seiner Sicht zu<br />

frühe Strafrestaussetzung. Ansonsten ist der Strafvollzug an<br />

Ausländern besonders schwierig, belastet die Kapazitäten der<br />

Haftanstalten und die Haushalte. Die Motivation, sich aus-<br />

20<br />

Hassemer, ZStW 116 (2004), 307 (308); Sieber, ZStW 103<br />

(1991), 957 (963), spricht im grundlegenden Beitrag zum<br />

Europäischen Strafrecht bereits von einem „auf Sicherheit<br />

und damit Einheit zielenden Zeitgeist“.<br />

21<br />

Rahmenbeschluss des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen<br />

Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen<br />

den Mitgliedstaaten (2002/584/JI, Amtsblatt der Europäischen<br />

Gemeinschaften vom 18.7.2002, L 190/1 bis L 190/18); zur<br />

schwierigen Umsetzung in Deutschland jüngst Sinn/Wörner,<br />

<strong>ZIS</strong> 2007, 204 und Heger, <strong>ZIS</strong> 2007, 221.<br />

22<br />

Vgl. Satzger, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept<br />

für die Europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 147 ff. (148),<br />

der allerdings die Interessen teilweise etwas anders akzentuiert.<br />

23<br />

Diese Gründe gaben inhaftierte Briten im Rahmen einer<br />

Studie an, vgl. Greenlaw/Parkinson (Hrsg.), Bringing Prisoners<br />

Home. International Prisoner Transfer in the 21 st Century,<br />

2002, S. 34 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

78<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

ländischer Straftäter möglichst umfassend zu entledigen, lässt<br />

sich aus dem Entwurf des Rahmenbeschlusses gut ablesen. In<br />

den letzten Jahren suchten insbesondere Staaten mit einem<br />

besonders hohen Anstieg des Ausländeranteils an der Gefangenenpopulation<br />

wie Großbritannien und Österreich mitunter<br />

verzweifelt anmutend nach Lösungen. 24 Eine entsprechende<br />

Motivation trat auch deutlich zutage, als es in Deutschland<br />

um die Umsetzung des o.g. Zusatzprotokolls zum Europaratsübereinkommen<br />

ging. 25 So hatte im Vorfeld die bayerische<br />

Staatskanzlei 26 formuliert: „Rund 30% der etwa 80.000<br />

Gefangenen in den deutschen Justizvollzugsanstalten sind<br />

ausländische Staatsangehörige, die den deutschen Steuerzahler<br />

mehr als 600 Mio. Euro im Jahr kosten […]“.<br />

Der Vollstreckungsstaat wird hingegen die schwächste<br />

Motivation haben, seine Staatsbürger oder gar diejenigen, die<br />

dort nur ihren Wohnsitz haben, zur Vollstreckung einer Strafe<br />

bei sich aufzunehmen. Dafür sprechen aus seiner Sicht lediglich<br />

die Fürsorgepflicht gegenüber den Landsleuten und ihre<br />

besseren Resozialisierungschancen, wenn sie wegen Ausweisung<br />

aus dem Urteilsstaat ohnehin irgendwann in die Heimat<br />

zurückkehren. Dass solche Erwägungen angesichts der Überbelegung<br />

in den meisten europäischen Gefängnissen bzw. der<br />

überall angespannten Lage öffentlicher Haushalte eher theoretischer<br />

Natur sind, zeigt am besten das Beispiel Polens:<br />

Ende 2004 verbüßten gut 1.700 Polen Freiheitsstrafen in<br />

anderen EU-Staaten, bei gleichzeitig ca. 80.000 Insassen in –<br />

häufig überbelegten – polnischen Gefängnissen. 27 Obwohl<br />

damit keineswegs das Land mit den meisten potenziell Heimatüberstellten,<br />

hat Polen als einziger Mitgliedstaat einen<br />

fünfjährigen Aufschub zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />

erreicht. 28<br />

2. Die transnationale Vollstreckung als Konsequenz des Prinzips<br />

der gegenseitigen Anerkennung<br />

Im Kern soll die Vollstreckungsübernahme so ablaufen, dass<br />

der Urteils- bzw. Ausstellungsstaat ein Strafurteil, das eine<br />

freiheitsentziehende Sanktion beinhaltet, zusammen mit einem<br />

Formblatt an den späteren Vollstreckungsstaat übermit-<br />

24 In Österreich wurde ernsthaft die Möglichkeit diskutiert, in<br />

Rumänien eine Haftanstalt für in Österreich inhaftierte Rumänen<br />

zu bauen und zu betreiben (Presseaussendung des<br />

Österreichischen Bundespräsidenten vom 2.5.2006, www.<br />

hofburg.at). In Großbritannien geriet der Innenminister unter<br />

Druck als bekannt wurde, dass Abschiebemöglichkeiten für<br />

ausländische Inhaftierte nicht konsequent genutzt wurden, die<br />

Regierung reagierte darauf u.a. mit Überlegungen für eine<br />

Geldprämie für rückkehrwillige ausländische Häftlinge, vgl.<br />

Press Release vom 10.10.2006, www.homeoffice.gov.uk und<br />

Bericht der Frankfurter Rundschau online vom 11.10.2006.<br />

25 Gesetz zur Änderung des Überstellungsausführungsgesetzes<br />

und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in<br />

Strafsachen vom 17.12.2006, BGBl. I 2006 Nr. 62 vom<br />

21.12.2006.<br />

26 Pressemitteilung vom 26.5.2996, www.bayern.de.<br />

27 Stando-Kawecka, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel<br />

(Fn. 1), S. 666 und 685.<br />

28 Erwägungsgrund 6c cis.


Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

telt, um dort die Vollstreckung der Strafe zu bewirken. Dabei<br />

sollen sich im Grundsatz weder die verurteilte Person noch<br />

der Vollstreckungsstaat gegen dieses Begehren wehren können<br />

(bzw. nur in eng umrissenen Grenzen). In konsequenter<br />

Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ist<br />

– wiederum im Grundsatz – eine Anpassung der zu vollstreckenden<br />

Strafe an die Gegebenheiten im Vollstreckungsstaat<br />

nicht vorgesehen. Parallel zu den Vorgaben beim Europäischen<br />

Haftbefehl gilt auch hier der Katalog von 32 Delikten<br />

bzw. Deliktsgruppen, bei denen auf eine Prüfung der beiderseitigen<br />

Strafbarkeit verzichtet wird.<br />

3. Die Entwicklung des Rahmenbeschlussentwurfes<br />

Derzeit liegt ein noch nicht in allen Details fertig gestellter<br />

Text des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsübernahme<br />

vor, 29 über den jedoch eine politische<br />

Einigung erzielt ist und den auch das Europäische Parlament<br />

in einer zweiten Runde abgesegnet hat. 30 Das Generalsekretariat<br />

des Rates hat den Text bereits freigegeben, obwohl er<br />

noch nicht offiziell verabschiedet worden ist. Am ersten Text,<br />

der auf Initiative von Finnland, Österreich und Schweden im<br />

Januar 2005 vorgelegt wurde, sind im Verlauf der Beratungen<br />

teilweise erhebliche Änderungen vorgenommen worden; von<br />

Interessengruppen vor allem mit Blick auf die Befassung des<br />

Europäischen Parlaments geltend gemachte Bedenken wurden<br />

dort im zuständigen Ausschuss aufgegriffen und teilweise<br />

eingearbeitet, aber auch auf Bedenken anderer Mitgliedstaaten<br />

ist eingegangen worden.<br />

4. Struktur<br />

Der Rahmenbeschluss enthält zunächst 25 Erwägungsgründe.<br />

Im ursprünglichen Entwurf waren es acht, in diesem politisch<br />

wichtigen, aber rechtlich nicht entscheidenden Teil wurde im<br />

Verlauf der politischen Beratungen demnach am meisten<br />

ergänzt. Darauf folgt der eigentliche Text, der ein erstes Kapitel<br />

mit Allgemeinen Bestimmungen, ein zweites Kapitel<br />

unter dem Titel „Anerkennung von Urteilen und Vollstreckung<br />

der Sanktionen“ und ein Schlusskapitel mit Übergangsbestimmungen<br />

etc. enthält. Gefolgt wird der Text von<br />

zwei Anhängen. Der erste beinhaltet ein elf Din-A4-Seiten<br />

29<br />

Council of the European Union, Council Framework Decision<br />

2005/JHA on the application of the principle of mutual<br />

recognition to judgements in criminal matters imposing custodial<br />

sentences or measures involving deprivation of liberty<br />

for the purpose of their enforcement in the European Union.<br />

Die letzte Textfassung liegt bislang nur auf Englisch vor,<br />

Document 9688/07 (limite) vom 22.5.2007.<br />

30<br />

Allerdings hat das Europäische Parlament nun nochmals<br />

eine Ergänzung der Erwägungsgründe angeregt. Sollte diese<br />

nicht aufgenommen oder geändert werden, müsste der Text<br />

nochmals dort vorgelegt werden, sodass sich das Verfahren<br />

noch weiter in die Länge ziehen könnte. Die gesamte Verfahrensgeschichte<br />

ist als „procedure file“ abrufbar auf der Internetseite<br />

des Europäischen Parlaments unter der Referenznummer<br />

CNS/2005/0805, www.europarl.europa.eu/oeil (engl.<br />

Fassung, Stand: 18.2.2008).<br />

langes Formblatt für die einheitliche Abwicklung des transnationalen<br />

Vollstreckungsverfahrens sowie ein Formblatt für<br />

die Kenntnisnahme der verurteilten Person. Der zweite Anhang<br />

berücksichtigt offenbar ebenfalls Kritik, indem er erläutert,<br />

wie die Auswahl der Ablehnungsgründe für den Vollstreckungsstaat<br />

getroffen wurde (Art. 9, siehe sogleich unten).<br />

5. Die allgemeinen Bestimmungen<br />

Im ersten Kapitel sind zunächst Legaldefinitionen enthalten.<br />

Hier ist hervorzuheben, dass der Begriff „sentence“ (in der<br />

deutschen Fassung: „Sanktion“), auch alle anderen freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen im Gefolge eines Urteils in einem<br />

Strafverfahren umfasst, damit auch Maßregeln nach deutschem<br />

Recht. Eine weitere Legaldefinition findet sich noch in<br />

den Erwägungsgründen – hier wird erklärt, was der Rahmenbeschluss<br />

darunter versteht, wenn er davon spricht, dass eine<br />

Person in einem Staat „lebt“. Danach ist das der Ort, an dem<br />

sie für gewöhnlich wohnt und zu dem sie besondere familiäre,<br />

soziale oder berufliche Bindungen aufweist. In Art. 3<br />

findet sich die Zweckbestimmung des Rahmenbeschlusses:<br />

Er soll das Verfahren bestimmen, nach dem ein Mitgliedstaat<br />

– unter Berücksichtigung der erleichterten Resozialisierung<br />

der verurteilten Person – ein Strafurteil anerkennt und vollstreckt.<br />

Die erleichterte Resozialisierung wird also nicht<br />

primär als Zweck des Instrumentes angesehen. Der Artikel<br />

enthält daneben u.a. noch einen allgemeinen Verweis auf die<br />

Achtung der EMRK bzw. die nationale Identität der Mitgliedstaaten<br />

der EU (via Art. 6 EUV).<br />

6. Voraussetzungen und Verweigerung der Vollstreckungsübernahme,<br />

Stellungnahme der betroffenen Person<br />

Von den 23 Artikeln des Hauptkapitels sollen hier nur die<br />

wichtigsten vorgestellt werden. Zunächst werden in Art. 3a<br />

die Kriterien für die Weiterleitung des Urteils und des Formblatts<br />

zur Vollstreckung aufgelistet: Grundsätzlich muss die<br />

verurteilte Person die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsstaates<br />

und den Lebensmittelpunkt dort haben; wenn<br />

sie nicht dort lebt, muss es zumindest der Staat sein, in den<br />

sie ausgewiesen bzw. abgeschoben würde. Möglich ist eine<br />

Vollstreckung schließlich grundsätzlich auch in einem anderen<br />

Mitgliedsstaat, der sich hierzu bereit erklärt. Grundsätzlich<br />

zielt der Rahmenbeschluss auf Bürger von EU-Staaten,<br />

der Vollstreckungsstaat kann sich aber auch bereit erklären,<br />

Drittstaatler zur Vollstreckung aufzunehmen, wenn sie ein<br />

dauerhaftes Bleiberecht haben. Anträge zur Überstellung<br />

dürfen auch vom Verurteilten und vom Vollstreckungsstaat<br />

gestellt werden, aus ihnen erwächst dem Urteilsstaat aber<br />

keine Verpflichtung.<br />

Ein besonders umstrittener Punkt war im Laufe der Verhandlungen<br />

das Zustimmungserfordernis der verurteilten<br />

Person (Art. 5). Weil dieses Erfordernis beim Europäischen<br />

Überstellungsübereinkommen von 1983 als Haupthemmnis<br />

für eine erfolgreiche Anwendung eingeschätzt wurde, sah es<br />

die ursprüngliche Beschlussinitiative für den Regelfall nicht<br />

mehr vor. In der aktuellen Fassung wird nun in Art. 5 zunächst<br />

statuiert, dass die betroffene Person einer Vollstreckungsübernahme<br />

bzw. der Weiterleitung von Urteil und<br />

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79


Christine Morgenstern<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Formblatt bereits im Vorfeld zugestimmt haben muss. In<br />

Abs. 1a desselben Artikels werden jedoch Ausnahmen gemacht,<br />

die in der Praxis weit reichende Bedeutung haben:<br />

Wenn eine verurteilte Person die Staatsangehörigkeit des<br />

Vollstreckungsstaates hat und dort auch lebt, muss sie nicht<br />

zustimmen; das gleiche gilt, wenn sie in den Vollstreckungsstaat<br />

ausgewiesen oder abgeschoben wird; schließlich, wenn<br />

sie in den Vollstreckungsstaat geflohen ist. Angehört werden<br />

muss der Verurteilte immer, wenn er sich im Urteilsstaat<br />

befindet; sobald der Urteilsstaat dann eine Vollstreckungsübernahme<br />

angestrengt hat, muss der Betroffene – unter<br />

Verwendung eines dem Rahmenbeschluss ebenfalls als Anhang<br />

beigefügten Formblattes – darüber informiert werden.<br />

7. Anpassung der Sanktion und anwendbares Vollstreckungsrecht<br />

Wie in den anderen Instrumenten, die dem Prinzip der gegenseitigen<br />

Anerkennung folgen, ist auch hier ein Katalog von<br />

Straftaten enthalten, bei denen auf eine Prüfung der beiderseitigen<br />

Strafbarkeit zu verzichten ist. An diesem Punkt entzündet<br />

sich zumeist die Kritik am Prinzip der gegenseitigen<br />

Anerkennung. Neben grundsätzlichen Bedenken der Aufgabe<br />

dieses völkerrechtlichen Prinzips wird vor allem bemängelt,<br />

dass die Deliktsgruppen, die dort aufgeführt sind, dem Bestimmtheitsgrundsatz<br />

nicht Rechnung tragen, sondern teilweise<br />

eher eine vage Umschreibung oder grobe Typisierung<br />

darstellen (Bsp. „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“,<br />

„Cyberkriminalität“, „Sabotage“). Diese berechtigte Kritik 31<br />

am – jederzeit durch den Rat erweiterbaren – Katalog soll<br />

hier aus zwei Gründen nicht vertieft werden: Zum einen<br />

dürften in der Praxis zur Vollstreckungsübernahme nur Delikte<br />

aus dem durchaus gesicherten Grundbestand an übereinstimmenden<br />

strafrechtlichen Bewertungen in Europa in Frage<br />

kommen. Zum anderen gibt es gegenüber dem Rahmenbeschluss<br />

zum Europäischen Haftbefehl zwei Neuerungen:<br />

Echte Bagatelldelikte sind ausgeschlossen, weil die Mindesthöchststrafe<br />

immerhin drei Jahre betragen muss (nicht mehr<br />

12 Monate wie beim Europäischen Haftbefehl), außerdem<br />

sieht Art. 7 Abs. 4 nunmehr vor, dass sich die Mitgliedstaaten<br />

vorbehalten können („Declaration notified to the Secretary<br />

General of the Council“), die Positivliste nicht anzuwenden.<br />

Vermutlich stellt dies eine Reaktion auf die einschränkenden<br />

Vorgaben mancher nationalen Verfassungsgerichte zum<br />

Europäischen Haftbefehl dar. 32<br />

Erhält der Vollstreckungsstaat dann vom Urteilsstaat das<br />

Strafurteil und das Formblatt, mit dem er die Vollstreckungsübernahme<br />

begehrt, muss (Art. 8) er diesem Begehren nachkommen;<br />

es sei denn, die o.g. Voraussetzungen sind nicht<br />

erfüllt. In Art. 9 sind die Ablehnungsgründe zusammenge-<br />

31<br />

Vgl. z.B. v. Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl, 2005,<br />

S. 68 m.w.N.<br />

32<br />

Eine Erläuterung dieser Entscheidungen findet sich bei<br />

Deen-Racsmány, European Journal of Crime, Criminal Law<br />

and Criminal Justice, 2006, 271, und Nalewajko, <strong>ZIS</strong> 2007, 113.<br />

Hintergrundmaterial und den aktuellen Stand der Dinge gibt<br />

es außerdem bei einem EU/AGIS-geförderten Projekt unter<br />

www.eurowarrant.net.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

80<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

fasst: Neben formalen Gründen sind dies vor allem Verstöße<br />

gegen den ne-bis-in-idem-Grundsatz; eine abweichende Bewertung<br />

etwa der Staatsangehörigkeit des Verurteilten oder<br />

seines Lebensmittelpunktes; Immunität oder Verjährung nach<br />

dem Recht des Vollstreckungsstaates; ein Abwesenheitsurteil,<br />

wenn der Betreffende nicht ordnungsgemäß geladen war<br />

(Merke: Wenn dies der Fall war, muss etwa ein italienisches<br />

Abwesenheitsurteil in Deutschland vollstreckt werden! 33 );<br />

oder wenn der Strafrest weniger als sechs Monate beträgt.<br />

Das Argument, dass die Resozialisierungsvoraussetzungen<br />

im Vollstreckungsstaat im konkreten Fall nicht gegeben sind,<br />

wird hingegen als Zurückweisungsgrund nicht akzeptiert,<br />

darauf weist ausdrücklich nochmals Anhang II des Rahmenbeschlusses<br />

hin. Begründet wird dies damit, dass der Urteilsstaat<br />

in einem solchen Fall ohnehin keine Vollstreckungsübernahme<br />

begehren werde. Auch hier soll also wegen des<br />

postulierten gegenseitigen Vertrauens in die Rechtspflege der<br />

Vollstreckungsstaat an die Einschätzung des Urteilsstaates<br />

gebunden sein.<br />

Wenn der Vollstreckungsstaat die im Rahmenbeschluss<br />

niedergelegten Voraussetzungen für erfüllt hält, kann es<br />

gleichwohl sein, dass er sich außerstande sieht, die konkret<br />

verhängte Strafe zu vollstrecken. Auch dann hat er nur eingeschränkte<br />

Möglichkeiten, die Strafe den Gegebenheiten in<br />

seinem Land anzupassen: Art. 8 Abs. 2 sieht lediglich für den<br />

Fall, dass die Sanktion ihrer Dauer nach mit dem Recht des<br />

Vollstreckungsstaates nicht anwendbar ist, eine Anpassung<br />

vor, er darf dabei aber nicht unter die für das Delikt nach<br />

seinem Recht angedrohte Höchststrafe gehen.<br />

Neben den tatsächlichen Haftbedingungen ist für die Betroffenen<br />

natürlich am wichtigsten, wie lange der Freiheitsentzug<br />

tatsächlich noch dauern wird. Das gesamte Vollstreckungs-<br />

bzw. Vollzugsrecht soll sich nach einer Übernahme<br />

im Grundsatz nach dem Recht des Vollstreckungsstaates<br />

richten (Art. 13). Er muss lediglich die volle bereits verbüßte<br />

Haftzeit von der im Formblatt nach Tagen anzugebenden<br />

Gesamtsstrafe abziehen. Wenn der Urteilsstaat das wünscht,<br />

muss der Vollstreckungsstaat ihm mitteilen, wann er in der<br />

Regel eine bedingte Entlassung vorsieht, der Urteilsstaat<br />

kann dann ggf. das Begehren zurückziehen. Ebenso fakultativ<br />

kann der Urteilsstaat dem Vollstreckungsstaat mitteilen,<br />

wann er bedingt entlässt, auch das kann dann berücksichtigt<br />

werden. Schließlich ist bemerkenswert, dass Amnestien und<br />

Begnadigungen sowohl vom Urteils- wie von Vollstreckungsstaat<br />

ausgesprochen werden können (Art. 15), der<br />

Vollstreckungsstaat ist dann ggf. verpflichtet, die Vollstreckung<br />

sofort zu beenden.<br />

IV. Kritik am geplanten Rahmenbeschluss<br />

Wie erwähnt, ist es grundsätzlich sinnvoll und nötig, eine<br />

Verbesserung der Überstellungspraxis für ausländische Gefangene<br />

anzustreben. Gleichermaßen wurde schon angedeutet,<br />

dass es sich dabei um ein besonders schwieriges Unterfangen<br />

handelt. Aber selbst wenn man dies zugesteht, muss<br />

33<br />

Strenge Maßstäbe für die Ladung legt hier aber das Bundesverfassungsgericht<br />

an, Beschluss vom 3.3.2004 (2 BvR 26/04).


Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

man den geplanten Rahmenbeschluss insgesamt kritisch<br />

sehen.<br />

Dass im innereuropäischen Rechtsverkehr schwammige<br />

Formulierungen vorkommen, ist dabei eine Banalität: Streit<br />

ist z.B. schon vorprogrammiert wenn Uneinigkeit besteht, wo<br />

ein Bürger „lebt“ (Erwägungsgrund 11, s.o.). Auch, dass die<br />

Struktur des Rahmenbeschlusses durch viele Einfügungen im<br />

Verlauf der politischen Beratungen kompliziert ist, ist wohl<br />

hinzunehmen. Schwerer wiegt schon, dass das Verfahren<br />

durch die vielen Kompromisse, die im Laufe der Verhandlungen<br />

zu schließen waren und die nun diverse Fragen von<br />

Konsultationen zwischen den beteiligten Behörden abhängig<br />

machen, sehr in die Länge gezogen werden kann. Selbst<br />

wenn ein Urteilsstaat sich relativ schnell entschließt, eine<br />

Vollstreckungsübernahme anzustrengen, darf das Verfahren<br />

bis zur Zusage drei Monate dauern (Art. 10 Abs. 1a), bis zum<br />

tatsächlichen Transfer sind nochmals 30 Tage eingeplant.<br />

Treten „außergewöhnliche Umstände“ auf, können beide<br />

Fristen überschritten werden. Von den ursprünglich vorgeschlagenen<br />

maximal drei bzw. zwei Wochen hat man sich<br />

weit entfernt, wegen der Ausnahmeregelung wird wahrscheinlich<br />

das Ziel, ein schnelles Klärungsverfahren zu schaffen,<br />

selten erreicht. Dass durch die Sonderregelung für Polen<br />

wieder einmal ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“<br />

entsteht, wird dem Rahmenbeschluss ebenfalls nicht zu mehr<br />

Glaubwürdigkeit verhelfen.<br />

Neben diesen eher formalen Aspekten ergeben sich jedoch<br />

vor allem gewichtige Probleme bei der Umsetzung in<br />

nationales Recht: Bezweifeln darf man noch immer, ob gegenseitiges<br />

Vertrauen im Hinblick auf die Strafrechtspflege<br />

der europäischen Nachbarn so weit verbreitet ist, wie behauptet.<br />

Jedenfalls gibt es nicht hinweg zu diskutierende Unterschiede<br />

bei Strafrahmen, Strafzumessung und Vollzugsbedingungen.<br />

Die über Art. 8 Abs. 2 in manchen Fällen vorgesehene<br />

Strafanpassung, die den Vollstreckungsstaat zugleich<br />

zwingt, seine zeitige Höchststrafe für das betreffende Delikt<br />

anzuwenden, ist in Staaten mit sehr weiten Strafrahmen bzw.<br />

hohen Höchststrafen eine schwache Sicherung. Im Hinblick<br />

auf die Vollzugsbedingungen belegt eine Studie 34 in den<br />

Ostseeanrainerstaaten erhebliche Unterschiede, hier seien nur<br />

einige Beispiele genannt: In Schweden ist der Grundsatz der<br />

Einzelunterbringung von Strafgefangenen durchgängig verwirklicht,<br />

während in Lettland oder Litauen Schlafsäle mit 15<br />

oder sogar 30 Insassen die Regel sind. Zugang zu bezahlter<br />

Arbeit hatte nach den Ergebnissen derselben Studie in Polen<br />

lediglich ca. ein Viertel der Gefangenen, in den untersuchten<br />

westdeutschen Anstalten waren es immerhin zwei Drittel.<br />

Erhebliche Unterschiede finden sich auch bei der Lockerungspraxis:<br />

Während in Finnland weitaus die meisten Gefangenen<br />

Urlaub oder Ausgang erhielten, waren es in den<br />

baltischen Staaten oder Polen kaum welche.<br />

Bedenkt man, dass z.B. der deutsche Richter durch gesetzliche<br />

Vorgaben gezwungen ist, schon bei der Strafzumessung<br />

(nach § 46 Abs. 2 StGB ) zu berücksichtigen, wie sich<br />

die Strafe auf das künftige Leben des Betroffenen auswirkt<br />

34<br />

Dünkel, in: Müller-Dietz u.a. (Hrsg.): Festschrift für Heike<br />

Jung zum 65. Geburtstag am 23. April 2007, 2007, S. 99 ff.<br />

und das deutsche Recht das Konzept der individuellen Strafempfindlichkeit<br />

kennt, ist klar, dass die Umstände des Vollzugs<br />

eine erhebliche Bedeutung schon für die Strafzumessungsentscheidung<br />

haben und der Richter sie auch einschätzen<br />

können muss. Sieht er sich nach geltendem Recht mit<br />

ausländischer Haft konfrontiert, die er anrechnen muss (in der<br />

Regel Untersuchungshaft), so kann er den Maßstab der Anrechnung<br />

nach seinem Ermessen bestimmen (§ 51 Abs. 4<br />

StGB), was deutsche Gerichte mit dem Argument der besonderen<br />

Strafhärte bzw. der besonderen Haftbedingungen bislang<br />

durchaus auch mit Strafen aus anderen EU-Staaten (z.B.<br />

Spanien oder Frankreich) taten. 35 Der Rahmenbeschluss hingegen<br />

zwingt zur 1:1-Berücksichtigung bereits verbüßter<br />

Haft (Art. 8 Abs. 2), so dass – zumindest nach geltendem<br />

Recht – ggf. jemand, der in der Türkei Untersuchungshaft<br />

verbüßt hat, durch einen günstigeren Umrechungsmaßstab<br />

besser gestellt wird, als ein Deutscher, der in Litauen inhaftiert<br />

war und den Rest seiner Strafe nun hier verbüßt. Versucht<br />

man also auf der einen Seite, bei transnationalen Fällen<br />

einen Ausgleich zwischen den Rechtsordnungen herzustellen,<br />

bewirkt man auf der anderen Seite möglicherweise eine Ungleichbehandlung<br />

gegenüber inländischen Fällen, die sachlich<br />

nicht gerechtfertigt ist. 36<br />

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der Europäische<br />

Gerichtshof für Menschenrechte durchaus Vorgaben<br />

für solche Fälle der transnationalen Vollstreckung macht:<br />

In Frage stand die Überstellung eines in Finnland inhaftierten<br />

Esten in seine Heimat. 37 Sein Antrag wurde im Ergebnis<br />

wegen ungefährer Vergleichbarkeit der tatsächlich noch zu<br />

verbüßenden Strafdauer als unbegründet zurückgewiesen,<br />

auch die geltend gemachten Unterschiede der Haftbedingungen<br />

genügten der Kammer für sich genommen nicht. Die<br />

Richter merken aber an, dass sie die Möglichkeit nicht ausschließen,<br />

dass eine erheblich längere („flagrantly longer“)<br />

Verbüßungszeit im Vollstreckungsstaat Anlass geben könnte,<br />

einen Verstoß gegen Art. 5 EMRK zu prüfen. In diesem Zusammenhang<br />

wird auch noch ein anderes Problem deutlich:<br />

Im Rahmenbeschluss ist stets von den „zuständigen Behörden“<br />

die Rede, die z.B. auch eine teilweise Vollstreckung<br />

aushandeln können (Art. 9a Abs. 2) bzw. die Anpassung der<br />

Strafe vornehmen können (Art. 8). Hier werden die Mitgliedstaaten<br />

im Falle einer Umsetzung darauf zu achten haben,<br />

dass Gerichte mit diesen Fragen befasst sind, andernfalls<br />

droht ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt, der sich aus<br />

Art. 5 EMRK ergibt. 38<br />

35<br />

Beispiele bei Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,<br />

Kommentar, 54. Aufl. 2007, § 51 Rn. 19.<br />

36<br />

Diese Probleme können auch nach dem bisherigen Rechtshilferecht<br />

auftreten, der Rahmenbeschluss bringt hier jedenfalls<br />

aber keine Verbesserung.<br />

37<br />

EGMR, Appl. No. 38704/03 (Veermäe against Finland),<br />

Entscheidung v. 15.03.2005, zu finden unter: http://cmiskp.<br />

echr.coe.int/tkp197/default.htm.<br />

38<br />

Dörr, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar,<br />

2006, Rn. 152 ff. Im oben genannten Fall<br />

war die Anpassung der finnischen Strafe auf die estnischen<br />

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81


Christine Morgenstern<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Auf den Punkt gebracht werden diese Bedenken, wenn<br />

man die unterschiedlichen gesetzlichen und praktischen Vorgaben<br />

der Mitgliedstaaten bei der Strafrestaussetzung betrachtet,<br />

39 und hier besonders drastisch, wenn man sich Recht<br />

und Praxis bei der lebenslangen Freiheitsstrafe ansieht. Folgendes<br />

Beispiel 40 soll das verdeutlichen: Ein Täter ist in England<br />

wegen Mordes verurteilt worden und bekommt eine<br />

lebenslange Freiheitsstrafe; das urteilende Gericht setzt den<br />

zwingend zu verbüßenden Teil (den sog. „tariff“) auf 12<br />

Jahre fest, erst danach kommt eine Strafrestaussetzung zur<br />

Bewährung („parole“) in Betracht. Danach übernimmt<br />

Deutschland die Vollstreckung. Hier kommt die bedingte<br />

Entlassung (§ 57a Abs. 1 StGB) erst nach 15 Jahren in Betracht.<br />

Muss der Betreffende nun drei Jahre länger in Haft<br />

bleiben, weil er in Deutschland gelandet ist? Würde der Verurteilte<br />

nach Spanien überstellt, ist zu fragen, wie seine Verbüßungszeit<br />

berechnet wird – Spanien kennt keine lebenslange<br />

Freiheitsstrafe. Tritt gem. Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses<br />

an deren Stelle dann automatisch die höchste zeitige<br />

Freiheitsstrafe (20 Jahre, bei einem Rückfalltäter 30 Jahre)?<br />

In jedem Fall würde der in England Verurteilte länger<br />

sitzen. Nochmals verschärft wäre die Situation in Litauen:<br />

Dort ist für die lebenslange Freiheitsstrafe gar keine Aussetzungsmöglichkeit<br />

vorgesehen, eine (mögliche) Begnadigung<br />

ist bislang noch niemals ausgesprochen worden. 41<br />

Wird ein „transnationales Vollstreckungsverfahren“ nach<br />

dem Rahmenbeschluss ins nationale Recht umgesetzt, sind<br />

für die Strafvollzugspraxis im Hinblick auf eine nachhaltige<br />

Vollzugsplanung für inhaftierte EU-Ausländer Vor- und<br />

Nachteile denkbar: zumindest könnte ein verlässliches Verfahren<br />

Planungssicherheit schaffen. Hierauf soll an dieser<br />

Stelle nicht weiter eingegangen werden, ein letzter Kritikpunkt<br />

ist aber zu nennen: In den Anwendungsbereich des<br />

Rahmenbeschlusses werden ohne weiteren Kommentar auch<br />

alle diejenigen eingeschlossen, die eine sonstige freiheitsentziehende<br />

Maßnahme im Gefolge eines Strafurteils auferlegt<br />

bekommen haben, damit also auch Maßregelvollzugsinsassen.<br />

Sie werden dann immerhin noch einmal genannt, wenn<br />

es um die Zurückweisungsgründe für den Vollstreckungsstaat<br />

geht (Art. 9 Abs. 1i): Sollte der Vollzug einer entsprechenden<br />

Maßnahme mit dem Rechts- oder Gesundheitssystem des<br />

Staates nicht vereinbar sein, kann der Staat die Vollstreckungsübernahme<br />

zurückweisen. Diese später eingefügte<br />

Vorschrift genügt jedoch nicht: Wegen der besonderen Probleme<br />

bei der Behandlung dieser Gruppe 42 und der rechtlich<br />

Bedingungen durch ein Gericht erfolgt, das betrachtete die<br />

Kammer auch ausdrücklich als notwendig.<br />

39 Vgl. Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),<br />

Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 1,<br />

§ 57 Rn. 91.<br />

40 Vgl. Martin, Briefing for the European Parliament of the<br />

Draft Council framework decision on the application of the<br />

principle of mutual recognition to judgments in criminal<br />

matters, www.eurowarrant.net, S. 4. Sein Beispiel ist hier<br />

noch erweitert.<br />

41 Sakalauskas, Strafvollzug in Litauen, 2006, S. 34.<br />

42 Hoffmann, Der Nervenarzt, 2007, S. 57.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

82<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

besonders unübersichtlichen Situation, 43 kann eine Vollstreckungsübernahme<br />

