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WIRTSCHAFT+MARKT HERBST / WINTER 2020/2021

HERBST

WINTER

2020

2021

DAS OSTDEUTSCHE UNTERNEHMERMAGAZIN

WIE DER

OSTEN DIE

KRISE

MEISTERT

31. Jahrgang | Deutschland 6,50 €

INVESTITIONEN

Die wichtigsten

Ansiedlungen

MOBILITÄT

Autobranche im

Wandel

JUBILÄUM

Kanzlerin Angela

Merkel blickt zurück


Wer auf zu neuen Ufern will,

findet bei uns die meisten

in ganz Deutschland.


EDITORIAL

WIRTSCHAFT+MARKT 3

MIT VORSPRUNG

AUS DER KRISE

Karsten Hintzmann

Chefredakteur

KH@WundM.info

Foto: Torsten George

MMan muss kein Prophet sein, um zu erahnen,

dass das Jahr 2020 als „Coronajahr“ in

die Geschichtsbücher eingehen wird. Erst

der Ausbruch und die rasend schnelle Verbreitung

des Virus im fernen China, dann die

flächenbrandartige Verbreitung auf der ganzen

Welt. Wochenlang standen Wirtschaft

und öffentliches Leben fast überall still.

Jetzt läuft die Suche nach einem wirksamen

Impfstoff auf Hochtouren. Niemand kann

vorhersagen, wie viele Infektionswellen die

Pandemie noch im Köcher hat.

Natürlich kommen wir in diesem Magazin

am alles überragenden Thema „Corona“

nicht vorbei. Aber wir haben versucht, den

Blick zu weiten – hin zu der Zeit, in der das

Virus gezähmt und überwunden sein wird. In

unserer Titelgeschichte gehen wir der Frage

nach, ob Ostdeutschland die Coronakrise gar

als Sprungbrett nutzen kann, um in einzelnen

Wirtschaftsbereichen beim ewigen Ost-

West-Vergleich nicht nur gleichzuziehen,

sondern vielleicht sogar einen Vorsprung

herauszuarbeiten. Lassen Sie sich von den

vielfältigen Ideen überraschen, die Sie auf

den folgenden Seiten finden werden. Fest

steht: Die neuen Länder sind zu einem

attraktiven Investitions- und Innovationsstandort

gereift, der in- und ausländische

Unternehmen aus vielen Branchen anzieht.

Stellvertretend für die sechs neuen Länder

beschreiben die Chefs der Wirtschaftsfördergesellschaften

von Brandenburg

und Sachsen Anhalt, wie etwa Tesla für die

Ansiedlung einer Gigafactory gewonnen

werden konnte oder welche Chancen moderne

Wasserstofftechnologien bieten.

Wir haben uns festgelegt – Corona hält uns

nicht davon ab, unbeirrt in Richtung Zukunft

zu schauen: auf die Herausforderungen,

die der Klimawandel mit sich bringt. Wir

befassen uns mit nachhaltigen Wirtschaftsmodellen,

konkreten Aspekten bei

der Umsetzung der Energiewende in den

ostdeutschen Ländern sowie emissionsfreien

Mobilitätskonzepten.

All diese Themen spielten auch beim

5. Ostdeutschen Wirtschaftsforum eine

Rolle, das trotz Corona in der zweiten

Septemberhälfte in Bad Saarow stattfinden

konnte. Eine Veranstaltung, die nicht

nur hinsichtlich der Referenten exzellent

besetzt war, sondern die schon im Vorfeld

ein so großes öffentliches Interesse er zeug te,

dass die Veranstalter – schweren Herzens

– vielen potenziellen Gästen auf grund

der räumlichen Coronaeinschränkungen

absagen mussten. Es ist zu hoffen, dass

dies im kommenden Jahr nicht mehr nötig

sein wird.

Eines werden Sie bei der Lektüre des Magazins

möglicherweise feststellen: Noch nie

zuvor hatten wir in WIRTSCHAFT+MARKT

eine derart hohe Konzentration so namhafter

Autoren und Interviewpartner wie in

dieser Ausgabe. An vorderster politischer

Front Bundeskanzlerin Angela Merkel und

die sechs ostdeutschen Regierungschefs,

ranghohe Unternehmenslenker wie Stefan

Kapferer (50Hertz) oder Bodo Rodestock

(VNG) sowie führende Wissenschaftler

wie Christoph Meinel (HPI) und Joachim

Ragnitz (ifo).


4

WIRTSCHAFT+MARKT

INHALTSVERZEICHNIS

29

W+M TITEL

08

W+M 30 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

08 Drei spannende Jahrzehnte

10 Dr. Angela Merkel: „Auch im

30. Jahr der deutschen Einheit

braucht es Mut, den einen oder

anderen Neuanfang zu wagen“

12 Interview mit dem Chef

der Einheitskommission,

Matthias Platzeck

14 Dr. Peter-Michael Diestel: Das

Einheitsjubiläum – ein Tag,

der freudig und nachdenklich

zugleich stimmt

16 Interview mit dem Ostbeauftragten

der Bundesregierung,

Marco Wanderwitz

W+M GESELLSCHAFT 18

Ostdeutsches Wirtschaftsforum zeichnet fünf

Unternehmen mit dem Preis „Vorsprung“ aus

18 Ostdeutsches Wirtschaftsforum

verleiht Wirtschaftspreis

„Vorsprung“

22 Preisträger aus Sachsen-Anhalt:

Ambulanz Mobile GmbH & Co. KG

23 Preisträger aus Mecklenburg-

Vorpommern: CENTOGENE AG

24 Preisträger aus Sachsen:

GK Software SE

25 Preisträger aus Brandenburg:

SIK-Holzgestaltungs GmbH

26 Preisträger aus Thüringen:

VACOM Vakuum Komponenten

& Messtechnik GmbH

W+M TITEL 40

Ostdeutsche Regierungschefs: Darum werden unsere

Länder gestärkt aus der Coronakrise hervorgehen

29 Prof. Dr. Joachim Ragnitz:

Ostdeutschland und die Macht

der Krise

32 Anna Herrhausen:

Nicht wieder normal

34 Prof. Dr. Christoph Meinel:

Digital-Reformer für Schulen:

Corona

38 Adriana Lettrari: „The time is

now“ – Wendekinder übernehmen

Führung

40 Sechs ostdeutsche Regierungschefs:

Darum werden unsere

Länder gestärkt aus der Coronakrise

hervorgehen

42 Dr. Reiner Haseloff: „Unser Land

– ein Wirtschaftsstandort mit

hoher Technologiekompetenz“

44 Michael Kretschmer: „Unsere

Unternehmer lassen sich nicht

unterkriegen“

45 Michael Müller: „Berlin als

digitales Zentrum und Innovationsmotor

wird auch weiter

Zukunftsimpulse setzen“

46 Bodo Ramelow: „Gemeinsam

mit neuen Strategien in die

Zukunft. Kopf hoch, nicht die

Hände!“

48 Manuela Schwesig:

„Gesundheit schützen und in die

Zukunft investieren“

49 Dr. Dietmar Woidke:

„Veränderungen sind für uns

nichts Neues“

50 Report: Investitionsboom

zwischen Rostock und Erfurt

54 Dr. Steffen Kammradt: Was

macht Brandenburg als Ansiedlungsstandort

so erfolgreich?

56 Thomas Einsfelder:

Mitteldeutschland auf dem Weg

zur Modellregion für grünen

Wasserstoff

58 Interview mit den sechs ostdeutschen

Wirtschaftsministern

62 Thomas Strobel:

Silicon Eastside schlägt erste

Wellen


INHALTSVERZEICHNIS WIRTSCHAFT+MARKT 5

66

W+M ZUKUNFTS-

MOBILITÄT

66 Infografik: Automobilindustrie

Ost auf der Überholspur in

Sachen Zukunftsmobilität

68 Report: Automobilindustrie –

eine Branche im Wandel

70 Hildegard Müller: Automobilindustrie

und Ostdeutschland sind

eine Erfolgsgeschichte – mit

Fortsetzung

72 Marktanalyse: Automobilwirtschaft

leidet weltweit unter den

Folgen der Coronakrise

76 Interview mit Michael Kotzbauer,

Vorstandsvorsitzender des Ostdeutschen

Bankenverbandes

77

W+M KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

77 Reflexion: Hier werden

Nachhaltigkeit und Energiewende

gelebt

78 Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung:

Ambitionierter

Klimaschutz zahlt sich aus

80 Tobias Fischer: Eine kreislauffähige

und gesunde Zukunft

83 Christian Pegel: „Das Thema

Wasserstoff wird die Energiewende

deutlich voranbringen“

84 Sebastian Saatweber:

Wie werden wir in Zukunft

arbeiten? Arbeitswelten neu

gedacht

86 Interview mit Stefan Kapferer,

Vorsitzender der Geschäftsführung

von 50Hertz

88 Bodo Rodestock: „Einigkeit

in Vielfalt“ – Faktor für eine

erfolgreiche Energiewende in

Ostdeutschland

89 Interview mit Achim Oelgarth,

Dr. Bernd Rolinck und Kristian

Kreyes zum Thema Nachhaltigkeit

in der Finanzwirtschaft

92 Umfrage: Positiver Ausblick für

den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland

W+M

ZUKUNFTSMOBILITÄT 68

Automobilindustrie – eine Branche im Wandel

30 JAHRE

DEUTSCHE

EINHEIT 10

Bundeskanzlerin Angela Merkel

zieht eine Zwischenbilanz

Beiträge, die mit diesem Logo

gekennzeichnet sind, finden Sie

ausführlich im W+M-Onlinemagazin.

QR-Codes verweisen ebenso auf

Web-Content.

03

W+M WEITERE

BEITRÄGE

03 Editorial

05 Impressum

94

W+M GESELLSCHAFT

94 Ostdeutsches Wirtschaftsforum:

„Davos des Ostens“

trotzt Corona und fokussiert

sich auf Zukunftsthemen

Fotos: W+M, Glashütte original, NOMOS, Ralf Lehmann

IMPRESSUM

WIRTSCHAFT+MARKT

Das Ostdeutsche Unternehmermagazin

Ausgabe: Herbst/Winter 2020/2021

Redaktionsschluss: 20.10.2020

Verlag: W+M Wirtschaft und Markt GmbH

Friedrichstraße 171, 10117 Berlin

Tel.: 030 505638-00

info@wirtschaft-markt.de

redaktion@wirtschaft-markt.de

www.wirtschaft-markt.de

Herausgeber/Geschäftsführer:

Frank Nehring, frank.nehring@wirtschaft-markt.de

Chefredakteur:

Karsten Hintzmann, karsten.hintzmann@wirtschaft-markt.de

Autor: Matthias Salm

Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in

diesem Magazin auf eine durchgehende, geschlechtsneutrale

Differenzierung (z. B. Teilnehmer/Teilnehmerinnen) verzichtet.

Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung

grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform

hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

Service: Abo- und Anzeigenverwaltung sowie Marketing

und Vertrieb, info@wirtschaft-markt.de

Layout & Design:

Möller Medienagentur GmbH, www.moeller-mediengruppe.de

Druck: Silber Druck oHG, ISSN 0863-5323

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Kopien nur

mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nicht

mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.

Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos

übernehmen wir keine Haftung.


DAS W+M-ONLINEMAGAZIN

Aktuelle Interviews, Konjunkturberichte, Reports zu

Unternehmen, herausragende Preisträger, Expertenrat

und mehr zum Lesen, Markieren, Kopieren, Weiterleiten.

So funktionieren zeitgemäße Medien für Vertreter der

Wirtschaft, die wenig Zeit haben, aber einen guten Überblick

brauchen.

