Inhalt AUFSÄTZE URTEILSANMERKUNGEN ... - ZIS
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BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Versuch, die Beweiswürdigungspflicht im tatrichterlichen<br />
Urteil auf ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen zurückzuführen.<br />
14 Ein Verstoß gegen § 267 Abs. 1 StPO liege dann<br />
vor, wenn der Tatrichter die bereits von der Verfassung geforderte<br />
Begründung nicht liefere. 15 Wagner ordnet § 267<br />
StPO dem materiellen Recht mit der Begründung zu, die<br />
Verletzung der Norm betreffe nicht das Verfahren bis zum<br />
Urteil. Genauso gut ließe sich jedoch behaupten, das Urteil<br />
sei als Abschluss des Strafverfahrens gleichwohl noch dessen<br />
Bestandteil. Für die Zuordnung der Rüge zum Verfahrens-<br />
bzw. zum materiellen Recht ist damit also wenig gewonnen.<br />
Darüber hinaus beschränkt Wagner seine verfassungsrechtlichen<br />
Ausführungen ausdrücklich auf die Beweiswürdigungspflicht<br />
im tatrichterlichen Urteil im Falle der Verurteilung.<br />
Die verfassungsrechtliche Bedeutung des schriftlichen Urteils<br />
und damit auch die Konturen der Anforderungen an ihren<br />
Umfang und <strong>Inhalt</strong> lassen sich hier aus dem Aspekt des<br />
Grundrechtseingriffs in die persönliche Freiheit des Verurteilten<br />
ableiten. Dieser Gesichtspunkt verliert allerdings für<br />
die Begründung eines freisprechenden Urteils an Bedeutung.<br />
16<br />
Noch aus einem anderen Grund scheint es wenig überzeugend,<br />
die Revisibilität der Beweiswürdigung und deren<br />
Zuordnung zum Spektrum der Sachrüge aus der materiellrechtlichen<br />
Begründungspflicht des § 267 StPO und dessen<br />
verfassungsrechtlichem Hintergrund abzuleiten. <strong>Inhalt</strong>lich<br />
geht es nämlich bei den hier in Frage stehenden Mängeln im<br />
Urteil nicht in erster Linie darum, dass das Tatgericht seiner<br />
Begründungspflicht nicht in zureichendem Maße entsprochen<br />
hat. Vielmehr handelt es sich bei den mit der Revision angegriffenen<br />
Mängeln der Urteilsbegründung um positiv greifbare<br />
Fehler, also etwa innere Widersprüche oder die Missachtung<br />
von Erfahrungssätzen. Letztlich gilt dies selbst auch für<br />
den hier vorliegenden Fall, bei dem der Bundesgerichtshof<br />
moniert, dass das Tatgericht einzelne belastende Beweisanzeichen<br />
überhaupt nicht bzw. entlastende Beweismittel nur<br />
mangelhaft gewürdigt hat: Auch hier geht es weniger um die<br />
Verletzung einer Begründungspflicht als um Fehler, die sich<br />
im vorliegenden Urteilstext positiv nachweisen lassen. 17<br />
Zielführender für die rechtsdogmatische Absicherung der<br />
Zuordnung von Beweiswürdigungsmängeln zur Sachrüge<br />
scheinen dagegen normtheoretische Überlegungen zu sein,<br />
wie sie jüngst etwa von Frisch angestellt worden sind und<br />
hier nur in aller Kürze aufgegriffen werden sollen. 18 Zutreffend<br />
verweist Frisch darauf, dass das materielle Recht nicht<br />
direkt auf einen „wirklichen“ Sachverhalt, sondern auf dessen<br />
historischer Rekonstruktion als Ergebnis der Beweisaufnah-<br />
14<br />
Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (insb. 272 ff.).<br />
15<br />
Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (285).<br />
16<br />
Auch Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (278 u. 285 Fn. 167)<br />
lässt offen, ob die Begründungspflicht bei freisprechenden<br />
Urteilen aus der Sicht des Verfassungsrechts gleichen Anforderungen<br />
unterworfen ist.<br />
17<br />
Zutreffend in der generellen Perspektive wiederum Frisch<br />
(Fn. 3), S. 257, 279.<br />