überhaupt nicht parallel zu der von Strafgefangenen<br />

geregelt werden. 44<br />

V. Fazit und Ausblick<br />

Neben praktischen Umsetzungsproblemen für die Mitgliedstaaten<br />

bestehen damit auch verfassungsrechtliche Bedenken<br />

gegen den Rahmenbeschluss, insbesondere im Hinblick auf<br />

den Richtervorbehalt, das Gleichbehandlungsgebot und den<br />

Bestimmtheitsgrundsatz. Die Möglichkeit, diese Probleme<br />

dadurch zu entschärfen, dass man die Vollstreckungsübernahme<br />

immer von der Zustimmung des Betroffenen abhängig<br />

macht (wobei hier dann besondere Aufmerksamkeit auf seine<br />

Informiertheit zu legen wäre), hat man nicht ergriffen, die<br />

Gefahr, dass der Betroffene zum bloßen „Überstellungsobjekt“<br />

45 wird, ist groß. Man ist versucht zu sagen, Individualrechte<br />

würden auf dem Altar der gegenseitigen Anerkennung<br />

geopfert. Obwohl Interessensgruppen und auch Mitgliedstaaten<br />

viele der oben genannten Kritikpunkte im Verlauf der<br />

Beratungen immer wieder genannt haben, ist trotz Nachbesserungen<br />

klar, dass der Rahmenbeschluss vorwiegend den<br />

Interessen des Urteilsstaates und weit weniger dem Ziel besserer<br />

Resozialisierung verpflichtet ist. Für die Verurteilten<br />

wäre es sicher sachgerechter, das alte Europaratsübereinkommen<br />

als Basis zu nehmen und den Urteilsstaat wie auch<br />

den Heimatstaat zu verpflichten, die Gefangenen im Hinblick<br />

auf eine Überstellung entsprechend zu informieren und zu<br />

unterstützen. Ob dann wirklich so viele Gefangene ihre Zustimmung<br />

verweigern würden, ist die Frage – in den genannten<br />

(allerdings sehr kleinen) Studien 46 zumindest gaben die<br />

meisten der Befragten, die keinen Überstellungsantrag gestellt<br />

hatten an, sie hätten die Möglichkeit entweder nicht<br />

gekannt oder das lange und undurchsichtige Verfahren gescheut.<br />

Bei denjenigen, die einen Antrag gestellt hatten, klagten<br />

sehr viele darüber, dass sie häufig monatelang nicht wussten,<br />

ob er überhaupt bearbeitet wurde.<br />

Abschließend sei noch ein kurzer Ausblick gestattet: Das<br />

nächste Projekt der EU in Sachen „gegenseitige Anerkennung“<br />

ist gestartet – diesmal haben Deutschland und Frankreich<br />

einen Rahmenbeschluss „über die Anerkennung und<br />

Überwachung von Bewährungsstrafen und alternativen Sanktionen“<br />

47 entworfen, eine politische Einigung über die we-<br />

43<br />

Sie besteht deshalb, weil zivil- bzw. öffentlich-rechtlich<br />

geregelte Zwangsunterbringung (in vielen Staaten unter<br />

„Health Care Legislation“) und die Unterbringung in der<br />

forensischen Psychiatrie in den Staaten ganz unterschiedlich<br />

voneinander abgegrenzt sind, vgl. Dreßing/Salize, Zwangsunterbringung<br />

und Zwangsbehandlung psychisch Kranker.<br />

Gesetzgebung und Praxis in den Mitgliedsländern der Europäischen<br />

Union, 2004, S. 28.<br />

44<br />

So auch Martin (Fn. 38), S. 2.<br />

45<br />

Das jedoch darf nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

gerade nicht passieren, BVerfGE 96, 100.<br />

46<br />

Greenlaw/Parkinson (Fn. 23); vgl. auch Mix (Fn. 7), S. 110 ff.<br />

zur Situation in Deutschland.<br />

47<br />

Initiative der deutschen und französischen Delegation vom<br />

15.02.2007, zu finden als Dokument 5325/07 auf http://re-


Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sentlichen Punkte ist am Ende der deutschen Ratspräsidentschaft<br />

erzielt worden.<br />

gister.consilium.europa.eu. Vgl. auch die Pressemitteilung<br />

des Bundesjustizministeriums v. 7.12.2007, www.bmj.bund.de,<br />

und Staudigl/Weber, NStZ 2008, 17.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

83


Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei<br />

Ausschreibungen gemäß § 298 StGB<br />

Von Wiss. Mitarbeiter David Pasewaldt, Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth), Hamburg*<br />

Jährlich wird durch Wirtschaftskriminalität nach Expertenschätzungen<br />

ein volkswirtschaftlicher Schaden im dreistelligen<br />

Milliardenbereich verursacht. 1 Im Jahr 2006 betrug<br />

allein der Schaden der in Deutschland bekannt gewordenen<br />

Straftaten 4,3 Mrd. Euro. 2 Eine besondere Stellung nehmen<br />

in diesem Zusammenhang rechtswidrige Absprachen bei<br />

Ausschreibungen ein, die sog. Submissionsabsprachen. 3 Deren<br />

strafrechtliche Verfolgung gestaltete sich lange Zeit<br />

schwierig, da der für eine Verurteilung wegen Betruges gemäß<br />

§ 263 StGB erforderliche Schadensnachweis kaum zu<br />

führen ist. 4 Dieses Problem versuchte der Gesetzgeber 1997<br />

zu lösen, indem er mit § 298 StGB einen eigens auf Submissionsabsprachen<br />

zugeschnittenen Tatbestand im Strafgesetzbuch<br />

kodifizierte. 5 Die Beilegung der bis dahin geführten<br />

Diskussion über die strafrechtliche Behandlung von Submissionskartellen<br />

bewirkte er damit allerdings nicht. Vielmehr<br />

wirft der Tatbestand zahlreiche neue Fragen auf, die anlässlich<br />

seines zehnjährigen Bestehens im Folgenden erörtert<br />

werden sollen.<br />

I. Einführung<br />

Gegenstand dieses Beitrags ist die Analyse ausgewählter<br />

Probleme des Tatbestands der wettbewerbsbeschränkenden<br />

Absprachen bei Ausschreibungen gemäß § 298 StGB. Die<br />

aufgeworfenen Fragestellungen sollen den Rechtsanwender<br />

für die Problembereiche der Vorschrift sensibilisieren, gefun-<br />

* Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bucerius<br />

Law School am Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht<br />

und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Thomas Rönnau.<br />

1<br />

Vgl. Richter, in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.),<br />

Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 7 Rn. 22; Dannecker,<br />

in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaftsund<br />

Steuerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, S. 189. Genaue Zahlen<br />

sind wegen der hohen Dunkelziffer nicht bekannt.<br />

2<br />

Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2006, Tabellenanhang,<br />

Tabelle 07, S. 6. Diese Summe entspricht gut 50% des durch<br />

Kriminalität verursachten und bundesweit registrierten Gesamtschadens,<br />

hervorgerufen durch gerade einmal 1,5% der<br />

insgesamt erfassten Straftaten.<br />

3<br />

Während die Gesamtzahl der im Jahr 2006 erfassten Wirtschaftsdelikte<br />

gegenüber dem Vorjahr um 7,5% auf 95.887<br />

anstieg, wuchs die Zahl strafbarer Submissionsabsprachen im<br />

selben Zeitraum um 26,3% auf 149, vgl. PKS 2006 (Fn. 2),<br />

S. 209.<br />

4<br />

Hierzu unten III. 6.<br />

5<br />

Eingeführt durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Bekämpfung<br />

der Korruption (Korruptionsbekämpfungsgesetz – KorrBekG)<br />

vom 13.8.1997, vgl. BGBl. I, S. 2038. Eingehend zur Entstehungsgeschichte<br />

des § 298 StGB, Wedlich, Die strafrechtliche<br />

Würdigung von Submissionsabsprachen unter dem Gesichtspunkt<br />

des § 298 StGB, 2004, S. 21 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

84<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

dene Ergebnisse Anwendungsunsicherheiten mindern und<br />

den Umgang mit der Norm erleichtern.<br />

Zunächst wird ein Überblick über das Rechtsgut und die<br />

deliktstypische Einordnung des § 298 StGB gegeben (II.).<br />

Sodann erfolgt die Analyse aktueller Problemstellungen, die<br />

vornehmlich die praktische Anwendung des § 298 StGB<br />

betreffen (III.). Neben der Darstellung und Beurteilung der<br />

hierzu in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen<br />

werden eigene Lösungsansätze entwickelt, wobei in<br />

Ergänzung einer rein juristisch-dogmatischen Betrachtungsweise<br />

insbesondere volkswirtschaftliche Aspekte in die Bewertung<br />

einbezogen werden. Am Ende der Untersuchung<br />

steht eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, die<br />

auch einen Überblick über aktuelle, internationale Tendenzen<br />

der rechtlichen Beurteilung von Submissionsabsprachen und<br />

deren Behandlung in anderen europäischen Rechtsordnungen<br />

geben soll (IV.).<br />

II. Grundlagen<br />

1. Rechtsgut des § 298 StGB<br />

Das von § 298 StGB geschützte Rechtsgut ist nach einhelliger<br />

Meinung primär der freie, lautere Wettbewerb als Institution<br />

des Wirtschaftslebens. 6 Hinzu tritt der Schutz der Vermögensinteressen<br />

des Veranstalters, 7 wohingegen das Vermögen<br />

der (potentiellen) Mitbewerber durch § 298 StGB<br />

allenfalls mittelbar geschützt wird. 8<br />

Teilweise geäußerte Zweifel 9 und verfassungsrechtliche<br />

Bedenken an der Eignung des „freien Wettbewerbs“ – im<br />

Sinne der „Freiheit der Marktkonkurrenz vor unlauteren,<br />

nicht offenbarten Einflüssen, die das Austauschverhältnis von<br />

Waren und Dienstleistungen einseitig zugunsten eines Beteiligten<br />

verzerren“ 10 – als Schutzgut des § 298 StGB sind indes<br />

unbegründet. Wettbewerb ist das zur Verwirklichung jeder<br />

6<br />

Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 13; Greeve, Korruptionsdelikte in<br />

der Praxis, 2005, Rn. 339; Oldigs, wistra 1998, 291 (293 f.).<br />

Eingehend zur Sozialschädlichkeit von Submissionsabsprachen,<br />

Dannecker, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),<br />

Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 2. Aufl.<br />

2005, § 298 Rn. 6 ff.<br />

7<br />

So die h.M., vgl. nur Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 13<br />

m.w.N.; s. auch BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />

8<br />

Vgl. Tiedemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.),<br />

Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Aufl. 2005,<br />

§ 298 Rn. 9; Rudolphi, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer<br />

Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 56. Lieferung,<br />

Stand: April 2000, § 298 Rn. 5 m.w.N.; anders König,<br />

JR 1997, 397 (402).<br />

9<br />

Vgl. Oldigs, Möglichkeiten und Grenzen der strafrechtlichen<br />

Bekämpfung von Submissionsabsprachen, 1998, S. 122 ff.;<br />

Lüderssen, in: Dahs (Hrsg.), Kriminelle Kartelle?, 1998, S. 54 f.<br />

10<br />

Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 13; Korte, NStZ 1997, 513 (516);<br />

Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,<br />

54. Aufl. 2007, Vor § 298 Rn. 6 m.w.N.


Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaftsordnung notwendige<br />

Grundprinzip. Wettbewerbliche Selbststeuerung<br />

dient als selbsttätiges, staatlich eingesetztes Mittel zur Koordination<br />

des Wirtschaftsablaufs, das die Marktfreiheit des<br />

einzelnen sichert, den Nachfragern frei wählbare Alternativen<br />

eröffnet und für den Verbraucher die günstigsten Preise entstehen<br />

lässt. 11 Versteht man Rechtsgüter als „Gegebenheiten<br />

oder Zwecksetzungen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen,<br />

die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren<br />

eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen<br />

Systems notwendig sind“ 12 , so erfüllt die Institution<br />

Wettbewerb alle Voraussetzungen, die an ein strafrechtlich<br />

schutzfähiges Rechtsgut zu stellen sind. 13 Überdies hindert<br />

die Tatsache, dass es sich beim Schutzgut Wettbewerb um<br />

ein abstraktes, von sich ändernden gesetzlichen Vorgaben<br />

bestimmtes und deshalb ständigen Wandlungen unterworfenes<br />

Rechtsgut handelt, dessen strafrechtlichen Schutz nicht.<br />

Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die Bezugnahme der<br />

kartellrechtlichen Regelungen des GWB und die Anbindung<br />

an die Bestimmungen der jeweils zu beachtenden Vergaberichtlinien<br />

eine klare, rechtsstaatlich unbedenkliche Begrenzung<br />

des Unrechtstatbestands geschaffen. 14<br />

2. Deliktstypische Einordnung<br />

Hinsichtlich der deliktstypischen Einordnung des § 298 StGB<br />

herrscht Streit: während der überwiegende Teil der Literatur<br />

die Norm als abstraktes Gefährdungs- und Tätigkeitsdelikt<br />

versteht, 15 gehen andere 16 von einem Verletzungsdelikt aus.<br />

Für die zuerst genannte Ansicht spricht, neben dem Gesetzeswortlaut<br />

(„Abgabe“ eines Angebots), der bewusste Verzicht<br />

des Gesetzgebers auf das Erfordernis einer Täuschung<br />

11<br />

Näher zu den wirtschaftspolitischen Funktionen des Wettbewerbs(rechts)<br />

Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm<br />

(Hrsg.), Kommentar zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb,<br />

25. Aufl. 2007, Einl UWG Rn. 1, 46 ff.<br />

12<br />

Vgl. nur Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1,<br />

4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 7.<br />

13<br />

Auch der von Marx und Hassemer entwickelte sog. personale<br />

Rechtsgutsbegriff führt zu keiner abweichenden Beurteilung.<br />

Er verlangt lediglich, dass Universalrechtsgüter letztlich<br />

dem Einzelnen zu dienen haben, d.h. „sich als – vermittelte –<br />

Interessen des Individuums nachweisen lassen“, vgl. nur<br />

Hassemer, Strafen im Rechtsstaat, 2000, S. 166; ähnlich<br />

Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 60.<br />

14<br />

Ähnlich Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 10. Grundlegend<br />

zum Wettbewerb als strafrechtliches Rechtsgut Tiedemann,<br />

in: Britz u.a. (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens, Festschrift<br />

für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, 2001,<br />

S. 905 ff.<br />

15<br />

Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 339; Möhrenschlager, in: Dölling<br />

(Hrsg.), Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, Kap. 8<br />

Rn. 143; Kosche, Strafrechtliche Bekämpfung wettbewerbsbeschränkender<br />

Absprachen bei Ausschreibungen – § 298<br />

StGB, 2001, S. 138.<br />

16<br />

Vgl. Grützner, Die Sanktionierung von Submissionsabsprachen,<br />

2003, S. 512; Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 12;<br />

Walter, GA 2001, 130 (140).<br />

und eines Vermögensschadens. Eine andere Beurteilung<br />

ergibt sich allerdings, wenn man – der Ansicht Walters 17<br />

folgend – nicht auf den freien Wettbewerb als solchen abstellt,<br />

sondern auf das im Einzelfall vorliegende Ausschreibungsverfahren.<br />

Der darin enthaltene, gewollt kompetitiv<br />

ausgestaltete Preisbildungsvorgang wird tatsächlich schon<br />

durch die Absprache an sich beeinträchtigt, also verletzt. Im<br />

Kern geht es damit um die dogmatische Unterscheidung<br />

zwischen Rechtsgut und Angriffsobjekt: Das durch einen<br />

Straftatbestand geschützte Rechtsgut bezeichnet zunächst ein<br />

Abstraktum, im Fall des § 298 StGB den Wettbewerb. Das<br />

Angriffsobjekt hingegen beschreibt ein „körperliches Substrat“<br />

18 dieses Rechtsguts, bei § 298 StGB das in Frage stehende<br />

Ausschreibungsverfahren. Mit dem Abstellen auf letzteres<br />

ließe sich die Einordnung des § 298 StGB als Verletzungsdelikt<br />

zwar begründen. Indes muss jedes Rechtsgut,<br />

insbesondere normativ-geistige Gebilde wie der Wettbewerb,<br />

dem Täter eine konkrete Angriffsfläche bieten, um deliktische<br />

Anknüpfungspunkte herzustellen. Mit der Ansicht Walters<br />

würde folglich jedes Gefährdungsdelikt in ein Verletzungsdelikt<br />

umgedeutet. Seine Einordnung wäre also nur<br />

haltbar, wollte man die Lehre von den Deliktstypen grundsätzlich<br />

in Frage stellen. 19<br />

Die Wahrheit liegt indes zwischen den beiden dargestellten<br />

Positionen. Weder wollte der Gesetzgeber mit § 298<br />

StGB eine bereits eingetretene Wettbewerbsverletzung, noch<br />

die bloße Vornahme einer nur abstrakt wettbewerbsgefährdenden<br />

Handlung pönalisieren. Ausweislich der Gesetzesbegründung<br />

ging er vielmehr ausdrücklich von einer „Gefährdung“<br />

des freien Wettbewerbs aus, die ihm jedoch erst mit<br />

Abgabe eines auf einer rechtswidrigen Absprache beruhenden<br />

Angebots hinreichend konkret erschien, um eine Strafbarkeit<br />

zu begründen. 20 § 298 StGB stellt damit weder ein<br />

Tätigkeits-, noch ein Verletzungsdelikt, sondern ein Erfolgsdelikt<br />

im Sinne eines konkreten Gefährdungsdelikts dar. 21<br />

III. Problembereiche des § 298 StGB<br />

Nach der Darstellung der Grundlagen, sollen im Folgenden<br />

ausgewählte Probleme der Anwendung des § 298 StGB erörtert<br />

werden.<br />

Gemäß § 298 Abs. 1 StGB wird bestraft, 22 „wer bei einer<br />

Ausschreibung über Waren oder gewerbliche Leistungen ein<br />

Angebot abgibt, das auf einer rechtswidrigen Absprache<br />

17<br />

Vgl. Walter, GA 2001, 130 (134 ff.).<br />

18<br />

Vgl. Roxin (Fn. 12), § 2 Rn. 66.<br />

19<br />

So auch der Tenor des Aufsatzes Walters, GA 2001, 130<br />

(131 ff.); ders., Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 16 f.; ähnlich<br />

Samson, in: ders. (Hrsg.), Festschrift für Gerald Grünwald<br />

zum siebzigsten Geburtstag, 1999, S. 585 ff. (603).<br />

20<br />

Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />

21<br />

Insbesondere hindert das Fehlen der Begriffe „Gefahr“<br />

oder „Gefährdung“ im Gesetzeswortlaut diese Einordnung<br />

nicht, vgl. Pasewaldt, <strong>ZIS</strong> 2007, 75 (77) m.w.N. in Fn. 40.<br />

22<br />

Hinsichtlich der angedrohten Freiheitsstrafe von bis zu fünf<br />

Jahren oder Geldstrafe stellt § 298 StGB ein Vergehen dar,<br />

vgl. § 12 Abs. 2 StGB.<br />

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85


David Pasewaldt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

beruht, die darauf abzielt, den Veranstalter zur Annahme<br />

eines bestimmten Angebots zu veranlassen“. 23<br />

1. Private Ausschreibungen als „Ausschreibung“ i.S.d. § 298<br />

Abs. 1 StGB?<br />

Als Tatsituation verlangt § 298 Abs. 1 StGB das Vorliegen<br />

einer „Ausschreibung“, also eines formalisierten Verfahrens,<br />

mit dem der Veranstalter Angebote einer Mehrzahl von Anbietern<br />

für die Lieferung bestimmter Waren oder das Erbringen<br />

bestimmter Leistungen einholt. 24 In Rechtsprechung 25<br />

und Literatur 26 ist hierbei anerkannt, dass der Tatbestand<br />

neben öffentlichen auch private Ausschreibungen erfasst,<br />

sofern das Vergabeverfahren den §§ 97 ff. GWB oder den für<br />

öffentliche Veranstalter geltenden Bestimmungen der Vergabe-<br />

und Vertragsordnungen für (Bau-)Leistungen (VOB/A<br />

bzw. VOL/A) inhaltlich ähnlich ausgestaltet ist. Im Grundsatz<br />

verdient diese Auffassung Zustimmung. Denn im Hinblick<br />

auf den Wettbewerb als Schutzgut der Vorschrift kann<br />

nicht entscheidend sein, ob dieser im Rahmen öffentlicher<br />

oder privater Ausschreibungen beeinträchtigt wird. Andererseits<br />

bedarf es zum Schutz vor einer uferlosen Ausweitung<br />

einer gewissen Begrenzung des Tatbestandes. Die Frage<br />

lautet daher, wann genau ein der öffentlichen Ausschreibung<br />

„ähnlich ausgestaltetes“ privates Vergabeverfahren anzunehmen<br />

ist.<br />

Greeve verweist in diesem Zusammenhang auf den<br />

Zweck des Ausschreibungsverfahrens, der neben dem Erfordernis<br />

sparsamer Haushaltsführung auch im Vertrauensschutz<br />

der Bieter auf die Einhaltung vergaberechtlicher Bestimmungen<br />

zu sehen sei. Folglich falle ein privates Vergabeverfahren<br />

nur unter § 298 StGB, wenn sich der Auftraggeber von vornherein<br />

verpflichtet, insgesamt wie ein öffentlicher Auftraggeber<br />

zu verfahren. Kennzeichnend dafür seien insbesondere<br />

die Einhaltung formalisierter Verfahrensweisen, die Verpflichtung<br />

zur Annahme des wirtschaftlichsten Angebots, 27<br />

das generelle Verbot zu Nachverhandlungen sowie die verbindliche<br />

Dokumentation des Bindungswillens des Aus-<br />

23<br />

Bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 298<br />

StGB ist grundsätzlich auf die aus dem Kartellrecht bekannten<br />

Begriffe und Definitionen zurückzugreifen, vgl. BT-Drs.<br />

13/5584, S. 14; Wedlich (Fn. 5), S. 92 f.; Otto, wistra 1999, 41<br />

m.w.N.<br />

24<br />

Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 345; Dannecker (Fn. 6), § 298<br />

Rn. 24. § 298 Abs. 2 StGB stellt freihändige Vergaben mit<br />

vorausgegangenem Teilnahmewettbewerb, die unterhalb der<br />

Auftragsschwellenwerte für eine EU-weite Ausschreibung<br />

zur Anwendung kommen (etwa bei Bauvorhaben mit einem<br />

Gesamtwert von unter 5.278.000 Mio. Euro, vgl. § 100<br />

Abs. 1 GWB i.V.m. § 2 Nr. 4 VgV), einer Ausschreibung<br />

i.S.d. Abs. 1 gleich.<br />

25<br />

Vgl. BGH wistra 2003, 146 = NStZ 2003, 548 m. Anm.<br />

Greeve.<br />

26<br />

Vgl. Heine, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />

27. Aufl. 2006, § 298 Rn. 4; Otto, wistra 1999, 41;<br />

s. auch BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />

27<br />

Vgl. § 97 Abs. 5 GWB.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

86<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

schreibenden in Form einer vertraglichen Vereinbarung. 28<br />

Dieser Auffassung wäre jedenfalls zuzustimmen, wenn das<br />

Vermögen des Ausschreibenden das vorrangige Rechtsgut<br />

des § 298 StGB darstellte. Dann nämlich wäre es vertretbar,<br />

dass der Ausschreibende sich den Schutz seines Vermögens<br />

durch seine freiwillige und vollständige Bindung an die öffentlichen<br />

Vergaberichtlinien „erkaufen“ müsse. Umgekehrt<br />

wären die Bieter der strafrechtlichen Sanktion des § 298<br />

StGB nur ausgesetzt, wenn sie ihrerseits auf die Einhaltung<br />

der vom Gesetzgeber vorgegebenen Regelungen vertrauen<br />

dürften. 29<br />

Tatsächlich aber dient § 298 StGB, wie dargelegt, primär<br />

dem Schutz des freien Wettbewerbs. 30 Die h.M. zieht daraus<br />

den Schluss, private Ausschreibungen bereits als von § 298<br />

StGB erfasst anzusehen, wenn der private Veranstalter allgemeine<br />

Vergabegrundsätze wie den Gleichbehandlungsgrundsatz<br />

31 und die Beschränkung auf fachkundige, leistungsfähige<br />

und zuverlässige Unternehmen 32 beachtet. 33<br />

Die h.M. vermag dennoch nicht zu überzeugen. Mit ihr<br />

werden letztlich höhere Anforderungen an die Erfassung<br />

öffentlicher, als an die Einbeziehung privater Ausschreibungen<br />

gestellt. Es ist indes nicht ersichtlich, weshalb letztere<br />

einen weiteren strafrechtlichen Schutz genießen sollten. Mit<br />

dem bloßen Verweis auf das erklärte gesetzgeberische Ziel,<br />

die Korruptionskriminalität wirksam und konsequent zu bekämpfen,<br />

34 lässt sich eine solche Differenzierung jedenfalls<br />

nicht begründen.<br />

Der Auffassung Greeves ist damit zwar nicht in ihrer Begründung,<br />

gleichwohl aber im Ergebnis zuzustimmen. Private<br />

Ausschreibungen werden von § 298 Abs. 1 StGB nur erfasst,<br />

wenn sich der Ausschreibende verpflichtet, ausschließlich<br />

nach öffentlichen Vergaberegelungen zu verfahren.<br />

2. Vertikale Absprachen als „Absprache“ i.S.d. § 298 Abs. 1<br />

StGB?<br />

Im Streit steht ferner die Anwendbarkeit des § 298 StGB auf<br />

sog. vertikale Absprachen. Vertikale Absprachen sind solche,<br />

die nicht zwischen anbietenden Unternehmen, sondern zwischen<br />

Personen auf Seiten des Ausschreibenden und wenigs-<br />

28<br />

Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 352 f.; dies., NStZ 2002, 505 (506 f.);<br />

dies., NStZ 2003, 549 f.<br />

29<br />

Schutzwürdig sind die Bieter etwa hinsichtlich des mit der<br />

Angebotserstellung verbundenen Kostenaufwands, vgl. Greeve,<br />

NStZ 2002, 505 (506); dies., NStZ 2003, 549.<br />

30<br />

Vgl. oben II. 1.<br />

31<br />

Vgl. § 97 Abs. 2 GWB.<br />

32<br />

Vgl. § 97 Abs. 4 GWB.<br />

33<br />

Vgl. BGH wistra 2003, 146 = NStZ 2003, 548 m. Anm.<br />

Greeve; Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 29; Wiesmann, Die<br />

Strafbarkeit gemäß § 298 StGB bei der Vergabe von Bauleistungen<br />

und die Implementierung eines Straftatbestands verbotener<br />

Submissionsabsprachen in ein Strafgesetz der Europäischen<br />

Union, 2006, S. 112 f. m.w.N.<br />

34<br />

Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 8.


Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

tens einem der Anbieter getroffen werden. 35 Zur Verdeutlichung<br />

soll folgendes Beispiel dienen: M ist Mitarbeiter der<br />

Stadt S mit maßgeblichem Einfluss auf die städtische Auftragsvergabe<br />

im Rahmen von Ausschreibungen. Vereinbarungsgemäß<br />

übt er diesen Einfluss auch dann zugunsten des<br />

Bauunternehmers B aus, wenn andere Anbieter günstigere<br />

Angebote eingereicht haben. Im Gegenzug erbringt B Zahlungen<br />

an M. Absprachen mit anderen Anbietern hat B nicht<br />

getroffen.<br />

Während Teile der Literatur auch Übereinkünfte zwischen<br />

nur einem (potentiellen) Bieter und Personen auf der Seite<br />

des Veranstalters 36 oder dem Veranstalter selbst 37 als von der<br />

Norm erfasst ansehen, verneinen andere 38 die Anwendung<br />

des § 298 StGB auf solche Absprachen generell. Auch der<br />

BGH hat sich im Jahr 2004 für die zuletzt genannte Ansicht<br />

ausgesprochen. 39<br />

Für die Einbeziehung vertikaler Absprachen in den Anwendungsbereich<br />

des § 298 StGB spricht der Wortlaut der<br />

Norm, der insoweit keine Einschränkung vornimmt. Ferner<br />

lässt sich der Hinweis der Gesetzesbegründung anführen,<br />

dass „gerade die Fälle besonders strafwürdig [sind], bei denen<br />

der Bieter kollusiv mit einem Mitarbeiter des Veranstalters<br />

[…] zusammenarbeitet“ 40 . Entscheidend für die restriktive<br />

Auslegung i.S. des BGH spricht indes das Tatbestandsmerkmal<br />

41 der Rechtswidrigkeit der Absprache, das nach<br />

allgemeiner Ansicht vorliegt, wenn die Absprache gegen die<br />

kartellrechtlichen Vorschriften des GWB (bzw. das europäische<br />

Wettbewerbsrecht, vgl. Art. 81, 82 EGV) verstößt. 42 Das<br />

Kartellverbot des § 1 GWB gilt nur für „miteinander im<br />

Wettbewerb stehende“ Unternehmen. Da der strafrechtlich<br />

gewährleistete Wettbewerbsschutz wegen der GWBakzessorischen<br />

Tatbestandsausgestaltung aber nicht weiter<br />

gehen kann, als der kartellrechtliche, ist auch für § 298 StGB<br />

das Vorliegen eines Horizontalverhältnisses zwischen den<br />

Absprechenden zu fordern. Der Veranstalter einer Ausschreibung<br />

steht im Regelfall jedoch nicht in Konkurrenz mit den<br />

bietenden Unternehmen, so dass kollusives Zusammenwirken<br />

35<br />

Eingehend zur Funktions- und Vorgehensweise horizontaler<br />

und vertikaler Submissionskartelle Satzger, Der Submissionsbetrug,<br />

1994, S. 38 ff., 217 ff.<br />

36<br />

Vgl. Heine (Fn. 26), § 298 Rn. 11; Tröndle/Fischer (Fn. 10),<br />

§ 298 Rn. 9.<br />

37<br />

Vgl. Rudolphi (Fn. 8), § 298 Rn. 8.<br />

38<br />

Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 373 f.; Heine (Fn. 26), § 298 Rn. 11;<br />

Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 16, 34.<br />

39<br />

Vgl. BGHSt 49, 201 (206 f.) = wistra 2005, 29 = JZ 2005, 49<br />

m. zust. Anm. Dannecker; fortgef. von BGH wistra 2005, 29;<br />

BGH NStZ 2006, 687 = wistra 2006, 385 (386).<br />

40<br />

Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />

41<br />

Vgl. Lackner/Kühl, Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />

26. Aufl. 2007, § 298 Rn. 3; Kosche (Fn. 15), S. 153 f.<br />

42<br />

Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 14; Grützner (Fn. 16), S. 524 f.<br />

m.w.N. Diese Einschränkung folgt zwar nicht unmittelbar aus<br />

dem Wortlaut des § 298 Abs. 1 StGB, jedoch aus der Überschrift<br />

der Vorschrift („wettbewerbsbeschränkende Absprachen<br />

bei Ausschreibungen“), vgl. BGHSt 49, 201 (205);<br />

Kosche (Fn. 15), S. 153.<br />

zwischen dem Ausschreibenden und einem bietenden Unternehmen<br />

das Merkmal der rechtswidrigen Absprache nicht<br />

erfüllt und von § 298 StGB nicht erfasst wird.<br />

Aus kriminalpolitischer Sicht ist dieses Resultat nicht zu<br />

beanstanden. Insbesondere sind keine Strafbarkeitslücken zu<br />

befürchten, da vertikale Absprachen – auch bei Ausschreibungen<br />

der öffentlichen Hand 43 – in der Regel (auch 44 ) vom<br />

Tatbestand der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen<br />

Verkehr gemäß § 299 StGB, der wie § 298 StGB dem<br />

Schutzgut Wettbewerb dient, 45 erfasst werden. 46<br />

3. Abgabe des Angebots<br />

Ein weiteres, häufig diskutiertes Problem des § 298 StGB ist<br />

die Bestimmung des genauen Zeitpunkts der Angebotsabgabe.<br />

47 Diesem Moment, der zugleich die Vollendung der Tat<br />

markiert, kommt – wegen der fehlenden Versuchsstrafbarkeit<br />

– in Grenzfällen entscheidende Bedeutung zu. In Rechtsprechung<br />

und Lehre werden hierzu unterschiedliche Ansätze<br />

vertreten, die sich wie folgt skizzieren lassen:<br />

Nach der weitesten, von König vertretenen Auffassung,<br />

sind für § 298 StGB die im Zivilrecht zur Abgabe von Willenserklärung<br />

geltenden Kriterien entsprechend anzuwenden.<br />

48 Abgabe liegt demnach bereits vor, wenn der Täter das<br />

Angebot willentlich in Richtung des Ausschreibenden in den<br />

Verkehr bringt. 49<br />

Die h.M. sieht hingegen das Angebot erst als abgegeben<br />

an, wenn es dem Veranstalter so zugeht, dass es bei ordnungsgemäßem<br />

Ablauf im Ausschreibungsverfahren berücksichtigt<br />

werden kann. 50 Annahme oder Kenntnisnahme des<br />

Veranstalters vom Angebotsinhalt seien dabei nicht erforderlich.<br />

51<br />

Wolters erwägt schließlich, für die Interpretation des Begriffs<br />

der Abgabe auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Angebotsfrist<br />