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und die Beiträge

dieser Ausgabe

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Grafik: originallogo/freepik.com, Foto: freepik/freepik.com


MACHER IM INTERVIEW

Die Ministerpräsidenten und Wirtschaftsminister

der neuen Länder und Berlin sind regelmäßig

zu Gast bei WIRTSCHAFT+MARKT. Ebenso

Vorstandsvorsitzende, Vorstände und Geschäftsführer wichtiger

Unternehmer aus unserem Wirtschaftsraum.

W+M-EXPERTEN

Prof. Florian Stapper

der Insolvenzexperte

Beate Lecloux

die Mode- und Stilberaterin

Ein Überblick zum Nachlesen:

Vertreter aus der Politik (Auswahl)

Die Ministerpräsidenten Manuela

Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern),

Michael Kretschmer (Sachsen), Bodo Ramelow

(Thüringen), Dr. Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt),

Dr. Dietmar Woidke ( Brandenburg) und Michael Müller (Berlin)

Ronald Haffner

Steuerberater und Buchrezensent

Dr. Eberhard Frohnecke

der Rechtsanwalt

Die Wirtschaftsminister Harry Glawe

(Mecklenburg-Vorpommern), Ramona Pop

(Berlin), Prof. Armin Willingmann

(Sachsen-Anhalt), Prof. Jörg Steinbach

( Brandenburg)

Das ostdeutsche

Wirtschaftsmagazin, das Sie

auf dem Laufenden hält.

Christian Pegel, der Minister für

Energie, Infrastruktur und Digitalisierung des Landes

Mecklenburg­ Vorpommern

Fotos: Laurence Chaperon, Wolf Lux, EM Gohlke, Torsten Pross, David Marschalsky/WFBB

Wirtschaftsvertreter

( Auswahl)

Bodo Rodestock, Vorstand

Finanzen und Personal, VNG AG

Michael Kotzbauer, Bereichsvorstand

Mittelstandsbank Mitte/Ost der Commerzbank AG

Dr. Steffen Kammradt, Sprecher der

Geschäftsführung der Wirtschaftsförderung Brandenburg

Thomas Einsfelder, Geschäftsführer der

Investitions- und Marketinggesellschaft

Sachsen-Anhalt

Thomas Strobel, Geschäftsführer der

FENWIS GmbH

Hildegard Müller, Präsidentin

des Verbandes der Automobilindustrie

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8

WIRTSCHAFT+MARKT

30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Drei Jahrzehnte ist es nunmehr her, seit es zur deutschen Wiedervereinigung

kam. Eigentlich sollte das Jubiläumsjahr reich gefüllt sein mit Veranstaltungen,

die an die denkwürdigen Monate zwischen der friedlichen

Revolution im Herbst 1989 und dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober

1990 erinnert hätten. Die Coronapandemie machte diese Pläne zunichte – der

Erinnerungskanon musste stark eingekürzt werden.

In WIRTSCHAFT+MARKT kommen drei Politiker zu Wort, die ganz unterschiedlich

mit der deutschen Einheit, dem Werden und Wachsen seit Herbst

1990 und den aktuellen Fragen der Angleichung von Ost und West befasst

sind: Matthias Platzeck (SPD), langjähriger Ministerpräsident in Brandenburg

und Chef der Kommission „30 Jahre Deutsche Einheit“, Dr. Peter- Michael

Diestel (CDU), Innenminister der letzten und einzig frei gewählten DDR-

Regierung im Jahr 1990, prominenter Anwalt und engagierter Kämpfer für

eine faire Teilhabe der Ostdeutschen im geeinten Deutschland, und Marco

Wanderwitz (CDU), Ostbeauftragter der Bundesregierung, Parlamentarischer

Staatssekretär und Bundestagsabgeordneter aus Sachsen.

Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum

(OWF) stiftete in diesem Jahr

erstmalig einen Preis für erfolgreiche

Unternehmen in den neuen

Ländern. Ausgezeichnet wurden

Unternehmen, die sich in den

letzten drei Jahrzehnten innovativ

entwickelt haben und zu regionalen

Leuchttürmen gereift sind. Wir

stellen nicht nur die fünf Preisträger

vor, sondern nennen alle 36

Firmen, die in die engere Wahl für

den OWF-Preis 2020 kamen.


Bringt mehr

Spannung

in Ihr Leben

e-dis.de/energieloesungen


10 WIRTSCHAFT+MARKT

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

30


WIRTSCHAFT+MARKT 11

VON BUNDESKANZLERIN DR. ANGELA MERKEL (CDU)

Foto: © Bundesbildstelle.de / Steins, Sandra

Am 3. Oktober 1990 hat Deutschland seine

staatliche Einheit wiedergewonnen. Das sind

nüchterne Worte. Aber sie stehen für einen der

bewegendsten und glücklichsten Momente der

deutschen Geschichte – herbeigeführt durch

politisches Gespür und diplomatisches Geschick,

durch die Freiheits- und Demokratiebewegungen

in den mittel- und osteuropäischen

Staaten und vor allem durch die Entschlossenheit

und Zivilcourage freiheitsliebender

Menschen in der DDR.

Drei Jahrzehnte voller Veränderungen folgten.

Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen

Bundesländern erlebten tiefe Umbrüche. Das

Zusammenwachsen unseres Landes gestaltete

sich manchmal mühsamer als erwartet. Gerade

auch der wirtschaftliche Auf- und Umbau

hat ungemein viel Kraft gekostet. Aber heute

wissen wir, dass er gelungen ist. Die unzähligen

Erfolgsgeschichten wären nicht denkbar ohne

den Mut, die Tatkraft und Weitsicht, die viele

Unternehmerinnen und Unternehmer in Ostdeutschland

bewiesen haben. Sie alle, die Risiken

eingegangen sind und die wirtschaftliche

Erneuerung vorangebracht haben, verdienen

Dank und Anerkennung.

Sicherlich lassen Wirtschaftskraft und

Wirtschaftsstrukturen in den ostdeutschen

Bundesländern insgesamt immer noch

Wünsche offen. Die Folgen jahrzehntelanger

Teilung und Planwirtschaft sind zwar in weiten

Teilen bereinigt, aber gewiss nicht zur Gänze.

Vor allem fehlt es an Konzernzentralen und

Großunternehmen. Doch umso beachtlicher

ist das hohe Leistungsniveau der mittelständisch

geprägten Wirtschaft. Viele ostdeutsche

Unternehmen sind Weltmarktführer dank ihrer

großen Innovationsfreude und technologischen

Exzellenz – etwa in der Mikroelektronik,

der Elektromobilität oder bei Leichtbautechnologien.

Hierbei hat sich nicht zuletzt der Aufbau

moderner Bildungs- und Forschungseinrichtungen

bezahlt gemacht.

Insgesamt betrachtet haben sich die Lebensverhältnisse

in Ost und West stark angenähert.

Unterschiede zeigen sich in vielen

Bereichen immer weniger in pauschalen

Ost-West-Vergleichen, sondern vielmehr bundesweit

mit Blick auf die jeweiligen länder- und

regionalspezifischen Gegebenheiten.

Angesichts der Fortschritte der letzten 30 Jahre

orientiert sich die Politik der Bundesregierung

heute an regionalen Strukturschwächen

und Ausstattungsunterschieden, wo immer in

Deutschland sie zutage treten. Wir sehen uns

dem Ziel verpflichtet, möglichst gleichwertige

Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet

zu schaffen. Dazu dienen neben dem

Europäischen Struktur- und Investitionsfonds

etwa auch das Strukturstärkungsgesetz für

die Kohleregionen sowie die ab 2020 geltenden

Regelungen für den bundesstaatlichen

Finanzausgleich.

Auch im 30. Jahr der Deutschen Einheit

braucht es Mut, den einen oder anderen Neuanfang

zu wagen. Ob in Wirtschaft, Wissenschaft,

Gesellschaft oder Politik – an neuen

Herausforderungen mangelt es gewiss nicht.

Ich verstehe das weniger als Problem, sondern

vielmehr als Chance. Das verdeutlicht ein Blick

zurück : Wenn wir uns vergegenwärtigen, was

wir in Deutschland gemeinsam geleistet und

erreicht haben, dann wissen wir auch, dass wir

allen Grund haben, optimistisch in die Zukunft

zu blicken.

Lesen Sie

weitere verwandte

Artikel online


12

WIRTSCHAFT+MARKT

30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Matthias Platzeck (SPD), Chef der

„Einheitskommission“ und langjähriger

Ministerpräsident in

Brandenburg, spricht über das Zusammenwachsen

von Ost und West,

Fehler im Einigungsprozess und

die Arbeit seiner Kommission unter

Corona-Bedingungen.

W+M: Herr Platzeck, Sie leiten die Kommission

„30 Jahre Deutsche Einheit“. Wie sieht die

Arbeitsbilanz dieser Kommission aus?

Matthias Platzeck: Als die Kommission vor

einem Jahr eingesetzt wurde, haben wir uns

die Arbeitsweise und Bilanz natürlich anders

vorgestellt, als sie sich jetzt vor dem Hintergrund

der Coronakrise abbildet. Die Bundesregierung

gab uns zwei Hauptaufgaben mit

auf den Weg: zum einen, für dieses gesamte

Jahr einen Plan vorzulegen, der dem Anlass

gerecht wird – also Feste, Feierlichkeiten und

Bürgerdialoge zu organisieren, aber auch die

wichtigsten Ereignisse – oder „Meilensteine“

– der Jahre 1989 und 1990 durch Konferenzen

und andere Veranstaltungen zu würdigen. Und

zum anderen sollen wir der Bundesregierung

Handlungsempfehlungen unterbreiten.

W+M: Konnten denn vorher überhaupt noch

Veranstaltungen stattfinden?

Matthias Platzeck: Ja, einiges haben wir

geschafft, etwa am 9. November 2019 den

längsten Gesprächstisch des Landes entlang

der ehemaligen Grenze von Lübeck bis nach

Hof. Damit wollten wir einen Kontrapunkt zu

den offiziellen Feierlichkeiten setzen, die sich

ja meistens auf Berlin konzentrieren. Auch

Konferenzen zum Beispiel anlässlich der Gründung

des Neuen Forums und der Etablierung

des „Runden Tisches“ konnten wir durchführen.

Und die ersten der geplanten Bürgerdialoge

fanden auch noch statt. Dabei haben wir

alte Städtepartnerschaften zwischen Ost und

West revitalisiert und Menschen aus diesen

Städten zusammengeführt. Da ging es dann

meist frohgemut, heftig und sehr diskursiv zu.

Die Menschen hatten sich offenkundig etwas

zu sagen.

W+M: Die Kommission soll ja aber auch über

dieses Jubiläumsjahr hinauswirken.

Matthias Platzeck: Richtig. Bis zum Jahresende

werden wir Handlungsempfehlungen erarbeiten,

die sich auf den zukünftigen Umgang

mit der Deutschen Einheit, dem Nationalfeiertag

und den Feierlichkeiten beziehen, die ja der

Gefahr unterliegen, rituell zu werden und die

Gesellschaft zu wenig zu erreichen. Darüber

hinaus betrachten wir Fragen der gesellschaftlichen

Entwicklung zwischen Ost und West. So

geht es auch um das Problem, dass Ostdeutsche

in wichtigen Positionen in Deutschland

noch immer viel zu wenig vertreten sind.

W+M: Hand aufs Herz, Herr Platzeck, wie

steht es aus Ihrer persönlichen Sicht um die

Deutsche Einheit und das Zusammenwachsen

von Ost und West?

Matthias Platzeck: Wenn man nüchtern

auf die Ausgangsposition schaut, muss man

zu dem Schluss kommen: Wir können alle

sehr froh sein, dass es zur Deutschen Einheit

gekommen ist und dass wir heute diesen

hohen Entwicklungsstand haben. Das sage

ich mit dem Blick darauf, was in der Welt um

uns herum passiert und auch mit Blick auf die

Ausgangssituation im Osten Deutschlands im

Jahr 1990.

