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Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht*<br />
Von Prof. Dr. Morikazu Taguchi, Tokio<br />
I. Einführung<br />
Das Strafprozessrecht ist immer ein politisches Produkt. Das<br />
gilt nicht nur für die rechtspolitische, sondern auch für die<br />
rechtstheoretische Seite des Strafprozessrechts. Deutschland<br />
und Japan sind im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen besiegt<br />
und von den Alliierten besetzt worden. Aber es gab einen<br />
großen Unterschied bezüglich des Einflusses der politischen<br />
Situation im Hinblick auf das Strafprozessrecht beider Länder.<br />
Deutschland wurde nicht vom anglo-amerikanischen<br />
Recht beeinflusst und hat bisher auch wenig Interesse daran<br />
gezeigt, abgesehen von Herrmann in Augsburg. 1 Dagegen<br />
wurde Japan besonders vom Parteiprinzip des angloamerikanischen<br />
Rechts beeinflusst. Das Prinzip hat sich sehr<br />
stark auch auf den Bereich des Prozessgegenstands ausgewirkt.<br />
Heute haben wir viele gemeinsame strafrechtliche Probleme,<br />
z.B. die organisierte Kriminalität, die Wirtschaftskriminalität,<br />
die Computerkriminalität usw. Sich mit diesen<br />
weltweiten, allgemeinen Problemen auseinanderzusetzen, ist<br />
natürlich eine wichtige Aufgabe der Rechtsvergleichung.<br />
Aber zugleich ist es meiner Meinung nach auch eine wichtige<br />
Aufgabe, sich mit nicht allgemeinen, sondern mehr speziellen<br />
Problemen einzelner Länder auseinanderzusetzen und so das<br />
gegenseitige Verständnis zu vertiefen. Deswegen greife ich<br />
hier ein für Deutschland ziemlich fremdes Thema auf.<br />
Natürlich gibt es bereits wichtige Aufsätze in deutscher<br />
Sprache, die die Eigenschaften des japanischen Strafprozessrechts<br />
vorgestellt haben. Besonders lesenswert sind die Aufsätze<br />
von Herrmann und Hirano 2 aus dem Jahre 1990 3 und<br />
von Itoda 4 aus dem Jahre 1982. 5 Aber ich habe diesen Beiträgen<br />
zwei Bemerkungen hinzuzufügen. Erstens ist es eine Tat-<br />
* Universität Waseda, Tokio, Japan; derzeit Gastforscher am<br />
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales<br />
Strafrecht in Freiburg i.Br. Der Beitrag geht auf einen Vortrag<br />
zurück, den ich am 5. November 2007 vor der Juristischen<br />
Fakultät der Universität Augsburg gehalten habe. Ich<br />
bedanke mich sehr bei Professor em. Dr. Joachim Herrmann<br />
und Professor Dr. Henning Rosenau für die Gelegenheit zu<br />
diesem Vortrag und zu diesem Beitrag. Frau Petra Lehser<br />
vom Max-Planck-Institut möchte ich herzlich für ihre große<br />
sprachliche Unterstützung danken.<br />
1<br />
Vgl. Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung<br />
nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens,<br />
1971.<br />
2<br />
Verstorbener Professor an der Universität Tokio.<br />
3<br />
Vgl. Herrmann, in: Coing u.a. (Hrsg.), Die Japanisierung<br />
des westlichen Rechts – Japanisch-deutsches Symposion in<br />
Tübingen vom 26. bis 28. Juli 1988, 1990, S. 397 ff; Hirano,<br />
in: Coing (a.a.O.), S. 387 ff.<br />
4<br />
Professor em. an der Universität Ritsumeikan in Kyoto.<br />
5<br />
Vgl. Itoda, in: Oehler (Hrsg.), Strafrechtliche und strafprozessuale<br />
Fragen aus dem japanischen Recht, Japanisches Recht,<br />
Bd. 11, 1982, S. 45 ff. Vgl. auch Saeki, in: Oehler (a.a.O.),<br />
S. 71 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
70<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
sache, dass das japanische Parteiprinzip ein klarer Kompromiss<br />
mit der Instruktionsmaxime war. Und zweitens, dass das<br />
so stark abgeänderte Parteiprinzip sich besonders seit den<br />
90er Jahren wieder sehr stark in Richtung angloamerikanisches<br />
Parteiprinzip neigt. Gerade deswegen ist<br />
heute noch das Prozessgegenstandsproblem eine sehr wichtige<br />
Aufgabe in Japan.<br />
II. Die Entstehungsgeschichte der japanischen Strafprozessordnung<br />
1. Der politische Prozess der Gesetzgebung<br />
a) Die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete das Kommando der<br />
Alliierten zunächst die Reform der japanischen Verfassung.<br />
Am 3. November 1946 wurde die neue Japanische Verfassung<br />
verkündet. Das Kommando der Alliierten wurde „General<br />
Headquarters“, kurz GHQ, genannt. Nach Meinung des<br />
GHQ sollte die alte Strafprozessordnung, die 1922 nach dem<br />
Vorbild des deutschen Rechts verkündet worden war, auch<br />
vollständig reformiert werden. Nur diese beiden Gesetze<br />
wurden nach dem Krieg vollständig reformiert. Die japanische<br />
Seite begann mit der Reformarbeit im August 1946.<br />
Aber ihr Entwurf entsprach in wesentlichen Punkten nicht<br />
den Vorstellungen des GHQ. Deshalb wurde ein besonderer<br />
Beratungsausschuss eingesetzt.<br />
Die förmlichen Ausschussmitglieder bestanden aus vier<br />
amerikanischen und elf japanischen Juristen. Außerdem gab<br />
es je 15 bis 20 nicht förmliche Mitglieder. Unter den japanischen<br />
förmlichen Mitgliedern waren neben den Praktikern<br />
auch zwei Universitätsprofessoren: Professor Dr. Shigemitsu<br />
Dando von der Universität Tokio und Professor Dr. Kinsaku<br />
Saito von der Universität Waseda. Wir wissen heute über den<br />
Gesetzgebungsprozess genau Bescheid. Das ist der Tatsache<br />
zu verdanken, dass Professor Dando viele Dokumente hinterlassen<br />
und in seinem Buch auch interne Verhältnisse beschrieben<br />
hat. 6<br />
Es gibt eine interessante Episode. Am Anfang waren die<br />
amerikanischen Kommissionsmitglieder nur Juristen, die<br />
nicht genügend Kenntnisse vom deutschen Recht hatten.<br />
Daher konnten sie mit den japanischen Juristen, die bis dahin<br />
hauptsächlich die deutsche Strafprozessrechtswissenschaft<br />
studiert hatten, keine hinreichend ineinandergreifende Diskussion<br />
führen. Deswegen hat das GHQ Dr. Alfred C. Oppler<br />
in den Ausschuss geschickt. Er war Deutscher, ehemals Richter<br />
am Bundesverwaltungsgericht in Berlin und von den Nationalsozialisten<br />
in die USA vertrieben worden. In der Folge<br />
kam es zu einer heftigen Diskussion zwischen den amerikanischen<br />
und den japanischen Juristen.<br />
Der verstorbene Professor Saito war mein Doktorvater.<br />
Daher konnte ich unmittelbar von ihm viel darüber erfahren.<br />
Und es gibt noch eine weitere, sehr interessante Episode.<br />
Wenn die japanische Seite kurz davor war, über die amerika-<br />
6<br />
Vgl. Dando, Waga Kokoro no Tabiji [Mein innerer Weg],<br />
1987, S. 110 ff. (auf Japanisch).