52 oder sogar des Eröffnungstermins 53 abzustellen, 54<br />

43<br />

Vgl. BGHSt 2, 396 (403 f.); BGH NStZ 1994, 277; Dannecker<br />

(Fn. 6), § 299 Rn. 26.<br />

44<br />

Ebenfalls einschlägig sind hier regelmäßig die §§ 331 ff.<br />

StGB.<br />

45<br />

Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 299 Rn. 5; Tröndle/Fischer<br />

(Fn. 10), § 298 Rn. 2 m.w.N.<br />

46<br />

Ähnlich BGHSt 49, 201 (205).<br />

47<br />

Unter einem Angebot versteht man die Erklärung gegenüber<br />

dem Veranstalter, wonach der Täter die Lieferung der<br />

Waren oder die Erbringung der Leistung, welche die Ausschreibung<br />

zum Gegenstand hat, zu einem bestimmten Preis<br />

anbietet, sodass grundsätzlich ohne weiteres ein Zuschlag<br />

erfolgen, das Angebot also angenommen werden kann, vgl.<br />

Wedlich (Fn. 5), S. 107 f.; Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 39.<br />

48<br />

Vgl. König, JR 1997, 397 (402).<br />

49<br />

Vgl. Heinrichs, in: Palandt, Kommentar zum Bürgerlichen<br />

Gesetzbuch, 66. Aufl. 2007, § 130 Rn. 4.<br />

50<br />

Vgl. BGH NStZ 2003, 548; Otto, wistra 1999, 41 (42);<br />

Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 41 m.w.N.<br />

51<br />

Vgl. Grützner (Fn. 16), S. 517; Tiedemann (Fn. 8), § 298<br />

Rn. 31.<br />

52 Vgl. § 18 VOB/A.<br />

53 Vgl. § 22 VOB/A.<br />

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87


David Pasewaldt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

da dem Veranstalter zugegangene Angebote bis zum Ablauf<br />

der Angebotsfrist noch zurückgezogen werden können.<br />

Gegen den restriktiven Ansatz Wolters’ spricht, dass die<br />

zur Vollendung eines konkreten Gefährdungsdelikts maßgebliche<br />

Intensität der Gefahr für das Rechtsgut 55 bei § 298<br />

StGB nicht erst mit Fristablauf oder Öffnung der Angebote,<br />

sondern bereits mit Zugang des Angebots beim Ausschreibenden<br />

eintritt. Schon ab diesem Zeitpunkt ist eine Wettbewerbsschädigung<br />

hinreichend wahrscheinlich und ihr Ausbleiben<br />

nur noch „vom Zufall abhängig“ 56 . Die Angebotsrücknahme<br />

vor Fristablauf stellt deshalb keinen für die Tatvollendung<br />

entscheidenden Umstand, sondern einen unter<br />

§ 298 Abs. 3 StGB 57 zu subsumierenden Fall tätiger Reue<br />

dar. 58<br />

Es bleibt damit nur zu klären, ob mit der Ansicht Königs<br />

über die h.M. hinaus bereits auf die zivilrechtliche Abgabe<br />

des Angebots abzustellen ist. Diese Auffassung lässt dem<br />

Schutzgut Wettbewerb einen weit reichenden Schutz angedeihen<br />

und steht somit im Einklang mit dem gesetzgeberischen<br />

Ziel einer effektiven Bekämpfung der Korruptionskriminalität<br />

59 . Hingegen kann der für die Vollendung eines<br />

konkreten Gefährdungsdelikts erforderliche Gefährlichkeitsgrad<br />

frühestens dort angenommen werden, wo die Möglichkeit<br />

einer Rechtsgutsbeeinträchtigung tatsächlich besteht.<br />

Dies aber ist, wenn das Angebot zwar im zivilrechtlichen<br />

Sinn abgegeben wurde, der Ausschreibende jedoch nicht<br />

einmal theoretisch die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hat, 60<br />

nicht der Fall. 61 Die Auffassung Königs entspricht damit der<br />

Schaffung einer vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Versuchsstrafbarkeit.<br />

Mit der h.M. gilt ein Angebot deshalb als abgegeben,<br />

wenn es auf Veranlassung des Täters derart in den Machtbereich<br />

des Ausschreibenden gelangt, dass nach normalen Umständen<br />

mit seiner Kenntnisnahme zu rechnen ist.<br />

54 Vgl. Wolters, JuS 1998, 1100 (1102).<br />

55 Eingehend dazu Roxin (Fn. 12), § 11 Rn. 148.<br />

56 Vgl. BGH NStZ 1996, 83; NStZ-RR 1997, 18; Roxin (Fn. 12),<br />

§ 11 Rn. 151 m.w.N.<br />

57 Gemäß § 298 Abs. 3 StGB bleibt straffrei, wer freiwillig<br />

die Angebotsannahme oder die spätere Leistungserbringung<br />

durch den Auftraggeber verhindert bzw. sich bei Ausbleiben<br />

der Angebotsannahme oder der Erbringung der Leistung aus<br />

anderen Gründen freiwillig und ernsthaft bemüht, die Annahme<br />

des Angebots oder das Erbringen der Leistung des<br />

Ausschreibenden zu verhindern. Kritisch zur Ausgestaltung<br />

dieser Regelung Tröndle/Fischer (Fn. 10), § 298 Rn. 11.<br />

58 Für Otto folgt dies bereits aus der Natur des § 298 StGB als<br />

Äußerungsdelikt, vgl. Otto, wistra 1999, 41 (42); zust. Wedlich<br />

(Fn. 5), S. 113.<br />

59 Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 8.<br />

60 Etwa, weil sich das Angebot noch auf dem Postweg befin-<br />

det.<br />

61 In Betracht kommt hier indes eine Strafbarkeit wegen versuchten<br />

Betruges. Zum Verhältnis der §§ 263, 298 StGB<br />

zueinander unten III. 6.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

88<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

4. Täterkreis<br />

Umstritten ist auch die Frage, welche Personen Täter des<br />

§ 298 StGB sein können. Da der Gesetzeswortlaut insoweit<br />

keine Einschränkung vornimmt, kann Täter nach zutreffender<br />

h.M. grundsätzlich jeder sein, der ein nach § 298 StGB qualifiziertes<br />

Angebot abgibt. Die Vorschrift ist also ein Allgemeindelikt<br />

und kein Sonderdelikt. 62 Möglicherweise gebieten<br />

jedoch systematische oder teleologische Erwägungen eine<br />

Einschränkung des Täterkreises auf bestimmte Personen oder<br />

Personengruppen.<br />

Tiedemann u.a. fordern die Verengung des Täterkreises:<br />

Außenseiter, die selbst nicht an der Kartellabsprache beteiligt<br />

sind 63 und Hilfspersonen des Anbietenden 64 sollen nicht erfasst<br />

werden.<br />

Hinsichtlich der Abgabe eines Angebots durch Hilfspersonen<br />

verdient diese Ansicht Zustimmung. Sekretärinnen,<br />

Praktikanten, Büroboten u.ä. geben das Angebot regelmäßig<br />

in Erfüllung der gegenüber ihren Dienstherren bestehenden<br />

Pflichten ab. Sollten die genannten Personen überhaupt in<br />

Kenntnis von der kartellrechtswidrigen Übereinkunft handeln,<br />

fehlt ihnen jedenfalls die für eine (Mit-)Täterschaft<br />

erforderliche Tatherrschaft. 65<br />

Anders liegt es hingegen in Fällen, in denen das Angebot<br />

durch Außenseiter abgegeben wird.<br />

Beispiel: Bauunternehmer B erfährt von einer Kartellabsprache<br />

der Konkurrenten K 1 und K 2 im Rahmen einer<br />

städtischen Ausschreibung um den Ausbau eines Fußballstadions.<br />

Da er weiß, dass seine Mitstreiter Angebote i.H.v. € 52<br />

Mio. (K 1) und € 54 Mio. (K 2) abgeben werden, reicht B ein<br />

Angebot zu € 48 Mio. ein. Ursprünglich hatte B mit Kosten<br />

i.H.v. € 42 Mio. kalkuliert und geplant, ein Angebot in dieser<br />

Höhe abzugeben.<br />

Tiedemann hält die Beschränkung des Tatbestands auch<br />

hier für notwendig. Die Gefährlichkeit von Submissionsabsprachen<br />

liege nicht in der Möglichkeit der geheimen Kenntniserlangung<br />

Dritter und deren einseitiger Angebotsanpassung,<br />

sondern in der Verwirklichung der Absprachen durch<br />

die Vertragspartner bzw. dem damit einhergehenden Erfolg<br />

der Wettbewerbsbeschränkung. 66 Dem ist entgegenzuhalten,<br />

dass es für die Beeinträchtigung des Schutzguts „Wettbewerb“<br />

nicht darauf ankommt, ob dieses durch die Angebotsabgabe<br />

eines Kartellmitglieds oder eines an der Absprache<br />

Unbeteiligten herabgesetzt wird. Auch ist nicht einzusehen,<br />

weshalb ein Dritter, der möglicherweise sogar gezielt von der<br />

Absprache Kenntnis erlangt, und sich diese in derselben<br />

62<br />

Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 386; Heine (Fn. 26), § 298 Rn. 17.<br />

63<br />

Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 17; zust. wohl Dannecker<br />

(Fn. 6), § 298 Rn. 51, 62; offen gelassen in BGHSt 49, 201<br />

(208).<br />

64<br />

Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 18; zust. Dannecker<br />

(Fn. 6), § 298 Rn. 23.<br />

65<br />

Vgl. hierzu BGHSt 47, 383 (385); Lackner/Kühl (Fn. 41),<br />

Vor § 25 Rn. 6 m.w.N. Gleiches gilt für das von der älteren<br />

Rechtsprechung verlangte „eigene Interesse am Taterfolg“,<br />

vgl. nur BGHSt 28, 236 (240).<br />

66<br />

Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 17; zust. Dannecker<br />

(Fn. 6), § 298 Rn. 62.


Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

korrupten Art zu Nutze macht, wie die an ihr Beteiligten,<br />

diesen gegenüber privilegiert werden sollte. 67<br />

Letztlich überzeugt auch das systematische Argument<br />

Tiedemanns nicht, Täter des § 298 StGB könnten schon deshalb<br />

nur an der Absprache Beteiligte sein, weil einseitige<br />

Anpassungen an wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anderer<br />

vom Kartellverbot des § 1 GWB nicht erfasst würden. 68<br />

Zwar besteht an der inhaltlichen Richtigkeit dieser Aussage<br />

bezüglich § 1 GWB kein Zweifel. Jedoch pönalisiert § 298<br />

StGB nicht die Beteiligung an der Absprache, sondern die<br />

Abgabe eines hierauf beruhenden Angebots. 69 Die Frage nach<br />

dem Täterkreis ist deshalb von der vorab behandelten 70 Frage<br />

danach, wer Mitglied einer tatbestandsmäßigen Absprache<br />

sein kann, getrennt zu betrachten. 71<br />

Für die von Tiedemann vorgeschlagene Einschränkung<br />

des Tatbestands um Außenseiter besteht somit weder aus<br />

teleologischer noch aus systematischer Sicht Raum. Täter des<br />

§ 298 StGB können auch an der Absprache Unbeteiligte sein.<br />

5. Teleologische Reduktion um Quoten- und Erhaltungskartelle?<br />

Diskutiert wird ferner eine teleologische Reduktion des § 298<br />

StGB in Fällen, in denen die Submissionsabsprache nicht auf<br />

die Erzielung eines über dem (hypothetischen) Marktwert<br />

liegenden Preises abzielt. 72 Diese Konstellation betrifft zumeist<br />

Fälle sog. Quoten- und Erhaltungskartelle, deren Motivation<br />

nicht in der gesteigerten Gewinnerzielung, sondern in<br />

der Sicherung der Auftragslage einzelner Unternehmen, der<br />

Abwehr eines ruinösen Branchenwettbewerbs oder der<br />

gleichmäßigen Auslastung vorhandener Kapazitäten liegt.<br />

Beispiel: Die Bauunternehmer B 1, B 2 und B 3 nehmen<br />

regelmäßig an städtischen Ausschreibungen teil. Damit sie<br />

den Einsatz ihrer Arbeitsmittel besser planen können, einigen<br />

sie sich im Vorfeld einzelner Ausschreibungen, wer von<br />

ihnen den Zuschlag erhalten soll. Der jeweils Auserwählte<br />

reicht dabei ein Angebot in Höhe der tatsächlich kalkulierten<br />

(günstigsten) Baukosten ein, während die verbleibenden<br />

beiden Unternehmer deutlich überhöhte Angebote abgeben,<br />

um dem Begünstigten den Zuschlag zu sichern.<br />

67<br />

Ähnlich nur Tröndle/Fischer (Fn. 10), § 298 Rn. 14, jedoch<br />

betreffend den aus dem Kartell aussteigenden Täter, der seine<br />

Kenntnisse weiterhin zu seinem Vorteil nutzt. Ein durch die<br />

fehlende Beteiligung an der Absprache geringerer Handlungsunwert<br />

wird hier jedenfalls dadurch relativiert, dass der<br />

Dritte neben dem Ausschreibenden auch die Kartellmitglieder<br />

hintergeht – wobei über deren Schutzbedürftigkeit freilich<br />

gestritten werden darf.<br />

68<br />

Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 17; ebenso Wedlich<br />

(Fn. 5), S. 160.<br />

69<br />

Die Absprache als solche hingegen ist gemäß § 81 Abs. 1<br />

Nr. 1 GWB lediglich bußgeldbewehrt.<br />

70<br />

Vgl. oben III. 2.<br />

71<br />

Dies stellt Tiedemann selbst zuvor ausdrücklich fest, vgl.<br />

Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 16.<br />

72<br />

Vgl. Otto, ZRP 1996, 300 (302); ähnlich ders., wistra<br />

1999, 41 (46); s. auch Diehl, BauR 1993, 1 (2).<br />

Für eine Beschränkung des § 298 StGB in diesen Fällen<br />

spricht, dass der Staat in Branchen mit hoher Ausschreibungshäufigkeit<br />

auf der Nachfrageseite regelmäßig monopolartig<br />

auftritt. Die Erstellung individueller Angebote verursacht<br />

hingegen für die bietenden Unternehmen nicht unerhebliche<br />

Kosten, die bei Nichterhalt des Auftrages vergeblich<br />

aufgewendet werden. Vor diesem Hintergrund mag reinen<br />

Quoten- oder Erhaltungskartellen tatsächlich ein geringerer<br />

Handlungsunwert zugrunde liegen, als Preiserhöhungskartellen.<br />

Nicht zu Unrecht weist Otto zudem darauf hin, dass die<br />

mit ihnen einhergehende gesteigerte Koordination der Kapazitäten<br />

zu Kosteneinsparungen führen kann. Diese resultierten<br />

letztlich in günstigeren Angeboten für den Nachfrager,<br />

was gerade im Interesse eines leistungsgerechten Wettbewerbs<br />

liege. 73<br />

Ob dadurch eine tatbestandsmäßige Einschränkung des<br />

§ 298 StGB gerechtfertigt ist, erscheint dennoch zweifelhaft.<br />

Zunächst lässt die Argumentation Ottos außer Acht, dass<br />

primäres Schutzgut der Vorschrift nicht das Vermögen des<br />

Ausschreibenden, sondern die Freiheit des Wettbewerbs –<br />

vor unlauteren, nicht offenbarten Einflüssen 74 – ist. Dass<br />

dieses Rechtsgut in den fraglichen Fällen nicht ebenso beeinträchtigt<br />

wird, wie durch Preiserhöhungskartelle, ließe sich<br />

aus wettbewerbstheoretischer Sicht allenfalls damit begründen,<br />

dass Quoten- und Erhaltungskartelle beinahe ausschließlich<br />

in durch oligopolistische Strukturen geprägten Marktsegmenten<br />

auftreten. Gerade die für die Bauwirtschaft typischen<br />

sog. engen Oligopole sind durch eine kleine Anzahl<br />

relativ großer Anbieter, ein hohes Maß an Gruppensolidarität<br />

und nichtrivalisierendes – aber legales – Parallelverhalten<br />

gekennzeichnet. 75 Man könnte daher argumentieren, Wettbewerb<br />

entfalte hier von vornherein keine besondere Intensität<br />

und könne folglich auch nicht in nennenswertem Ausmaß<br />

beeinträchtigt werden. Zum einen aber vernachlässigt diese<br />

Sichtweise, dass sich das nicht kompetitive Parallelverhalten<br />

meist nur auf den Preis bezieht, während hinsichtlich der<br />

übrigen Aktionsparameter (Qualität etc.) regelmäßig lebhafter<br />

Wettbewerb herrscht. Zum anderen lässt sie außer Acht,<br />

dass das Ausschreibungsverfahren in seiner gesetzlichen<br />

Ausgestaltung das allgemeine Prinzip wirtschaftlichen Leistungswettbewerbs<br />

konkretisiert und dieses zum alleinigen<br />

Maßstab für die Findung des „richtigen“ Preises für das Ausschreibungsobjekt<br />

erhebt. 76 Das besondere volkswirtschaftliche<br />

Schädigungspotential von Quoten- und Erhaltungskartellen<br />

besteht ferner darin, dass gerade die Erhaltung unrentabler<br />

Kapazitäten zu ineffizienten Branchenstrukturen führt.<br />

Diese können mittel- bis langfristig die volkswirtschaftliche<br />

Produktivität ganzer Wirtschaftszweige und die Leistungsfähigkeit<br />

der gesamten deutschen Volkswirtschaft im internationalen<br />

Leistungswettbewerb (Stichwort: Globalisierung)<br />

schädigen.<br />

73 Vgl. Otto, ZRP 1996, 300 (302).<br />

74 Vgl. oben II. 1.<br />

75 Sog. nichtkompetitives Oligopol, vgl. Bartling/Luzius,<br />

Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 15. Aufl. 2004, S. 104 f.<br />

76 Vgl. Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 4.<br />

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89


David Pasewaldt<br />

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Letztlich überzeugt auch ein die Rechtsanwendung betreffendes,<br />

von den Vertretern der Gegenansicht – soweit ersichtlich<br />

– bislang vernachlässigtes Argument gegen die Vornahme<br />

einer teleologischen Reduktion des § 298 StGB im Sinne<br />

Ottos. In der Praxis nämlich dürfte ein Bereicherungsvorsatz<br />

der Absprechenden ähnlich schwer zu beweisen sein, wie ein<br />

tatsächlich entstandener Vermögensschaden des Ausschreibenden.<br />

Die Existenz eines Quoten- oder Erhaltungskartells<br />

würde regelmäßig zur Schutzbehauptung der Absprechenden,<br />

die in Verbindung mit dem strafprozessualen Zweifelssatz (in<br />

dubio pro reo) Strafbarkeitslücken provozierte. § 298 StGB<br />

würde praktisch ausgehöhlt und die erklärte Absicht des<br />

Gesetzgebers, mit der Vorschrift einen vom Schadensnachweis<br />

– bzw. einem entsprechenden Vorsatz – unabhängigen<br />

Tatbestand zu schaffen, 77 konterkariert.<br />

6. Das Verhältnis von § 298 zu § 263 StGB<br />

Ausgangspunkt der jüngeren Diskussion über die strafrechtliche<br />

Behandlung von Submissionskartellen, die zur Schaffung<br />

des § 298 StGB führte, war die Tatsache, dass Submissionsabsprachen<br />

lange Zeit straflos blieben, da den Tatgerichten<br />

der für die Verurteilung wegen Betruges gemäß § 263 StGB<br />

erforderliche Schadensnachweis nicht gelang. Zwar hatte der<br />

BGH den Anwendungsbereich des Betrugstatbestandes in<br />

den beiden sog. Rheinausbau-Entscheidungen 78 ausgedehnt,<br />

indem er die Feststellung eines Vermögensschadens des<br />

Ausschreibenden – anstelle des traditionellen Äquivalenzverhältnisses<br />

von Leistung und Gegenleistung – unter Zuhilfenahme<br />

eines hypothetischen Markt- bzw. Wettbewerbspreises<br />

für zulässig erklärte. Auch wenn sich ein solcher im Einzelfall<br />

nicht exakt bestimmen ließe, könne anhand bestimmter<br />

Indizien 79 mit ausreichender Sicherheit darauf geschlossen<br />

werden, dass der tatsächlich verlangte Preis über dem hypothetischen<br />

Marktpreis liege, ein Vermögensschaden des Ausschreibenden<br />

also entstanden sei. 80 Entgegen der im Schrifttum<br />

gegen diese sog. Indizienlösung 81 erhobenen Kritik 82 hält<br />

der BGH an seinem Weg der Schadensermittlung auch nach<br />

Einführung des § 298 StGB fest. In neueren Entscheidungen<br />

lässt er sogar allein die Existenz sog. Ausgleichs- oder<br />

Schmiergeldzahlungen an andere Kartellmitglieder als<br />

Nachweis für das Vorliegen eines entsprechenden Mindestschadens<br />

des Ausschreibenden genügen. 83 Kommt eine Betrugsstrafbarkeit<br />

bei Submissionsabsprachen auf Grundlage<br />

der höchstrichterlichen Rechtsprechung somit weiterhin in<br />

77 Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 13.<br />

78 Vgl. das Urteil vom 8.1.1992 (BGHSt 38, 186) und den<br />

Beschluss vom 31.8.1994 (BGH wistra 1994, 346).<br />

79 Vgl. BGHSt 38, 186 (193 f.).<br />

80 Vgl. Eingehend zu den Möglichkeiten der Schadensfeststellung<br />

in Fällen von Submissionsbetrug Satzger (Fn. 35),<br />

S. 66 ff.; zusammenfassend Rönnau, JuS 2002, 545 (547 ff.).<br />

81 Vgl. Satzger (Fn. 35), S. 125.<br />

82 Vgl. etwa Bartmann, Der Submissionsbetrug, 1997, S. 49 ff.;<br />

Lüddersen, wistra 1995, 243.<br />

83 Vgl. BGHSt 47, 83 (88) = NStZ 2001, 540 = JR 2002, 389<br />

m. Anm. Satzger.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

90<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

Betracht, stellt sich die Frage des Verhältnisses beider Tatbestände<br />

zueinander.<br />

Festzuhalten sind zunächst die zwischen beiden Tatbeständen<br />

bestehenden Überschneidungen. Im Regelfall dürfte<br />

§ 298 StGB neben § 263 StGB verwirklicht sein. 84 Außerhalb<br />

dieser Schnittmenge sind vor allem Fälle denkbar, in denen<br />

§ 298 StGB ohne § 263 StGB erfüllt ist, was auf das Fehlen<br />

eines (nachweisbaren) Vermögensschadens oder den früheren<br />

Vollendungszeitpunkt der Angebotsabgabe bei § 298 StGB<br />

zurückzuführen sein kann. 85 Umgekehrt dürften Fälle von<br />

Submissionsabsprachen, in denen § 263 StGB ohne § 298<br />

StGB verwirklicht wird, eher die Ausnahme darstellen. 86<br />

Auf Konkurrenzebene verstehen Teile der Literatur § 298<br />

StGB als lex specialis zu § 263 StGB. 87 Die h.M. hingegen<br />

hält beide Tatbestände für nebeneinander anwendbar 88 und<br />

nimmt Tateinheit an 89 . Wiederum andere betrachten § 298<br />

StGB als subsidiär gegenüber § 263 StGB. 90<br />

Für den zuerst genannten Ansatz lässt sich anführen, dass<br />

§ 298 StGB das Vermögen des Ausschreibenden mitschützt, 91<br />

die Vorschrift also wenigstens auch dem Schutzgut des § 263<br />

StGB 92 dient. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der<br />

Tatbestand des § 298 StGB keine Regelbeispiele besonders<br />

schwerer Fälle und keine Qualifikationen vorsieht. Da bei<br />

Submissionsabsprachen jedoch regelmäßig Gewerbsmäßigkeit<br />

(§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 StGB) und/oder eine Bandentat<br />

(§ 263 Abs. 5 StGB) vorliegen dürfte, sollte § 263 StGB<br />

neben § 298 StGB anwendbar bleiben, um das in diesen Regelungen<br />

enthaltene Unrecht abzugelten. 93<br />

84 Götting/Götting bezeichnen § 263 StGB sogar als „notwendige<br />

Begleittat“ zu § 298 StGB, vgl. Götting/Götting,<br />

ZfBR 2003, 341 (349).<br />

85 Unzutreffend ist deshalb der Einwand Götting/Göttings,<br />

§ 298 StGB verfüge gegenüber § 263 StGB über „keinen<br />

nennenswerten eigenen Anwendungsbereich“, vgl. Götting/Götting,<br />

ZfBR 2003, 341 (345). In den zuletzt genannten<br />

Fällen dürfte § 263 StGB – beim Vorliegen eines Schädigungsvorsatzes<br />

und einer Bereicherungsabsicht – indes das<br />

strafbare Versuchsstadium erreicht haben.<br />

86 Hierfür bleiben etwa die Fälle kollusiven Zusammenwirkens<br />

von Mitarbeitern des Veranstalters und lediglich einem<br />

Anbieter. Hier mag ein Betrug zu Lasten des Ausschreibenden<br />

zwar gegeben sein. Wie gezeigt ist § 298 StGB in diesen<br />

Fällen – mangels Rechtswidrigkeit der Absprache – jedoch<br />

nicht erfüllt, vgl. oben III. 2.<br />

87 Vgl. Krey/Hellmann, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2,<br />

14. Aufl. 2005, Rn. 534b; Walter, JZ 2002, 254 (256); ders.,<br />

GA 2001, 131 (137).<br />

88 Vgl. Grützner (Fn. 16), S. 536 f.; Tiedemann (Fn. 8), § 298<br />

Rn. 51 – jeweils m.w.N.; s. auch BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />

89 Vgl. Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 70; Tröndle/Fischer<br />

(Fn. 10), § 298 Rn. 22 m.w.N.<br />

90 Vgl. Maurach/Schröder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer<br />

Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2005, § 68 Rn. 9.<br />

91 Vgl. oben II. 1.<br />

92 Hierzu Tröndle/Fischer (Fn. 10), § 263 Rn. 3 m.w.N.<br />

93 Ähnlich Walter, JZ 2002, 254 (256).


Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Umgekehrt schützt § 298 StGB nicht nur das Vermögen<br />

des Veranstalters, sondern primär den freien Wettbewerb, 94<br />

was gegen eine Subsidiarität des § 298 StGB i.S. der zuletzt<br />

genannten Ansicht spricht. Überdies vernachlässigen deren<br />

Vertreter, dass der Gesetzgeber mit § 298 StGB – im Gegensatz<br />

zum im Gesetzesentwurf des Bundesrates vorgeschlagenen<br />

Tatbestand des „Ausschreibungsbetruges“ gemäß § 264b<br />

StGB 95 – auf eine formelle Subsidiaritätsklausel gerade verzichtet<br />

hat.<br />

Im Ergebnis ist deshalb Tateinheit und echte (ungleichartige)<br />

Idealkonkurrenz zwischen § 298 und § 263 StGB anzunehmen.<br />

IV. Zusammenfassung und Ausblick<br />

Die Ausführungen verdeutlichen, dass die praktische Anwendung<br />

des § 298 StGB auch ein Jahrzehnt nach dessen Einführung<br />

noch zahlreiche Fragen aufwirft. Die daraus resultierenden<br />

Problemstellungen sind jedoch lösbar, wenn man die mit<br />

dem Rechtsgut Wettbewerb naturgemäß eng verbundenen<br />

wirtschaftlichen Aspekte in die Bewertung einbezieht. Im<br />

Übrigen gilt es hier, die seitens der Rechtsprechung vielfach<br />

noch ausstehenden Stellungnahmen abzuwarten.<br />

Über die zukünftige Entwicklung des Kartell(straf)rechts<br />

und insbesondere darüber, ob sich vor dem Hintergrund der<br />

starken wirtschaftlichen Gefährdung wettbewerbswidriger<br />

Verhaltensweisen ein allgemeiner Trend zur Kriminalisierung<br />

des Kartellrechts ausmachen lässt, kann an dieser Stelle allenfalls<br />

spekuliert werden. Eine einheitliche internationale Entwicklung,<br />

gerade innerhalb Europas, lässt sich derzeit jedenfalls<br />

nicht feststellen. Frankreich etwa stellt Kartellabsprachen<br />

ebenso wie den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen<br />

generell unter Strafe, soweit mit ihnen eine Absicht<br />

der Preisbeeinflussung verbunden ist. 96 Die Wettbewerbsgesetze<br />

von Spanien und Italien hingegen beschränken sich<br />

grundsätzlich auf die Verhängung von Geldbußen; beide<br />

Länder haben jedoch einen dem deutschen § 298 StGB vergleichbaren<br />

Straftatbestand. 97 Und während zahlreiche Kartellrechtsverstöße<br />

in Österreich unlängst entkriminalisiert,<br />

also auf Ordnungswidrigkeiten herabgestuft wurden, hat man<br />

mit § 168b öStGB 98 im Gegenzug auch hier einen auf Submissionsabsprachen<br />

zugeschnittenen Tatbestand geschaffen.<br />

99<br />

94<br />

Vgl. oben II. 1.<br />

95<br />

Vgl. BT-Drs. 13/3353, S. 5, 10.<br />

96<br />

Vgl. Art. L. 420-6 des französischen Code de Commerce.<br />

Daneben existiert seit 1994 ein Sondertatbestand der Manipulation<br />

öffentlicher Ausschreibungen, vgl. Art. 313-6 des Code<br />

Pénal.<br />

97<br />

Vgl. Art. 353 des italienischen Codice Penale und Art. 262<br />

des spanischen Código Penal.<br />

98<br />

Eingeführt durch Bundesgesetz mit Wirkung zum<br />

1.7.2002, vgl. BGBl. I für die Republik Österreich,<br />

Nr. 62/2002.<br />

99<br />

Eingehend zum europäischen Kartellstrafrecht und internationalen<br />

Tendenzen Dannecker, in: Schick/Hilf (Hrsg.), Kartellstrafrecht,<br />

2007, S. 31 ff.<br />

Im Hinblick auf den wachsenden internationalen Standortwettbewerb<br />

stellt sich die Frage, inwieweit eine zunehmende<br />

Kriminalisierung des Kartellrechts aus volkswirtschaftlicher<br />

Sicht tatsächlich sinnvoll ist. Es bedarf keiner<br />

besonderen Hervorhebung, dass zu erwartende strafrechtliche<br />

Sanktionen kartellrechtlich relevanter Verhaltensweisen die<br />

Wettbewerbsfähigkeit – und damit die Standortwahl – international<br />

tätiger Unternehmen ebenso beeinflussen wie beispielsweise<br />

Steuerbelastungen, Umweltauflagen oder das<br />

jeweilige nationale Arbeitsrecht. Insoweit können die mit der<br />

Pönalisierung wettbewerbswidrigen Verhaltens beabsichtigten<br />

positiven Auswirkungen leicht ins Gegenteil umschlagen,<br />

wenn Unternehmen nationale Standorte aufgrund der dort<br />

geltenden strafrechtlichen Bestimmungen meiden. Andererseits<br />

gilt es auch hier, der Gefahr eines „raise-to-the-bottom“-<br />

Wettbewerbs, also eines gegenseitigen Unterbietens der Länder<br />

bei der strafrechtlichen Behandlung kartellrechtswidriger<br />

Verhaltensweisen, das die Korrumpierung des gesamten<br />

Wirtschaftsverkehrs zur Folge hätte, entgegenzuwirken. Auf<br />

lange Sicht wäre eine einheitliche, zumindest alle EU-<br />

Mitgliedstaaten bindende internationale Vorgabe zu begrüßen.<br />

100<br />

100<br />

Zum Vorschlag der EG-Kommission zur Einführung eines<br />

Straftatbestandes gegen „betrügerisches und unfaires wettbewerbsbeschränkendes<br />

Verhalten bei öffentlichen Ausschreibungen<br />

auf dem gemeinsamen Markt“ (ABl. EG Nr. C 253/3<br />

v. 4.9.2000), Tiedemann (Fn. 8), Vor § 298 Rn. 1, 12.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

91


Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter*<br />

Von Rechtsanwältin Dr. Wiebke Arnold, Kiel<br />

I. Einleitung<br />

Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz<br />

räumen der Staatsanwaltschaft in zahlreichen Bestimmungen 1<br />

die Befugnis ein, unter mehreren sachlich oder örtlich zuständigen<br />

Gerichten zu wählen oder auf die personelle Besetzung<br />

des Gerichts Einfluss zu nehmen. Die in diesen Gesetzen<br />

normierten richterlichen Zuständigkeiten stehen mithin<br />

nicht unverrückbar fest, sondern sind vielmehr beweglich im<br />

Sinne einer Abhängigkeit von der Entscheidung der zuständigen<br />

Anklagebehörde zwischen verschiedenen Zuständigkeitsalternativen.<br />

2 Dieser kritische Punkt verleiht den jeweiligen<br />

Bestimmungen auch ihre Bezeichnung als „bewegliche<br />

Zuständigkeiten“. Sie überlassen es der Staatsanwaltschaft,<br />

einer staatlichen Institution und weisungsgebundenen Behörde,<br />

den gesetzlichen Richter im Einzelfall zu bestimmen.<br />

Richter ist indes nicht gleich Richter. Richter sind individuelle<br />

Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Anschauungen,<br />

Fähigkeiten, Neigungen und Temperamenten. 3 Daher bergen<br />

die beweglichen Zuständigkeiten die Gefahr in sich, dass sich<br />

der Staatsanwalt den Richter aussucht, bei dem er das ihm<br />

vorschwebende Ziel – Schuldspruch, revisionssicheres Urteil,<br />

rasche Erledigung, niedriges oder hohes Strafmaß – am ehesten<br />

zu erreichen glaubt, ohne dass ihm dabei überhaupt bewusst<br />

wird, dass er unter Umständen justizwidrige Überlegungen<br />

anstellt. 4 Daneben drängt sich die Frage auf, ob der<br />

von der Staatsanwaltschaft gewählte Richter noch als ein<br />

„gesetzlicher Richter“ i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstanden<br />

werden kann.<br />

Diese Fragestellung hat bereits eine Vielzahl von Gerichten<br />

5 beschäftigt. Auch in der Literatur 6 wird die Thematik seit<br />

* Die nachfolgende Abhandlung basiert auf der im Jahre<br />

2007 publizierten Dissertation der Verfasserin mit dem Titel<br />

„Die Wahlbefugnis der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung<br />