W+M: Damals sah die Lage überhaupt nicht

gut aus …

Matthias Platzeck: Eben! Und darum würde

ich mir wünschen, dass mehr Ostdeutschen als

bislang klar wird, welche massive Kraftanstrengung

durch sie in den vergangenen 30 Jahren

vollbracht wurde. Wir haben aus dem Umbruch

– der in Wirklichkeit vor allem ein Zusammenbruch

war – einen Aufschwung gemacht, auf

den wir heute wirklich stolz sein können. Was

wir gemeinsam erreicht haben, ergibt heute

wirklich genügend Stoff für ein deutliches

ostdeutsches Selbstbewusstsein. Ich bin

manchmal etwas neidisch auf die Bayern: Normale

Babys kommen auf die Welt und machen

Foto: W+M


WIRTSCHAFT+MARKT 13

irgendwann ihren ersten Schrei. Und in Bayern

rufen sie als Erstes: „Mia san mia!“ Ich finde,

in den 30 Jahren ist so viel Positives im Osten

Deutschlands passiert, dass wir uns diese

Grundhaltung auch aneignen sollten.

W+M: Welche Defizite bleiben mit Blick auf

die innere Einheit bestehen?

Matthias Platzeck: Einige. Denn natürlich

wurden auch Fehler gemacht, teilweise sogar

gravierende. Und manche Dinge dürfen nicht

bleiben, wie sie sind.

W+M: Welche Dinge meinen Sie konkret?

Matthias Platzeck: Wir haben zum Beispiel

sehr viel Kraft darauf verwendet, die DDR-Geschichte

aufzuarbeiten. Jetzt spüren wir:

Irgendetwas ist uns dabei nicht gelungen. Wir

haben die Aufarbeitung fast ausschließlich auf

die Fragen von Repression und Unterdrückung

zentriert. Und haben dadurch zugelassen,

dass das Leben in der DDR nur unter diesem

Scheinwerfer betrachtet wurde. Ganz viele

Menschen im Osten fanden aber andere

Aspekte in ihrem Leben wichtig – Glück und

Unglück in der Familie, Erfolge und Misserfolge

im Arbeitsleben. Sie haben ein Leben gelebt

und das oft sehr respektabel. Dieser Alltag,

der die Erinnerung vieler Ostdeutschen prägt,

ist in der nachträglichen Bewertung völlig

untergegangen.

W+M: Viele sagen: Die Vereinigung fand

nicht auf Augenhöhe statt.

Matthias Platzeck: Das stimmt ja auch.

Und das ist ein zweites Problem, bei dem ein

klarer Stockfehler gemacht wurde. Wir stellen

heute fest, dass sich viele Menschen im Osten

immer noch als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen.

Das ist psychologisch und kulturell belastend.

Wenn man zwei Gesellschaften zusammenfügt,

von denen eine objektiv klar überlegen

ist, dann ist man klug beraten, den kleineren

und schwächeren Teil nicht nackt und bloß

dastehen zu lassen, als Bittsteller ohne eigene

Leistungen und ohne Selbstwertgefühl. Regine

Hildebrandt hat schon 1990 darauf hingewiesen,

wie wichtig es ist, dass die Menschen der

unterlegenen Gesellschaft das Gefühl haben

können, sie bringen auch was mit und sind

nicht nur doof. Solche „Haltegriffe“ zu installieren,

wäre auch volkswirtschaftlich preiswerter

gewesen.

W+M: Sie haben wiederholt beklagt, dass

bis heute viel zu wenige Ostdeutsche in Führungspositionen

gelangt sind. Wie könnte das

geändert werden?

Matthias Platzeck: Das bleibt ein schwieriges

Thema. In Debatten darüber sagt immer

irgendwer: „Hört doch mal auf, am Ende geht

es doch um Kompetenz.“ Aber wenn man das

zu Ende denkt, hieße das doch: Die Ostdeutschen

wären einfach zu doof. Das ist natürlich

völliger Unfug. Einen nüchternen und viel

treffenderen Satz zu diesem Thema hat Prof.

Raj Kollmorgen geprägt: „Eliten rekrutieren

sich immer aus Eliten.“

W+M: Was ist damit gemeint?

Matthias Platzeck: Na ja, wir haben in den

Neunzigerjahren zugelassen, dass die Eliten

bei uns im Osten aus dem Westen kamen.

Dafür gab es damals gute Gründe, alles sollte

schließlich möglichst schnell wie im Westen

funktionieren. Bloß: Jetzt reproduzieren sich

diese Eliten immer wieder. Etliche wissenschaftliche

Untersuchungen belegen, dass

diese Entwicklung auf das Selbstwertgefühl

der Ostdeutschen drückt. Das ist ein echtes

Problem, für das wir bis heute keine Lösung

haben. Es gibt ja den gut gemeinten Vorschlag,

eine „Ostquote“ einzuführen. Ich glaube nicht,

dass das rechtlich machbar ist. Ich halte es

nach 30 Jahren aber auch nicht für angemessen.

Wir würden doch schon an der Frage

scheitern, wer eigentlich Ostdeutscher ist.

W+M: Das Problem besteht trotzdem weiter,

oder nicht?

Matthias Platzeck: Ganz klar, ja. Die zu

geringe Repräsentanz von Ostdeutschen an

wichtigen Positionen in Wirtschaft, Verwaltung,

Politik bleibt ein ungesunder Zustand –

übrigens nicht nur für den Osten, sondern für

unser Land insgesamt. Aber eine Sofortlösung

dafür sehe ich nicht. Wichtig ist, dass wir

Problembewusstsein schaffen, am Thema

dranbleiben und eine fortgesetzte öffentliche

Debatte führen – und kleine Schritte gehen,

wie zum Beispiel Mentorennetzwerke schaffen

und ab und an auch kämpfen. Wie zum

Beispiel bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichtes,

wo jetzt zum ersten Mal

jemand aus Ostdeutschland kommt.

Interview:

KARSTEN HINTZMANN

UND FRANK NEHRING

Lesen Sie

das ausführliche

Interview online


14

WIRTSCHAFT+MARKT

Vor 30 Jahren konnten wir nach dem

Sturz der Mauer am 03.10.1990 die

deutsche Wiedervereinigung feiern.

Erinnern wir uns: Die Mauer wurde

von 17 Millionen couragierten Ostdeutschen

vom Osten her eingerissen,

was die Folge hatte, dass es

wohl nie wieder in Deutschland Stalinismus

geben wird. Dieses Ereignis

größter Zivilcourage, Freude und

auch des Friedens hat die Menschen,

die dieses erleben durften, für immer

geprägt. Deshalb sind die folgenden,

zur Nachdenklichkeit anregenden

Gedanken notwendig.

VON DR. PETER-MICHAEL

DIESTEL (CDU),

RECHTSANWALT UND

INNENMINISTER A. D.

dritten Generation im vereinten Deutschland

leben, erscheint der Blick zurück doch etwas

zwiespältig. Wer aber aus der Vergangenheit

nichts lernt, wird zukünftig über den kleinsten

Kieselstein stolpern.

Verloren gegangen ist uns die Freude der

friedlichen Grenzöffnung und die damit erlangte

Freiheit für uns Ostdeutsche. Warum ist das

so? Fehlt den ehemaligen DDR-Bürgern Demut

oder Dankbarkeit – oder beides? Im Folgenden

möchte ich als führend Beteiligter an dem historischen

Prozess ein Resümee ziehen:

Die Dinge, die mich nachdenklich stimmen, sind

einfach aufzuzeigen und lassen sich zahlenmäßig

nachweisen. Die Präsenz ostdeutscher Persönlichkeiten

in der Öffentlichkeit findet kaum

statt. Rundfunk und Fernsehen, besonders in

den Bereichen Kunst und Kultur, sind auch in

den fünf neuen Bundesländern so besetzt, dass

in der Regel Menschen hier tätig sind, die früher

hier nicht gelebt haben und uns jetzt das Leben

erklären. Trotzdem haben wir den omnipräsenten

Kai Pflaume, gelegentlich Katharina Witt,

und Toni Kroos spielt bei Real Madrid Fußball.

Nach der Wiedervereinigung erleben wir fast

eine vollständige Ausgrenzung der Ostdeutschen

aus den Eliten dieses Landes. In fast

allen ostdeutschen Gesellschaftsstrukturen

sitzen an den Hebeln, die wichtig sind, Leute

aus dem Westen. Der umgekehrte Prozess

von Ost nach West gilt als Einbahnstraße – die

falsch zu befahren unter Strafe steht.

Warum kann in dieser Bundesrepublik im

30. Jahr der Deutschen Einheit kein im Osten

sozialisierter Mensch die BRD als Botschafter

vertreten? Wir haben wohl über 200 Persönlichkeiten

in diesem diplomatischen Rang.

Wenn man sich Rektoren deutscher Universitäten

und Hochschulen, auch die im Osten gelegenen,

anschaut, kann man feststellen, dass die

Ausgrenzung ostdeutscher Wissenschaftler hier

vollständig gelungen ist.

EEs wird in diesem Jahr nicht nur wegen der

Coronaepidemie wohl eine etwas schmalbrüstige

Feier werden. Auch wenn wir jetzt in der

Foto: XXX


30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

WIRTSCHAFT+MARKT 15

Gleiche Tendenzen stellen wir fest, wenn man

den Anteil Ostdeutscher in Justiz, Ministerien

und Behörden betrachtet. Besonders krass

erscheint mir die Besetzung ostdeutscher

Gerichte und Behörden mit Persönlichkeiten,

die hier nicht gelebt haben und möglicherweise

eine Position im Altbundesgebiet nicht erlangen

konnten. Diesen Zustand halte ich für verfassungswidrig,

was wohl jedem, der lesen kann

und Gesetze versteht, auch einleuchten müsste.

Warum es auch im 30. Jahr der Deutschen

Einheit keinen Ostdeutschen im Rang des

Generals beziehungsweise Chefinspektors gibt?

Man könnte jetzt diese Aufzählungen uferlos

fortführen, immer mit dem Hinweis, dass es die

umgekehrte Tendenz nicht gibt.

Warum haben wir im Osten Deutschlands

immer mehr Landtags- und Bundestagsabgeordnete,

die ursprünglich in den alten Bundesländern

gelebt haben? Das letzte prominente

Beispiel ist Olaf Scholz (SPD), der jetzt im

Land Brandenburg für seine Partei antritt. Es

erscheint schon peinlich, wenn in den letzten

Tagen die deutschen Medien aufwendig

berichten, dass eine ostdeutsche Frau erstmals

als Richterin am Bundesverfassungsgericht

ernannt wurde, und dies zum allerersten Mal in

der Geschichte dieser Republik.

Das, was die Politik dummerweise vorlebt, setzt

sich natürlich auch in den Wirtschaftsstrukturen

unseres Landes, besonders bei der Besetzung

von Vorständen und Aufsichtsräten börsennotierter

Unternehmen fort. Vielleicht beschreibe

ich gerade eine wesentliche Ursache mit dem

Fehlen ostdeutscher Menschen in Leitungsbereichen,

sodass Flughafen, Autobahn und

andere Großprojekte nicht mehr erfolgreich zu

Ende geführt werden können, weil ostdeutscher

Fotos: Susann Welscher; Zeichnung: Willi Sitte

Sachverstand fehlt?

30 Jahre nach der fast christlichen Wiedervereinigung

unseres Vaterlandes ist es notwendig

und zulässig, auf die von mir gezeigten

Missstände hinzuweisen, denn es gibt keine

Erklärung und kein Erfordernis für die Ausgrenzung

eines so großen Teils unseres Volkes.