18<br />
Ausführlich dazu Frisch (Fn. 3), S. 257, 282 ff.<br />
me angewendet wird. 19 Legitimer Anspruch an diese Rekonstruktion<br />
ist deren größtmögliche Deckung mit dem tatsächlichen<br />
Geschehensablauf. Voraussetzung hierfür sind unter<br />
anderem die Übereinstimmung des Rekonstruktionsergebnisses<br />
mit Denkgesetzen und Erfahrungssätzen, die Lückenlosigkeit<br />
der Beweiswürdigung, ebenso wie die hohe Überzeugung<br />
des Tatrichters von der Übereinstimmung der Rekonstruktion<br />
mit der Wirklichkeit. Neben den Normen des materiellen<br />
Rechts bedarf es also einer Reihe von „Operationsregeln“,<br />
die angeben, welche Bedingungen bestimmte Sachverhaltskonstrukte<br />
erfüllen müssen, damit das materielle Recht<br />
auf sie angewendet werden darf. Werden diese Anwendungsbedingungen<br />
nicht eingehalten, so werden zum einen die<br />
Operationsregeln verletzt. Gleichzeitig wird das materielle<br />
Recht im Urteil damit aber auf einen Sachverhalt angewendet,<br />
auf welchen es nicht bezogen werden darf, also zu Unrecht<br />
angewendet, so dass die Voraussetzungen des § 337<br />
Abs. 2 StPO erfüllt sind. Aus normtheoretischer Perspektive<br />
ist die Praxis der Revisionsgerichte, im Hinblick auf Mängel<br />
bei der Beweiswürdigung die Sachrüge zuzulassen, also im<br />
Grundsatz zutreffend. 20 Wünschenswert wäre allerdings,<br />
wenn die Revisionsgerichte diese Zuordnung in ihren Entscheidungen<br />
zukünftig argumentativ unterfüttern würden,<br />
ansonsten muss ihnen genau das vorgehalten werden, was sie<br />
selbst oft genug den Tatgerichten vorhalten: nämlich die<br />
Lückenhaftigkeit der Urteilsbegründung.<br />
III. Neben der Grundfrage, ob die Beweiswürdigung im<br />
Rahmen der Sachrüge überhaupt der revisionsrichterlichen<br />
Kontrolle unterzogen werden darf, ist das vorliegende Urteil<br />
noch im Hinblick auf mehrere der vom Senat herangezogenen<br />
Einzelanforderungen interessant, die von den Instanzgerichten<br />
häufig nicht eingehalten werden und daher oft zu<br />
einer Urteilsaufhebung führen.<br />
1. Hierzu gehören zunächst Unsicherheiten bei der Anwendung<br />
des Zweifelsgrundsatzes im Rahmen der Beweiswürdigung.<br />
Zu Recht bemängelt der 1. Senat, dass die Strafkammer<br />
die beiden Aussagen der Opferzeugen, welche den<br />
Angeklagten als Täter identifiziert hatten, jeweils einzeln<br />
unter Zugrundelegung des Zweifelsgrundsatzes als letztlich<br />
nicht überzeugend angesehen hat. Der Bundesgerichtshof<br />
betont, dass der Zweifelsgrundsatz eine Entscheidungs- und<br />
keine Beweisregel ist, der nicht auf einzelne Beweistatsachen<br />
angewendet, sondern erst bei der Gesamtbewertung aller<br />
Indizien berücksichtigt werden darf. Diese Einschätzung<br />
stimmt jedenfalls für den hier vorliegenden Beweisring 21 ,<br />
19<br />
Zur allgemeinen rechtstheoretischen Debatte um die Rekonstruktion<br />
des Sachverhalts in der forensischen Situation<br />
vgl. nur Grasnick, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer´s<br />
Archiv für Strafrecht: Eine Würdigung zum 70. Geburtstag<br />
von Paul-Günter Pötz, 1993, S. 55 ff., einerseits<br />
sowie Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im<br />
Strafprozeß?, 2000, insb. S. 14 ff. andererseits.<br />
20<br />
Frisch (Fn. 3), S. 257, 285 f.<br />
21<br />
Hierzu ausführlich Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung<br />
vor Gericht, 3. Aufl. 2007, Rn. 622 ff., sowie Loddenkämper,<br />
Revisibilität tatrichterlicher Zeugenbeurteilung,<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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