– insbesondere in Jugendschutzsachen, § 26 GVG“.<br />

1<br />

Bspw. §§ 7 ff. StPO; §§ 2, 3 StPO; § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG;<br />

§ 26 Abs. 1 S. 1 GVG; § 74a Abs. 2 GVG. Die Aufzählung<br />

erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ein erweiterter<br />

Überblick findet sich bei Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren,<br />

1980, S. 127 f. und Henkel, Der gesetzliche Richter, 1968,<br />

S. 23.<br />

2<br />

So Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter,<br />

2000, S. 108.<br />

3<br />

Vgl. Bockelmann, DRiZ 1965, 151.<br />

4<br />

Moller, MDR 1966, 100.<br />

5<br />

U.a. BGHSt 9, 367 = MDR 1957, 112; BGH NJW 1958, 918;<br />

BGHSt 13, 297 = NJW 1960, 56; BVerfGE 9, 223; 22, 254;<br />

aus neuerer Zeit OLG Karlsruhe StV 1998, 252; OLG Hamm<br />

StV 1999, 240.<br />

6<br />

V. Scanzoni, JW 1924, 1642; Kern, Der gesetzliche Richter,<br />

1927; Schmidt, in: Bockelmann u.a. (Hrsg.), Probleme der<br />

Strafrechtserneuerung, Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstag,<br />

1944, S. 263 f.; Niese, JuV 1950, 73; Oehler,<br />

ZStW 64 (1952), 292; Bockelmann, NJW 1958, 889; Gottschalk,<br />

Das Recht auf den gesetzlichen Richter, 1968; Grün-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

92<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

fast einem Jahrhundert kontrovers diskutiert. Obwohl zwei<br />

Entscheidungen des BVerfG die beweglichen Zuständigkeitsbestimmungen<br />

in §§ 24 Abs. 1 Nr. 2, 74 Abs. 1 S. 2<br />

GVG a.F. 7 und § 25 Nr. 2c GVG a.F. 8 – wenn auch im Wege<br />

der verfassungskonformen Auslegung – für verfassungskonform<br />

erklärten, ist die Diskussion bis heute nicht verstummt<br />

und findet unverändert Eingang in juristische Abhandlungen 9 .<br />

Interessanterweise finden sich dabei in der jüngsten Literatur<br />

überwiegend kritische Anmerkungen, die die Verfassungsmäßigkeit<br />

der beweglichen Zuständigkeiten verneinen, zumindest<br />

jedoch in Frage stellen. Während die Rechtsprechung<br />

dazu übergeht, sich nahezu jeden Einwand gegen die<br />

bewegliche Zuständigkeitsordnung zu verbieten 10 , fallen die<br />

Argumente der frühen Kritiker 11 noch heute auf fruchtbaren<br />

Boden und regen gerade die jüngere Generation von Juristen<br />

zu Reformbestrebungen bzw. Gesetzesnovellierungen an. Auf<br />

die jahrzehntelange Relativierung des gesetzlichen Richters<br />

folgt nunmehr eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen<br />

<strong>Inhalt</strong>e des Postulats.<br />

Auffallend ist im Rahmen der Diskussion allerdings, dass<br />

durchgängig Belege für die Handhabung der geltenden Regelungen<br />

durch die Praxis fehlen und kaum in die Überlegungen<br />

mit einbezogen werden. Dabei würde es, wie Dästner 12<br />

bereits im Jahre 1981 zutreffend bemerkt hat, „eine sachgerechte<br />

Beurteilung erleichtern, wenn Daten über die tatsächliche<br />

Ausfüllung der den Rechtspflegeorganen eingeräumten<br />

Ermessens- und Beurteilungsspielräume verfügbar wären,<br />

weil erst dann das Gewicht der Kritik an der von der herrschenden<br />

Meinung für unbedenklich gehaltenen gegenwärtigen<br />

Rechtslage einzuschätzen wäre“. Vor diesem Hintergrund<br />

hat die Verfasserin im Rahmen einer empirischen Studie<br />

das faktische Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft<br />

untersucht. 13 Den Ausgangspunkt der Studie bildete dabei die<br />

wald, JuS 1968, 452; Dästner, RuP 1981, 18; Achenbach, in:<br />

Broda u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten<br />

Geburtstag, 1984, S. 849 f.; Heghmanns, StV 1999, 240;<br />

ders., StV 2000, 277.<br />

7<br />

BVerfGE 9, 223.<br />

8<br />

BVerfGE 22, 254.<br />

9<br />

Herzog, StV 1993, 609; Hohendorf, NJW 1995, 1545; Weiler,<br />

NJW 1996, 1042; Fischer, NJW 1996, 1044; Roth (Fn. 2);<br />

Glaser, Aktuelle Probleme im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit<br />

der Strafgerichte, 2001; Sowada, Der gesetzliche<br />

Richter im Strafverfahren, 2002; Schmitz, Bewegliche Zuständigkeiten<br />

der StPO und das Prinzip des gesetzlichen<br />

Richters, 2003; Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2006, 17.<br />

10<br />

So bereits Bockelmann, NJW 1958, 889.<br />

11<br />

Hervorzuheben sind u.a. Kern und Schmidt (Fn. 6).<br />

12<br />

Dästner, RuP 1981, 18 (19).<br />

13<br />

Arnold, Die Wahlbefugnis der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung<br />

– insbesondere in Jugendschutzsachen, § 26<br />

GVG, S. 177 f. Die empirische Studie bezog sich auf das<br />

Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft im Rahmen des § 26<br />

GVG. Gleichwohl lässt die Untersuchung auch Rückschlüsse


Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Frage, wie die beweglichen Zuständigkeitsregelungen von<br />

der Staatsanwaltschaft selbst bewertet und gehandhabt werden.<br />

Sie ist insofern von besonderer Bedeutung, als dass die<br />

Staatsanwaltschaft als „politische, weisungsabhängige Behörde“<br />

14 im Rahmen der verfassungsrechtlichen Diskussion<br />

einen maßgeblichen Angriffs- und Kritikpunkt für die Gegner<br />

der beweglichen Zuständigkeiten darstellt. Als staatliche<br />

Institution, die die beweglichen Zuständigkeiten konkret<br />

anwendet, wird ihr von Teilen der Literatur erhebliches Misstrauen<br />

entgegengebracht. Es ist folglich von großem Interesse,<br />

wie sich die Staatsanwaltschaft selbst als „menschliche<br />

Gefahrenquelle“ im Rahmen der beweglichen Zuständigkeiten<br />

sieht, inwiefern ein Problembewusstsein im Hinblick auf<br />

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vorhanden ist und von welchen in-<br />

ternen Richtlinien sie sich bei der Anklageerhebung leiten<br />

lässt.<br />

In den nachfolgenden Ausführungen soll das Ergebnis der<br />

empirischen Untersuchung verkürzt wiedergegeben werden.<br />

Zuvor werden allerdings die verschiedenen Argumentationsansätze<br />

in Rechtsprechung und Literatur aufgezeigt, wobei<br />

nicht zwischen den verschiedenen beweglichen Zuständigkeitsbestimmungen<br />

differenziert wird. Denn auch die Kritik<br />

an den bestehenden Bestimmungen differenziert in der Regel<br />

nicht zwischen den einzelnen Zuständigkeitsalternativen,<br />

sondern weist – oftmals geprägt durch Wiederholungen –<br />

eine gemeinsame Struktur auf. Es ist deshalb erforderlich, die<br />

Literaturauffassungen und die maßgeblichen Entscheidungen<br />

in der Rechtsprechung in ihrer Gesamtheit zu betrachten, um<br />

dann aus ihrer Analyse die allgemein gültigen Kernaussagen<br />

zu ermitteln. Daran anschließend werden die Erkenntnisse<br />

der empirischen Studie wiedergegeben, um abschließend<br />

feststellen zu können, ob das faktische Anklageverhalten der<br />

Staatsanwaltschaft die in der Literatur bestehenden Bedenken<br />

tatsächlich verifiziert.<br />

II. Die für eine bewegliche Zuständigkeit angeführten<br />

Argumente<br />

Die Befürworter 15 der beweglichen Zuständigkeitsbestimmungen<br />

sind der Ansicht, dass der durch Art. 101 Abs. 1 S. 2<br />

GG verfassungsrechtlich garantierte Schutz nicht so weit<br />

gespannt werden dürfe, dass dem einfachen Gesetzgeber kein<br />

angemessener Spielraum mehr für eine zweckmäßige Zuständigkeitsordnung<br />

verbliebe und den praktischen Bedürfnissen<br />

nicht mehr Rechnung getragen werden könne 16 . Die<br />

auf das Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft im Rahmen<br />

der übrigen beweglichen Zuständigkeitsregelungen zu.<br />

14 Oehler, ZStW 64 (1952), 292 (304).<br />

15 U.a. Peters, Strafprozeßrecht, 1952, S. 106; Henkel, Strafverfahrensrecht,<br />

1953, S. 170; Dallinger, MDR 1957, 113;<br />

Dünnebier, JR 1975, 4; Rogall, StV 1985, 354; Rebmann,<br />

NStZ 1986, 292 (293); Schnarr, MDR 1993, 595; Lange,<br />

NStZ 1995, 11; Schoreit, NStZ 1997, 70, jeweils m.w.N.;<br />

OLG Hamm StV 1990, 240; BGHSt 9, 367 = MDR 1957, 112;<br />

BGHSt 13, 297 = NJW 1960, 56; BGH NJW 1960, 542 (544);<br />

BGH, Urt. v. 18.3.1975 – 1 StR 559/74; BVerfGE 9, 223;<br />

22, 254.<br />

16 Dallinger, MDR 1957, 113.<br />

Abwägung zwischen Praktikabilität und Rechtssicherheit fällt<br />

hier also eindeutig zugunsten ersterer aus. Im Rahmen dieser<br />

praxisorientierten Argumentation wird ferner auf die differenzierten<br />

Lebensverhältnisse und die weiten Strafrahmen<br />

des materiellen Rechts verwiesen 17 . Ein starres Regulativ<br />

könne nicht in allen Fällen eine der Tat und ihrer Eigenart<br />

angemessene verfahrensmäßige Behandlung gewähren. 18<br />

Zudem ließen die weiten Strafrahmen des modernen Strafrechts<br />

eine starre Zuständigkeitsordnung nicht mehr zu. Diese<br />

würde vielmehr den Zweck einer sinnvollen Zuständigkeitsordnung<br />

vereiteln, der darin bestehe, die schweren Verfehlungen<br />

den höheren und die leichteren den niederen Gerichten<br />

zuzuweisen. 19 Auch die Entlastung der Spruchkörper<br />

dahingehend, dass unterschiedlich besetzte und damit unterschiedlich<br />

leistungsfähige Spruchkörper sachgerecht eingesetzt<br />

werden können, wird als Argument für eine bewegliche<br />

Zuständigkeitsordnung angeführt. Insbesondere wirke sie<br />

einer Überforderung der Einzelrichter und Schöffengerichte<br />

entgegen. 20 Allgemein ermögliche eine bewegliche Zuständigkeitsordnung<br />

eine ökonomische und funktionstüchtige<br />

Verfahrensgestaltung im Bereich der Strafrechtspflege, während<br />

ein starres System ein unpraktisches Verfahren begünstigen<br />

würde. Soweit von den Gegnern auf die Möglichkeit<br />

des Missbrauchs hingewiesen werde, gehe dieses Argument<br />

fehl, da auch bei einer völlig starren Zuständigkeitsregelung<br />

die Gefahr des Missbrauchs nicht ausgeschlossen werden<br />

könne. 21 Zudem wird in diesem Zusammenhang auf die gerichtliche<br />

Kontrollmöglichkeit der staatsanwaltschaftlichen<br />

Anklageentscheidung hingewiesen, die das der beweglichen<br />

Zuständigkeitsordnung entgegengebrachte Misstrauen gegenstandslos<br />

mache. 22 Abgesehen davon führe die abstrakte<br />

Möglichkeit eines Missbrauchs noch nicht zur Verfassungswidrigkeit<br />

der Norm. 23 Zur Rechtfertigung wird ferner auf die<br />

Entstehungsgeschichte der beweglichen Zuständigkeiten verwiesen,<br />

wobei die Historie dergestalt zur Begründung herangezogen<br />

wird, dass aus ihr hervorgehe, dass sich die flexiblen<br />

Zuständigkeiten bewährt hätten und auch der (verfassungsrechtliche)<br />

Gesetzgeber die seit Jahrzehnten bestehende<br />

Rechtslage nicht habe beseitigen wollen. 24 Bereits das Gerichtsverfassungsgesetz<br />

von 1877 sei in seiner ursprünglichen<br />

Fassung davon ausgegangen, dass eine starre Zuständigkeitsordnung<br />

nicht möglich wäre. 25 Vor diesem Hintergrund sei<br />

17<br />

Henkel, Das deutsche Strafverfahren, 1943, S. 170.<br />

18<br />

Dallinger, MDR 1957, 113.<br />

19<br />

BGHSt 9, 369; BVerfGE 9, 227.<br />

20<br />

BVerfGE 9, 227.<br />

21<br />

BGH NJW 1958, 919.<br />

22<br />

Schäfer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, 21. Aufl.<br />

1956, § 16 Rn. 3b.<br />

23<br />

BVerfGE 9, 229 (230); BGH NJW 1958, 919.<br />

24<br />

Dallinger, MDR 1957, 113.<br />

25<br />

Gem. § 75 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar<br />

1877 (RGBl. 1877, S. 41 f.) konnte die Strafkammer hinsichtlich<br />

bestimmter Delikte auf Antrag der Staatsanwaltschaft<br />

die Sache an die Schöffengerichte überweisen und<br />

hierdurch deren Zuständigkeit begründen, wenn im Einzelfall<br />

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93


Wiebke Arnold<br />

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auch der Gesetzgeber des Grundgesetzes nicht von einer fest<br />

bestimmten, unabänderlichen Zuweisung ausgegangen. Er<br />

habe vielmehr die in ihren Grundzügen bereits seit 1924<br />

bestehende Regelung 26 der beweglichen Zuständigkeiten<br />

vorgefunden und durch die Übernahme der im Wesentlichen<br />

gleichlautenden Vorschrift des Art. 105 WRV in Art. 101<br />

Abs. 1 S. 2 GG bestätigt 27 . Abgesehen davon werde der gesetzliche<br />

Richter in einem Strafverfahren nicht durch die<br />

Verfassung selbst bestimmt, sondern durch die Vorschriften<br />

des GVG und der StPO. 28 Schließlich führe auch die Möglichkeit<br />

zur Einflussnahme auf den Instanzenzug durch die<br />

Anklageentscheidung der Staatsanwaltschaft nicht zur Verfassungswidrigkeit<br />

der beweglichen Zuständigkeitsordnung,<br />

da das Grundgesetz keine mehrstufige Gerichtsbarkeit gebiete<br />

29 .<br />

Die angeführten Argumente finden sich überwiegend in<br />

der Rechtsprechung. Diejenigen in der Literatur, die ebenfalls<br />

die Verfassungsmäßigkeit der beweglichen Zuständigkeit<br />

annehmen, verweisen überwiegend nur auf die entsprechenden<br />

Entscheidungen oder machen sich das Argumentationsmuster<br />

zu Eigen, ohne weitere Begründungsansätze zu liefern.<br />

Zu Recht wird diese „Begründungsarmut“ 30 von den<br />

Kritikern in der Literatur moniert.<br />

Durchdringt man die Struktur des Argumentationsmusters,<br />

welches – unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeitsbestimmung<br />

– die Diskussion auf Seiten der Befürworter<br />

beherrscht, lässt es sich auf folgende Kernaussagen reduzieren,<br />

die zugunsten der beweglichen Zuständigkeiten angeführt<br />

werden: 1.) Praktikabilität, 2.) Anpassungsfähigkeit an<br />

die weiten Strafrahmen des materiellen Strafrechts, 3.) keine<br />

erhöhte Missbrauchsgefahr, 4.) gerichtliche Kontrollmöglichkeit,<br />

5.) kein Gebot der mehrstufigen Gerichtsbarkeit,<br />

6.) gesetzliche Verankerung und 7.) gesetzgeberische Bestätigung.<br />

III. Die Argumente der Kritiker<br />

Bereits im Jahre 1927 warnte Kern in seinem grundlegenden<br />

Werk „Der gesetzliche Richter“ dringend davor, die feste<br />

Zuständigkeitsordnung aufzugeben zugunsten eines Systems,<br />

das der Staatsanwaltschaft die Wahl des Gerichts freistelle.<br />

nicht mehr als 3 Monate Gefängnis oder 600 Mark Geldstrafe<br />

oder Buße zu erwarten waren. Die Staatsanwaltschaft konnte<br />

insofern lediglich einen Antrag auf Überweisung stellen,<br />

wobei die angegangene Strafkammer über diesen durch Beschluss<br />

ohne Anfechtungsmöglichkeit selbst entschied, § 75<br />

Abs. 2 GVG v. 1877.<br />

26 Die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege<br />

vom 4. Januar 1924 (RGBl. 1924, S. 15) nahm eine<br />

völlige Neuorganisation der Strafgerichte unter dem dominierenden<br />

Gesichtspunkt der Kostenersparnis vor und bewirkte<br />

eine außerordentliche Machtsteigerung der Staatsanwaltschaft<br />

gegenüber den Gerichten und dem Beschuldigten;<br />

siehe hierzu Arnold (Fn. 13), S. 61 f.<br />

27 BGHSt 9, 369.<br />

28 BGHSt 9, 369; ebenso Schäfer (Fn. 22).<br />

29 BVerfGE 9, 230.<br />

30 Sowada (Fn. 9), S. 723.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

94<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

Obwohl die Ausbildung eines solchen Systems noch in ihren<br />

Anfängen steckte 31 , fand sich Kern zu der Forderung genötigt,<br />

„die Entwicklung zurückzubilden, die Zuständigkeitsregelung<br />

wieder in eine feste gesetzliche Ordnung zu bringen<br />

und der Staatsanwaltschaft die ihr gegebenen Machtbefugnisse<br />

wieder zu entreißen“ 32 .<br />

Die Gegner 33 der beweglichen Zuständigkeiten geraten<br />

deshalb in Konflikt mit den entsprechenden Regelungen, weil<br />

sie den <strong>Inhalt</strong> des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter<br />

streng auslegen. So verlangt der Verfassungssatz nach Ansicht<br />

von Schmidt 34 vom Gesetzgeber, dass sich die Zuständigkeit<br />

des Gerichts „im Augenblick der Tat aus abstrakten<br />

gesetzlichen Normen“ ergäbe. Jedes andere Gericht sei ein<br />

Ausnahmegericht. Im Übrigen sei „der Grundsatz, dass jedermann<br />

Anspruch auf seinen gesetzlichen Richter hat, zu<br />

bedeutungsvoll, als dass er lediglich aus Rücksicht auf bestimmte<br />

Bedürfnisse der Praxis modifiziert werden darf“ 35 .<br />

Abgesehen davon kann nach der Auffassung der Kritiker eine<br />

konkrete Zuständigkeitsbestimmung nicht schon deshalb als<br />

verfassungsgemäß gelten, weil sie irgendeine gesetzliche<br />

Grundlage habe, den praktischen Bedürfnissen genüge oder<br />

der Tradition entspräche. Es komme vielmehr darauf an, ob<br />

sie sich für die Wahrung des Gleichheitssatzes verbürgt, ob<br />

sie verhindern könne, dass bei der Bestimmung des zuständigen<br />

Richters willkürlich verfahren wird 36 . Im Rahmen der<br />

beweglichen Zuständigkeiten könne indes der Staat über die<br />

Staatsanwaltschaft als weisungsgebundene Behörde „wie als<br />

Rechtssetzer“ die gerichtliche Zuständigkeit bestimmen. 37<br />

Dadurch habe die Regierung die Möglichkeit, die Zuständigkeit<br />

im Einzelfall politisch zu manipulieren, könne „also<br />

genau das tun, was der Satz vom gesetzlichen Richter verhü-<br />

31<br />

Die Bundesratsverordnung vom 7.10.1915 (RGBl. 1915,<br />

S. 631 f.) führte erstmals das Prinzip der beweglichen Zuständigkeit<br />

ein. In § 3 Abs. 1 wurde der Staatsanwaltschaft<br />

die Befugnis eingeräumt, bei Vergehen, die zur Zuständigkeit<br />

des Landgerichts gehörten, die Zuständigkeit des Schöffengerichts<br />

dadurch zu begründen, dass sie in der beim Amtsgericht<br />

einzureichenden Anklage einen entsprechenden Antrag<br />

stellte; siehe zur weiteren Entwicklung nach 1915 oben<br />

Fn. 25 u. 26.<br />

32<br />

Kern (Fn. 6), S. 177.<br />

33<br />

U.a. Kern (Fn. 6); Schmidt (Fn. 6); ders., MDR 1958, 721;<br />

Niese, JuV 1950, 73; Oehler, ZStW 64 (1952), 292; Bockelmann,<br />

NJW 1958, 889; ders., GA 1957, 357; Grünwald,<br />

JuS 1968, 452; Achenbach (Fn. 6); Schumacher, Staatsanwaltschaft<br />

und Gericht im Dritten Reich, 1985; Herzog,<br />

StV 1993, 609; Roth (Fn. 2); Moller, MDR 1966, 100; Henkel<br />

(Fn. 1); Heghmanns, StV 1999, 240; Engelhardt,<br />

DRiZ 1982, 418; Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2006, 17; Schmitz (Fn. 9), jeweils<br />

m.w.N.<br />

34<br />

Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und<br />

zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 1952, S. 239 Nr. 438,<br />

439.<br />

35<br />

Bockelmann, GA 1957, 357.<br />

36<br />

Bockelmann, NJW 1958, 889.<br />

37<br />

Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.),<br />

Die Grundrechte, Bd. 2, 2. Halbband, 1972, S. 563.


Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ten will“ 38 . Auch wenn das Ermessen der Staatsanwaltschaft<br />

bei der Zuständigkeitsbestimmung durch die Möglichkeit<br />

einer gerichtlichen Entscheidung „abgebremst“ sei, so ändere<br />

dies nichts, da es gleichgültig sei, ob „die Bestimmung des<br />

sachlich zuständigen Gerichts nach der Tatbegehung in concreto<br />

auf einer Entschließung der Staatsanwaltschaft oder auf<br />

einer solchen des Gerichts“ 39 beruhe. Gegen den Satz des<br />

gesetzlichen Richters werde in gleicher Weise verstoßen. Es<br />

sei rechtsstaatlich nicht hinnehmbar, dass durch die Staatsanwaltschaft<br />

Zuständigkeiten manipuliert werden könnten.<br />

Auch heute noch bestimme die Staatsanwaltschaft nach individualisierenden<br />

Gesichtspunkten ad hoc, ob eine Strafsache<br />

besondere oder mindere Bedeutung habe. Dementsprechend<br />

könne sie in weiten Bereichen die Anklage vor dem ihr geeignet<br />

erscheinenden Spruchkörper erheben 40 . Eine Waffengleichheit<br />

sei dadurch nicht mehr gewährleistet. Auf die<br />

Rechte des Angeklagten könne unzulässig Einfluss genommen<br />

werden, da die staatsanwaltliche Anklageentscheidung<br />

auch den Instanzenzug und damit die Verteidigungsmittel<br />

beeinflusse 41 . Allgemein werde die Gefahr des Missbrauchs<br />

durch die beweglichen Zuständigkeiten geradezu gefördert<br />

und „eine Tür zur Willkür“ geöffnet 42 . Soweit die Befürworter<br />

einwenden, die Ausweitung der Strafrahmen gebiete eine<br />

sachliche Flexibilisierung der Zuständigkeiten, dürfe hieraus<br />

doch gerade „nicht die Folgerung gezogen werden, dass der<br />

Grundsatz des gesetzlichen Richters sich dieser Ausuferung<br />

der Strafrahmen anzubequemen habe, sondern umgekehrt die,<br />

dass jene Ausweitung der Strafrahmen ihrerseits dem GG<br />

widerspreche!“ 43 . Die Argumentation der Befürworter befände<br />

sich insoweit in „einer grundrechtsdogmatischen Schieflage“<br />

44 .<br />

Aus dem Argumentationsmuster der Kritiker geht hervor,<br />

dass eine enge Verknüpfung zwischen der Auslegung des<br />

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und der Einstufung der beweglichen<br />

Zuständigkeiten als verfassungsgemäß oder verfassungswidrig<br />

besteht. Bei einer engen Auffassung vom <strong>Inhalt</strong> und Wesensgehalt<br />

des gesetzlichen Richters kommt es unweigerlich<br />

zu einer Kollision mit den beweglichen Zuständigkeiten.<br />

Demgegenüber stellen sich bei einer extensiven Auslegung<br />

des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nahezu keinerlei Probleme ein.<br />

Deshalb kam es auch in Zeiten der „Relativierung“ 45 nur zu<br />

38<br />

Bettermann (Fn. 37), S. 564.<br />

39<br />

Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und<br />

zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil II, 1957, § 209 Rn. 7.<br />

40<br />

Schumacher (Fn. 33), S. 225, 226.<br />

41<br />

Schmidt (Fn. 34), S. 239 Nr. 438, 439; ders., MDR 1958,<br />

724.<br />

42<br />

Oehler, ZStW 64 (1952), 292 (305).<br />

43<br />

Herzog, StV 1993, 609 (611).<br />

44<br />

Roth (Fn. 2), S. 116.<br />

45<br />

Die Relativierung des <strong>Inhalt</strong>s vom Postulat des gesetzlichen<br />

Richters erreichte ihren Höhepunkt im Nationalsozialismus.<br />

Während der Grundsatz bereits am Ende der Weimarer<br />

Republik aus Kostengründen entwertet worden war, wurde<br />

dieser Prozess im Nationalsozialismus aus ideeller Überzeugung<br />

radikal zu Ende geführt. Es kam zu einer vollständigen<br />

Entwertung und Aushöhlung des Grundsatzes. Vor allem<br />

einer äußerst geringfügigen Konfrontation, obwohl bereits zu<br />

dieser Zeit die Stimmen von Kern und Schmidt Gehör fanden.<br />

Es kam aber erst nach der Gründung der BRD, durch die<br />

intensive Auseinandersetzung mit Art. 101 Abs. 2 GG und<br />

den daraus resultierenden Anforderungen, zu einer offenen<br />

Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit der beweglichen<br />

Zuständigkeiten.<br />

Die Entscheidungen des BVerfG aus den Jahren 1959 46<br />

und 1967 47 ließen die Stimmen der Kritiker erkennbar nicht<br />

verstummen. Dies zeigt allein die Fülle kritischer Abhandlungen,<br />

die noch heute verfasst werden. Vielmehr wurden die<br />

Entscheidungen, die im Wege der verfassungskonformen<br />

Auslegung die beweglichen Zuständigkeiten als verfassungsgemäß<br />

deklarierten, selbst Gegenstand einer hitzigen Debatte.<br />

Sie wurden von den Gegnern als unzureichender Kompromiss<br />

aufgefasst 48 , der die Grenzen der verfassungskonformen<br />

Auslegung überschritten habe. Das BVerfG habe insoweit<br />

keine Auslegung, sondern eine unzulässige Ersetzung vorgenommen<br />

49 .<br />

Insgesamt lassen sich die Argumente der Kritiker ebenfalls<br />

auf wenige Kernaussagen reduzieren, nämlich: 1.) Herausragende<br />

Stellung und Bedeutung des Art. 101 Abs. 1 S. 2<br />

GG, 2.) erhöhte Möglichkeit des Missbrauchs bzw. der Willkür,<br />

3.) verfahrensmäßige Schlechterstellung des Angeklagten<br />

und 4.) unzureichende Möglichkeit der gerichtlichen<br />

Kontrolle.<br />

IV Empirische Untersuchung des faktischen Anklageverhaltens<br />

der StA<br />

Im Zuge einer empirischen Studie wurde im Jahre 2005/2006<br />

das Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft untersucht,<br />

unter dem leitenden Gesichtspunkt, ob das faktische Verhalten<br />

die theoretischen Bedenken in der Literatur tatsächlich<br />

verifiziert. Die empirische Erhebung erstreckte sich dabei auf<br />

die durch § 26 GVG eingeräumte Wahlbefugnis. Als Methode<br />

für die Datengewinnung wurde eine schriftliche Befragung<br />

der Staatsanwälte in Form eines standardisierten Fragebogens<br />

50 gewählt 51 . Gegenstand der Erhebung waren im We-<br />

war mit der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte<br />

vom 21. Februar 1940 (RGBl. 1940, S. 405 f.) der<br />

Höhepunkt der beweglichen Zuständigkeitsregelung und die<br />

völlige Abkehr vom Prinzip des gesetzlichen Richters erreicht<br />

worden; vgl. Arnold (Fn. 13), S. 55 f., Schumacher<br />

(Fn. 33), S. 140 und Schmidt, MDR 1958, 721, der der Ansicht<br />

ist, die Verordnung habe die „Zerstörung des Grundsatzes<br />

vom gesetzlichen Richter“ bewirkt.<br />

46<br />

BVerfGE 9, 223.<br />

47<br />

BVerfGE 22, 254.<br />

48<br />

U.a. Schmidt, JZ 1959, 535; Grünwald, JuS 1968, 452;<br />

Bettermann, AöR 1969, 294; Herzog, StV 1993, 609.<br />

49<br />

Grünwald, JuS 1968, 452 (458).<br />

50<br />

Ein entsprechender Fragebogen findet sich bei Arnold<br />

(Fn. 13), im Anhang der Arbeit, S. 225 f.<br />

51<br />

Die schriftliche Befragung beschränkte sich auf eine Stichprobenuntersuchung.<br />

Es wurde also nicht die gesamte Staatsanwaltschaft<br />

der BRD befragt, sondern nur die entsprechenden<br />

Abteilungen für Jugendschutzsachen der vier Staatsan-<br />

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95


Wiebke Arnold<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sentlichen alle Tatsachen, die Aufschluss darüber geben können,<br />

welche Kriterien die Staatsanwaltschaft bei ihrer Anklageentscheidung<br />

beeinflussen. Der Zeitraum der Datenerfassung<br />

erstreckte sich von Oktober bis Dezember 2005.<br />

1. Datenauswertung<br />

Im Rahmen der Analyse der schriftlichen Befragung fanden<br />

indes nicht alle Fragen des Fragebogens Berücksichtigung, da<br />

einzelne Fragestellungen nach ihrer Auswertung im Ergebnis<br />

weder positiv noch negativ ergiebig waren. Im Übrigen konnten<br />

aus der Datenauswertung folgende Ergebnisse gewonnen<br />

werden:<br />

a) Schwerpunkt der Anklageerhebung<br />

Die Auswertung des Fragebogens ergab, dass 93,1% der<br />

befragten Staatsanwälte in Jugendschutzsachen überwiegend<br />

Anklage vor dem Jugendgericht erheben, während 6,9%<br />

angaben, dass sich die entsprechenden Anklagen in etwa<br />

gleicher Anzahl auf die verschiedenen Gerichte verteilen. 52<br />

Bezogen auf die 93,1% der Staatsanwälte, die überwiegend<br />

Anklage vor dem Jugendgericht erheben, gaben in einer<br />

darauf folgenden Schätzung 17,24% an, dass sie in Jugendschutzsachen<br />

stets, mithin in jedem Fall, die Anklage beim Ju-<br />

gendgericht einreichen. Die übrigen Staatsanwälte (75,86%)<br />

erklärten, dass sie zwischen 75 bis 95% der Fälle vor dem<br />

Jugendgericht anklagen.<br />

b) Leitende Kriterien im Rahmen der Anklageentscheidung<br />

Im Weiteren konnten die befragten Vertreter der Anklagebehörde<br />

insgesamt zwischen 13 verschiedenen Kriterien wählen,<br />

von denen sie ihr jeweiliges Anklageverhalten abhängig<br />

machen. Da die Auswahl nicht auf ein einziges Kriterium<br />

beschränkt war, gab eine Vielzahl der Staatsanwälte mehrere<br />

für sie maßgebliche Faktoren an. 53 Die Auswertung ergab<br />

folgendes Bild:<br />

Insgesamt ist für 96,6% der Staatsanwälte der Gesichtspunkt,<br />

dass Kinder und Jugendliche in dem Verfahren als<br />

Zeugen benötigt werden, ausschlaggebend. Weitere 44,83%<br />

halten zusätzlich den Deliktstyp für ein entscheidendes Kriterium.<br />

Ferner geben 41,28% der befragten Staatsanwälte an,<br />

dass im Rahmen ihrer Anklageentscheidung auch die Auswirkungen<br />

der Tat Berücksichtigung finden. Weitere 17,24%<br />

berücksichtigen desgleichen das Täterverhalten, 13,79% den<br />

Unrechts- und Schuldgehalt und ebenfalls 13,79% die<br />

Schwierigkeit der Rechtsfragen. Das Strafmaß ist von<br />

10,34% als Ermessenskriterium angeführt worden, 6,9%<br />

berücksichtigen eine rasche Erledigung der Sache und ebenfalls<br />

6,9% das öffentliche Interesse. 27,58% der befragten<br />

waltschaften in Schleswig-Holstein (Kiel, Lübeck, Itzehoe<br />

und Flensburg). Im Rahmen der empirischen Studie trugen<br />

effektiv 29 Vertreter der Anklagebehörde zur Datengewinnung<br />

bei.<br />

52<br />

Vgl. dazu die graphischen Darstellungen (1) u. (2) bei<br />

Arnold (Fn. 13), S. 180, 181.<br />

53<br />

Durch die Mehrfachnennungen wurde naturgemäß die<br />

100%-Schwelle überschritten.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

96<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

Staatsanwälte bewerten schließlich das jeweils zuständige<br />

Gericht als leitendes Kriterium im Rahmen der Anklageentscheidung.<br />

54<br />

Ausgehend von der Gesamtzahl der befragten Staatsanwälte<br />

hielten lediglich 27,58% der Befragten allein das ausdrücklich<br />

in § 26 Abs. 2 GVG genannte Kriterium der Zeugeneigenschaft<br />

für maßgeblich.<br />

c) Bedeutsamster Gesichtspunkt<br />

Eine weitere Frage zielte darauf ab, welches der zuvor genannten<br />

Kriterien für die Anklageentscheidung die größte<br />

Bedeutung hat. Die Staatsanwälte beschränkten sich allerdings<br />

auch hier nicht auf die Angabe eines Kriteriums. 55 So<br />

gaben 86,2% die Zeugeneigenschaft i.S.d. § 26 Abs. 2 GVG<br />

als maßgeblichen Gesichtspunkt im Rahmen der Anklageentscheidung<br />

an. Weitere 10,34% halten das zuständige Gericht,<br />

3,44% die Auswirkungen der Tat und ebenfalls 3,44% den<br />

jeweiligen Deliktstyp für ausschlaggebend. 10,34% der Vertreter<br />

der Anklagebehörde hielten andere Faktoren für maßgeblich,<br />

wobei 6,9% das Alter der/des Geschädigten als<br />

wichtigstes Kriterium nannten. Die übrigen 3,44% maßen<br />

einem möglichen Geständnis das größte Gewicht bei 56 .<br />

d) Problembewusstsein<br />

Schließlich wurden die Staatsanwälte danach gefragt, ob die<br />

bewegliche Zuständigkeitsbestimmung des § 26 GVG mit<br />

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GVG vereinbar sei. 72,42% hielten die<br />

bewegliche Zuständigkeitsbestimmung im Bezug auf den<br />

Grundsatz vom gesetzlichen Richter für völlig unproblematisch.<br />

57 Lediglich einer der Staatsanwälte begründete seine<br />

Auffassung dahingehend, dass die §§ 7 ff. StPO ebenfalls<br />

verfassungsgemäß seien. Während keiner von ihnen in der<br />

Zuständigkeitsregelung einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1<br />

S. 2 GG erblickte, waren 17,24% der Auffassung, dass das<br />

Spannungsverhältnis zwischen den beweglichen Zuständigkeiten<br />

und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch die gerichtliche<br />

Kontrollmöglichkeit nach § 209a Nr. 2b StPO entschärft<br />

worden sei. Lediglich 6,9% der Befragten hielt die Zuständigkeitsnormierung<br />

aus sonstigen Gründen für fragwürdig,<br />

wobei sich die entsprechende Begründung auf zwei Argumente<br />

stützt: Ein angeführter Gesichtspunkt ist das aus dem<br />

Meinungsstreit hinreichend bekannte Argument der Manipulation<br />

und zwar dahingehend, dass durch die Anklagewahl<br />

ggf. das Strafmaß mitbestimmt werden könne, weil u.U.<br />

Unterschiede im Strafmaß bekannt seien. Das andere Argument<br />

ist etwas überraschend und führt einen neuen Aspekt<br />

an, der im allgemeinen Streitstand noch nicht als Argument<br />

verwendet worden ist. So wurde die Regelung in § 26 GVG<br />

deshalb als fragwürdig erachtet, da die Verteidiger teilweise<br />

54 Vgl. die graphische Darstellung (3) bei Arnold (Fn. 13),<br />

S. 182.<br />

55 Auch hierdurch kam es zu einer Überschreitung der 100%-<br />

Schwelle.<br />

56 Siehe die graphische Darstellung (5) bei Arnold (Fn. 13),<br />

S. 183.<br />

57 3,44% der befragten Staatsanwälte enthielten sich.


Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gezielt versuchen würden, Anklage bei dem Richter zu erwirken,<br />

den sie für milder hielten. 58<br />

2. Bewertung<br />

Bereits die erste Datenauswertung, bezogen auf den Schwerpunkt<br />

der Anklageerhebung, hat gezeigt, dass die Staatsanwaltschaft<br />

intern ihre eigenen Richtlinien verfolgt, die nicht<br />

unbedingt mit dem Gesetzeswortlaut kompatibel sind, sondern<br />

vielmehr eine Ausprägung der ständigen Praxis darstellen,<br />

die sich im Sinne der Staatsanwaltschaft kraft „Gewohnheitsrecht“<br />

etabliert haben. Besonders deutlich wird dies<br />

durch die von den Befragten selbst vorgenommene Schätzung<br />

ihres Anklageschwerpunktes, in deren Rahmen 75,86% der<br />

Staatsanwälte angaben, zwischen 75 und 95% der Jugendschutzsachen<br />

vor dem Jugendgericht anzuklagen. Dieses<br />

Anklageverhalten steht im tendenziellen Gegensatz zum<br />

grundlegenden Charakter des § 26 GVG. Wie sich aus der<br />

gesetzlich normierten Zuständigkeitsrichtlinie in Absatz 2<br />

ergibt, ist die Anklage vor dem Jugendgericht als Ausnahme<br />

gedacht, die durch triftige Gründe gerechtfertigt sein muss. 59<br />

Insofern ist der Gesetzeswortlaut „soll […] nur erheben,<br />

wenn […]“ eindeutig. § 26 Abs. 2 GVG will verhindern, dass<br />

durch die großzügige Anklagepraxis die Jugendgerichte in<br />

ihrer eigentlichen Aufgabe, über Verfehlungen von jugendlichen<br />

und Heranwachsenden zu entscheiden, gehemmt werden.<br />

Nur wo die besondere Sachkunde und Erfahrung des<br />

Jugendgerichts für die angemessene und richtige Behandlung<br />

des Falles ersichtlich bedeutsam ist, soll der Staatsanwalt in<br />

der Lage sein, vor dem Jugendgericht anzuklagen. 60 Indem<br />

die Staatsanwaltschaft in der Regel so verfährt, dass sie einen<br />

Fall durch die bloße Deklaration als Jugendschutzsache nahezu<br />

beständig vor die Jugendgerichte bringt, unterläuft sie<br />

diesen Sinngehalt des § 26 Abs. 2 GVG und verkennt den<br />

Ausnahmecharakter der Vorschrift. Soweit in diesem Zusammenhang<br />

von 96,6% der befragten Staatsanwälte angegeben<br />

wurde, dass sie ihr Anklageverhalten u.a. davon abhängig<br />

machen, ob Kinder und Jugendliche in dem Verfahren als<br />

Zeugen benötigt werden, wird insofern zwar auf den zweiten<br />

Absatz des § 26 GVG Bezug genommen, mit der Folge, dass<br />

das großzügige Anklageverhalten der Staatsanwälte vor den<br />

Jugendgerichten auf eine gesetzliche Grundlage zurückgeführt<br />

werden kann. Es macht aber stutzig, dass demzufolge<br />

scheinbar in nahezu allen Jugendschutzsachen Kinder und<br />

Jugendliche als Zeugen benötigt werden. Wäre dies tatsächlich<br />

der Fall, so hätte der Gesetzgeber die Zuständigkeit des<br />

Jugendgerichts nach § 26 GVG sicherlich nicht als Ausnahme<br />

vor Augen gehabt. Es kann insoweit zumindest nicht<br />

ausgeschlossen werden, dass die Staatsanwälte in der Regel<br />

jede Jugendschutzsache vor dem Jugendgericht anklagen und<br />

nur zur gesetzlichen Legitimation auf § 26 Abs. 2 GVG verweisen,<br />

ohne dessen Voraussetzungen konkret zu prüfen.<br />

58<br />

Vgl. die graphische Darstellung (7) bei Arnold (Fn. 13),<br />

S. 185.<br />

59<br />

Kissel/Mayer, GVG, Kommentar, 2005, § 26 Rn. 6; Siolek,<br />

in: Rieß (Fn. 22), 26. Aufl. 2003, § 26 GVG Rn. 10.<br />

60<br />

Siolek (Fn. 59), § 26 GVG Rn. 8.<br />

Im Rahmen der empirischen Studie war die Frage, von<br />

welchen Kriterien die Staatsanwälte ihre Anklageentscheidung<br />

abhängig machen, von großer Bedeutung. Zum einen<br />

wird in der Literatur kritisiert, dass den Staatsanwälten bei<br />

ihrer Auswahlentscheidung keine Richtlinien vorgegeben<br />

werden, die eine willkürliche Ausübung verhindern. 61 Insofern<br />

ist es überaus interessant, ob – und wenn ja welche –<br />

internen Richtlinien die Staatsanwaltschaft bei ihrer Anklageentscheidung<br />

leiten. Zum anderen kann anhand der entsprechenden<br />

Datenauswertung ermittelt werden, ob eine<br />

Systematik im Anklageverhalten erkennbar ist und ob diese<br />

ggf. mit der geltenden Gesetzesfassung im Einklang steht.<br />

Die derzeitige Vorschrift des § 26 GVG enthält lediglich in<br />

Absatz 2 eine Zuständigkeitsrichtlinie. Das Merkmal der<br />

„Zweckmäßigkeit“ wird dabei durch den der Vorschrift<br />

zugrunde liegenden Zweck ausgefüllt. Dieser besteht allein<br />

darin, die Sachkunde und Erfahrung des Jugendgerichts in<br />

bestimmten Fällen zu nutzen. Demzufolge ist nach der Rechtsprechung<br />

und Literatur eine Anklage vor dem Jugendgericht<br />

nur dann zweckmäßig, wenn es auf die Glaubwürdigkeit<br />

kindlicher oder jugendlicher Zeugen 62 oder auf die richtige<br />

Würdigung der Aussagen von Belastungszeugen über Erlebnisse<br />

aus ihrer Jugend ankommt 63 . Ergänzend ist eine Anklage<br />

vor dem Jugendgericht auch geboten, wenn das Gericht<br />

die Gefährdung des Jugendlichen besser abschätzen kann. 64<br />

44,83% der Staatsanwälte gaben demgegenüber an, dass der<br />

Deliktstyp ein ausschlaggebendes Kriterium im Rahmen ihrer<br />

Anklageentscheidung sei. 41,28% nannten ferner die Auswirkungen<br />

der Tat, 17,24% das Täterverhalten, 13,79% die<br />

Schwere des Unrechts- und Schuldgehalts und 27,58% das<br />

zuständige Gericht als maßgebliche Kriterien. Auch eine<br />

rasche Erledigung und der Umfang der Sache wurden jeweils<br />

von 6,9% der Befragten als leitende Gesichtspunkte angegeben.<br />

Diese Kriterien finden sich indes weder im Wortlaut des<br />

§ 26 Abs. 2 GVG noch gehen sie aus dem Zweck der Vorschrift<br />

hervor. Die Mehrzahl von ihnen ist zudem stark individualisierend.<br />

Dabei gestalten sich die Kriterien der Staatsanwaltschaft<br />

auch nicht als interner Richtlinienkatalog, sondern<br />

erweisen sich vielmehr als eine rein zufällige Kombination<br />

verschiedener Gesichtspunkte. Es entsteht der Eindruck<br />

der bloßen Willkür. Zwar wird versucht, die Anklage vor<br />

dem Jugendgericht auf die gesetzliche Grundlage des § 26<br />

Abs. 2 GVG zu stützen, tatsächlich spielen aber individualisierende<br />

Aspekte oder persönliche Interessen des Staatsanwalts<br />

(„rasche Erledigung“) die entscheidende Rolle.<br />

Darüber hinaus suchen sich faktisch einige der befragten<br />

Staatsanwälte den Richter gezielt nach ihrem jeweiligen<br />

Anliegen aus. So gaben bspw. 10,34% der Befragten an, dass<br />

sie ihr Anklageverhalten vom Strafmaß abhängig machen.<br />

61<br />

So u.a. Bockelmann, NJW 1958, 889 (890); Engelhardt,<br />

DRiZ 1982, 418 (419).<br />

62<br />

Kleinknecht/Müller, Kommentar zur StPO und zum GVG,<br />

4. Aufl. 1958, § 26 GVG Ziff. 2a; Rieß, in: ders. (Fn. 59),<br />

§ 209a Rn. 31; OLG Düsseldorf JMBlNW 1963, 166.<br />

63<br />

BGHSt 13, 53 (59); Siolek (Fn. 59), § 26 GVG Rn. 10.<br />

64<br />

Müller/Sax/Paulus, Kommentar zur Strafprozessordnung,<br />

§ 26 GVG Rn. 5.<br />

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97


Wiebke Arnold<br />

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27,58% der Staatsanwälte nannten das jeweils zuständige<br />

Gericht als Abgrenzungsmerkmal im Rahmen ihrer Wahlbefugnis.<br />

Hinzu kommt das Streben nach rascher Erledigung<br />

(6,9%). Daraus ergibt sich, dass eine nicht geringe Anzahl<br />

der befragten Vertreter der Anklagebehörde subjektive Elemente<br />

in ihre Anklageentscheidung einfließen lässt. Dadurch<br />

wird deutlich, dass die beweglichen Zuständigkeitsregelungen<br />

der Staatsanwaltschaft durchaus die Möglichkeit einräumen,<br />

ihre Vorstellung von einer adäquaten Behandlung des<br />

Beschuldigten im Wege der Anklageerhebung zu verwirklichen.<br />

Dass die Staatsanwaltschaft von dieser Möglichkeit der<br />

Einflussnahme in der Praxis auch Gebrauch macht, hat die<br />

Auswertung bestätigt.<br />

In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass bei Berücksichtigung<br />

derartiger Überlegungen im Rahmen der Anklageentscheidung<br />

eine Waffengleichheit nicht mehr gewährleistet<br />

ist. Letztendlich hat es die Staatsanwaltschaft in der<br />

Hand, ob der Beschuldigte vor einen härteren oder milderen<br />

Richter gestellt wird. Sie orientiert sich nicht primär am gesetzlichen<br />

Leitfaden des § 26 Abs. 2 GVG. Vielmehr hängt<br />

die Entscheidung, vor welchen Richter der Beschuldigte<br />

kommt, überwiegend von dem gesetzlich losgelösten, individualisierten<br />

Ermessen des jeweiligen Staatsanwalts ab. Dieser<br />

trifft die Entscheidung aus seiner Position heraus. Genau<br />

diese Möglichkeit, dass eine staatliche Institution eine Entscheidung<br />

aus eigener Machtvollkommenheit treffen kann,<br />

sollte durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG aber gerade verhindert<br />

werden, der seinen Ursprung in einer Zeit findet, in der das<br />

„ius evocandi“ 65 weit verbreitet war.<br />

Der Hinweis, auch der Verteidiger habe die Möglichkeit,<br />

über die beweglichen Zuständigkeiten auf die Richterbank<br />

und damit auf das Urteil Einfluss zu nehmen, geht fehl. Es ist<br />

zu bedenken, dass der Verteidiger – und damit auch der Beschuldigte<br />

– nur mittelbar auf die Zuständigkeit einwirken<br />

kann, während die Staatsanwaltschaft unmittelbar den zuständigen<br />

Richter bestimmt. Der Verteidiger muss zwei staatliche<br />

Institutionen beeinflussen, Staatsanwaltschaft und Gericht,<br />

und kann zudem auf die endgültige Zuständigkeitsbestimmung<br />

keinen effektiven Einfluss nehmen. Die Effektivität<br />

ist hingegen auf Seiten der Staatsanwaltschaft gegeben, da<br />

anzunehmen ist, dass sich der Richter eher an die Anklageentscheidung<br />

der Staatsanwaltschaft gebunden sieht als an ein<br />

entsprechendes Gesuch des Verteidigers. Abschließend ist in<br />

diesem Kontext zu berücksichtigen, dass die Staatsanwaltschaft<br />

in der Regel ein Gericht angehen wird, dass ihren<br />

Standpunkt teilt. Allgemein setzt sie ein Faktum, das die<br />

Gerichte grundsätzlich zunächst akzeptieren und nur in seltenen<br />

Fällen revidieren werden. 66 Unter diesem Aspekt zeigt<br />

sich auch, dass der durch die gerichtliche Kontrollmöglich-<br />

65 Lat. = Evokationsrecht. Hierunter versteht man das Recht,<br />

jede Rechtssache an sich zu ziehen und Entscheidungen aus<br />

eigener Machtvollkommenheit zu fällen; vgl. BGH NJW<br />

1956, 1239.<br />

66 Henkel (Fn. 1), S. 35, spricht insoweit von einem „Gesetz<br />

der Trägheit“.<br />

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98<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

keit angestrebte Effekt überhaupt nicht wirksam werden<br />

kann. 67<br />

V. Kritische Würdigung des Streitstandes<br />

Die Auswertung der empirischen Studie hat gezeigt, dass die<br />

beweglichen Zuständigkeiten der Staatsanwaltschaft tatsächlich<br />

die Möglichkeit einräumen, ihre Vorstellung von einer<br />

adäquaten Behandlung des Beschuldigten im Wege der Anklageerhebung<br />

zu verwirklichen, und dass diese Möglichkeit<br />

in der Praxis auch genutzt wird. Die Staatsanwaltschaft kann<br />

sich über die beweglichen Zuständigkeiten gezielt den Richter<br />

aussuchen, bei dem sie das ihr vorschwebende Ziel (bspw.<br />

hohes Strafmaß) aller Wahrscheinlichkeit nach erreichen<br />

wird. Dieser Aspekt wird selbst von einigen der befragten<br />

Staatsanwälte kritisch angemerkt. Die dahingehenden Bedenken<br />

in der Literatur haben sich also bewahrheitet und können<br />

anhand der empirischen Studie belegt werden.<br />

Die Praktikabilität der beweglichen Zuständigkeiten kann<br />

dieses Übel nicht aufwiegen. Zum einen kann es nicht dem<br />

Willen des Gesetzgebers entsprechen, dass gerichtliche Zuständigkeiten<br />

durch persönliche Interessen der Staatsanwaltschaft<br />

beeinflusst werden. Wurde dieser Zustand in Zeiten<br />

des Nationalsozialismus noch begrüßt, hat er in der heutigen<br />

Zeit definitiv keine Berechtigung mehr. Selbst wenn die<br />

gegenwärtige politische Lage keinen Anlass gibt, den staatlichen<br />

Institutionen zu misstrauen, und folglich nicht mit Versuchen<br />

einer politisch gesteuerten Manipulation der Zuständigkeit<br />

zu rechnen ist, bleibt zu bedenken, dass rechtsstaatliche<br />

Sicherungen nur in einer „Schönwetterperiode des Verfassungslebens“<br />

68 scheinbar überflüssig sind. Deshalb sind<br />

sie bereits in politisch ruhigen Phasen erforderlich, für „den<br />

Fall, dass Krisenzeiten kommen und die politischen Mächte<br />

geneigt sein könnten, formalen Befugnissen einen politischen<br />

<strong>Inhalt</strong> zu geben“ 69 . Abgesehen davon ist die Vertrauenswürdigkeit<br />

einer Institution auch deshalb kein Ersatz für normative<br />

Bindungen, weil jedes politische System für sich in Anspruch<br />

nimmt oder zumindest propagiert, im Interesse der<br />

Rechtsunterworfenen zu handeln und deshalb ihr Vertrauen<br />

zu verdienen. 70 Überdies entspricht es der rechtsstaatlichen<br />

Grundregel, staatliche Macht in der Weise zu begrenzen und<br />

zu kontrollieren, dass die Freiheit der Bürger nicht von der<br />

Lauterkeit der handelnden Amtsträger abhängt.<br />

Zum anderen ist dem Regelungsgehalt des Art. 101<br />

Abs. 1 S. 2 GG kein Anhaltspunkt dahingehend zu entnehmen,<br />

dass dem Gesetzgeber im Zuge der Ausgestaltung des<br />

Gewährleistungsbereichs die Befugnis zur Abwägung zwischen<br />

Erfordernissen der Praxis und möglicherweise gegenläufiger<br />

rechtsstaatlicher Prinzipen übertragen wird. Zudem<br />

wird, indem man praktischen Erwägungen einen derartigen<br />

Einfluss auf die Ausgestaltung der Zuständigkeitsbestimmungen<br />

einräumt, der hohe Verfassungsrang des Art. 101<br />

67 Peters (Fn. 15), S. 115, führt insofern zutreffend aus: „Immerhin<br />

kann die Staatsanwaltschaft je nach Einstellung des<br />

Amts- oder Landgerichts die Sache steuern“.<br />

68 Sowada (Fn. 9), S. 511.<br />

69 Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt, 1962, S. 93.<br />

70 Steinbeck, DJZ 1924, Sp. 510.


Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Abs. 1 S. 2 GG unterlaufen. In Anbetracht der verfassungsrechtlichen<br />

Bedeutung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG muss<br />

vielmehr jedes Zurückdrängen der Genauigkeit zur Verwirklichung<br />

praktischer Bedürfnisse als Beeinträchtigung des<br />

grundrechtlichen Gewährleistungsbereiches eingestuft werden.<br />

71<br />

Soweit die weiten Strafrahmen des materiellen Strafrechts<br />

zur Rechtfertigung herangezogen werden, hat Roth 72 zutreffend<br />

auf die „grundrechtsdogmatische Schieflage“ dieser<br />

Argumentation hingewiesen. Nicht die Strafrahmen des materiellen<br />

Rechts beeinflussen das Grundgesetz. Vielmehr müssen<br />

die Strafrahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sein.<br />

Dies ist allerdings nicht gewährleistet. Vielmehr sind die<br />

weiten Strafrahmen ihrerseits rechtspolitisch besorgniserregend.<br />

73 Sie sind daher kein taugliches Argument für die Verfassungsmäßigkeit<br />

der beweglichen Zuständigkeiten, da eine<br />

verfassungsrechtlich bedenkliche Regelung nicht eine verfassungsrechtlich<br />

fragwürdige Regelung stützen kann.<br />

Die Analyse der empirischen Studie hat ferner gezeigt,<br />

dass der Wert der gerichtlichen Kontrollmöglichkeit der<br />

staatsanwaltlichen Anklageentscheidung nicht zu überschätzen<br />

ist. Zwar bringt die Öffentlichkeit den Gerichten nicht<br />

das Misstrauen entgegen, welches sie gegenüber der regierungsabhängigen<br />

Staatsanwaltschaft hegt. 74 Gleichwohl kann<br />

die letzte Entscheidungsgewalt des Gerichts über die Zuständigkeit<br />

immer nur ein zusätzliches Mittel sein, um die berechtigten<br />

Bedenken gegen eine bewegliche Zuständigkeitsordnung<br />

abzuschwächen. 75 Denn die erste Wahl liegt initiativ<br />

bei der Staatsanwaltschaft, deren Entscheidung die Gerichte<br />

in der Regel akzeptieren und nur selten revidieren werden.<br />

Abgesehen davon setzt das Gericht sein eigenes Auswahlermessen<br />

lediglich an die Stelle dessen der Staatsanwaltschaft.<br />

Insofern kommt es zu keinem nennenswerten Unterschied, da<br />

nach wie vor die Gefahr besteht, dass zwar nicht mehr der<br />

weisungsgebundene Staatsanwalt, aber immer noch Gutdünken<br />

oder Gerichtsgebrauch und nicht bindende gesetzliche<br />

Leitlinien über die sachliche Eingangsinstanz entscheiden.<br />

Soweit eingewandt wird, der gesetzliche Richter werde<br />

nicht durch die Verfassung selbst, sondern durch die Vorschriften<br />

des GVG und der StPO bestimmt, trifft dies nicht<br />

zu. Der prinzipielle gedankliche Fehler besteht darin, dass der<br />

Schutzgehalt des Postulats vom gesetzlichen Richter in Abhängigkeit<br />

von der einfachgesetzlichen Zuständigkeitsordnung<br />

bestimmt wird, anstatt die verfassungsrechtliche Vorgabe<br />

des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG als vorrangigen Leitaspekt<br />

anzuerkennen. 76<br />

Schließlich hat der Gesetzgeber des Grundgesetzes auch<br />

nicht die beweglichen Zuständigkeiten durch die Übernahme<br />

des Art. 105 WRV bestätigt. Bereits die historische Inbeziehungsetzung<br />

der Zuständigkeitsregelung von 1924 zum <strong>Inhalt</strong><br />

71<br />

Vgl. Bockelmann, GA 1957, 357.<br />

72<br />

Roth (Fn. 2), S. 116.<br />

73<br />

Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2,<br />

1989, § 62 Rn. 12 f.<br />

74<br />

Henkel (Fn. 1), S. 34.<br />

75<br />

Henkel (Fn. 1), S. 35.<br />

76<br />

Sowada (Fn. 9), S. 503 f.<br />

des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist verfehlt. 77 Der Gesetzgeber<br />

des GG hat nicht die bewegliche Zuständigkeitsordnung aus<br />

dem Jahre 1924 vorgefunden, sondern das noch weitgehend<br />

antirechtsstaatliche Zuständigkeitssystem der NS-Zeit. Dass<br />

der Grundgesetzgesetzgeber diese tatsächlich vorgefundene<br />

machtstaatliche Zuständigkeitsordnung bestätigt haben soll,<br />

liegt gänzlich neben der Sache und kann nicht ernsthaft vertreten<br />

werden. Abgesehen davon unterlag der Grundsatz vom<br />

gesetzlichen Richter im letzten Jahrhundert einem <strong>Inhalt</strong>swandel.<br />

Während sein <strong>Inhalt</strong> in den Anfängen dieser Epoche<br />

streng ausgelegt worden war, erfolgte in der Weimarer Republik<br />

unter dem Aspekt der Kostenersparnis eine Relativierung,<br />

die im NS-Staat ihren Höhepunkt fand. In dieser Zeit<br />

wurde das Postulat aus ideeller Überzeugung gänzlich ausgehöhlt<br />

und entwertet. 78 Allerdings erfolgte unter der Schirmherrschaft<br />

von Schmidt 79 bereits gegen Ende des Dritten<br />

Reichs eine langsame Rückbesinnung auf die ursprünglichen<br />

Werte des Grundsatzes. Ihm folgten zahlreiche Abhandlungen<br />

80 , die sich mit dem Sinngehalt des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG<br />

auseinandersetzten und als Konsequenz zu einer engeren<br />

Auslegung des Grundsatzes gelangten. Soweit also angeführt<br />

wird, der Grundgesetzgeber habe Art. 105 WRV weitestgehend<br />

in das Grundgesetz übernommen und dadurch die beweglichen<br />

Zuständigkeiten bestätigt, wird verkannt, dass<br />

dessen relativierter <strong>Inhalt</strong> nicht mehr dem <strong>Inhalt</strong> des im Jahre<br />

1949 bestehenden Gebots vom gesetzlichen Richter entsprach.<br />

Demzufolge kann der Grundgesetzgeber auch nicht<br />

den Sinngehalt des Art. 105 WRV übernommen haben. Abgesehen<br />

davon hängt die Verfassungswidrigkeit vorkonstitutioneller<br />

Rechtsgrundsätze nicht von einer ausdrücklichen<br />

Aufhebung durch den Verfassungsgesetzgeber ab. 81 Der<br />

Gesetzgeber muss also nicht explizit mit einem vorherigen<br />

Rechtszustand brechen. Vielmehr hebt neues Verfassungsrecht<br />

älteres Verfassungsrecht nicht nur dort auf, wo es die<br />

Aufhebung unmissverständlich verfügt, sondern auch dort,<br />

wo es positive Normen aufstellt, denen das ältere Recht nicht<br />

genügt. 82<br />

VI. Fazit<br />

Die Entscheidungen des BVerfG haben die Diskussion um<br />

die Verfassungsmäßigkeit der beweglichen Zuständigkeiten<br />

nicht zum Ruhen gebracht. Auch wenn sich die Befürworter<br />

der Entscheidungen und der beweglichen Zuständigkeiten<br />

fortan zur „herrschenden Meinung“ deklarierten und die<br />

Kritiker als „Mindermeinung“ darstellten, sind deren Anmer-<br />

77 Ebenso Schmidt, MDR 1958, 724.<br />

78 Vgl. dazu oben Fn. 45.<br />

79 Schmidt (Fn. 6), S. 263 f.<br />

80 Bspw. bezieht sich Oehler, ZStW 64 (1952), 293, in seinen<br />

Ausführungen aus dem Jahre 1952 ausdrücklich auf die Ausführungen<br />

von Schmidt. Er bezeichnet dessen Aufsatz in der<br />

Kohlrausch-Festschrift aus dem Jahre 1944 als „besonders<br />

eindringlich und unerschrocken“. Auch in anderen Abhandlungen<br />

wird immer wieder auf die Ausführungen von<br />

Schmidt verwiesen, so u.a. Moller, MDR 1966, 100.<br />

81 Schmidt, MDR 1958, 724.<br />

82 Bockelmann, NJW 1958, 889.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

99


Wiebke Arnold<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

kungen bis zum heutigen Tage gegenwärtig und haben an<br />

ihrer Überzeugungskraft kaum verloren. Es ist auf dem uneingelösten<br />

Gehalt des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter<br />

zu beharren. In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen im<br />

Schrifttum scheint sich im Übrigen das „Kräfteverhältnis“<br />

zugunsten der Kritiker zu verschieben. Zwar steht die vermeintlich<br />

herrschende Meinung gegenwärtig noch mit der<br />

Rechtsprechung im Einklang, jedoch mehreren sich die kritischen<br />

Stimmen. Angesichts der über Jahrzehnte anhaltenden<br />

Kritik an den beweglichen Zuständigkeiten, die in der geänderten<br />

Auffassung vom Sinngehalt des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG<br />

ihren Ursprung findet, hat sich bereits der Gesetzgeber im<br />

Rahmen des Rechtspflegeentlastungsgesetzes darum bemüht,<br />

bei der Festlegung der Zuständigkeit des Strafrichters den mit<br />

Blick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bestehenden Bedenken<br />

Rechnung zu tragen 83 . Auch das Plenum des BVerfG 84 hat<br />

unlängst ausgesprochen, dass sich die Vorstellungen von den<br />

Anforderungen an den gesetzlichen Richter im Laufe der Zeit<br />

allmählich verfeinert hätten. Diese Entwicklung gibt Anlass<br />

zu der Hoffnung, dass hinsichtlich der beweglichen Zuständigkeitsregelungen<br />

in naher Zukunft eine strengere Beurteilung<br />

des BVerfG Platz nehmen wird, als die, die in den mehr<br />

als 40 Jahren zurückliegenden Entscheidungen zutage getreten<br />

ist.<br />

83 Vgl. Sowada (Fn. 9), S. 592 f.<br />

84 BVerfGE 95, 333.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

100<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008


BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

U r t e i l s a n m e r k u n g<br />

Zur Revisibilität der Beweiswürdigung beim freisprechenden<br />

Urteil („Bäcker von Siegelsbach“)<br />

BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 (LG Heilbronn) 1<br />

Anmerkung:<br />

I. Mit dem Revisionsurteil im Fall des „Bäckers von Siegelsbach“<br />

knüpft der Bundesgerichtshof an seine ständige Rechtsprechung<br />

an, mit der er die tatrichterliche Beweiswürdigung<br />

immer mehr zum Gegenstand revisionsrechtlicher Kontrolle<br />

erhoben hat. 2<br />

Das Landgericht Heilbronn hatte den Angeklagten vom<br />

Vorwurf des Mordes und des zweifachen Mordversuchs mit<br />

Urteil vom 21. April 2006 aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.<br />