Gehässigerweise könnte man sagen: „Ihr seid

dumm und schwach, ihr lasst es euch gefallen

und deshalb gehen wir mit euch so um“.

Eigentlich müsste man, so wie wir über die

Ostfriesen und Schildbürger Witze gemacht

haben, Entsprechendes auch über die Ostdeutschen

tun. Ich glaube aber, dass das, was ich

aufzeige, zu traurig ist, um darüber zu lachen.

Lachen kann nur der, der die Unzufriedenheit

der Menschen der fünf neuen Bundesländer

nicht kennt oder nicht zur Kenntnis nehmen will.

Wenn meine Mitstreiter von damals, Lothar de

Maizière und Rainer Eppelmann, den Menschen

im Osten Deutschlands vor 30 Jahren vorausgesagt

hätten, welche Realität sie erwartet, dann

hätte es den friedlichen, wunderschönen Weg

der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes so

nicht gegeben.

Diese bitteren Erkenntnisse sind notwendig,

und sie müssen angesprochen werden, weil wir

auf einem falschen Weg sind. Immer mehr Menschen

in den neuen Bundesländern wenden sich

von den etablierten Parteien und vor allem von

den sich etabliert haltenden Politikern ab.

Wenn die von mir aufgezeigten Missstände

nicht erkannt und einer Korrektur zugeführt

werden, befürchte ich, dass sich das wiederholen

wird, was die Geschichte uns gelehrt hat.

Nämlich ein Volk, das sich einmal erfolgreich

erhoben hat, wird sich immer wieder erheben.

Der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung

sollte ein Anlass sein, gesellschaftliche

Gemeinsamkeiten zu erkennen, historische

Verantwortung zu spüren und endlich Vernunft

und Fairness bei der Betrachtung des anderen

walten zu lassen.

Lesen Sie

den ausführlichen

Artikel online


16

WIRTSCHAFT+MARKT

Marco Wanderwitz (CDU), Ostbeauftragter

der Bundesregierung,

über die Folgen der Coronakrise

für die neuen Länder, die Lücke bei

den Lebensverhältnissen zwischen

West und Ost und die Zukunft seines

Amtes.

W+M: Herr Wanderwitz, seit Februar dieses

Jahres sind Sie Ostbeauftragter der Bundesregierung.

Was haben Sie sich konkret für die

verbleibenden Monate dieser Legislaturperiode

vorgenommen?

Marco Wanderwitz: Als Beauftragter der

Bundesregierung für die neuen Länder achte

ich darauf, dass innerhalb der Bundesregierung

die besonderen Belange der neuen

Länder und die spezifischen Interessen der

Bevölkerung in den neuen Ländern angemessen

berücksichtigt werden – angefangen bei

Fragen des wirtschaftlichen Aufholprozesses

über sozialpolitische Fragen bis hin zu den

wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen der

Förderung von Demokratie und der weiteren

Aufarbeitung der SED-Diktatur.

An dieser Daueraufgabe dranzubleiben, ist

nicht immer einfach, denn ich kann in meiner

Funktion nicht einfach Weisungen erteilen. Das

will ich aber auch gar nicht. Viel wichtiger ist

mir, als Anwalt für die Menschen in den neuen

Ländern einzutreten und für ihre Belange zu

sensibilisieren. Ich spreche Sachen an, die

nicht gut laufen und greife auch ein, wenn das

Erfordernis besteht.


30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

WIRTSCHAFT+MARKT 17

Foto: W+M

Wertvoll ist hierbei, mit vielen Menschen über

ihre Sicht der Dinge zu reden. Dazu dient eine

Gesprächsreihe, ähnlich der der „Sachsengespräche“

von Ministerpräsident Michael

Kretschmer, die ich, beginnend im Herbst, in

vielen Orten in den neuen Ländern durchführen

werde. Die Coronapandemie zwingt uns

dabei natürlich, sorgfältig zu überlegen, wie

und in welchem Rahmen die geplanten Diskussionen,

die eigentlich schon laufen sollten,

stattfinden können. Ich bin aber zuversichtlich,

dass wir ein Format finden, mit den Menschen

vor Ort in Kontakt zu kommen und in einen

Dialog mit ihnen zu treten. Themen gibt es genug:

zum Beispiel, wie die neuen Länder wirtschaftlich

weiter aufholen können, wie wir den

Strukturwandel in der Braunkohle bewältigen,

wie wir die Repräsentanz in Führungsetagen

erhöhen, und auch darüber, wie wir unsere Demokratie

lebendig halten können. Mein Ziel ist,

dass es nicht beim Reden bleibt, sondern dass

sich aus den Gesprächen konkrete Handlungsansätze

für meine Arbeit ergeben.

Wir feiern dieses Jahr das 30-jährige Jubiläum

der Wiedervereinigung, und trotzdem gibt es

immer noch Nachwirkungen von SED-Unrecht

und nach wie vor Aufarbeitungsbedarf in

dem Bereich. Deshalb ist auch das weiterhin

eine Aufgabe des Beauftragten für die neuen

Länder.

W+M: Wie beurteilen Sie die Wirksamkeit

der Hilfen von Bund und Ländern für den ostdeutschen

Mittelstand in der aktuellen Krise?

Marco Wanderwitz: Mit dem KfW-Sofortprogramm

wurde ein schnell wirksames Instrument

in kurzer Zeit für die mittelständische

Wirtschaft bereitgestellt. Bis Anfang August

wurden rund 10.500 Einzelkredite mit einem

Volumen von 3,6 Milliarden Euro an kleine und

mittlere Betriebe in den neuen Ländern ausgezahlt.

Der Bund übernimmt dabei in einem

bislang nie da gewesenen Umfang Risiken

zwischen 80 und 100 Prozent und trägt wesentlich

zum Erhalt der Unternehmen und der

Überwindung von Liquiditätsengpässen bei.

Sie verschaffen den Unternehmen Luft bei der

weiteren Bewältigung der Krise.

Darüber hinaus gibt es Corona-Soforthilfen

des Bundes für Selbstständige, Freiberufler,

kleine Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten.

Rund 470.000 von ihnen haben in den

neuen Ländern und Berlin Zuschüsse von bis

zu 9.000 Euro beziehungsweise 15.000 Euro

erhalten. Insgesamt wurden über 3,4 Milliarden

Euro Bundesmittel an die neuen Länder

ausgezahlt.

Das Kurzarbeitergeld in den neuen Ländern

hat zudem dazu beigetragen, dass Massenarbeitslosigkeit

verhindert werden konnte. Für

viele Arbeitnehmer und Unternehmen ist dies

eine der ganz entscheidenden Maßnahmen.

Die Coronakrise hat viele Unternehmen hart

getroffen. Schon heute zeigt sich aber, dass

ohne die Unterstützungen noch viel mehr

Unternehmen von kurzfristigen Schließungen

getroffen wären. Das gilt insbesondere für

kleinere Unternehmen und Dienstleister ohne

nennenswerte Rücklagen. Der Wirtschaftsstruktur

in den neuen Ländern kommt diese

Hilfe daher aus meiner Sicht besonders zugute

und wird – wie die Zahlen zeigen – auch rege

in Anspruch genommen.

W+M: Wir begehen in diesem Jahr den 30.

Jahrestag der deutschen Einheit. Wo stehen

wir heute in Sachen Angleichung der Lebensverhältnisse

zwischen Ost und West?

Marco Wanderwitz: Mit der friedlichen

Revolution im Herbst 1989 haben die Bürgerinnen

und Bürger mutig für Freiheit und

Demokratie gekämpft und 40 Jahre deutsche

Teilung überwunden. In den vergangenen

30 Jahren sind die voneinander getrennten

deutschen Teilgesellschaften wieder zusammengewachsen,

und die Angleichung der

Lebensverhältnisse ist weit vorangeschritten.

Es macht heute so gut wie keinen wahrnehmbaren

Unterschied mehr, ob Sie in Erfurt oder

in Mainz einkaufen oder zum Arzt gehen.

Die Ausstattung mit Konsumgütern und

Sozialleistungen ist weitgehend identisch. Ein

gewisser Unterschied allerdings ist bis heute

spürbar: der Unterschied in der Leistungskraft

der Wirtschaft und damit natürlich

auch bei den Verdienstmöglichkeiten und

der Steuerkraft. Das ist volkswirtschaftlich

gesehen erst mal ganz normal, weil sich die

Entwicklung einer Wirtschaft immer nur über

sehr lange Zeiträume, häufig über Generationen

hinweg, vollziehen kann. Zum Zeitpunkt

der Wiedervereinigung lag die Produktivität

der ostdeutschen Wirtschaft nur bei einem

Drittel, heute liegt sie bei über 82 Prozent des

deutschen Durchschnitts. Wir haben damit

einen gewaltigen Erfolg erzielt, auf den alle

Menschen in den neuen Ländern wirklich

stolz sein können. Die weitere Angleichung

der Lebensverhältnisse in puncto Wirtschaft

bleibt natürlich auch in Zukunft eine Priorität

unserer Politik.

W+M: Sehen Sie Chancen, dass es zu einer

Angleichung der Lebensverhältnisse kommt?

Wenn ja, bis wann könnte das der Fall sein?

Und: Welche Maßnahmen müssten dafür

ergriffen werden?

Marco Wanderwitz: Eindeutig ja, die Leistungskraft

der Unternehmen, die Einkommen

und die Beschäftigungsmöglichkeiten werden

sich zwischen den alten und neuen Ländern

auch in Zukunft weiter angleichen, wenn

vielleicht auch nicht im Tempo früherer Jahre.

Wie lange es dauern wird, hängt auch von

unseren Maßstäben ab. Sind 100 Prozent

die Zielmarke oder können wir auch gewisse

Unterschiede, wie es sie auch in den alten

Bundesländern gibt, in einem föderalen

Gemeinwesen zulassen? Vor allem wird es

von der Entwicklung der Unternehmen selbst

abhängen, von ihrer Innovationsfähigkeit,

ihren Strategien und der globalen Verflechtung.

Auf allen diesen Gebieten werden wir

die Unternehmen auch künftig mit unseren

Mittelstands- und Innovationsprogrammen

nachdrücklich unterstützen.

W+M: Es gab und gibt Stimmen aus der

Politik, die das Amt des Ostbeauftragten nach

30 Jahren für verzichtbar halten. Wie sehen

Sie das?

Marco Wanderwitz: Ich hätte das vor fünf

Jahren auch gesagt. Aber ein wenig länger

werden wir es doch noch brauchen. Noch sind

ja nicht alle Themen abgearbeitet. Die Einheit

in den Köpfen ist dabei ein wichtiger Punkt.

Die Demokratie ist noch nicht so gefestigt wie

in den alten Bundesländern. Leider. Das sehe

ich als wichtigen Punkt der Beauftragung, hier

tätig zu sein.