Ihm wurde zur Last gelegt, am 7. Oktober 2004 die<br />

Sparkassenfiliale in Siegelsbach ausgeraubt und dabei eine<br />

Kundin erschossen sowie deren Ehemann und einen Bankangestellten<br />

lebensgefährlich verletzt zu haben. Das Landgericht<br />

hatte sich nicht davon überzeugen können, dass der<br />

Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat begangen hat. Nach<br />

der Würdigung der belastenden Beweise (hierzu gehörten et-<br />

wa die Aussagen der überlebenden Zeugen, Spurenanhaftungen<br />

und bei dem Angeklagten gefundenes Bargeld) und auch<br />

entlastender Gesichtspunkte (wie ein Alibi durch einen am<br />

Überfall nicht beteiligten Zeugen) hatte es seine Zweifel an<br />

der Täterschaft des Angeklagten nicht überwinden können.<br />

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger<br />

richteten sich gegen diesen Freispruch. Mit der Rüge der<br />

Verletzung materiellen Rechts wurde die Beweiswürdigung<br />

des Landgerichts angegriffen und außerdem auch die Verletzung<br />

von Verfahrensrecht beanstandet. Der Bundesgerichtshof<br />

hat in seinem Urteil vom 22. Mai 2007 die Entscheidung<br />

des Landgerichts bereits aufgrund der Sachrüge aufgehoben<br />

und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an<br />

die Schwurkammer des Landgerichts Stuttgarts zurückverwiesen.<br />

Der Bundesgerichtshof hält dem Landgericht vor, die<br />

von ihm vorgenommene Beweiswürdigung sei rechtsfehlerhaft,<br />

weil sie den Umfang und die Bedeutung des Zweifelssatzes<br />

verkannt habe. Außerdem sei die Beweiswürdigung<br />

lückenhaft. Der Entscheidung des 1. Senats ist im Ergebnis<br />

zuzustimmen.<br />

II. 1. Die Überprüfung der Beweiswürdigung des Tatgerichts<br />

durch die Revision muss denjenigen, der sich unbefangen<br />

dem Revisionsrecht nähert, in doppelter Hinsicht irritieren.<br />

Zum einen ist die Revision nach ihrem klassischen Verständnis<br />

auf die Prüfung von Gesetzesverletzungen beschränkt.<br />

1<br />

Die Entscheidung kann auf www.bundesgerichtshof.de im<br />

Volltext abgerufen werden.<br />

2<br />

Zur Entwicklung der Rechtsprechung statt vieler Schmid,<br />

ZStW 85 (1973), 360; Cuypers, Die Revisibilität der strafrichterlichen<br />

Beweiswürdigung, 1975, S. 119 ff., 144 ff.;<br />

Rieß, GA 1978, 257; Jähnke, in: Ebert/Rieß/Roxin (Hrsg.),<br />

Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag am<br />

30. August 1999, 1999, S. 355 ff.<br />

Angriffsziel einer eingelegten Revision ist damit nach gängiger<br />

Auffassung die fehlerhafte Anwendung einer Rechtsnorm,<br />

nicht aber die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen<br />

im Urteilstext, welche der Rechtsanwendung zugrunde<br />

gelegt werden. Dieses überkommene Bild der Revision entspricht<br />

aber bereits seit langem nicht mehr der Rechtswirklichkeit.<br />

Schon das Reichsgericht hat die Tatsachenfeststellung<br />

sowie die Beweiswürdigung zunehmend revisionsrichterlicher<br />

Kontrolle unterworfen und ohne weitere theoretische<br />

Begründung konstatiert, bestimmte Mängel des angegriffenen<br />

Urteils seien als Verletzung des sachlichen Rechts aufzufassen<br />

und das Urteil daher aufzuheben. 3 In welchem umfangreichen<br />

Maß der Bundesgerichtshof diese Tradition fortsetzte,<br />

konnte Rieß bereits in seiner Untersuchung aus dem Jahr<br />

1982 zeigen, mit der er belegte, dass in dem von ihm zugrunde<br />

gelegten Untersuchungszeitraum von zwei Jahren etwa ein<br />

Drittel aller Urteilsaufhebungen in der Revision aufgrund von<br />

Mängeln bei der Feststellung und Bewertung von Tatsachen<br />

erfolgte. 4 Das zweite irritierende Moment der eingebürgerten<br />

Rechtsprechungspraxis ist, dass die revisionsrechtliche Überprüfung<br />

der Tatsachenbasis des Urteils auf die Sachrüge hin<br />

erfolgt. Nach § 261 StPO entscheidet das Gericht über das<br />

Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem<br />

Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Darüber<br />

hinaus regelt § 267 StPO Art und Umfang der erforderlichen<br />

Begründung einer Entscheidung. Bei beiden Regeln<br />

handelt es sich unstreitig um Bestimmungen des Verfahrensrechts.<br />

Damit aber würde es naheliegen, Begründungsmängel<br />

als Verletzung des Prozessrechts aufzufassen und in der Konsequenz<br />

daraus eine revisionsgerichtliche Prüfungsbefugnis<br />

allein auf dem Wege der Verfahrensrüge zu eröffnen. 5<br />

Die Revisionsrechtsprechung hat eine ausdrückliche und<br />

tragfähige Begründung für die Erweiterung ihrer Kontrollbefugnis<br />

– insbesondere auch für den weiten Anwendungsbereich<br />

der Sachrüge – bislang nicht vorgetragen. Sucht man in<br />

den Entscheidungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs<br />

nach Argumenten dafür, warum das Gericht gerade<br />

auf die Sachrüge hin die Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung<br />

überprüfen darf, so findet man allenfalls den<br />

knappen Hinweis darauf, das Revisionsgericht könne die<br />

richtige Anwendung des sachlichen Rechts dann nicht prüfen,<br />

wenn die angefochtene Entscheidung selbst nicht hinreichend<br />

begründet worden sei. 6 Dieser Aspekt ist für die Begründung<br />

der revisionsrechtlichen Kontrolle der Beweiswürdigung<br />

3<br />

Im einzelnen hierzu Frisch, in: Arnold (Hrsg.), Menschengerechtes<br />

Strafrecht: Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag,<br />

2005, S. 257, 263 ff.<br />

4<br />

Rieß, NStZ 1982, 49 (51). Zur praktischen Bedeutung der<br />

Beweiswürdigung als Gegenstand der Revisionskontrolle<br />

auch bereits Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung<br />

der Rechtswirklichkeit?, 1974, insb. S. 13 ff.<br />

5<br />

Diese Konsequenz wird dementsprechend gezogen bei<br />

Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl.,<br />

1998, Rn. 272 f.; anders für § 267 StPO Wagner, ZStW<br />

106 (1994), 259 (269).<br />

6<br />

So etwa RGSt 71, 25 (26); BGHSt 3, 213 (215); in gleicher<br />

Richtung auch BGH NStZ 1999, 473.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

101


BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

bereits deshalb wenig überzeugend, da es nicht ausgeschlossen<br />

ist, dass das materielle Recht zutreffend unter einen in<br />

sich schlüssigen Sachverhalt subsumiert werden kann, selbst<br />

wenn dieser unter Verstoß gegen bestimmte Beweiswürdigungsregeln<br />

ermittelt wurde. Darüber hinaus sind für die<br />

rechtstheoretische Bewertung der Qualität einer Pflicht nicht<br />

die Konsequenzen maßgeblich, die sich aus ihrer Einhaltung<br />

oder Nichtbefolgung ergeben, sondern der Rechtsgrund der<br />

Verpflichtung. So würde niemand etwa die sich aus den Prinzipien<br />

der Mündlichkeit oder Unmittelbarkeit ergebenden<br />

Pflichten deshalb als sachlich-rechtlich einstufen, weil sich<br />

aus ihnen letztlich auch Konsequenzen für die Anwendung<br />

des materiellen Rechts ergeben. Bei der Ausdehnung der<br />

revisionsrechtlichen Kontrolle auf die Tatsachengrundlage<br />

der Entscheidung handelt es sich also um ein von der Rechtsprechung<br />

nach wie vor unzureichend begründetes Richterrecht,<br />

und es passt in dieses Bild, dass auch bei den tragenden<br />

Gründen der vorliegenden Entscheidung kein einziges Mal<br />

auf den Gesetzestext, sondern allein auf vorangegangene<br />

Judikate Bezug genommen wird.<br />

2. Trotz dieses bis heute bestehenden Begründungsdefizits<br />

ist die Entwicklung der Rechtsprechung in der Literatur<br />

mehrheitlich zustimmend begleitet worden, gilt sie vielen<br />

doch gerade als bedeutender Beitrag zur Verwirklichung der<br />

Einzelfallgerechtigkeit. 7 Allerdings ist der Weg des BGH zur<br />

„erweiterten Revision“ von einigen Autoren auch heftig angegriffen<br />

worden. Zunächst wurde das Abweichen der neueren<br />

Rechtsprechung von der Intention des historischen Gesetzgebers<br />

bemängelt: Das ursprüngliche Konzept der StPO<br />

sei von einer strikten Trennung der tatrichterlichen Tatsachenfeststellung<br />

und Beweiswürdigung einerseits und der<br />

Beschränkung der Möglichkeit auf lediglich die rechtliche,<br />

nicht die tatsächliche Überprüfung des Urteils durch das<br />

Revisionsgericht andererseits ausgegangen. Mit der immer<br />

umfassenderen Nachprüfung der tatsächlichen Urteilsbasis<br />

durch die Revision würde das gesetzgeberische Programm<br />

damit missachtet. 8 In der Tat geht die heute von den Revisionsgerichten<br />

für sich in Anspruch genommene Prüfungskompetenz<br />

über diejenige hinaus, welche ihnen der historische<br />

Gesetzgeber einräumen wollte. Die Motive zur StPO<br />

lassen hieran keinen Zweifel: „Aus demjenigen, was oben<br />

über die Nothwendigkeit der Beseitigung der Appellation<br />

gesagt worden ist, ergiebt sich, daß die rein thatsächliche<br />

Würdigung des Straffalls, also namentlich die Würdigung der<br />

erbrachten Beweise, von der Tätigkeit des höheren Richters<br />

7<br />

Otto, NJW 1978, 1 (10); Maul, in: Gamm (Hrsg.), Strafrecht,<br />

Unternehmensrecht, Anwaltsrecht: Festschrift für Gerd Pfeiffer<br />

zum Abschied aus dem Amt als Präsident des Bundesgerichtshofes,<br />

1988, S. 409, 419 ff.; Schäfer, StV 1995, 147<br />

(153 f.); Schäfer, StV 1995, 147 (153 f.); Meyer-Goßner,<br />

DRiZ 1997, 471; Jähnke (Fn. 2), S. 355, 365.<br />

8<br />

Das historische Argument wird besonders nachdrücklich<br />

vertreten bei Foth, DRiZ 1997, 201; zurückhaltender, in der<br />

Sache aber ebenso, Hanack, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg,<br />

Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

25. Aufl. 1998, vor § 333 Rn. 1, § 337 Rn. 127-129.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

102<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

ausgeschlossen bleiben muß. Diese Würdigung ist dem Richter<br />

erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem<br />

festgestellte thatsächliche Ergebniß ist für die höhere<br />

Instanz maßgebend, insoweit dasselbe nicht etwa im Wege<br />

eines gesetzwidrigen Verfahrens gewonnen worden ist. Die<br />

Aufgabe des höheren Richters besteht nur in der rechtlichen<br />

Beurtheilung der Sache.“ 9 Das historische Argument wiegt<br />

aber weniger schwer, als es zunächst erscheinen mag. Die<br />

Perspektive des Gesetzgebers ist jedenfalls dann nicht entscheidend,<br />

wenn sie sich lediglich in den Gesetzgebungsmaterialien,<br />

nicht aber im Gesetzestext selbst niedergeschlagen<br />

hat. Der Wortlaut der Strafprozessordnung differenziert nun<br />

aber gerade nicht zwischen nicht überprüfbarer Tatfrage und<br />

revisibler Rechtsfrage. § 337 Abs. 1 StPO knüpft die Revisibilität<br />

einer Entscheidung allein an eine „Verletzung des<br />

Gesetzes“ und daran, dass das Urteil auf dieser Verletzung<br />

beruht. Allein diese Kriterien bilden den Maßstab, an dem<br />

sich die Zulässigkeit der „erweiterten Revision“ messen lassen<br />

muss. 10<br />

Darüber hinaus ist an der Revisionspraxis kritisiert worden,<br />

sie führe zu einer unerträglichen, gesetzlich nicht intendierten<br />

Darstellungs- und Begründungslast des Tatrichters,<br />

sofern dieser sein Urteil „revisionssicher“ machen wolle. 11<br />

Ebenso häufig findet sich der Vorwurf, die Revisionsgerichte<br />

würden von ihren ausgedehnten Kontrollbefugnissen in nicht<br />

vorhersehbarer Weise Gebrauch machen und so die Tatgerichte<br />

im Hinblick auf den Umfang ihrer Urteilsbegründung<br />

verunsichern und die Revision so insgesamt zu einem „Lotteriespiel“<br />

machen. 12 Diese Einwände verbleiben jedoch an der<br />

Oberfläche, denn der Umfang der tatrichterlichen Darlegungs-<br />

und Schreiblast orientiert sich allein an verfassungs-<br />

oder anderen rechtlichen Maßgaben. Besteht insoweit eine<br />

Rechtspflicht, so kann nicht mit der Belastung der Tatrichter<br />

argumentiert werden, besteht sie nicht, so ist bereits der Revisionspraxis,<br />

die eine solche einfordert, der Boden entzogen.<br />

Träfe darüber hinaus der zweite Vorwurf der uneinheitlichen<br />

und unvorhersehbaren Revisionspraxis zu, so würde sich bei<br />

einer bestehenden Rechtsgrundlage für die erweiterte Revision<br />

allenfalls die Forderung ergeben, diese in der Praxis einheitlich<br />

umzusetzen, nicht aber, von dieser rechtskonformen<br />

Praxis abzugehen. 13<br />

3. Letztlich hängt die grundsätzliche Legitimation der revisionsrechtlichen<br />

Kontrolle der tatrichterlichen Beweiswürdigung<br />

auf die Sachrüge hin davon ab, ob tatsächlich eine<br />

Verletzung des sachlichen Rechts gegeben ist. Überraschenderweise<br />

gibt es in der Literatur nur wenige Überlegungen,<br />

die auf eine dogmatische Fundierung der Revisionspraxis<br />

zielen. Naheliegend ist etwa der von Wagner unternommene<br />

9<br />

Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen,<br />

Bd. 3, Materialien zur Strafprozeßordnung, Abt. 1,<br />

1885 (Neudruck 1983), S. 249 f. (Hervorh. im Original).<br />

10<br />

Zutreffend Frisch (Fn. 3), S. 257, 272.<br />

11<br />

Foth, DRiZ, 1997, 201 (205 f.).<br />

12<br />

Hamm, StV 1987, 262 (266); hierzu auch Wagner, ZStW<br />

106 (1994), 259 (260 f.).<br />

13<br />

Frisch (Fn. 3), S. 257, 271 f.


BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Versuch, die Beweiswürdigungspflicht im tatrichterlichen<br />

Urteil auf ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen zurückzuführen.<br />

14 Ein Verstoß gegen § 267 Abs. 1 StPO liege dann<br />

vor, wenn der Tatrichter die bereits von der Verfassung geforderte<br />

Begründung nicht liefere. 15 Wagner ordnet § 267<br />

StPO dem materiellen Recht mit der Begründung zu, die<br />

Verletzung der Norm betreffe nicht das Verfahren bis zum<br />

Urteil. Genauso gut ließe sich jedoch behaupten, das Urteil<br />

sei als Abschluss des Strafverfahrens gleichwohl noch dessen<br />

Bestandteil. Für die Zuordnung der Rüge zum Verfahrens-<br />

bzw. zum materiellen Recht ist damit also wenig gewonnen.<br />

Darüber hinaus beschränkt Wagner seine verfassungsrechtlichen<br />

Ausführungen ausdrücklich auf die Beweiswürdigungspflicht<br />

im tatrichterlichen Urteil im Falle der Verurteilung.<br />

Die verfassungsrechtliche Bedeutung des schriftlichen Urteils<br />

und damit auch die Konturen der Anforderungen an ihren<br />

Umfang und <strong>Inhalt</strong> lassen sich hier aus dem Aspekt des<br />

Grundrechtseingriffs in die persönliche Freiheit des Verurteilten<br />

ableiten. Dieser Gesichtspunkt verliert allerdings für<br />

die Begründung eines freisprechenden Urteils an Bedeutung.<br />

16<br />

Noch aus einem anderen Grund scheint es wenig überzeugend,<br />

die Revisibilität der Beweiswürdigung und deren<br />

Zuordnung zum Spektrum der Sachrüge aus der materiellrechtlichen<br />

Begründungspflicht des § 267 StPO und dessen<br />

verfassungsrechtlichem Hintergrund abzuleiten. <strong>Inhalt</strong>lich<br />

geht es nämlich bei den hier in Frage stehenden Mängeln im<br />

Urteil nicht in erster Linie darum, dass das Tatgericht seiner<br />

Begründungspflicht nicht in zureichendem Maße entsprochen<br />

hat. Vielmehr handelt es sich bei den mit der Revision angegriffenen<br />

Mängeln der Urteilsbegründung um positiv greifbare<br />

Fehler, also etwa innere Widersprüche oder die Missachtung<br />

von Erfahrungssätzen. Letztlich gilt dies selbst auch für<br />

den hier vorliegenden Fall, bei dem der Bundesgerichtshof<br />

moniert, dass das Tatgericht einzelne belastende Beweisanzeichen<br />

überhaupt nicht bzw. entlastende Beweismittel nur<br />

mangelhaft gewürdigt hat: Auch hier geht es weniger um die<br />

Verletzung einer Begründungspflicht als um Fehler, die sich<br />

im vorliegenden Urteilstext positiv nachweisen lassen. 17<br />

Zielführender für die rechtsdogmatische Absicherung der<br />

Zuordnung von Beweiswürdigungsmängeln zur Sachrüge<br />

scheinen dagegen normtheoretische Überlegungen zu sein,<br />

wie sie jüngst etwa von Frisch angestellt worden sind und<br />

hier nur in aller Kürze aufgegriffen werden sollen. 18 Zutreffend<br />

verweist Frisch darauf, dass das materielle Recht nicht<br />

direkt auf einen „wirklichen“ Sachverhalt, sondern auf dessen<br />

historischer Rekonstruktion als Ergebnis der Beweisaufnah-<br />

14<br />

Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (insb. 272 ff.).<br />

15<br />

Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (285).<br />

16<br />

Auch Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (278 u. 285 Fn. 167)<br />

lässt offen, ob die Begründungspflicht bei freisprechenden<br />

Urteilen aus der Sicht des Verfassungsrechts gleichen Anforderungen<br />

unterworfen ist.<br />

17<br />

Zutreffend in der generellen Perspektive wiederum Frisch<br />

(Fn. 3), S. 257, 279.<br />

18<br />

Ausführlich dazu Frisch (Fn. 3), S. 257, 282 ff.<br />

me angewendet wird. 19 Legitimer Anspruch an diese Rekonstruktion<br />

ist deren größtmögliche Deckung mit dem tatsächlichen<br />

Geschehensablauf. Voraussetzung hierfür sind unter<br />

anderem die Übereinstimmung des Rekonstruktionsergebnisses<br />

mit Denkgesetzen und Erfahrungssätzen, die Lückenlosigkeit<br />

der Beweiswürdigung, ebenso wie die hohe Überzeugung<br />

des Tatrichters von der Übereinstimmung der Rekonstruktion<br />

mit der Wirklichkeit. Neben den Normen des materiellen<br />

Rechts bedarf es also einer Reihe von „Operationsregeln“,<br />

die angeben, welche Bedingungen bestimmte Sachverhaltskonstrukte<br />

erfüllen müssen, damit das materielle Recht<br />

auf sie angewendet werden darf. Werden diese Anwendungsbedingungen<br />

nicht eingehalten, so werden zum einen die<br />

Operationsregeln verletzt. Gleichzeitig wird das materielle<br />

Recht im Urteil damit aber auf einen Sachverhalt angewendet,<br />

auf welchen es nicht bezogen werden darf, also zu Unrecht<br />

angewendet, so dass die Voraussetzungen des § 337<br />

Abs. 2 StPO erfüllt sind. Aus normtheoretischer Perspektive<br />

ist die Praxis der Revisionsgerichte, im Hinblick auf Mängel<br />

bei der Beweiswürdigung die Sachrüge zuzulassen, also im<br />

Grundsatz zutreffend. 20 Wünschenswert wäre allerdings,<br />

wenn die Revisionsgerichte diese Zuordnung in ihren Entscheidungen<br />

zukünftig argumentativ unterfüttern würden,<br />

ansonsten muss ihnen genau das vorgehalten werden, was sie<br />

selbst oft genug den Tatgerichten vorhalten: nämlich die<br />

Lückenhaftigkeit der Urteilsbegründung.<br />

III. Neben der Grundfrage, ob die Beweiswürdigung im<br />

Rahmen der Sachrüge überhaupt der revisionsrichterlichen<br />

Kontrolle unterzogen werden darf, ist das vorliegende Urteil<br />

noch im Hinblick auf mehrere der vom Senat herangezogenen<br />

Einzelanforderungen interessant, die von den Instanzgerichten<br />

häufig nicht eingehalten werden und daher oft zu<br />

einer Urteilsaufhebung führen.<br />

1. Hierzu gehören zunächst Unsicherheiten bei der Anwendung<br />

des Zweifelsgrundsatzes im Rahmen der Beweiswürdigung.<br />

Zu Recht bemängelt der 1. Senat, dass die Strafkammer<br />

die beiden Aussagen der Opferzeugen, welche den<br />

Angeklagten als Täter identifiziert hatten, jeweils einzeln<br />

unter Zugrundelegung des Zweifelsgrundsatzes als letztlich<br />

nicht überzeugend angesehen hat. Der Bundesgerichtshof<br />

betont, dass der Zweifelsgrundsatz eine Entscheidungs- und<br />

keine Beweisregel ist, der nicht auf einzelne Beweistatsachen<br />

angewendet, sondern erst bei der Gesamtbewertung aller<br />

Indizien berücksichtigt werden darf. Diese Einschätzung<br />

stimmt jedenfalls für den hier vorliegenden Beweisring 21 ,<br />

19<br />

Zur allgemeinen rechtstheoretischen Debatte um die Rekonstruktion<br />

des Sachverhalts in der forensischen Situation<br />

vgl. nur Grasnick, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer´s<br />

Archiv für Strafrecht: Eine Würdigung zum 70. Geburtstag<br />

von Paul-Günter Pötz, 1993, S. 55 ff., einerseits<br />

sowie Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im<br />

Strafprozeß?, 2000, insb. S. 14 ff. andererseits.<br />

20<br />

Frisch (Fn. 3), S. 257, 285 f.<br />

21<br />

Hierzu ausführlich Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung<br />

vor Gericht, 3. Aufl. 2007, Rn. 622 ff., sowie Loddenkämper,<br />

Revisibilität tatrichterlicher Zeugenbeurteilung,<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

103


BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

dessen Kennzeichen bekanntlich darin besteht, dass von einer<br />

Mehrzahl von Indizien jedes einzelne mit einer bestimmten<br />

Wahrscheinlichkeit, also einem eigenen Beweiswert, auf die<br />

gleiche Haupttatsache hindeutet. Sofern ein einzelnes Indiz<br />

allein noch nicht ausreicht, die Haupttatsache zu beweisen,<br />

dürfen die weiteren Indizien nicht jeweils getrennt voneinander<br />

bewertet werden, sondern müssen im Zusammenhang mit<br />

den anderen gewürdigt werden. Kurz gefasst lautet dieses<br />

beweisrechtliche Prinzip, dem das mathematische Theorem<br />

von Bayes 22 zugrunde liegt: Mehrere belastende Indizien auf<br />

derselben Ebene verstärken die Wahrscheinlichkeit der<br />

Haupttatsache. 23 Konsequenterweise darf der Zweifelsgrundsatz<br />

dann aber auch erst auf das Ergebnis der Wahrscheinlichkeitskalkulation<br />

Anwendung finden.<br />

2. Weiterhin kritisiert der Bundesgerichtshof, das Landgericht<br />

habe erhebliche konkrete Verdachtsmomente aufgrund<br />

„nicht tragfähiger Hypothesen“ und „bloß denktheoretischer<br />

Möglichkeiten“ als entwertet angesehen. Auch hierbei handelt<br />

es sich in ihrer Grundstruktur um typische Fehler, die<br />

Tatgerichten dann unterlaufen können, wenn sie ein falsches<br />

Verständnis von der zur Verurteilung erforderlichen richterlichen<br />

Überzeugung zu Grunde legen. Wie hier kann ein Freispruch<br />

dann fehlerhaft sein, wenn durch sachfremde Überlegungen<br />

belastende Indizien relativiert und so letztlich die<br />

Anforderungen an eine Verurteilung überspannt werden. 24<br />

Konkret bezieht sich der Senat zunächst auf die molekulargenetisch<br />

untersuchte Blutspur vom Fahrersitz des Fahrzeugs<br />

des Angeklagten, die nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Merkmalen eines<br />

der Geschädigten übereinstimmte. Das Landgericht hatte den<br />

Beweiswert dieser Blutspur als gering eingestuft, da insbesondere<br />

an der Kleidung des Angeklagten keine entsprechenden<br />

Spuren aufgefunden werden konnten. Zu Recht weist der<br />

Senat unter anderem darauf hin, dass das Fehlen weiterer<br />

Beweisspuren nichts am Beweiswert der aufgefundenen Blutspur<br />

ändert. Während also in der forensischen Praxis der<br />

Aussagewert einer DNA-Analyse häufig überschätzt wird,<br />

indem der hohe statistische Aussagewert eines Analyseergebnisses<br />

im Urteil bereits ohne Würdigung der Gesamtumstände<br />

als Beweis einer Tatsache angenommen wird, 25 liegt<br />

hier der umgekehrte Fall vor, bei welchem ein Gericht den<br />

Aussagewert einer Analyse aus nicht sachgemäßen Erwägun-<br />

2003, S. 43 ff. Anderes mag allenfalls für die Indizienkette<br />

gelten, deren Beweiswert vom schwächsten Kettenglied abhängt:<br />

Hier darf der In-dubio-Satz bereits bei den einzelnen<br />

Beweisanzeichen angewendet werden, weil der Zweifel am<br />

Indiz in diesem Fall ausnahmsweise mit dem fehlgeschlagenen<br />

Beweis der Tatsache gleichgesetzt werden kann, vgl.<br />

Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 1998, S. 392.<br />

22 Eingehend zum <strong>Inhalt</strong> und zur forensischen Bedeutung des<br />

Theorems, Müller, in: Kühne (Hrsg.), Festschrift für Klaus<br />

Rolinski: Zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 2002, S. 219,<br />

222 ff.<br />

23 Bender/Nack/Treuer (Fn. 21), Rn. 629.<br />

24 BGH NStZ-RR 2003, 240.<br />

25 Dazu etwa BGH NStZ 1994, 554.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

104<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

gen heraus unterschätzt.<br />

Eine ähnliche Fehlgewichtung hält der Senat dem Landgericht<br />

zu Recht im Hinblick auf andere Indizien vor. Die<br />

Strafkammer hatte festgestellt, dass im Brandschutt einer am<br />

Tattag entzündeten Feuerstelle Gegenstände des Angeklagten<br />

und die Kautschukmischung einer bestimmten französischen<br />

Gummistiefelmarke gefunden wurden. Ausweislich des Urteils<br />

hatte der Angeklagte zweimal Gummistiefel dieser Marke<br />

gekauft und am Tattag Stiefel getragen. Anstatt die Kombination<br />

dieser Indizien im Urteil zu würdigen, habe das<br />

Landgericht den Beweiswert des nach der Tat abgebrannten<br />

Feuers relativiert, da es Zweifel daran hatte, ob es dem Angeklagten<br />

zeitlich möglich gewesen sei, das Feuer anzuzünden.<br />

Damit aber wird die Bedeutung der festgestellten Indizien<br />

für den Beweis der Täterschaft des Angeklagten von der<br />

Strafkammer nicht zutreffend gewichtet. Auch die Einschätzung<br />

des Landgerichts, dass die Stiefelreste erst 13 Monate<br />

nach der Tat an der Brandstelle gefunden worden seien und<br />

daher die Gefahr einer Beweismanipulation durch Dritte<br />

bestehe, vermag der Bundesgerichtshof nicht zu teilen. Zwar<br />

gehört zum gesicherten Bestand der revisionsrechtlichen<br />

Rechtsprechung, dass das Tatgericht sich bei der Beweisführung<br />

mit alternativen Verlaufsmöglichkeiten des Tatgeschehens<br />

beschäftigen muss. Dies ist jedoch nur dann geboten,<br />

wenn solche Möglichkeiten nicht bloß theoretisch denkbar,<br />

sondern naheliegend sind. 26 Es kommt also darauf an, dass es<br />

sich hierbei nicht um reine Spekulationen des Gerichts handelt,<br />

sondern es müssen konkrete und im Urteil mitgeteilte<br />

Anhaltspunkte vorliegen, die einen alternativen Geschehensablauf<br />

aufdrängen. Fehlt es jedoch an einem entsprechenden<br />

Anknüpfungspunkt, so darf das Tatgericht bereits festgestellte<br />

Beweisanzeichen nicht dadurch entwerten, indem es sie in<br />

einen anderen – rein hypothetischen – alternativen Geschehensablauf<br />

eingliedert. Für den Senat ergibt sich aus dem<br />

landgerichtlichen Urteil gerade kein relevanter Gesichtspunkt,<br />

der auf ein Eingreifen Dritter hinweisen könnte. Ganz<br />

im Gegenteil habe die Strafkammer sogar selbst ausgeführt,<br />

dass der Stiefel verbrannt worden war, bevor man die Öffentlichkeit<br />

über die Bedeutung der speziellen Stiefelmarke informiert<br />

hatte.<br />

3. Ein weiterer Gesichtspunkt, der nach Auffassung des<br />

Senats zur Aufhebung des Urteils in der Sache führen musste,<br />

ist die im Urteil unzureichende Auseinandersetzung des Tatgerichts<br />

mit dem Aussageverhalten eines Zeugen. Obwohl es<br />

kaum ein weniger sicheres Beweismittel als die Zeugenaussage<br />

gibt, kommt ihr oft für den Ausgang eines Verfahrens<br />

eine entscheidende Rolle zu. Dies hat zur Konsequenz, dass<br />

ein Tatgericht Zeugenaussagen, auf die es seine Entscheidung<br />

stützen will, besonders sorgfältig zu würdigen und dies lückenlos<br />

in der Urteilsbegründung festzuhalten hat. Hier hatte<br />

der Alibizeuge in der Hauptverhandlung angegeben, den<br />

Angeklagten exakt um 13.54 Uhr mit seinem Fahrzeug stadtauswärts<br />

fahren gesehen zu haben. Diese genaue Zeitangabe<br />

26<br />

Std. Rspr., vgl. nur BGH StV 1982, 210; BGH bei Miebach,<br />

NStZ 1990, 28; siehe hierzu auch Dahs/Dahs, Die<br />

Revision im Strafprozeß, 6. Aufl. 2001, S. 234 m.w.N.


BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sei möglich gewesen, weil er dabei auf die nahe gelegene<br />

Kirchturmuhr gesehen habe. Wäre diese Aussage zutreffend,<br />

dann hätte der Angeklagte die Bank in der Tat nicht vor dem<br />

Eintreffen der Eheleute um 13.55 Uhr betreten können. Der<br />

Bundesgerichtshof bemängelt, dass das landgerichtliche Urteil<br />

zur Entstehung dieser Aussage lediglich ausführt, dass<br />

„keine gravierenden Widersprüche“ zwischen den Angaben<br />

des Zeugen bei seinen polizeilichen Vernehmungen und im<br />

Rahmen der Hauptverhandlung bestanden hätten. Es sei ihm<br />

nicht möglich, die Beweiswürdigung anhand dieser Angaben<br />

zu überprüfen, zumal der Zeuge ausweislich der Akten erst in<br />

der Hauptverhandlung, nicht aber bei seinen früheren Vernehmungen<br />

die genaue Zeitangabe mit dem Blick auf die<br />

Kirchturmuhr begründet habe. Aufgrund dieses Erörterungsmangels<br />

befürchtet der Bundesgerichtshof, das Landgericht<br />

könnte die Zeitangaben des Zeugen vorschnell als feststehenden<br />

Zeitpunkt für das Beweisgebäude akzeptiert haben.<br />

Tatsächlich gilt die gleichbleibende Struktur einer Aussage,<br />

insbesondere auch im Hinblick auf ihren Detailreichtum,<br />

als bedeutender Indikator für ihre Glaubhaftigkeit. Demgegenüber<br />

kann eine Präzisierung der Einlassung eines Zeugen<br />

durch spätere Angaben, welche die Erstaussage stützen sollen,<br />

auf inhaltliche Mängel der Aussage hindeuten. 27 Daher<br />

ist die Konstanzanalyse, wie sie in der Aussagepsychologie<br />

genannt wird, eine der zentralen methodischen Elemente der<br />

Aussagebewertung. 28 Für die tatrichterliche Beweiswürdigung<br />

bedeutet dies, dass die Aussageentstehung im Urteil<br />

jedenfalls dann zu berücksichtigen ist, wenn bestimmte Details<br />

einer Aussage, die für ihre Glaubhaftigkeit maßgeblich<br />

sind, erst bei späteren Vernehmungen vom Zeugen vorgetragen<br />

werden. Gerade, wenn es für den Beweiswert einer Aussage<br />

– wie hier – auf eine minutengenaue Angabe des Zeugen<br />

ankommt, muss der Tatrichter präzise angeben, warum er es<br />

für die Bewertung der Aussage als glaubhaft nicht für maßgeblich<br />

hält, wenn wesentliche Bestandteile vom Zeugen erst<br />

in einer späteren Vernehmung nachgeschoben werden. Bloße<br />

allgemeine Hinweise auf das Fehlen durchgreifender Widersprüche<br />

zwischen den einzelnen Aussagen reichen nicht aus,<br />

da es dem Revisionsgericht in diesem Fall nicht möglich ist,<br />

die erforderliche tatrichterliche Beweiswürdigung der Aussage<br />

inhaltlich zu kontrollieren.<br />

IV. Die Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung<br />

durch die Revisionsgerichte war zwar durch den Gesetzgeber<br />

der RStPO von 1877 nicht vorgesehen. Sie stellt deshalb aber<br />

nicht ein „herausragendes Beispiel richterlichen Ungehorsams<br />

gegen das Gesetz“ 29 , sondern ganz im Gegenteil eine<br />

mit dem Gesetzestext vereinbare, rechtsstaatlich notwendige<br />

Weiterentwicklung des Strafprozessrechts dar, die konsequenterweise<br />

nicht nur für Verurteilungen, sondern auch für<br />

Freisprüche gelten muss. Wie wichtig die revisionsgerichtliche<br />

Kontrolle auch hier ist, zeigt der vorliegende Fall.<br />

Wiss. Mitarbeiter Dr. Frank Dietmeier, M.A., Düsseldorf<br />

27 Einzelheiten hierzu Bender/Nack/Treuer (Fn. 21), Rn. 388 ff.<br />

28 BGH NJW 1999, 2746 (2748 f.).<br />

29 Foth, DRiZ 1997, 202. Gegen ihn zu Recht Meyer-Goßner,<br />

DRiZ 1998, 471.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

105


Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa Hettinger<br />

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106<br />

R e z e n s i o n e n<br />

Uwe Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland<br />

und Europa, Juristische Zeitgeschichte. Kleine Reihe, Bd. 13,<br />

BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2006. XII,<br />

156 S., geb. € 38,-<br />

Gewiss, Technè bedeutet neben Kunstfertigkeit, Handwerk<br />

und Kunstwerk u.a. auch Kunstgriff sowie List; aber das<br />

sollte nicht das Gemeinte sein, wenn die Rede von Gesetzgebungstechnik<br />

– oder spezieller von Strafgesetzgebungstechnik<br />

– ist. Jedenfalls wünschte man sich hierfür als zutreffende<br />

Bedeutung doch eher die Kunstfertigkeit, die zur richtigen<br />

Ausübung einer Sache, hier eben der Gesetzgebung, notwendig<br />

ist. Im Lehrkanon deutscher Hochschulen ist sie nicht<br />

verankert. Zur Sprache kommt so manches aber notwendig in<br />

Veranstaltungen zur Methodik der Rechtsanwendung. Im<br />

Übrigen gilt wohl: Das Erforderliche wird gelernt, wenn es<br />

getan werden muss. In solchem Fall sieht man sich nach<br />

gelungenen Gesetzen, besser noch nach denen um, die sich<br />

mit dieser Materie schon kundig befasst haben. Scheffler<br />

führt im Literaturverzeichnis eine ganze Reihe auf, Feuerbach<br />

selbstverständlich, ferner von Liszt, Noll, von Savigny<br />

und – sehr zu Recht – Adolf Wach (Ernst Belings vorzügliche<br />

Methodik der Gesetzgebung, 1922, wäre noch zu nennen,<br />

heute weithin der Vergessenheit anheim gefallen, Richard<br />

Eduard Johns Entwürfe zu einem Strafgesetzbuch, 1868 und<br />

1870, sowie Hans Schneiders Gesetzgebung, 3. Aufl. Weitere<br />

Literatur ist aufgelistet in der Dissertation von Sigrid Emmenegger,<br />

Gesetzgebungskunst, 2006). Gemessen an der Bedeutung<br />

der Thematik und der zunehmenden Zahl der über den<br />

Qualitätsverlust der Strafgesetzgebung Klagenden ist es erstaunlich,<br />

wie selten Fragen der Strafgesetzgebungstechnik<br />

über konkrete Einzelfälle hinaus einmal grundsätzlicher in<br />

den Blick genommen werden. Eben das hat nun Uwe Scheffler<br />

im Mai 2005 in seinem Vortrag auf der Tagung der<br />

deutschsprachigen Strafrechtslehrer für einen Ausschnitt aus<br />

der Gesamtproblematik getan. Die beträchtlich erweiterte,<br />

mit Fußnoten versehene Fassung ist in der von Thomas<br />

Vormbaum herausgegebenen, feinen und schön aufgemachten<br />

„Kleinen Reihe“ des Instituts für Juristische Zeitgeschichte<br />

als Bd. 13 erschienen.<br />

Der Einleitung folgen vier unterschiedlich dimensionierte<br />

Kapitel, nämlich A. Aufklärerisches Gedankengut (S. 6-18),<br />

B. Deutsche Strafgesetzgebung (S. 19-79), C. Internationale<br />

Abkommen (S. 80-90) und D. Europäische Zusammenhänge<br />

(S. 91-130). Das handliche Büchlein beschließen ein Vorschriften-<br />

und ein Literaturverzeichnis (S. 131-156).<br />

In der „Einleitung: Zwischen Kasuistik und Generalisierung“<br />

steckt Scheffler knapp den Rahmen der Möglichkeiten<br />

ab, die jeglicher Gesetzgebung zur Verfügung stehen. Klar,<br />

Generalisierung hält ein Gesetz(buch) schlank, Kasuistik<br />

macht es „dicke“. Innerhalb der Kasuistik unterscheidet der<br />

Autor nun zwei Idealtypen: Einmal Tatbestände mit vielfältigen<br />

Erschwerungsgründen und Strafdrohungen, wie etwa<br />

beim Kindesmissbrauch und beim Diebstahl zu sehen (vom<br />

Autor vertikale Kasuistik genannt); zum anderen Tatbestände,<br />

wie etwa das Verbreiten pornographischer Schriften, bei<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

denen „die Fülle dagegen auf der Nebeneinanderstellung<br />

verschiedenster Einzelfälle“ beruht (sog. horizontale Kasuistik).<br />

Bekannt ist, dass vertikale Kasuistik der Gleichheit dienen<br />

kann, horizontale der Bestimmtheit. Bekannt ist freilich<br />

auch, dass Abstraktion sich im Unbestimmten verlieren kann,<br />

(reine) Kasuistik hingegen notwendig lückenhaft bleibt. Welchen<br />

Weg der Gesetzgeber einschlagen sollte, ist bei jedem<br />

Projekt eine neu zu beantwortende Frage. Scheffler greift<br />

eben diese zwei Teilaspekte aus der Gesamtproblematik auf,<br />

um so dem Gesetzgeber, auch dem europäischen, vorzuarbeiten.<br />

Ist nämlich „die Struktur der Tatbestände für die Brauchbarkeit<br />

eines Strafgesetzbuches von entscheidender Bedeutung“<br />

1 , so ist von größtem Nutzen zu klären, welche „Gesetzestechniken“<br />

(S. 4) sich nicht eignen.<br />

In Kapitel A. beschreibt Verf., wie die Suche nach der<br />

„richtigen Gesetzgebungstechnik“ für vollständige, eindeutige<br />

und klare Gesetze über Montesquieus Richter als „Mund<br />

des Gesetzes“ von den aufgeklärten Fürsten in ihrem Nutzen<br />

zur Befestigung absoluter Macht erkannt wird, zur dem Richter<br />

wenig Spielraum belassenden Kasuistik führt und darüber<br />

hinaus von dem Gebot „authentischer“ Auslegung flankiert<br />

wird. Das zeittypische Streben nach Perfektionierung lässt<br />

die Gesetzbücher immer umfangreicher werden (dazu S. 8 f.,<br />

aber auch S. 73, Text nach Fn. 350). Feuerbach und von<br />

Savigny zeigen in aller Deutlichkeit, dass Kasuistik, so eingesetzt,<br />

die Probleme nicht lösen kann, nur Allgemeinheit und<br />

Vollständigkeit allgemeiner Regeln – bei detaillierter Durchführung<br />

– dies vermögen (S. 10 ff.). Wie eine solche Technik<br />

aussehen könnte, führt das bay. StGB von 1813 vor, das<br />

Radbruch zu Recht als „groß, bahnbrechend und vorbildlich“<br />

gerühmt hat (S. 17).<br />

Im umfangreichen Kapitel C. widmet Verf. sich der deutschen<br />

Strafgesetzgebung, beginnend mit dem RStGB von<br />

1871, das mit noch weniger Vorschriften auskam als das bay.<br />

StGB von 1813. Wie dort, so glückt aber auch den Redaktoren<br />

des RStGB die Regelung des – bis heute praktisch überragend<br />

wichtigen – Diebstahlkomplexes nicht. Es bleibt<br />

vielmehr bei der „Fülle von Widersinn“ (Wach) im Katalog<br />

des § 243 RStGB 1871 (S. 22 ff.; zu ketzerischen Fragen<br />

Schefflers s. S. 24 f.). Warum aber will es nicht recht gelingen,<br />

insoweit „akzeptierte Unterscheidungen“ zu treffen?<br />

Scheffler bemerkt, es gehe „hier noch um etwas anderes“<br />

(S. 28) und wendet sich der Figur der besonders schweren<br />

Fälle mit Regelbeispielen (und ihren Vorläufern) zu, die das<br />

1. StrRG 1969 in den § 243 StGB aufgenommen hatte. Er<br />

vermutet, dass Motiv für deren Einführung die sattsam bekannten<br />

„unerträglichen Strafbarkeitslücken“ gewesen seien<br />

(S. 32; da Diebstahl grundsätzlich strafbar ist, geht es in diesem<br />

Zusammenhang also nur um die Furcht, nicht „angemessen“<br />

bestrafen zu können, was freilich angesichts der Obergrenze<br />

schon des Grundtatbestandes und den tatsächlich<br />

verhängten Strafen – mit wenigen Ausnahmen weit unterhalb<br />

davon – reichlich merkwürdig anmutet). Im Folgenden gilt<br />

das Interesse des Verf. dieser Technik „moderner Strafgesetzgebung“.<br />

Er konstatiert, dass im Zug des 6. StrRG vielen<br />

bislang unbenannten besonders schweren Fällen Regelbei-<br />

1 So Wach, DJZ 1910, 109, zit. S. 5.


Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa Hettinger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

spiele zugesellt wurden oder man, soweit solche schon vorhanden<br />

waren, deren Zahl vermehrte (vgl. etwa § 240<br />

Abs. 4). Da diese Beispiele weder abschließend noch zwingend<br />

sind, laden sie den Gesetzgeber geradezu ein, es bei<br />

ihrer Formulierung „nicht so genau“ zu nehmen. Die hier<br />

vermeintlich größere Freiheit führt in der Praxis jedoch<br />

durchaus auch zu Anwendungsproblemen, die Verf. am Beispiel<br />

des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB n.F. sowie der §§ 263<br />

Abs. 3, 266 Abs. 2 aufzeigt (S. 40 ff.). Auch im weiteren<br />

Text klingt – mit anschaulichen Beispielen unterfüttert – an,<br />

dass Scheffler die Methode suspekt ist. Eher Sympathie zeigt<br />

er für die „’Nur-aber-nicht-immer’-Technik“ (S. 51), die<br />

unbenannte besonders schwere Fälle i.S.d. § 267 Abs. 3 Hs. 2<br />

StPO (vgl. etwa BGHSt 29, 319) ausschließen würde (S. 51<br />

f.), noch mehr für Wachs einem generalisierenden Kriterium<br />

untergeordnete Exemplifikationen (S. 53 f.).<br />

Sodann wendet Verf. sich den „Schrotschüssen“ zu, dem<br />

„unsystematischen Nebeneinanderstellen von einzelnen Begriffen“,<br />

kurz: der horizontalen Kasuistik. Näher erörtert er aus<br />

diesem Teilbereich die „Umgangs- und Verbreitungsverbote“,<br />

„einen Tatbestandstyp, der jeden erdenklichen Verkehr<br />

mit bestimmten Dingen […] sowie Schriften […] pönalisieren<br />

soll“ (S. 55). Im ersten deutschen Betäubungsmittelgesetz<br />

von 1920 findet er im damaligen § 8 Abs. 1 immerhin schon<br />

12 Tathandlungen, die 1972, 1982 und 1992 jeweils um zwei<br />

weitere vermehrt wurden. Zählt man die Tathandlungen im<br />

aktuellen § 29 Abs. 1 Nrn. 1-4 BtMG zusammen, so sind es –<br />

je nach Zählweise – ca. 30, ein, wie Scheffler schreibt, „Wust<br />

von Verben“ (S. 56). Nach Erwähnung des Sprengstoffgesetzes<br />

von 1884 (mit immerhin 11 Tathandlungen) findet er<br />

weitere Prachtexemplare in den Waffengesetzen seit 1928<br />

(mit zusätzlich exzessiver Verweisungstechnik, dazu S. 58),<br />

den Kriegswaffenkontrollgesetzen sowie in § 328 StGB –<br />

„Unerlaubter Umgang mit radioaktiven Stoffen und anderen<br />

gefährlichen Stoffen und Gütern“. Selbstverständlich lässt der<br />

Autor sich auch die Entwicklung des „Pornographietatbestandes“<br />

(§ 184 RStGB) nicht entgehen, dessen Würdigung<br />

als einer „monströsen Strafbestimmung“ durch H. J. Hirsch<br />

sowie „den Höhepunkt der Verbenkumulation“ in §§ 130<br />

Abs. 1 Nr. 1 und 131 Abs. 2 StGB (S. 61). Dass derlei nahezu<br />

notwendig zu Überschneidungen und zu konkurrenzrechtlichen<br />

Problemen führt, wird selbstverständlich ebenso vermerkt<br />

wie auszugsweise Stimmen aus dem Chor der Kritiker<br />

von P.J. A. Feuerbach über Wolfgang Mittermaier und Eckhard<br />

Horn bis zu F.-C. Schroeder (S. 64 ff.). Im Weiteren<br />

führt Verf. einen Gesetzgeber vor, der straffreie Räume fürchtet<br />

und deshalb z.B. bemüht ist, „möglicherweise noch verbleibende<br />

Strafbarkeitslücken zu schließen“ (S. 67). Wie<br />

dieser Gesetzgeber sich von der eigentlichen Tathandlung<br />

über die Technik der Vorverlagerung weit ins Vorfeld zurückhangeln<br />

kann, zeigt Verf. am Beispiel des § 29 BtMG,<br />

wonach schon der versuchte Anbau strafbewehrt ist, in besonders<br />

schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren<br />

(§ 29 Abs. 3 BtMG; zur Erinnerung: Schutzgut ist die sog.<br />

Volksgesundheit. Ein weiteres schönes Beispiel findet sich<br />

S. 70 zu § 275 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Auch „spielerische Freude“<br />

vermutet der Autor bei den Schöpfern des § 7 Abs. 1<br />

LMBG 1997 – und wenn man die Aufzählungen im Geset-<br />

zestext hinter sich gebracht hat, mag man in der Tat mit Feuerbach<br />

fragen „Wozu zwei Worte, wo eins schon genügt?“<br />

(S. 71). § 3 des Nachfolgegesetzes LFGB „Lebensmittel- und<br />

Futtermittelgesetzbuch“ von 2005 fügt sogar noch sechs<br />

weitere Handlungen hinzu. Am Ende des Kapitels fragt Verf.<br />

(unter III. 3.) danach, was einer modernen Strafgesetzgebung<br />

als Technik frommen könnte. „Ausgewählte Enumerationen“<br />

(z.B. §§ 274 Abs. 1 Nr. 1, 265 Abs. 1 StGB) helfen im Bereich<br />

der Umgangsverbote nicht weiter, weil es dem Gesetzgeber<br />

hier gerade um vollständige Erfassung des für strafwürdig<br />

Erachteten geht; „erschöpfende Enumerationen“ (wie<br />

in §§ 259 Abs. 1, 299, 331 ff. StGB) erscheinen „theoretisch“<br />

als Methode der Wahl, stoßen aber „in der Praxis […] auf<br />

sprachliche und psychologische Grenzen“ (näher dazu S. 75<br />

f.). So bleiben die eingangs erwähnten Exemplifikationen i.S.<br />

Wachs, eine Technik, die nun etwas vorgestellt wird und –<br />

wie Verf. zeigt – durchaus an Vorbilder im RStGB anknüpft<br />

(S. 76 ff.). Jedenfalls für den Bereich der „Umgangsverbote“<br />

hält Scheffler diese Technik für einen Fortschritt.<br />

Im Kapitel C. „Internationale Abkommen“ geht Verf. der<br />

Frage nach, inwieweit „die Renaissance zumindest der horizontalen<br />

Kasuistik im deutschen Strafrecht […] auf europarechtliche<br />

Vorgaben oder jedenfalls auf (gemeinsame) internationale<br />

Einflüsse zurückzuführen“ ist (was für die vertikale<br />

Kasuistik der Regelbeispieltechnik als „deutscher Rechtsfigur“<br />

fraglos zu verneinen sei, S. 81). Scheffler zeigt im Folgenden<br />

auf, dass sowohl das erste Betäubungsmittelgesetz<br />

von 1920 (nebst einigen Erweiterungen; dazu S. 85) als auch<br />

die waffenrechtlichen Bestimmungen und der Pornografietatbestand<br />

ihre Form unter dem Einfluss internationaler Abkommen/Übereinkünfte<br />

erhalten haben. „So manche solcher<br />

Schrotschüsse haben sich zudem im deutschen Strafrecht<br />

fortgepflanzt“, heißt es abschließend (S. 89 f. mit Beispielen).<br />

Im letzten Kapitel D. wirft Scheffler einen – längeren – Blick<br />

auf „Europäische Zusammenhänge“. Er diagnostiziert spätestens<br />

mit Einführung der Nr. 2 in § 264 Abs. 1 StGB 1995<br />

einen direkten Einfluss auf das nationale Strafrecht (S. 92).<br />

Die „Bestandsaufnahme“ zeigt auf, wie im Rahmen der<br />

„Dritten Säule der EU, der polizeilichen und justiziellen<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen“, die Rechtsharmonisierung<br />

mit dem „Instrument des Rahmenbeschlusses“ vorangetrieben<br />

wird (S. 92). Dabei kommt häufig internationalen Abkommen<br />

eine Vorbildfunktion zu. So übernimmt der Rahmenbeschluss<br />

2004/757/JI „wortgleich und identisch“ die<br />

17 Tathandlungen des Art. 3 des Wiener Suchtstoffabkommens<br />

von 1988 (S. 93; weitere Beispiele S. 94 ff.). Andere<br />

Rahmenbeschlüsse bleiben hinter der deutschen Kasuistik<br />

zurück (dazu S. 96 f.). Häufiger sei jedoch zu beobachten,<br />

„dass die europäischen Rahmenbeschlüsse direkt das deutsche<br />

Recht mit Schrotschüssen versorgen“ (S. 98). Verf.<br />

nennt u.a. §§ 233a, 263a Abs. 3 sowie die – damals noch in<br />

Planung befindliche – Änderung der §§ 202a und 303b StGB<br />

(jetzt §§ 202a-c, 303b StGB n.F.).<br />

Im „Ausblick“ hält Scheffler fest, dass „anders als bei den<br />

Regelbeispielen die deutsche Vorliebe für Schrotschüsse<br />

(hier) weitgehend internationalen Vorbildern folgt“, die sich<br />

ihrerseits „an der plakativen Gesetzgebungstechnik der USA“<br />

orientiere (S. 102, 103; s. aber auch S. 118), letztlich dem<br />

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107


Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa Hettinger<br />

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„englischen common law“ entspringen dürfte (S. 104). Eine<br />

schlagende Antwort auf die Frage, warum gerade der deutsche<br />

Gesetzgeber diese Technik weit mehr als die Nachbarstaaten<br />

übernommen hat, findet Verf. nicht. Mit Blick auf<br />

Europas Kompetenzen erwartet er auch für die Zukunft „wenig<br />

Gutes an Gesetzgebungstechnik“. Dass in der „modernen“<br />

Formulierung des „Bekämpfens“ eine problematische<br />

kriminalpolitische Stoßrichtung zu erkennen ist, belegt Verf.<br />

mit einer Fülle von ob der Sorglosigkeit im Umgang mit der<br />

Sprache traurig bis besorgt stimmenden Beispielen (S. 109<br />

ff.). Es zeigt sich hierin – auch – eine Verrohung der Sprache,<br />

wie man sie seit Jahren lesen und hören kann, auch in den<br />

oberen Etagen der Gesellschaft. „Eine solche Kriminalpolitik<br />

des Bekämpfens und Ausmerzens harmoniert aber nun mal –<br />

und nur das interessiert in unserem Zusammenhang – bestens<br />

mit der Schrotschußtechnik, also einem Stil, der das Fragmentarische<br />

am Strafrecht nicht tolerieren will – nullum<br />

crimen sine poena – und deshalb – sicher ist sicher – zu einem<br />

auch verbalen overkill führt“ (S. 115). Weitere Vorverlagerungen<br />

der Strafbarkeit durch Rahmenbeschlüsse können<br />

in den letzten Jahren mehrfach besichtigt werden (dazu<br />

S. 116 ff.). Allerdings ist der deutsche Gesetzgeber keineswegs<br />

nur „Getriebener“, wie Verf. im Weiteren, wiederum<br />

unter Heranziehung der rechtsgeschichtlichen Entwicklungen,<br />

belegt (S. 118 ff.). Zum Schluss wendet Scheffler sich<br />

noch einmal der Regelbeispieltechnik zu, die wie gesehen<br />

eine „urdeutsche“ Kreation ist. Rundheraus mag er ihre „Exporttauglichkeit“<br />

nicht verneinen.<br />

Scheffler hat sein Vorhaben klug auf zwei wichtige Methoden<br />

aus der Gesamtthematik „Strafgesetzgebungstechnik“<br />

beschränkt. Für diesen von ihm intensiv bearbeiteten Teilbereich<br />

wird überaus deutlich, dass das Niveau der Gesetzgebung<br />

stark verbesserungsbedürftig ist. So lange freilich die<br />

Politik mit Strafgesetzen umgeht wie mit Verwaltungsvorschriften<br />

und bei jedem spektakulären Einzelfall „Handlungsbedarf“<br />

behauptet, den Redaktoren schon die Zeit zu<br />

solider (Übersetzungs-) Arbeit nicht lässt, wird nichts sich<br />

bessern.<br />

Scheffler hat aufgezeigt, dass die horizontale Kasuistik als<br />

gesetzgeberisches „Problem“ schon nicht mehr wahrgenommen<br />

wird. Er hat m.E. auch Recht, wenn er die derzeitige<br />

Handhabung der Regelbeispielstechnik (vertikale Kasuistik)<br />

geißelt; und die unbenannten besonders schweren Fälle mögen<br />

zwar, wie das BVerfG 2 entschieden hat, mit der Verfassung<br />

vereinbar sein, weil das Schuldprinzip nur Strafdrohungen<br />

verlange, die schuldangemessenes Strafen „ermöglichen“<br />

3 , so dass der Gesetzgeber offensichtlich glaubt, bei der<br />

Bildung der Strafrahmen letztlich freie Hand zu haben. Aber<br />

möglicherweise ist – von diesem verfassungsgerichtlich „vor-<br />

geschriebenen“ Standpunkt aus – neben dem Vorschlag<br />

Wachs auch über das Potenzial der Technik besonders schwerer<br />

Fälle doch noch einmal nachzudenken 4 . Illusionen sollte<br />

2<br />

JR 1979, 28.<br />

3<br />

BVerfGE 50, 125 (140).<br />

4<br />

Dazu Rezensent, in: ders. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried<br />

Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 95, 120.<br />

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108<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

man sich freilich keinen hingeben. Die Qualität strafrechtlicher<br />

Gesetzgebung in diesem Land befindet sich, gemessen<br />

am Zustand vor 1933 auf deutlicher Talfahrt. Zu reden wäre<br />

freilich auch über manch Anderes, etwa die (nicht widerspruchsfreie)<br />

Strafrahmensystematik, das (epidemisch verbreitete)<br />

sog. Opportunitätsprinzip, die (gesetzesfernen) sog.<br />

Absprachen u.a.m.<br />

Prof. Dr. Michael Hettinger, Mainz


Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz; Jugendstrafrecht Neubacher<br />

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R e z e n s i o n e n<br />

Heribert Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar,<br />

7. Aufl., Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2007,<br />

730 S., gebunden, € 98.- und Heribert Ostendorf, Jugendstrafrecht,<br />

4. Aufl., Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden<br />

2007, 239 S., broschiert, € 22.-<br />

Im Grunde ist es weder nötig noch möglich, Ostendorfs<br />

Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz im Detail vorzustellen.<br />

An der Notwendigkeit fehlt es, weil das gut eingeführte<br />

und inzwischen in der 7. Auflage bei Nomos erschienene<br />

Werk jedem mit dem Jugendstrafrecht Befassten vertraut sein<br />

dürfte. Kaum möglich ist es, weil der Kommentar, den man<br />

durchaus als Standardwerk bezeichnen darf, auch nach dem<br />

Verlagswechsel und einer „Abspeckungskur“ mit seiner umfassenden<br />

Darstellung seinesgleichen sucht. Nach wie vor<br />

überzeugt er durch die gelungene Synthese von jugendstrafrechtlicher<br />

Gesetzeskommentierung und unverzichtbarer Darstellung<br />

der jugendkriminologischen Hintergründe. Neueste<br />

Statistiken zur Entwicklung der Jugendkriminalität und der<br />

Sanktionierung durch die Jugendgerichte fehlen ebenso wenig<br />

wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 31.5.2006 zur verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen<br />

Regelung des Jugendstrafvollzugs.<br />

Noch nicht eingearbeitet ist das 2. Justizmodernisierungsgesetz<br />

vom 22.12.2006, durch welches § 51 Abs. 2 JGG neu<br />

gefasst und die Nebenklage gegen Jugendliche unter bestimmten<br />

Umständen zugelassen wurde (§ 80 Abs. 3 JGG).<br />

Keine Berücksichtigung finden konnten die erst im November<br />

2007 beschlossenen und am 1.1.2008 in Kraft getretenen<br />

Änderungen des JGG, die zum einen die Zielsetzung des<br />

Jugendstrafrechts (§ 2 Abs. 1 JGG), zum anderen die Rechtsbehelfe<br />

im Jugendstrafvollzug und Jugendarrest betreffen<br />

(§ 92 JGG). Mit § 2 Abs. 1 JGG ist nun erstmals das Ziel des<br />

Jugendstrafrechts festgelegt. Seine Anwendung soll, wie es<br />

im Gesetz heißt, „vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen<br />

oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses<br />

Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und, unter Beachtung<br />

des elterlichen Erziehungsrechts, auch das Verfahren vorrangig<br />

am Erziehungsgedanken auszurichten.“ Die Akzentuierung<br />

der Legalbewährung – und die damit einhergehende<br />

Relativierung des Erziehungsgedankens – ist ganz im Sinne<br />

Ostendorfs, der unermüdlich vor einer „Strafinflation durch<br />

Erziehung“ und der Benachteiligung junger Menschen im<br />

Vergleich zu Erwachsenen warnt.<br />

Damit ist eine weitere Stärke des Kommentars angesprochen,<br />

die auch in der Neuauflage zum Tragen kommt. Ostendorf<br />

bezieht klar und deutlich Position. Diese liegt nicht immer<br />

auf der Linie der herrschenden Meinung. Doch Ostendorf<br />

weist stets auf sie hin, und seine abweichenden Standpunkte<br />

sind immer begründet. Der Kommentar bietet überdies<br />

zahlreiche Tabellen und Schaubilder, Querverweise,<br />

Register sowie einen Anhang, was seine Einsetzbarkeit,<br />

Übersichtlichkeit und Benutzerfreundlichkeit erhöht. Es<br />

bleibt weiter gültig, was ich an anderer Stelle (GA 2005, 190)<br />

über die Vorauflage gesagt habe: Ostendorfs Kommentar „ist<br />

nicht bloß eine Gesetzeskommentierung, er ist – in einem<br />

Satz – ein unverzichtbarer Ratgeber, eine lehrreiche Argumentationshilfe,<br />

ein unentbehrliches Nachschlagewerk, kurz:<br />

ein Markenzeichen.“<br />

Vieles, was den Kommentar auszeichnet, findet sich auch<br />

in der 4. Auflage des Lehrbuchs wieder, welches gleichfalls<br />

den Verlag gewechselt hat. Die Vorauflagen, unter dem Titel<br />

„Das Jugendstrafverfahren“ beim Verlag Carl Heymanns<br />

geführt, hatten sich das Ziel einer Einführung in die Praxis<br />

gesetzt. Diese Zielsetzung wird mit der im Umfang angewachsenen<br />

Neuauflage zu einem Lehrbuch erweitert, das<br />

materielles und prozessuales Jugendstrafrecht umfasst und<br />

insbesondere Studierende des Rechts, der Sozialpädagogik<br />

und der Psychologie anspricht. Die Praxisorientierung wurde<br />

bewusst beibehalten, was dem Buch keineswegs abträglich<br />

ist. Nach einem Blick auf die geschichtliche Entwicklung des<br />

Jugendstrafrechts und seiner Grundlagen folgen zunächst<br />

detaillierte Ausführungen zu den Verfahrensbeteiligten (Polizei,<br />

Jugendstaatsanwaltschaft, Jugendgerichte, Strafverteidiger,<br />

Jugendgerichtshilfe, gesetzliche Vertreter, Beistände und<br />

Sachverständige). Ein erster Schwerpunkt wird sodann auf<br />

die Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens gelegt. Hierunter<br />

fallen u.a. Diversion, Untersuchungshaft, das vereinfachte<br />

Jugendverfahren, Sondervorschriften zum Strafbefehl, zur<br />

Privat- und Nebenklage (§§ 79, 80 JGG), die nichtöffentliche<br />

Hauptverhandlung, Rechtsmittel und registerrechtliche Folgen.<br />

Einen zweiten Schwerpunkt setzt Ostendorf bei den<br />

jugendstrafrechtlichen Sanktionen (Erziehungsmaßregeln,<br />

Zuchtmittel, Jugendstrafe, Maßregeln der Besserung und<br />

Sicherung). Die weiteren Kapitel widmen sich der strafrechtlichen<br />

Behandlung Heranwachsender, den Besonderheiten<br />

jugendstrafrechtlicher Sanktionierung (besonders der Verbindung<br />

von Sanktionen gemäß § 8 JGG und der „Einheitsstrafe“<br />

gemäß § 31 JGG) und schließlich der Vollstreckung jugendstrafrechtlicher<br />

Sanktionen.<br />

Naturgemäß ist in einem vergleichsweise knapp gehaltenen<br />

Lehrbuch vieles verdichtet – manches auch so sehr, dass<br />

die Studierenden (warum auch nicht?) zum Mitdenken gezwungen<br />

sein werden. Deren Verständnis wird jedoch im<br />

einleitenden Kapitel auf eine harte Probe gestellt. Anstelle<br />

einer behutsamen Einführung werden sie mit aktuellen Tabellen<br />

und Grafiken der Polizeilichen Kriminalstatistik 2006 zur<br />

Entwicklung der Jugendkriminalität konfrontiert, die kaum<br />

erläutert werden. Zahlen sprechen in der Regel nicht für sich;<br />

von der Zielgruppe des Buches wird man nicht erwarten<br />

können, dass sie die Zusammenhänge selbst herstellen werde.<br />

Dennoch ist das Buch als begleitende Lektüre für einschlägige<br />

Lehrveranstaltungen sehr zu empfehlen. Es ist übersichtlich<br />

gestaltet, bietet Schaubilder, Grafiken, Fallbeispiele und<br />

hat den richtigen Mix aus Rechtsdogmatik und Kriminologie,<br />

der gerade für das Verständnis des Jugendstrafrechts unerlässlich<br />

ist. Die Praxis wird auch durch die Untergliederung<br />

der einzelnen Abschnitte miteinbezogen, die meist mit Ausführungen<br />

zur Justizpraxis und zu kriminalpolitischen Forderungen<br />

schließen.<br />

Ostendorf ist ein politisch denkender Wissenschaftler. Er<br />

ordnet seine Arbeiten in den Zusammenhang der kriminalpolitischen<br />

Großwetterlage ein. Ein der Rationalität und Fortschrittlichkeit<br />

verpflichtetes Jugendstrafrecht muss stets aufs<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz; Jugendstrafrecht Neubacher<br />

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Neue verteidigt werden – ob gegen die Forderung eines ehemaligen<br />

Hamburger Justizsenators nach Abschaffung des Jugendstrafrechts<br />

oder gegen die politische Instrumentalisierung<br />

einer von Jugendlichen in der Münchener U-Bahn begangenen<br />

Gewalttat durch einen führenden hessischen Politiker.<br />

Ostendorf fordert die Jugendstrafrechtswissenschaft auf,<br />

sich stärker in die öffentliche Diskussion einzumischen und<br />

offensiver an der Aufgabe mitzuwirken, Bevölkerung, Medien<br />

und Politik aufzuklären. − Recht so.<br />

Prof. Dr. Frank Neubacher, M.A., Jena<br />

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110<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008


Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder sinnvolle Bereicherung des Sanktionenrechts? Mertens<br />

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R e z e n s i o n e n<br />

Susanne Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder sinnvolle<br />

Bereicherung des Sanktionenrechts? Verlag Duncker &<br />

Humblot (Schriften zum Strafrecht, Heft 144), Berlin 2004,<br />

196 S., € 64,-<br />

Die von Hoyer betreute Dissertation von Pielsticker befasst<br />

sich mit einem Thema, das trotz zahlreicher legislatorischer<br />

Eingriffe noch immer nicht die ihm zukommende Bedeutung<br />

erlangt hat – dem Täter-Opfer-Ausgleich (TOA). Während<br />

1994 mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz § 46a StGB<br />

als Strafzumessungsnorm in Kraft trat, folgten mit dem Ziel<br />

der praktischen Umsetzung 1999 und 2004 die verfahrensrechtlichen<br />

Normen der § 155a und § 136 Abs. 1 S. 4 StPO.<br />

Somit hat der Gesetzgeber nicht nur die Möglichkeit zur<br />

Strafmilderung (bis hin zum gänzlichen Strafverzicht) gegeben,<br />

sondern auch die Verfahrensbeteiligten ausdrücklich zur<br />

Förderung des Ausgleichs zwischen Beschuldigtem und Verletztem<br />

aufgerufen. Bis heute scheint dieses Rechtsinstitut<br />

jedoch noch immer eine Randfigur geblieben zu sein. Dies ist<br />

sehr bedauerlich, da der TOA sowohl aus Sicht des Verletzten,<br />

der sich eine Schadenswiedergutmachung erhofft, als<br />

auch für die Verteidigung des Beschuldigten 1 großes Potential<br />

besitzt. Zugleich sind aber auch noch zahlreiche Einzelfragen<br />

zu den Voraussetzungen des § 46a StGB offen geblieben.<br />

Pielsticker setzt sich dementsprechend auch das Ziel, durch<br />

eine dogmatisch fundierte Systematisierung den Täter-Opfer-<br />

Ausgleich (der Begriff hat sich trotz des offensichtlichen<br />

Widerspruchs zur Unschuldsvermutung durchgesetzt) zu<br />

stärken und ihm eine eigenständige Existenzberechtigung zu<br />

verschaffen (S. 19). Dieses Ziel kann sicher nicht von heute<br />

auf morgen erreicht werden. Die Lektüre der vorliegenden<br />

umfassenden und breit angelegten Untersuchung kann jedoch<br />

nur jedem Praktiker ans Herz gelegt werden, da die nähere<br />

Befassung mit dem TOA auch die Scheu vor seiner Anwendung<br />

beseitigen helfen kann.<br />

Dabei hat der pointierte Titel seine Bedeutung weitgehend<br />

verloren. Als Revisionsfalle wird man den TOA seit Einführung<br />

des § 354 Abs. 1a StPO (mit dem Opferrechtsreformgesetz<br />

von 2004), mit dem die Sachentscheidungsbefugnis des<br />

Revisionsgerichts erweitert wurde, nicht mehr bezeichnen<br />

können.<br />

Nach einem kurzen Problemaufriss (S. 15-19) und einem<br />

geschichtlichen Überblick über die Entwicklung des Wiedergutmachungsgedankens<br />

in den letzten 20 Jahren (S. 19-23)<br />

unterzieht die Verfasserin ihr Untersuchungsobjekt in einem<br />

ersten Schwerpunkt einer rechtstheoretischen Betrachtung<br />

(S. 24-112). Dabei wird das Wiedergutmachungsmodell an<br />

den Strafzwecken und dem Schuldprinzip gemessen. Der<br />

zweite Schwerpunkt ist dagegen dogmatischer Natur und<br />

befasst sich mit dem Anwendungsbereich und den Voraussetzungen<br />

des § 46a StGB (S. 113-185). Die Arbeit wird abgeschlossen<br />

mit einer kurzen Schlussbetrachtung, die auch<br />

einen Gesetzesvorschlag beinhaltet (186-187).<br />

1 Vgl. Püschel, StraFo 06, 261.<br />

Pielsticker versteht den TOA als Anreizmodell (S. 25)<br />

und unterscheidet ihn so von der im Gesetz enthaltenen auferlegten<br />

Wiedergutmachung, etwa als Bewährungsauflage. Ein<br />

wichtiger Bestandteil ist demnach in der Freiwilligkeit zu<br />

sehen. Bevor sich die Verfasserin den konkreten Ausgestaltungen<br />

und Voraussetzungen des TOA zuwendet, versucht<br />

sie, ihrem Ziel, die Legitimation dieses Rechtsinstituts zu<br />

stärken, dadurch näher zu kommen, dass sie es detailliert an<br />

den Strafzwecken misst. Dieser Ansatz ist nachvollziehbar<br />

und berechtigt, denn wenn Strafe ermäßigt oder ganz auf<br />

deren Verhängung verzichtet werden kann, bedarf dies einer<br />

Legitimation, die am besten dem Zweck der Verhängung der<br />

Strafe selbst entnommen werden kann.<br />

Als entscheidende Legitimation wird von der Autorin der<br />

Strafzweck der positiven Generalprävention herangezogen;<br />

nach Pielsticker kann die Wiedergutmachung des Täters<br />

gegenüber dem konkreten Opfer die befriedende Wirkung des<br />

Strafrechts in der Allgemeinheit erhöhen (S. 65). Dies ist die<br />

Erkenntnis, auf der die weitere Untersuchung aufbaut, eine<br />

Erkenntnis, die fundiert hergeleitet und gut begründet wird.<br />

So verweist die Verfasserin auf verschiedene Studien, die<br />

belegen, dass die Bevölkerung durchaus bereit ist, auf Strafe<br />

zugunsten von Wiedergutmachung zu verzichten (S. 49), und<br />

der Gedanke des TOA nicht daran scheitert, dass ein durch<br />

die Tat entstandener Konflikt zwischen Täter und Allgemeinheit<br />

nicht durch die Schadenswiedergutmachung gegenüber<br />

dem einzelnen Opfer beseitigt werden könne. Demgegenüber<br />

könne eine nur symbolische Wiedergutmachung, etwa bei<br />

fehlendem konkreten Opfer, den Zweck der positiven Generalprävention<br />

nicht in demselben Maße erfüllen – Wiedergutmachung<br />

werde immer schwieriger, je abstrakter das verletzte<br />

Rechtsgut ist (S. 63).<br />

Zu Recht weist die Verfasserin darauf hin, dass eine Störung<br />

des Strafzwecks der negativen Generalprävention, also<br />

der Abschreckung der Allgemeinheit, durch den TOA nicht<br />

zu befürchten sei. Man spricht ohnehin schon seit Langem<br />

von der „Austauschbarkeit der Sanktionen“. Dies gelte insbesondere,<br />

da die Wiedergutmachung nicht den Strafverfolgungsdruck<br />

für den Täter entfallen lasse (außer vielleicht bei<br />

einer sehr frühzeitigen Verfahrenseinstellung), sondern lediglich<br />

im Rahmen der Sanktionierung eingreife. Hierbei sei<br />

jedoch zu berücksichtigen, dass die Strafmilderung fakultativ<br />

sei und ferner durch die Unbestimmtheit der Voraussetzungen<br />

eine Anwendbarkeit des § 46a StGB im Einzelfall unklar<br />

bleibe. Problematisch wäre dann jedoch das Ziel der Untersuchung,<br />

diese Unbestimmtheiten zu beseitigen; aufgrund der<br />

grundsätzlich untergeordneten Bedeutung der Abschreckungswirkung<br />

sicherlich kein Argument gegen das Ziel der<br />

Arbeit.<br />

Auch der Strafzweck der Spezialprävention steht nach<br />

Auffassung von Pielsticker dem Wiedergutmachungsgedanken<br />

nicht entgegen. Gegenüber der oft gerade entsozialisierenden<br />

herkömmlichen Bestrafung habe eine Auseinandersetzung<br />

des Täters mit seinem Fehlverhalten im Rahmen des<br />

TOA eher positive Wirkung. Auch die negative Spezialprävention<br />

werde nicht erheblich eingeschränkt, wobei zu Recht<br />

noch einmal auf deren grundsätzlich geringe Wirkung hingewiesen<br />

wird (S. 75). Ob allerdings tatsächlich von einem<br />

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Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder sinnvolle Bereicherung des Sanktionenrechts? Mertens<br />

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nicht resozialisierungsfähigen Täter keine Wiedergutmachung<br />

zu erwarten ist (S. 75) oder ob nicht auch taktische<br />

Erwägungen dazu führen können und wie dies ermittelt werden<br />

kann, soll hier nicht weiter beurteilt werden.<br />

Schließlich weitet die Verfasserin ihre theoretischen<br />

Überlegungen noch auf die Frage nach der Vereinbarkeit des<br />

TOA mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip aus. Ein unmittelbarer<br />

Zusammenhang wird dabei aber nicht erkannt, vielmehr<br />

stehe Wiedergutmachung der Schuld des Täters indifferent<br />

gegenüber – genau genommen handele „es sich bei der<br />

Vorschrift um eine gesetzliche Anerkennung der Schuldunterschreitung<br />

aus Gründen der positiven Generalprävention“<br />

(S. 111). So ist es nur konsequent, dass die im zweiten Teil<br />

erfolgende Auslegung der gesetzlichen Norm des § 46a StGB<br />

primär am Gedanken der positiven Generalprävention orientiert<br />

ist.<br />

Grundlegend für die Frage des Anwendungsbereichs des<br />

§ 46a StGB stellt Pielsticker fest, dass eine Wiedergutmachung<br />

bei opferlosen Delikten nicht in Betracht komme, da<br />

eine solche, sofern nicht auch Einzelpersonen mitbetroffen<br />

sind, den Wortlaut übersteigen würde. Demgegenüber sei ein<br />

TOA im Rahmen des Steuerstrafrechts möglich, da hier eine<br />

Wiedergutmachung gegenüber den Institutionen Staat und<br />

Finanzämter in Frage komme und § 46a StGB auch nicht<br />

durch § 371 AO verdrängt werde (S. 176). Ferner könne die<br />

Deliktsschwere den Anwendungsbereich nicht einschränken.<br />

Zu Recht sind auch Gewalt- und Sexualstraftaten in den Katalog<br />

der wiedergutmachungsfähigen Delikte mit einzubeziehen.<br />

Die Verfasserin setzt sich nun ausführlich mit den Voraussetzungen<br />

der beiden Tatbestandsalternativen des § 46a<br />

StGB auseinander. Die Rechtslage wird, natürlich abgesehen<br />

von der nach Drucklegung ergangenen Rechtsprechung, umfassend<br />

dargestellt. Sie beginnt mit § 46a Nr. 1 StGB (S. 130<br />

ff.) und stellt fest, dass dessen mangelnde Konkretisierung<br />

zeige, dass der Gesetzgeber die Hürde zur Anwendbarkeit<br />

möglichst niedrig setzen wollte (S. 132). Ihrer Auffassung zu<br />

einem solchen weiten Anwendungsbereich ist zuzustimmen.<br />

An dieser Stelle können vom Rezensenten nur einige Ergebnisse<br />

stichwortartig mitgeteilt werden: Ein Vermittler sei im<br />

Rahmen des TOA in keinem Fall zwingend notwendig, aber<br />

natürlich auch jederzeit zulässig. Bereits das Bemühen um<br />

einen kommunikativen Prozess, ohne dass dieser von Erfolg<br />

gekrönt sei, könne genügen, selbst wenn sich das Opfer nicht<br />

auf die Versöhnungsversuche eingelassen habe. § 46a Nr. 1<br />

StGB könne sich auf materielle wie immaterielle Tatfolgen<br />

beziehen. Das Maß der Wiedergutmachung richte sich nach<br />

dem zivilrechtlichen Schaden, wenngleich keine vollständige<br />

Wiedergutmachung erforderlich sei. Der Wortlaut spräche<br />

hier dafür, eine Wiedergutmachung von mehr als 50% vorauszusetzen,<br />

wobei zu Recht eine allzu formalistische Betrachtung<br />

abgelehnt wird. An die Freiwilligkeit der Leistung<br />

dürften zwar keine zu hohen Anforderungen gestellt werden,<br />

aber schon die von der Verfasserin gesehene Problematik des<br />

Täters, der die Leistung nur zur Erwirkung des Strafnachlasses<br />

erbringt, begegnet dem Einwand, dass eine solche Feststellung<br />

kaum möglich sein wird – oder anders gesagt: selbst<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

112<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

der einsichtigste Täter wird bei der Wiedergutmachung auch<br />

seine eigene Perspektive im Strafverfahren im Auge haben.<br />

Im Rahmen des § 46a Nr. 2 StGB (S. 153 ff.) könne demgegenüber<br />

das bloße Erstreben der Entschädigung nicht genügen,<br />

überwiegende Entschädigung könne wiederum nur<br />

heißen, dass mehr als die Hälfte des verursachten Schadens<br />

wieder gutgemacht sei. Da die Leistungen des Täters hier nur<br />

materieller Natur sein könnten, dies aber unabhängig von den<br />

verbliebenen Schäden sei, sei für die Nr. 2 darüber hinaus<br />

noch eine besondere persönliche Leistung oder ein erheblicher<br />

persönlicher Verzicht vorauszusetzen.<br />

Nachvollziehbar kritisiert Pielsticker, dass durch die Ermessensentscheidung<br />

über die Anwendung des § 46a StGB<br />

deren Ergebnis oft kaum vorauszusehen ist (S. 180). An dieser<br />

Stelle werden noch einmal diejenigen Kriterien zusammengestellt,<br />

die für die Bewertung des Nachtatverhaltens von<br />

Bedeutung sind. Dabei orientiert sich die Verfasserin wiederum<br />

am Strafzweck der positiven Generalprävention, der im<br />

ersten Teil als theoretische Legitimation des TOA erkannt<br />

wurde. Daneben wird der Ansatz entwickelt, dass bei vollständiger<br />

Wiedergutmachung grundsätzlich § 46a StGB zur<br />

Anwendung kommen solle, während bei nur teilweiser Wiedergutmachung<br />

grundsätzlich § 46a StGB ausscheide, und<br />

von diesem Grundsatz nur mit besonderer richterlicher Begründung<br />

abgewichen werden solle. Es steht jedoch zu befürchten,<br />

dass die Aufstellung eines solchen Prinzips in der<br />

Praxis gerade dem Formalismus Vorschub leisten würde, der<br />

von der Verfasserin an anderer Stelle kritisiert wurde.<br />

Die Dissertation von Pielsticker kann mit Interesse und<br />

Gewinn gelesen werden. Sie bietet sowohl dem Praktiker auf<br />

der Suche nach Argumenten für den zu bearbeitenden Einzelfall<br />

als auch dem theoretisch interessierten Leser Wissenswertes.<br />

Sie endet mit einem Vorschlag für eine Neufassung<br />

des § 46a StGB, der die zusammengetragenen Erkenntnisse<br />

zu bündeln versucht. Zugleich bleibt die Verfasserin aber<br />

auch skeptisch im Hinblick auf die Umsetzung des „nahezu<br />

revolutionären Potentials“ (S. 187) des TOA. Ihre „Hoffnung,<br />

mit der vorliegenden Arbeit zur Entwicklung eines allgemeinen<br />

Verständnisses von Wiedergutmachung im Strafrecht<br />

beigetragen zu haben und der Strafjustiz den Übergang von<br />

der Missbilligung des § 46a StGB als Revisionsfalle zur<br />

Akzeptanz einer grundsätzlich positiv zu bewertenden Bereicherung<br />

des Sanktionenrechts zu erleichtern“ (S. 187), ist<br />

indes berechtigt. Tatsächlich kann die Befassung mit dieser<br />

Arbeit Verständnis und Akzeptanz des Wiedergutmachungsgedankens<br />

im Strafrecht stärken und ist daher zur Lektüre zu<br />

empfehlen.<br />

Dr. Andreas Mertens, Rechtsanwalt und Fachanwalt für<br />

Strafrecht, Köln


Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung Pelz<br />

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R e z e n s i o n e n<br />

Oliver Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr<br />

strafrechtlicher Selbstbelastung. Renaissance des „nemo<br />

tenetur“ vor dem Hintergrund des Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetzes<br />

und der neuen BGH-Rechtsprechung, Carl<br />

Heymanns Verlag, 2006, 184 S., € 64.-<br />

Die Auflösung des Spannungsfeldes zwischen der Pflicht zur<br />

Abgabe wahrheitsgemäßer und vollständiger Steuererklärungen<br />

einerseits und dem Risiko andererseits, sich gerade dadurch<br />

der Strafverfolgung wegen vorangegangener Steuerstraftaten<br />

oder anderer Straftaten auszusetzen, ist eines der<br />

großen dogmatischen Problemfelder des Steuerstrafrechts,<br />

um dessen Lösung sich Rechtsprechung und Literatur schon<br />

seit Jahrzehnten bemühen. Durch mehrere Entscheidungen<br />

des BGH in den vergangenen Jahren wurde diese Diskussion<br />

neu belebt. In seiner von Samson betreuten Hamburger Dissertation<br />

aus dem Jahr 2005 unternimmt Sahan eine kritische<br />

Bewertung der Lösungsversuche der Rechtsprechung und<br />

entwickelt einen eigenen Lösungsvorschlag, der über die<br />

bislang anerkannten Grenzen des „nemo tenetur“ hinausgeht.<br />

Im ersten Teil seiner Arbeit untersucht Sahan, inwieweit<br />

bestehende Rechtsinstrumente Schutz vor Selbstbelastung<br />

bieten. Das Steuergeheimnis wird diesem Zweck nicht gerecht,<br />

da es die Ausnahmeregelungen in § 30 Abs. 4 AO in<br />

weitem Umfang erlauben, im Besteuerungsverfahren gemachte<br />

Angaben für die Strafverfolgung von Steuerstraftaten<br />

und Nichtsteuerstraftaten zu verwenden. Auch die Möglichkeit<br />

der Selbstanzeige ist zur Vermeidung einer Selbstbelastung<br />

nur bedingt geeignet, da sie nur für Steuerstraftaten zur<br />

Verfügung steht. Aufgrund der Ausschlussgründe in § 371<br />

Abs. 2 AO kann sie zudem oftmals nicht mehr zur Straflosigkeit<br />

führen und setzt zudem nach § 371 Abs. 3 AO die Nachzahlung<br />

der verkürzten Steuern voraus. Als Rechtsinstitut zur<br />

vollständigen Auflösung dieses Spannungsfeldes zwischen<br />

Steuererklärungspflicht und Selbstbelastungsverbot, das in<br />

allen vorkommenden Konstellationen eingreift, kommt nach<br />

Ansicht von Sahan daher ausschließlich der Grundsatz des<br />

„nemo tenetur“ in Frage.<br />

Zunächst bejaht Sahan die grundsätzliche Anwendbarkeit<br />

des „nemo tenetur“-Prinzips im Besteuerungsverfahren anhand<br />

derjenigen Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht<br />

im „Gemeinschuldnerbeschluss“ aufgestellt hat. In der Tat ist<br />

eine der Auskunftspflicht im Insolvenzverfahren vergleichbare<br />

Zwangslage auch im Besteuerungsverfahren zu bejahen.<br />

Einerseits besteht eine gesetzliche und zudem strafbewehrte<br />

Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen, andererseits läuft<br />

der Steuerpflichtige Gefahr, sich der Strafverfolgung auszusetzen,<br />

wenn er in der Steuererklärung Einkünfte angibt, die<br />

entweder aus Straftaten stammen oder die – insbesondere bei<br />

bereits eingeleiteten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren<br />

– in vorangegangenen Besteuerungszeiträumen nicht er-<br />

klärt wurden. Nichts anderes dürfte gelten, wenn die Gefahr<br />

der Strafverfolgung bzw. ein Indiz für ein bereits anhängiges<br />

Steuerstrafverfahren daraus resultiert, dass der Steuerpflichtige<br />

auf die unberechtigte Geltendmachung steuerlicher Abzugsbeträge<br />

(z.B. als „Provisionszahlungen“ getarnte Schmier-<br />

gelder aus einem mehrjährigen Vermittlungsvertrag) oder die<br />

Inanspruchnahme anderer Steuervergünstigungen verzichtet,<br />

die er in vergangenen Veranlagungszeiträumen genutzt hat.<br />

Zwar besteht in diesen Fallkonstellationen keine gesetzliche<br />

Pflicht, unrichtige Steuervorteile in Anspruch zu nehmen, die<br />

Zwangslage in Bezug auf ein bereits eingeleitetes oder drohendes<br />

Strafverfahren ist aber vergleichbar.<br />

Auch die Vorschrift des § 393 AO bietet nach Auffassung<br />

von Sahan keinen gleichwertigen Schutz. Zum einen beziehe<br />

sich das Verbot der Anwendung von Zwangsmitteln ausschließlich<br />

auf solche i.S.v. § 328 AO, zum anderen enthalte<br />

§ 393 Abs. 2 AO ein Verbot der Verwertung von im Besteuerungsverfahren<br />

gemachten Angaben lediglich für die Verfolgung<br />

von Nichtsteuerstraftaten und sei auch noch durch eine<br />

Vielzahl von Ausnahmeregelungen durchbrochen. Eine über<br />

den Wortlaut der Norm hinausgehende Auslegung, dass für<br />

im Besteuerungsverfahren gemachte Angaben ein umfassendes<br />

Verwertungsverbot mit Fernwirkung besteht, wie es von<br />

Teilen der Literatur gefordert wird, lehnt Sahan mit der überzeugenden<br />

Begründung ab, dass keine unbeabsichtigte gesetzliche<br />

Regelungslücke vorliege, die eine derartige erweiternde<br />

Auslegung zulassen würde.<br />

In dem Hauptteil seiner Dissertation untersucht Sahan,<br />

inwieweit dem „nemo tenetur“-Satz durch eine einschränkende<br />

Auslegung des § 370 AO Rechnung getragen werden<br />

kann. Er befürwortet dabei eine Berücksichtigung des „nemo<br />

tenetur“ bereits auf der Tatbestandsebene des § 370 AO und<br />

folgt damit der Auffassung des BGH. Da § 370 AO eine<br />

Blankettnorm darstelle, ergeben sich <strong>Inhalt</strong> und Umfang<br />

steuerlicher Erklärungspflichten aus den jeweiligen Einzelgesetzen.<br />

Dort, wo der „nemo tenetur“-Grundsatz Anwendung<br />

finde, entfalle die Pflicht, Angaben über steuerlich erhebliche<br />

Tatsachen zu machen (S. 94 f.). Dies entspreche auch dem<br />

allgemeinen Grundsatz, dass die Rechtsordnung nicht die<br />

Vornahme einer Handlung fordern könne, die dem Steuerpflichtigen<br />

(wegen der Gefahr der Selbstbelastung) unzumutbar<br />

ist. Dass bei diesem Begründungsansatz Strafbarkeitslücken<br />

bei Anstiftern oder Gehilfen entstehen, verneint Sahan.<br />

Bei der zu einem Wegfall der Erklärungspflicht führenden<br />

Zwangslage handle es sich nämlich um einen sonstigen persönlichen<br />

Umstand i.S.v. § 28 Abs. 2 StGB, welcher die<br />

Strafbarkeit bei den Teilnehmern unberührt lässt. Eine Privilegierung<br />

des Steuerunehrlichen und eine Besserstellung<br />

gegenüber dem Steuerehrlichen vermag Sahan nicht zu erkennen.<br />

Eine Besserstellung träte zum einen nur dann ein,<br />

wenn die Steuererklärungspflicht dauerhaft suspendiert würde;<br />

zum anderen hätten die Finanzbehörden trotz fehlender<br />

Mitwirkungspflicht die Möglichkeit der Schätzung, im Einzelfall<br />

auch zu Ungunsten des Steuerpflichtigen (S. 104 f.).<br />

Beides ist an sich zutreffend. Gleichwohl kann eine (zumindest<br />

vorübergehende) Besserstellung im Einzelfall eintreten.<br />

Eine Schätzung setzt nämlich voraus, dass überhaupt Anhaltspunkte<br />

für verschwiegene Einkünfte bestehen und läuft<br />

da ins Leere, wo eine Einkunftsquelle den Finanzbehörden<br />

völlig unbekannt ist.<br />

Grundsätzlich geht Sahan davon aus, dass eine Suspendierung<br />

der steuerlichen Mitwirkungspflicht aufgrund des<br />

„nemo tenetur“-Grundsatzes nur bis zu dem Zeitpunkt erfor-<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

113


Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung Pelz<br />

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derlich ist, bis zu dem eine Strafverfolgung wegen des sonst<br />

zu offenbarenden Delikts noch erfolgen kann (S. 108); danach<br />

lebt die Mitwirkungspflicht wieder auf. Im Folgenden<br />

differenziert Sahan danach, wovon die Gefahr der Selbstbelastung<br />

ausgeht. Ist bereits ein Steuerstrafverfahren für einen<br />

Veranlagungszeitraum eingeleitet und müssten im Besteuerungsverfahren<br />

Angaben für diesen oder einen nachfolgenden<br />

Veranlagungszeitraum gemacht werden, soll nach Auffassung<br />

von Sahan die steuerliche Mitwirkungspflicht zu keinem<br />

Zeitpunkt mehr wiederaufleben, sondern endgültig entfallen,<br />

zumindest in den Fällen, in denen das Steuerstrafverfahren<br />

mit einer Verurteilung oder einem Freispruch geendet<br />

hat. Er begründet dies damit, dass nach § 362 StPO eine<br />

Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten selbst dann<br />

möglich sei, wenn der Steuerpflichtige rechtskräftig verurteilt<br />

oder freigesprochen wurde. Aufgrund der unterschiedlichen<br />

Auffassungen in der Literatur darüber, ob eine derartige Wiederaufnahme<br />

zeitlich unbeschränkt oder nur bis zur Grenze<br />

der Strafverfolgungsverjährung möglich sei, dürfe man dem<br />

Steuerpflichtigen keinerlei Risiko aufbürden, die steuerliche<br />

Mitwirkungspflicht müsse dauerhaft entfallen (S. 113 f.).<br />

Diese Argumentation ist stringent und konsequent: Da „nemo<br />

tenetur“ schon eingreift, wenn nur die Gefahr einer Strafverfolgung<br />

besteht und die mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit<br />

einer strafrechtlichen Verurteilung nicht vorausgesetzt<br />

wird, muss der in einer solchen Konfliktsituation Stehende<br />

gerade bei rechtlich gänzlich ungeklärten Situationen<br />

dasjenige Verhalten wählen können, bei dem er die größte<br />

Sicherheit vor einer Strafverfolgung besitzt. Allerdings führt<br />

diese Auffassung auch dazu, dass dann eine dauerhafte Besserstellung<br />

des Steuerunehrlichen gegenüber dem Steuerehrlichen<br />

einträte. Ob eine derart weite Auslegung des „nemo<br />

tenetur“ noch mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 GG in<br />

Einklang gebracht werden kann, ist fraglich, zumal dann,<br />

wenn man mit Sahan die Anwendbarkeit des „nemo tenetur“<br />

auch bei nur mittelbarer Selbstbelastung bejaht.<br />

Beruht die Konfliktlage auf anderen Ursachen als der Einleitung<br />

eines Ermittlungsverfahrens, soll die Mitwirkungspflicht<br />

mit Eintritt der Strafverfolgungsverjährung wieder<br />

aufleben (S. 114). Nicht ganz klar ist, wann Sahan ein Wiederaufleben<br />

der Mitwirkungspflicht im Falle der Einstellung<br />

eines Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO oder aus<br />

Opportunitätsgründen annehmen würde; vermutlich würde er<br />

auf den Eintritt der Strafverfolgungsverjährung abstellen. In<br />

den Fällen, in denen zwar eine strafbefreiende Selbstanzeige<br />

grundsätzlich möglich wäre, jedoch der Steuerpflichtige nicht<br />

zur Nachzahlung der Steuern in der Lage ist, soll die Mitwirkungspflicht<br />

nach Sahan dann wieder aufleben, sobald ausreichende<br />

Geldmittel verfügbar sind (S. 115).<br />

Sahan untersucht abschließend, ob der „nemo tenetur“-<br />

Satz lediglich zu einer Suspendierung von Erklärungspflichten<br />

führt oder ob er auch die Abgabe unrichtiger Steuererklärungen<br />

erlaubt. Der BGH verneint dies in ständiger Rechtsprechung<br />

unter Hinweis darauf, dass die Verhinderung der<br />

eigenen Strafverfolgung nicht die Begehung neuen Unrechts<br />

rechtfertige. Sahan kritisiert die Rechtsprechung des BGH<br />

und die herrschende Auffassung in der Literatur, wonach der<br />

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114<br />

<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />

„nemo tenetur“-Grundsatz nur die Pflicht zur aktiven Mitwirkung<br />

an der Strafverfolgung beseitige, der Betroffene aber<br />

Ermittlungsmaßnahmen weiterhin passiv dulden müsse.<br />

Vielmehr sei es unerheblich, ob eine Mitwirkung an der eigenen<br />

Überführung durch aktives oder passives Verhalten erfolge,<br />

zudem könne eine Duldungspflicht eine weit höhere<br />

Eingriffsintensität erreichen als eine Handlung (S. 132 f.).<br />

Der „nemo tenetur“-Grundsatz schütze vor Eingriffen in die<br />

Willensbildungsfreiheit und will verhindern, dass der Beschuldigte<br />

zur Vornahme eines von seinem Willen gesteuerten,<br />

aber unfreiwilligen Verhaltens veranlasst wird (S. 140).<br />

Sahan legt ferner dar, dass sich der BGH in seiner Begründung<br />

zu Unrecht auf eine Rechtsprechung des Reichsgerichts<br />

beruft (S. 143 f.) und der „nemo tenetur“-Grundsatz wegen<br />

seiner verfassungsrechtlichen Herleitung u.a. aus der Menschenwürdegarantie<br />

keine Einschränkung und auch keine<br />

Abwägung widerstreitender Interessen erlaube (S. 143, 149).<br />

Zudem stelle die Nichtabgabe einer Steuererklärung kein<br />

größeres Unrecht dar als die Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung.<br />

Auch überzeuge die Beschränkung des „nemo<br />

tenetur“ auf ein Recht zum Unterlassen nicht, da das Unterlassen<br />

zutreffender Angaben gleichbedeutend mit einer unrichtigen<br />

Erklärung sei. Zudem soll nach Auffassung von<br />

Sahan bereits die Verweigerung der Mitwirkung zu einer<br />

Selbstbelastung führen (S. 149). Die Richtigkeit dieser letzten<br />

These kann bezweifelt werden; auch sonst führt die Berufung<br />

auf die Schweigerechte der §§ 136, 55 StPO per se nicht zu<br />

einer Selbstbelastung. Aus den Regelungen der §§ 257<br />

Abs. 3, 258 Abs. 5 StGB entnimmt Sahan, dass nicht jedes<br />

Verhalten, durch das neues Unrecht begangen wird, bestraft<br />

werden soll. Vielmehr werden von „nemo tenetur“ nur solche<br />

Verhaltensweisen nicht gedeckt, welche die Menschenwürde<br />

eines anderen verletzen (S. 146). Die dem entgegen stehende<br />

Rechtsprechung des BGH befinde sich in einem Zirkelschluss,<br />

da die Reichweite der Erklärungspflicht gerade von<br />

der Reichweite des „nemo tenetur“ abhänge. Dem Steuerpflichtigen<br />

müsse es daher aufgrund des „nemo tenetur“ auch<br />

möglich sein, unrichtige Angaben zu machen.<br />

Mit dieser Auffassung geht Sahan über die herkömmliche<br />

Interpretation des Selbstbelastungsverbots weit hinaus. Berechtigt<br />

ist der Hinweis Sahans, dass zwischen der Nichterklärung<br />

und der Falscherklärung nur ein geringer qualitativer<br />

Unterschied besteht und dieser sogar ganz aufgehoben wird,<br />

wenn man die Suspendierung der Erklärungspflicht dergestalt<br />

auffasst, dass hinsichtlich einer Einkunftsart einzelne Einkunftsquellen<br />

bei Gefahr der Selbstbelastung nicht angegeben<br />

werden brauchen. Allerdings lässt sich damit im Umkehrschluss<br />

nicht zwingend ein Recht auf Falscherklärung ableiten.<br />

Selbst wenn man mit Sahan entgegen der herrschenden<br />

Meinung in „nemo tenetur“ nicht nur ein Recht zur Verweigerung<br />

der aktiven Mitwirkung an, sondern auch der bloß<br />

passiven Duldung von Ermittlungsmaßnahmen erblickt, kann<br />

man die Berechtigung von Falscherklärungen zwar rechtfertigen,<br />

nicht aber herleiten. Ein Anspruch auf Falscherklärung<br />

dürfte sich kaum aus dem Grundrecht der Menschenwürde<br />

ableiten lassen.


Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung Pelz<br />

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In vollem Umfang berechtigt ist die Kritik von Sahan an<br />

der von der Rechtsprechung vorgenommenen Differenzierung<br />

zwischen unmittelbarer und mittelbarer Selbstbelastung.<br />

Lassen sich bei einem eingeleiteten Ermittlungsverfahren aus<br />

Angaben für nachfolgende Veranlagungszeiträume mittelbar<br />

Rückschlüsse auf die Tatbegehung ziehen, muss die Erklärungspflicht<br />

nicht nur hinsichtlich des unmittelbar strafbefangenen,<br />

sondern auch hinsichtlich nachfolgender Veranlagungszeiträume<br />

gleichermaßen suspendiert werden, um die<br />

Gefahr der Selbstbelastung zu bannen. Dies jedenfalls dann,<br />

wenn man kein absolutes Verwertungsverbot für in den nachfolgenden<br />

Veranlagungszeiträumen gemachte Angaben anerkennen<br />

will.<br />

Sahan hat in seiner Dissertation einen wichtigen Beitrag<br />

zur Standortbestimmung des „nemo tenetur“ im Steuerstrafrecht<br />

geleistet. Er hat die Schwächen der jüngsten Rechtsprechung<br />

des BGH aufgezeigt und überzeugend dargelegt, dass<br />

die bislang anerkannte, nur sehr beschränkte Suspendierung<br />

von Erklärungspflichten nicht ausreicht, um dem Verbot der<br />

Selbstbelastung wirksam zur Geltung zu verhelfen. Aus der<br />

verfassungsrechtlichen Herleitung des „nemo tenetur“-Satzes<br />

lässt sich ein weit größerer Anwendungsbereich ableiten.<br />

Sahan weist zutreffend darauf hin, dass unterlassene bzw.<br />

unrichtige Angaben in Steuererklärungen in weit größerem<br />

Umfang als bislang anerkannt von der Strafbarkeit ausgenommen<br />

werden müssen, solange ein umfassendes Verwertungsverbot<br />

von in Besteuerungsverfahren gemachten Angaben<br />

nicht anerkannt wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung<br />

mit diesem Problem ist noch voll im Gange. Sahans<br />

Werk hat viele wertvolle Anstöße für die weitere Diskussion<br />

gegeben.<br />

Dr. Christian Pelz, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht,<br />

Fachanwalt für Steuerrecht, München<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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