Interview:

KARSTEN HINTZMANN

UND FRANK NEHRING

Lesen Sie

das ausführliche

Interview online


18

WIRTSCHAFT+MARKT

30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

WIRTSCHAFTS-PREIS

„VORSPRUNG“ FÜR INNOVATIVE

UND STANDORTPRÄGENDE

FIRMEN AUS DEN NEUEN

LÄNDERN

36 exzellente Kandidaten – Jury unter Leitung von Matthias Platzeck

hat die Qual der Wahl bei Verleihung der ersten Preise des Ostdeutschen

Wirtschaftsforums

Von Karsten Hintzmann

Im 30. Jahr der deutschen Einheit wollten ternehmen soll regionale oder gar überregionale

die Macher des Ostdeutschen Wirtschaftsforums

Strahlkraft besitzen und sich zu einem

(OWF) einen besonderen Akzent regionalen Leuchtturm entwickelt haben.

setzen. Erstmals wurde in diesem Jahr der Das Unternehmen hat neue, innovative Geschäftsideen

Wirtschaftspreis „Vorsprung“ verliehen.

umgesetzt und zur Marktreife

Aus allen neuen Ländern gingen unzählige geführt, und es hat mit einem oder mehreren

Vorschläge ein. In die engere Wahl kamen Produkten europäische oder gar internationale

am Ende 36 Unternehmer und Unternehmen,

Marktführerschaft erlangt. Das Unter­

die auf den folgenden Seiten nehmen unterstützt soziale, kulturelle oder

dokumentiert sind. Sie alle erfüllten die sportliche Projekte in der Heimatregion. Das

vorgegebenen Kriterien: Der Firmensitz gesamte Schaffen der Unternehmerin beziehungsweise

muss in den neuen Ländern liegen. Das Un­

des Unternehmers ist geeignet,

anderen Mittelständlern Mut hinsichtlich

der Weiterentwicklung von Geschäftsideen

zu machen und Vorbildwirkung gegenüber

jungen Menschen zu entfalten, damit diese

selbst unternehmerisch tätig werden. Das

Unternehmen ist sicher und in der Substanz

unbeschadet durch die derzeitige Coronakrise

gesteuert worden.

Die hochkarätig besetzte Jury unter Leitung

des langjährigen brandenburgischen Ministerpräsidenten

Matthias Platzeck (SPD) hatte

am Ende die Qual der Wahl. Sie entschied sich

für fünf Unternehmen, die höchst unterschiedliche

Branchen repräsentieren und zum

Teil bereits seit Jahrzehnten erfolgreich am

Markt sind.

Foto: W+M/Ralf Succo


WIRTSCHAFT+MARKT 19

Longlist: Nominierungen für den OWF-Unternehmerpreis 2020

01

02

03

Neulandia UG

BRANDENBURG

SONOTEC GmbH

SACHSEN-ANHALT

Relaxdays

Halle/Saale

SACHSEN-ANHALT

04

05

06

A.MUSE, Designhaus

Halle/Saale

SACHSEN-ANHALT

Jugendfilmcamp

Arendsee

SACHSEN-ANHALT

Tesvolt GmbH

Wittenberg

SACHSEN-ANHALT

07

08

09

Knufmann GmbH

Klötze

SACHSEN-ANHALT

Hasomed GmbH

Magdeburg

SACHSEN-ANHALT

LLT Applikation Gmbh

Ilmenau

THÜRINGEN

10

11

12

VACOM Vakuum

Großlöbichau

THÜRINGEN

Bauerfeind AG

Zeulenroda-Triebes

THÜRINGEN

EPC Engineering & Technologies GmbH

Arnstadt

THÜRINGEN

13

14

15

Layertec

Mellingen

THÜRINGEN

Deutzer Technische Kohle GmbH

Zeuthen

BRANDENBURG

GA Generic Assays GmbH

Blankenfelde-Mahlow

BRANDENBURG

16

17

18

getemed Medizin- und Informationstechnik AG

Teltow

BRANDENBURG

Körber & Körber GmbH

Birkenwerder

BRANDENBURG

Christoph Miethke GmbH & Co. KG

Potsdam

BRANDENBURG


20

WIRTSCHAFT+MARKT

30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

19

20

21

UniCaps GmbH

Frankfurt (Oder)

BRANDENBURG

UNITAX-Pharmalogistik GmbH

Schönefeld

BRANDENBURG

SIK-Holzgestaltungs GmbH

Berlin

BRANDENBURG

22

23

24

Ambulanz Mobile Schönebeck GmbH & Co. KG

Schönebeck

SACHSEN-ANHALT

Störtebeker Braumanufaktur GmbH

Stralsund

MECKLENBURG-VORPOMMERN

Centogene AG

Rostock

MECKLENBURG-VORPOMMERN

25

26

27

Oehm und Rehbein GmbH

Rostock

MECKLENBURG-VORPOMMERN

GWA Hygiene GmbH

Stralsund

MECKLENBURG-VORPOMMERN

Micro-Hybrid Electronic

Hermsdorf

THÜRINGEN

28

29

30

Asphericon

Jena

THÜRINGEN

Testa Motari Automotive GmbH

Johanngeorgenstadt

SACHSEN

Wandelbots GmbH

Dresden

SACHSEN

31

32

33

COLDPLASMATECH GmbH

Greifswald

MECKLENBURG-VORPOMMERN

Dr. Födisch Umweltmesstechnik AG

Markranstädt

SACHSEN

GK Software SE

Schöneck

SACHSEN

35

35

36

ibes AG

Chemnitz

SACHSEN

KRONOS

Dresden

SACHSEN

watttron GmbH

Freital

SACHSEN


HIER

TRIFFT WIRTSCHAFT

WISSENSCHAFT.

Team Bilberry, Mateyusz Krain (li.) und Krzysztof Dobrinin

©Marco Warmuth/TGZ Halle GmbH

ES IST EIN GÄNGIGES KLISCHEE: SACHSEN-ANHALT UND INNOVATIONEN?

DAS PASST NICHT ZUSAMMEN.

Wir treten den Gegenbeweis an und zeigen, dass in Sachsen-Anhalt Prägendes

entsteht. Standorte in Sachsen-Anhalt bieten dazu die perfekten Bedingungen.

Es sind unsere ZUKUNFTSORTE. Hier konzentrieren sich Wissenschaft, Forschung

und Wirtschaft an einem Ort. Die Wege sind kurz, das ermöglicht Begegnung

und Austausch. Neue Ideen entstehen und werden so einfacher realisiert.

www.zukunftsorte-sachsen-anhalt.de


22

WIRTSCHAFT+MARKT

PREISTRÄGER AUS SACHSEN-ANHALT: AMBULANZ MOBILE GMBH & CO. KG

Der Marktführer bei Krankentransportwagen

kommt aus Schönebeck

IIm Januar 1991, nur drei Monate nach der

Deutschen Einheit, hatten sieben ehemalige

Traktorenwerker die Idee, eine Firma zu

ten Akquisitionsfahrten jedoch ernüchternd.

Alexander Richter und Hans-Jürgen Schwarz,

gelernte Maschinenbau-Ingenieure und Gründer

des Unternehmens, mussten kämpfen und

Durchsetzungsvermögen lernen.

Im Jahr 2000 waren schon über 100 Mitarbeiter

beschäftigt, über 600 Spezialfahrzeuge

wurden an Kunden in Deutschland und Österreich

verkauft. Der erste Kunde in Österreich

war das Rote Kreuz in Kärnten. Es wird heute

noch mit Ambulanzfahrzeugen aus Schönebeck

beliefert. Das zweite Geschäftsfeld, die

Krankentransportwagen (KTW), wurde im

Jahr 1998 aktiviert. Im selben Jahr wurde das

erste Notarzteinsatzfahrzeug entwickelt und

ein Jahr später der erste Rettungstransport-

gründen, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu

nehmen und nicht in die Arbeitslosigkeit gehen

zu müssen. Mit einer alten Produktionshalle

fing es an, und am 1. Juli 1991 wurde die Firma

gegründet, für die es noch kein Produkt und

keinen Markt gab. Das erste Produkt war ein

Kraftfahrzeug für mobilitätseingeschränkte

Personen auf Basis eines Ford Transit, die erswagen.

Das Unternehmen entwickelte sich

kontinuierlich und stabil weiter und bis heute

erfolgen fortlaufend kreative Innovationen in

allen Produktbereichen.

Mit den später folgenden weiteren Eigenentwicklungen,

wie dem Rettungswagen Typ

DELFIS (auf den Basis-Fahrzeugen Mercedes

Sprinter und VW Crafter) und dem großen

Rettungswagen TIGIS, veränderte Ambulanz

Mobile nicht nur weltweit das Erscheinungsbild

einer Branche, sondern es revolutionierte

sie. Die Firma wuchs und wuchs. In den Jahren

2003, 2007, 2010 und 2015 wurden umfangreiche

bauliche Investitionen getätigt und

heute verfügt die Firma über mehr als 13.000

Quadratmeter reiner Produktionsfläche.

Permanente Ausbildung und umfangreiche

Qualifizierung sorgen für ein gut geschultes

Personal. Fünf Ausbildungsberufe und zwei

duale Studienrichtungen sorgen für Fachkräftenachwuchs,

um auch in Zukunft an der

Spitze stehen zu können. Über 50 europaweite

Patente und Schutzrechte zeugen davon, wie

innovativ die Firma an der Elbe ist.

Die Produktion von Ambulanzfahrzeugen

läuft auf vollen Touren.

Eines der erfolgreichsten Krankenwagen-Produkte

ist der Ford Transit NOVARIS. Kein anderer

KTW wird in Mitteleuropa in einer größeren

Stückzahl gebaut. Ein Beleg dafür ist die Tatsache,

dass das Bayerische Rote Kreuz allein

von diesem Produkt seit 2009 mehr als 1.000

KTW in Schönebeck gekauft hat. Inzwischen

arbeiten mehr als 300 Beschäftigte bei Ambulanz

Mobile Schönebeck. Über 1.600 Spezialfahrzeuge

werden hier jährlich gebaut und in

mehr als 40 Länder geliefert. Das Unternehmen

verfügt heute über ein großes Netz an

Partnern, unter anderem in den Niederlanden,

Finnland, Spanien, Italien, Ungarn, Kroatien,

der Schweiz, in Slowenien, im Nahen Osten sowie

auf Taiwan. Der Hauptentwicklungs- und

Produktionsstandort ist jedoch, und so soll es

auch bleiben, Schönebeck an der Elbe.

Geschäftsführer Hans-Jürgen Schwarz

nimmt den Preis auf dem OWF entgegen.

Fotos: Ambulanz Mobile GmbH & Co. KG , W+M/Ralf Succo


JAHRE DEUTSCHE EINHEIT WIRTSCHAFT+MARKT 23

30

DDie CENTOGENE AG ist ein Unternehmen

für seltene Krankheiten, das sich

darauf konzentriert, klinische, genetische

und biochemische Daten in medizinische

Lösungen für Patienten umzuwandeln.

Mit Hauptsitz in Rostock und weiteren Niederlassungen

in Berlin sowie in Cambridge,

Massachusetts, USA, widmet sich CENTO-

GENE der Umwandlung der Wissenschaft der

genetischen Information in Lösungen und

Hoffnung für Patienten mit seltenen Krankheiten

und deren Familien. CENTOGENE bietet das

gesamte Spektrum moderner Methoden und

Technologien für die Humangenetikanalyse.

Volkmar Weckesser (Mitte), Chief Information

Officer der CENTOGENE AG, nimmt in

Bad Saarow den OWF-Wirtschaftspreis

entgegen. Erste Gratulanten sind der

Juryvorsitzende Matthias Platzeck (l.) und

OWF-Veranstalter Frank Nehring.

PREISTRÄGER AUS MECKLENBURG-VORPOMMERN: CENTOGENE AG

Weltmarktführer in der Diagnostik

seltener angeborener Krankheiten

Foto: W+M/Ralf Succo

Es ist in der Forschung aktiv und entwickelt

ständig neue und innovative Produkte für die

Humangenetik.

So sieht sich das Unternehmen selbst: „Wir

setzen uns für ‚seltene‘ seltene Krankheiten

ein, indem wir unser weltweites Wissen auf

dem Markt für seltene Krankheiten nutzen, die

Epidemiologie verstehen, die klinische Heterogenität

der mehr als 3800 Krankheiten analysieren

und innovative Biomarker entwickeln.

Basierend auf diesem Wissen bringen wir

Rationalität in Behandlungsentscheidungen

und beschleunigen dadurch die Entwicklung

neuer Orphan Drugs (Arzneimittel für seltene

Leiden – Anmerkung der Redaktion).“

CENTOGENE wurde 2006 als Spin-off der

Rostocker Universitätsklinik von Dr. Arndt Rolfs

gegründet, einem Neurologen mit langjähriger

klinischer Erfahrung bei seltenen Erbkrankheiten.

Von Beginn an war es sein Ziel, die

Wissenschaft klinischer und genetischer Daten

in medizinische Lösungen für Patienten zu verwandeln.

Diese Vision basiert auf der Tatsache,

dass unter den 7.000 identifizierten seltenen

Krankheiten schätzungsweise 80 Prozent –

also etwa 5.600 Krankheiten – einen genetischen

Ursprung haben. Von diesen seltenen

Erbkrankheiten haben jedoch nur etwa vier Prozent

eine von der FDA zugelassene Behandlung

(Anmerkung der Redaktion: Die FDA – Food and

Drug Administration – ist eine US-Behörde, die

für die Zulassung und Marktüberwachung von

Lebensmitteln, Medikamenten und Medizinprodukten

verantwortlich ist).

Da die Diagnose eines Patienten mit einer

seltenen Krankheit normalerweise durchschnittlich

etwa sieben Jahre dauert, besteht

weltweit ein erheblicher unerfüllter Bedarf

an qualitativ hochwertigen genetischen Informationen

im Bereich seltener Krankheiten

zur Früherkennung, wirksamen Behandlung

von Patienten und die Beschleunigung der

Entwicklung von Orphan Drugs.

Inzwischen ist die CENTOGENE AG Weltmarktführer

in der Diagnostik seltener

angeborener Krankheiten. Das Unternehmen

verfügt über die weltweit größte Datenbank

auf diesem Gebiet. In den digitalen Archiven

der Firma lagern genetische Informationen

von bisher einer halben Million Patienten aus

rund 120 Ländern.

In der Coronakrise hat das Rostocker Unternehmen

seine Labore für lebensrettende

Coronatests geöffnet. Unter anderem an den

Flughäfen Frankfurt (Main), Hamburg und

Düsseldorf wurden moderne begehbare Testzentren

eingerichtet, in denen sich Passagiere

kurzfristig untersuchen lassen können.


24

WIRTSCHAFT+MARKT

30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

PREISTRÄGER AUS SACHSEN: GK SOFTWARE SE

Europäischer Marktführer für

Softwaresysteme für Großhändler

DDie GK Software SE hatte ihre Anfänge im

August 1990, wenige Monate nach dem

Mauerfall und vor der deutschen Einheit: ohne

Förderung oder Venture Capital, nur mit der

Vision von Rainer Gläß, „eine der besten Softwares

der Welt zu entwickeln“. Zwei Rechner,

ein Ziel und unglaublich viel Energie. Start als

Zwei-Mann-Firma in einer Zwei-Raum-Wohnung

in Schöneck, zwar keine Garage wie bei

Hewlett-Packard, aber die Gründer Gläß und

Kronmüller (GK) lernten sich beim Bau einer

Garage kennen. Aus dem Nichts und aus eigener

Kraft entstand ein Global Player mit über

1.200 Mitarbeitern aus 20 Nationen und über

100 Millionen Euro Jahresumsatz am Standort

im Vogtland. Die GK Software SE ist an der

Frankfurter Börse im MDAX des Prime-Standards

für mittelgroße Unternehmen als

einziges Unternehmen aus Ostdeutschland

notiert. GK ist Sachsens größtes

Softwareunternehmen mit Sitz der

Konzernzentrale im Freistaat.

Die Firma hat mit einem einfachen Abrechnungsprogramm

für Händler begonnen

und ist heute europäischer Marktführer für

Softwaresysteme für Großhändler (Omni-

Channel Store-Solutions). Die Software

von GK verbindet alle Abrechnungssysteme

der Kassen in Läden (zum Beispiel alle rund

12.000 Kassen von Netto in Deutschland),

mit dem Online-Shop und mit den mobilen

Geräten. Die Daten sind verbunden mit der

Lagerhaltung, sodass jeder Ausgang an der

Kasse zur automatischen Nachbestellung im

Lager führt. Die Software bietet elektronische

Waagen und digitale Preisschilder an den Regalen,

auf künstlicher Intelligenz basierte und

mehrfach am Tag wechselnde Preisanpassungen

sowie eine Kasse als Computer mit

fast zeitechtem Druck des Kassenbons. Mit

den Preisanpassungen wird beispielsweise

der Abverkauf von Frischwaren wie Erdbeeren

automatisiert gesteuert, damit das Lager geleert

und weniger Lebensmittel weggeworfen

werden müssen.

Die Software wird im Lizenz-Modell oder als

Mietmodell aus der Cloud angeboten. Bei allen

aktuellen Themen der Digitalisierung ist GK

vorn dabei: Handel 4.0, künstliche Intelligenz/

Machine Learning, Big Data, Virtual Reality,

Blockchain, Cloud und mehr.

Wer zum Beispiel bei Aldi, Lidl, Edeka,

Douglas, Dehner, Fressnapf, Hornbach,

Kärcher, Thalia, WMF, Coop und Migros in der

Schweiz oder Woolworth in den USA seinen

Einkauf bezahlt, tut dies an hochmodernen

digitalen Kassensystemen, die in der Zentrale

in Schöneck entwickelt wurden und betreut

werden. Zwölf der weltweit 50 größten

Einzelhändler sind Kunden der GK, insgesamt

235 Handelsunternehmen als Kunden,

304.000 Installationen in über 60 Ländern,

13 Firmenstandorte in sieben Ländern. Der

Ritterschlag: die Aufnahme der GK-Produkte

in den SAP-Produktkatalog. Die SAP-Software

für Händler heißt „SAP Retail by GK“ und

kommt aus Sachsen.

OWF-Preisträger Rainer

Gläß (2.v.r.) mit Jurychef

Matthias Platzeck,

Sachsens Wirtschaftsminister

Martin Dulig

und OWF-Veranstalter

Frank Nehring (v.l.)


WIRTSCHAFT+MARKT 25

PREISTRÄGER AUS BRANDENBURG: SIK-HOLZGESTALTUNGS GMBH

Einzigartige Kinderspielplatzgeräte

aus dem Holz der Robinie

Fotos: W+M/Ralf Succo

Die SIK-Holzgestaltungs GmbH gestaltet individuelle

Kinderspielplatzgeräte aus kreativen

Ideen und Robinienholz. Am 1. Mai 1988 gründeten

Claudia und Klaus-Peter Gust die Firma

SIK-Holz für künstlerische Holzgestaltungen.

Nach der Wende konzentrierte sich das inhabergeführte

Unternehmen ausschließlich auf

die Gestaltung von Kinderspielplatzgeräten.

„Die Krummschaftigkeit des Holzes, der Maserwuchs

und die besonderen physikalischen

Eigenschaften der Robinie machten das Holz

besonders interessant für die Gestaltung unserer

Kinderspielplatzgeräte ohne chemischen

Holzschutz und ohne Langeweile“, erläutert

Klaus-Peter Gust.

Bedingt durch einen überzeugenden Service,

eine hohe Produktqualität, das kreative Design,

die hohen Sicherheitsstandards und nicht

zuletzt durch gutes Marketing wurde SIK-Holz

zu einer weltweiten Leitmarke der Spielplatzgerätegestaltung.

Heute arbeiten in der Langenlipsdorfer

Spielplatzmanufaktur 230 Mitarbeiter. Das

Unternehmen ist ein erfolgreicher Ausbildungsbetrieb

für Produktdesigner, Kaufleute,

Holzbildhauer und Tischler. Im Durchschnitt

werden jährlich 20 bis 25 junge Menschen

von den Ausbildern betreut. Absolventen der

Ausbildungsabteilungen gewannen bereits

mehrfach Auszeichnungen.

Die Werkstattbereiche SIK-Holzgestaltungs

GmbH erstrecken sich über eine Fläche von

fast sechs Hektar. Um der wachsenden

Nachfrage der nationalen und internationalen

Kunden gerecht zu werden, wurde im

Oktober 2018 die BauArt-Playgrounds GmbH

in Welzow/Spree-Neiße-Kreis gegründet.

Dort arbeiten derzeit zwölf Mitarbeiter. Das

Unternehmen soll bis 2022 rund 40 Mitarbeiter

beschäftigen.

Das Unternehmen engagiert sich auch für

soziale Projekte. So unterstützte SIK-Holz im

Die Geschäftsführer Marc Oelker (2.v.l.)

und Klaus-Peter Gust (3.v.l.) umrahmt von

Matthias Platzeck (l.), Frank Nehring (2.v.r.)

und Jörg Steinbach (r.).

Ein von der SIK-Holzgestaltungs GmbH

errichteter Spielplatz im japanischen Anjo.

Jahr 2000 Jugendliche aus Ost- und Westdeutschland

dabei, einen Kinderspielplatz im

südafrikanischen Soweto aufzubauen. Diesem

ersten „Regenbogenprojekt“ folgten bis

heute elf weitere Projekte. Der Regenbogen

steht für einen symbolischen Brückenschlag

zwischen Arm und Reich, Nord und Süd,

Schwarz und Weiß.


26

WIRTSCHAFT+MARKT

30

JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

PREISTRÄGER AUS THÜRINGEN: VACOM VAKUUM KOMPONENTEN & MESSTECHNIK GMBH

Familiengeführter Vakuumspezialist

mit eigenem Forschungszentrum

Die VACOM Vakuum Komponenten &

Messtechnik GmbH wurde 1992 in Jena

gegründet und ist, mit zentralem Firmensitz

in Großlöbichau bei Jena und etwa 350 Mitarbeitern,

heute weltweit aktiv. Mit ihrer Leitmarke

Precision & Purity hat sich VACOM auf

die Entwicklung, Fertigung und den Vertrieb

von Vakuumkomponenten und Vakuummesstechnik

für höchste Anforderungen in

Industrie und Wissenschaft spezialisiert und

gehört damit zu den führenden europäischen

Anbietern für Vakuumtechnik. Kernkompe-

tenzen sind die Vakuummechanik, elektrische

und optische Durchführungen, die Vakuummesstechnik

sowie die Vakuumoptik mit entsprechenden

Alleinstellungsmerkmalen. Zu

den letzten Eigenentwicklungen gehören die

AluVac-Vakuumkomponenten und -kammern

aus Aluminium für ideale Vakuumbedingungen

sowie das multifunktionale Vakuummessgerät

NOVION. Dazu kommen innovative

Technologien für spezielle Anforderungen

an die für Anwendungen vom Hochvakuum

bis zum extremen Ultrahochvakuum erforderliche

Reinheit und Partikelfreiheit der

Produkte sowie den Nachweis durch Sauberkeitsmessungen.

VACOM hat die Sauberkeit

von Bauteilen messbar gemacht, Standards

für Vakuum- und Reinheitsklassen entwickelt

und die FiT-Richtlinie für filmische Verunreinigungen

mit erarbeitet. Zu den Kunden zählen

Unternehmen aus Hightech-Bereichen

wie Analytik, Halbleitertechnik, Elektronik,

Optik, Solar- und Beschleunigertechnik sowie

Luft- und Raumfahrt.

Als eigentümergeführtes Familienunternehmen

ist VACOM auf kontinuierliche Innovation

und Nachhaltigkeit ausgerichtet. So verfügt

das Produktions- und Technologiezentrum,

das 2011 gebaut wurde, über modernste

Maschinen und Anlagen und besitzt ein

eigenes Forschungs- und Entwicklungszentrum.

Dort arbeiten über 30 Wissenschaftler,

Ingenieure und hoch qualifizierte Techniker

als Spezialisten verschiedener Nationalitäten

zusammen. Im August 2019 wurde eine

neue Hightech-Fertigungshalle eingeweiht,

in der moderne Produktions- und Lagertechnik

im Sinne der Industrie 4.0 eine „smarte“

Fertigung realisieren. Eine weitere Besonderheit

sind die zusätzlichen 65 in Kübeln

gepflanzten Bäumen und 45 Hängepflanzen,

die den neuen Fertigungsbereich als grünes

Refugium präsentieren und für ein gutes

Klima sorgen.

Die mehr als 350 Mitarbeiter sind der Motor

des Unternehmens, das seit 1993 Nachwuchskräfte

ausbildet. Seit Gründung der

Firma haben rund 150 Azubis ihre Ausbildung

bei VACOM abgeschlossen – ein großer

Teil davon gehört heute den verschiedenen

Teams, teils als Abteilungsleiter, an. Zurzeit

werden über 30 Jugendliche in zwölf

kaufmännischen und technischen Berufen

ausgebildet. VACOM setzt sich in der Region

für die Förderung des wissenschaftlich-technischen

Nachwuchses (MINT) ein: Bereits seit

1996 ist VACOM ein Hauptsponsor der Mathematikolympiade

in Jena und unterstützt

auch die artverwandte Physikolym piade.

Studierende der Ernst- Abbe-Hochschule

und der Friedrich- Schiller-Universität in Jena

werden durch die Betreuung von Praktika und

Abschlussarbeiten gefördert.

Stolze OWF-Preisträger vor der

heimischen Produktionshalle in

Großlöbichau: die Geschäftsführer

Dr. Ute Bergner und Jens Bergner.

Foto: VACOM Vakuum Komponenten & Messtechnik GmbH


Wir vernetzen Strom,

Wärme und Verkehr.

enviaM-Gruppe treibt die Digitalisierung der Energiewende voran.

Die Energiewende ist maßgeblich für die Erreichung der Klimaschutzziele. In der Energiewelt von morgen wachsen

Strom, Wärme und Verkehr immer enger zusammen. Unter #enviaM2030 arbeitet auch die enviaM-Gruppe an der

Zukunft. Wir entwickeln mit Partnern aus der Region die erforderlichen Lösungen. Die Digitalisierung ist dabei unser

Treiber. Über all dem steht die Vision, das „Internet der Energie“ zu gestalten. Daran arbeiten täglich rund 3.300

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie füllen die Vision mit Leben – innovativ, partnerschaftlich und ökologisch.

Damit sorgen wir auch in Zukunft für eine sichere und nachhaltige Energieversorgung in Ostdeutschland.

Mehr über unsere wegweisenden

aktuellen Projekte erfahren Sie unter:

www.enviaM-Gruppe2030.de


28

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

EEs heißt, die Coronakrise sei die größte Herausforderung

für Deutschland seit dem Ende des

Zweiten Weltkriegs. Für die vorwiegend kleinteilige

und mittelständisch geprägte Wirtschaft

in den fünf neuen Ländern und Berlin ist sie in

jedem Fall die schwerste Belastungsprobe seit

1990, als die bis dato vorhandene Wirtschaftsstruktur

in Folge der deutschen Einheit nahezu

komplett zusammenbrach.

Birgt die im März 2020 begonnene aktuelle Krise

die Gefahr, dass der noch junge Mittelstand zwischen

Rügen und Erzgebirge ernsthaften Schaden

nimmt? Oder ist diese Krise möglicherwiese

sogar eine Chance für den Osten, den seit drei

Jahrzehnten beklagten Rückstand gegenüber

den alten Bundesländern schneller als erhofft

wettzumachen und auf manchen Feldern gar

einen technologischen Vorsprung zu gewinnen?

Unsere Titelgeschichte greift vielfältige Aspekte

dieser Fragestellungen auf. Wissenschaftler,

führende Politiker – unter anderen Bundeskanzlerin

Angela Merkel und die sechs ostdeutschen

Regierungschefs – Wirtschaftsförderer und

Unternehmer kommen zu Wort.

Foto: XXX


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 29

OSTDEUTSCHLAND

UND DIE MACHT DER

KRISE

ANALYSE VON PROF. DR. JOACHIM RAGNITZ,

MANAGING DIRECTOR DES IFO-INSTITUTS DRESDEN

Foto: XXX

Die aktuelle Coronakrise hat die ostdeutsche

Wirtschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Aktuellen Prognosen zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt

in diesem Jahr um rund sechs

Prozent zurückgehen. Nach Befragungen

des ifo-Instituts rechnen die Unternehmen

im Osten in ihrer Gesamtheit damit, dass es

rund elf Monate dauern wird, bis sich ihre

Geschäftslage wieder normalisiert haben wird;

17 Prozent der ostdeutschen Unternehmen

nehmen die Coronakrise als ernsthafte Bedrohung

ihrer Existenz wahr. Es wird deshalb

Unternehmenspleiten geben – die bislang

nur deswegen nicht eingetreten sind, weil die

Insolvenzantragspflicht ausgesetzt wurde.

Für den Herbst ist insoweit eine Welle von

Unternehmensschließungen zu befürchten,

der wohl nicht nur ertragsschwache, sondern

auch im Kern gesunde Unternehmen zum

Opfer fallen werden. Die damit verbundenen

Forderungsausfälle werden wiederum auch

Banken in Mitleidenschaft ziehen. Zudem ist

mit Arbeitsplatzverlusten und Einkommenseinbußen

für die Betroffenen zu rechnen.

Selbst wenn es gelingt, einen zweiten

umfassenden Lockdown zu verhindern, wird

die Wirtschaft wohl erst Ende 2021 wieder ihr

Vorkrisenniveau erreichen; manche Branchen

(und Regionen) dürften aber noch längere Zeit

die Krisenfolgen spüren. Die ohnehin schon

labile Wirtschaftsentwicklung in weiten Teilen

Ostdeutschlands – die ja zusätzlich auch die

Folgen der Alterung und den strukturellen

Umbruch insbesondere im Automobilsektor

zu verkraften hat – wird dadurch zusätzlich

belastet.

Natürlich kann man eine Krise wie die derzeitige

auch als Chance betrachten, da sie

in gewisser Weise eine „Produktivitätspeitsche“

darstellt: Aus dem Markt ausscheiden

werden als erstes jene Unternehmen, deren

Geschäftsmodell ohnehin kritisch gesehen

werden musste und die deswegen nur geringe

finanzielle Reserven haben aufbauen können;

darüber hinaus auch solche, deren Inhaber

(zum Beispiel aus Altersgründen) ohnehin

schon über eine Schließung nachdachten. Nach

dieser Sichtweise verbleiben die stärkeren

Unternehmen, also jene mit höherer Produktivität,

besserer Anpassungsfähigkeit

und allgemein guten Zukunftsperspektiven,

und dies könnte dafür sorgen, dass ganz

Deutschland und damit auch Ostdeutschland

gestärkt aus der Krise herauskommen würde.

Vielleicht wird es auch nicht so schlimm, denn

auch wenn Unternehmen schließen müssen,

werden diese dort, wo ein lukrativer Markt

besteht, auch wieder ersetzt werden: Hotels

oder Gastronomiebetriebe in attraktiven

Regionen werden mittel- bis langfristig auch

wieder gute Geschäfte machen können, und

Neugründer werden typischerweise auch mit


30 WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

neuen Ideen und innovativen Konzepten antreten

und damit die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft

in der Breite stärken. Alle Erfahrung lehrt jedoch

auch, dass der Wiederaufbau gemeinhin länger

dauert als die Zerstörung funktionsfähiger Strukturen.

Die Rückkehr auf einen neuen Wachstumspfad

wird deshalb wohl nicht kurzfristig gelingen – und

auf dem Weg dahin wird es jede Menge Opfer geben.

Schön ist das alles nicht.

Niemand kann heute seriös sagen, wie sich die

Entwicklung nach Überwindung der Coronapandemie

darstellen wird, und auch die Politik ist nicht zu beneiden,

denn sie wird noch auf absehbare Zeit „auf Sicht“ fahren

müssen: Gesundheitspolitische Risiken müssen gegenüber

negativen wirtschaftlichen Konsequenzen abgewogen

werden, und keineswegs ist es so, dass die Vermeidung

von Infektionsfällen unbedingten Vorrang vor den Folgen

eines neuerlichen Herunterfahrens wirtschaftlicher Aktivität

haben kann. Dies spricht insbesondere für lokal angepasste

Maßnahmen, wenn sich neue Corona-Infektionsherde herausbilden,

und gegen flächendeckende Restriktionen, wie sie

im Frühjahr ergriffen wurden. Die Politik muss zudem auch die

längerfristige Entwicklung im Blick behalten – und die Herausforderungen,

die mit all den Megatrends verbunden sind, die

schon vor der aktuellen Krise angelegt waren und danach wohl

auch wieder voll durchschlagen werden: Klimawandel, Fachkräftemangel,

Digitalisierung, Globalisierung, um nur die Wichtigsten zu

nennen. Letzten Endes ist es aber ohnehin Aufgabe der Unternehmen

und der Gesellschaft, nicht des Staates, sich auf die genannten

Megatrends einzustellen.

Der Staat hat umfangreiche Hilfsprogramme auf den Weg gebracht,

um Unternehmenszusammenbrüche und Entlassungen zu vermeiden.

Sinnvoll waren auf jeden Fall die umfassenden Kurzarbeiterregelungen

(auch wenn sowohl die bereits beschlossene Aufstockung der Höhe des

Kurzarbeitergeldes wie auch die jetzt diskutierte Verlängerung lediglich

sozialpolitisch motiviert sind) und die Liquiditätshilfen von Bund und

Ländern. Letztere waren aber viel zu knapp bemessen: Besser wäre es

wohl gewesen, hätte die Politik die letzten Endes von ihr mitverursachten

Schäden umfassend ausgeglichen (sei es über großzügige steuerliche

Verlustrückträge oder direkte Transfers). Für das Problem, dass davon

auch ohnehin kränkelnde Unternehmen profitieren, hätten sich Lösungen

finden lassen. In ihrer Gesamtheit waren die beschlossenen Hilfen aber vor

allem eines, nämlich teuer, weil „für jeden etwas dabei“ sein sollte (wie es

der Bundesfinanzminister formulierte); die Wirkungen vieler der getroffenen

Maßnahmen dürften jedoch beschränkt bleiben: Nachfragestützende Maßnahmen

wie die temporäre Umsatzsteuerermäßigung oder der Kinderbonus

Illustration: freepik.com


Mit dem Herzen dabei.

Foto: ifo-institut

dürften ins Leere laufen, wenn die Konsumenten

angesichts unsicherer Einkommensperspektiven

ohnehin keine größeren

Anschaffungen planen; Kredithilfen sind

nicht hilfreich, wenn der Fortbestand eines

Unternehmens infrage steht; die zwischenzeitlich

beschlossenen Überbrückungshilfen

haben Anspruchsvoraussetzungen,

die eine Vielzahl von betroffenen Unternehmen

eben nicht wird erfüllen können.

Viele Maßnahmen waren zudem wenig

zielgenau, weil davon auch solche Unternehmen

profitierten, die von den Nachfrageausfällen

überhaupt nicht betroffen

waren. Es war auch nicht besonders klug,

die coronabedingten Hilfsprogramme mit

dem Anspruch zu verknüpfen, gleichzeitig

auch eine „Transformation“ der Wirtschaft

in Gang zu setzen. Letzten Endes tragen all

die Investitionsprogramme im sogenannten

„Zukunftspaket“ der Bundesregierung

nicht dazu bei, die aktuelle konjunkturelle

Schwächephase zu überwinden; vielmehr

sollte hier wohl die Gunst der Stunde

genutzt werden, mittelfristig ohnehin

geplante Maßnahmen, deren Finanzierung

aktuell nicht möglich schien, unter dem

Deckmantel der Krisenbewältigung über

die Aufnahme von Schulden zu finanzieren

Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist

Managing Director des ifo-Instituts Dresden.

und damit vorzuziehen. All die Schulden, die

jetzt neu gemacht werden, wird man auch

wieder zurückzahlen müssen (wobei vieles

dafür spricht, die Rückzahlung zeitlich zu

strecken), und es ist absehbar, dass die

Handlungsspielräume des Staates dadurch

für längere Zeit eingeschränkt werden.

Wichtig ist es deshalb, notwendige Einsparungen

nicht gerade dort vorzunehmen, wo

es mangels langfristiger Mittelbindungen

zwar einfach, aber aus wachstumspolitischen

Gründen besonders problematisch

wäre (also vor allem bei Bildung und

Forschung). Und man wird auch darüber

nachdenken müssen, ob es einen „Solidarbeitrag“

all jener Bevölkerungsgruppen

braucht, die von der Pandemie überhaupt

nicht betroffen waren – zum Beispiel durch

Umwidmung des Solidaritätszuschlags, der

für den Aufbau Ost ja eigentlich nicht mehr

erforderlich ist.

Die aktuelle Krise hat zwar gezeigt, dass

die Menschen zusammenrücken und sich

gemeinsam den Herausforderungen stellen

können, wenn diese nur außergewöhnlich

genug sind und eine ernst zu nehmende

Krisenkommunikation erfolgt. Aber gerade

in Ostdeutschland scheint der Zusammenhalt

auch schon wieder zu bröckeln;

diejenigen, die sich ohnehin als Verlierer im

Transformationsprozess der letzten Jahre

sehen, gewinnen wieder an Oberwasser.

Das Risiko einer weiteren und dauerhaften

Spaltung der Gesellschaft wird sich nicht

durch forsche Sprüche, durch „Framing“

oder beharrliches Ausgrenzen abweichender

Meinungen vermeiden lassen. Hier liegt

eine Gefahr, die vielleicht ebenso groß ist

wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen

der Coronapandemie: dass damit

Menschen (und Wähler) verloren gehen,

deren Mitarbeit am weiteren Gelingen des

wirtschaftlichen Aufholprozesses in Ostdeutschland

dringend erforderlich ist. Die

Politik wäre gut beraten, auch diese Gefahr

im Auge zu behalten.

Unser

Lebkuchen des

Jahres 2020:

ELISE PFLAUME-ZIMT

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Sie ergänzen sich perfekt: Die zarte

Süße der Pflaume und das von Natur

aus feine wie auch unverkennbare

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32

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

NICHT WIEDER NORMAL!

Unser Wirtschaftssystem ist überhitzt

und ausbeuterisch. Wir müssen

den Neustart nach Corona nutzen, um

das zu ändern.

VON ANNA HERRHAUSEN

MMonate ohne viele Kontakte – was sehen wir,

wenn wir diese Zeit zum Hinschauen nutzen?

Wir sehen die Natur ausgebeutet, Luft, Böden

und Wasser verschmutzt, die Artenvielfalt

schwindend. Wir sehen die Schere zwischen

Arm und Reich. Wir sehen das Erfinden und

Hochstilisieren von kultureller Identität. Wir

sehen international verflochtene Lieferketten,

die Kosten reduzieren und Lagerhaltung

minimieren sollen. Wir sehen unsere

Abhängigkeit von Bestätigung von außen, sei

es über die Statussymbole des Konsums, die

Likes, die Follower.

Sieht es nicht bizarr aus?

Viele haben nun den Reflex, schnell zum

Zustand vor dem Schock zurückkehren zu

wollen. Aber: Was für eine Chance ließen wir

damit verstreichen!

Spätestens seit der Club of Rome 1972 die

Studie „Die Grenzen des Wachstums“ ver-

öffentlichte, wissen wir, dass unser Wirtschaftssystem

nicht nachhaltig ist: linear statt

zirkulär, überhitzt, ausbeuterisch. Jahr für

Jahr bekommen wir vor Augen geführt, dass

wir die Menschheit noch nicht von der „Geißel

des Krieges“ befreit haben – auch wenn sich

bereits 1945 die Regierungen der Gründungsstaaten

der Vereinten Nationen genau dazu

bekannt haben.

Die großen Hoffnungen, die wir in Wissenschaft

und Wirtschaft gesteckt haben, haben

sich bisher nicht bestätigt – nämlich, dass wir

uns, erstens, aus dem Nachhaltigkeitsdilemma

„heraus-erfinden“ können und, zweitens,

dass wir uns aus dem Konfliktdilemma

„ heraus-handeln“ können.

Wenn man der Krise etwas Gutes abgewinnen

kann, ist es dies: Sie stellt die Unvermeidbarkeit

mancher Entwicklung infrage.

Sie widerlegt Glaubenssätze, die wir oft

genug vorgeschoben haben, um uns der

Verantwortung zu entziehen: „Das ist die

Globalisierung, die Digitalisierung, der Markt!“

Dabei sind Kurs und Geschwindigkeit nicht

vorgezeichnet, sogar angebliche Megatrends

sind umkehrbar.

Nun gibt uns der Stillstand die Chance, den

Neustart bewusst zu gestalten. Dazu müssen

wir verstehen, was unser System antreibt.

Was sind die Prämissen? Was wollen wir behalten,

was loslassen, was anders gewichten?

Wir glauben an die Würde des Menschen und

damit an sein Recht auf Selbstverwirklichung.

Mit diesem Recht gehen individuelle und

kollektive Verantwortung für die Allgemeinheit

und die Allgemeingüter einher.

Jetzt gilt es, eine Einsicht neu zu beleben: Niemand

ist eine Insel. Wir alle sind verbunden auf

diesem Planeten – über Grenzen, Generationen

und Wahlperioden hinweg. Und so dürfen

wir nun die Balance justieren zugunsten der

Natur, zugunsten derer, die Hilfe suchen, zugunsten

junger und noch kommender Generationen.

Für sie müssen wir den Schlagwörtern

Nachhaltigkeit, Diversität und Menschlichkeit

endlich Substanz verleihen.

Das Heute darf nicht weiter zulasten des

Morgen gehen. Die Konjunkturpakete, die

jetzt geschnürt werden, sollen die Gesundheit

unserer Gesellschaft und unserer Volkswirtschaft

unterstützen: Wir müssen unser

Bildungssystem aufwerten, die Grundlagenforschung

stärker fördern, die physische und

digitale Infrastruktur ausbauen und sichtbar

machen, wie wertvoll Arbeit ist.

Externe Effekte des Wirtschaftens – wenn

Industrien etwa Unmengen sauberen

Grafiken: unitonevector/freepik.com, Econceptive/ Shmidt Sergey/joe pictos/Ben Davis/Icongeek26/ thenounproject.com


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 33

Wassers verbrauchen – sollen sich im Preis

der Produkte widerspiegeln. An die Stelle von

linearer Wertschöpfung darf die Kreislaufwirtschaft

treten. Auch wenn die Digitalisierung

unser Leben immer stärker prägt – und

Algorithmen für Menschen Entscheidungen

treffen könnten –, der Mensch steht selbst

in der Verantwortung. Kurzum: Künstliche

Intelligenz darf nicht hinwegtäuschen über

menschliche Ignoranz.

Wenn wir auf die vergangenen Wochen blicken,

stellen wir fest, wie anpassungsfähig wir

Menschen sind. Wie ähnlich wir uns doch alle

sind. Wir können auf vieles verzichten, nicht

aber auf die Verbindung miteinander und nicht

auf die Natur. Mit diesem Selbst-bewusst-Sein

sollten wir aus der Krise hervorgehen. Und den

Neustart bewusst gestalten.

Mit freundlicher Genehmigung der überregionalen

Wochenzeitung DIE ZEIT. Dort erschien dieser Beitrag

am 9. Juli 2020.

Anna Herrhausen ist seit

2016 Geschäftsführerin der

Alfred Herrhausen Gesellschaft.

Nach Stationen als

Unternehmensberaterin bei

McKinsey und im Corporate-

Responsibility- Bereich der

Allianz-Gruppe wechselte sie 2014 in

den Bereich Kommunikation und Soziale

Verantwortung der Deutschen Bank. Ende 2016 übernahm sie die

Leitung der Alfred Herrhausen Gesellschaft. Als akademischen

Hintergrund bringt sie einen Bachelor in Philosophie, Politik- und

Wirtschaftswissenschaften der Oxford University, einen Master

in International Affairs der Columbia University sowie die Promotion

an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Internationale

Beziehungen mit. Anna Herrhausen ist Mitglied im European

Council on Foreign Relations (ECFR) und im Kuratorium der Hertie

School of Governance.

Foto: XXX

50Hertz ist der Übertragungsnetzbetreiber im Norden und Osten Deutschlands

und sichert in diesen Regionen die Stromversorgung von 18 Millionen Menschen.

Wir setzen uns dafür ein, dass 100 Prozent des Stromverbrauchs in unserem Netzgebiet

schon 2032 aus Erneuerbaren Energien gedeckt werden können. 2019

waren es 60 Prozent. Damit setzen wir ein klimapolitisches Zeichen und ein Signal

für eine starke Wirtschaft mit Zukunft.

50hertz.com

© Adobe Stock / ens Ottoson


34

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

DIGITAL-

REFORMER

FÜR SCHULEN:

CORONA

COVID-19 steht nicht im Verdacht, positive Seiten zu

haben. Doch die Not hat geholfen, die digitale Transformation

unseres Landes voranzubringen, nicht als einen

überflüssigen Luxus zu begreifen, sondern als Grundlage

für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.

Und natürlich muss das in der Schule beginnen. Lange

hat die föderale Verfassung die Digitalisierung in den

Schulen verhindert. Unterschiedliche Interessenkonflikte

auf staatlichen Ebenen haben zu einem konzeptlosen

Aktionismus geführt, dessen Schwächen während der

Schulschließungen sichtbar wurden. Dabei ist die Digitalisierung

in der Schule kein Selbstzweck. Schüler brauchen

digitale Fertigkeiten, um mündige Bürger in der modernen

digitalen Welt zu werden und erfolgreich Wirtschaft und

Gesellschaft unseres Landes gestalten zu können. Doch

warum tun wir uns in Deutschland so schwer mit der

Digitalisierung?

VON PROF. DR. CHRISTOPH MEINEL

Grafik: pch.vector/freepik.com, Fotos: Kay Herschelmann, Lutz Hannemann


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 35

EExemplarisch können wir als Hasso-Plattner-Institut

(HPI) über das Thema Bildung berichten.

Hier beobachten wir seit über fünf Jahren,

wie Interessenkonflikte die Zielerreichung

verhindern, nämlich bestmögliche Bildung. In

Politikerreden zur Bildungspolitik war schon

vor 15 Jahren die Rede von Digitalisierung. Es

wurden Pilotprojekte durchgeführt, jedoch

ohne nachhaltigen Erfolg. Erst der DigitalPakt

Schule der Bundesregierung hat in einem nationalen

Kraftakt eine stabile Finanzierungsgrundlage

geschaffen. Das HPI wurde damals

von der Bundesregierung gebeten, eine datenschutzkonforme

digitale Lernumgebung, die

Das Hasso-Plattner-Institut überzeugt

mit einer modernen Architektur.

HPI-Schul-Cloud, zu schaffen. Doch anstatt

dieses Angebot einer einheitlichen digitalen Infrastruktur

für deutsche Schulen anzunehmen,

haben sich viele Länder auf den Weg gemacht,

eigene Lernsysteme zu entwickeln, nicht verstehend,

dass digitale Infrastrukturen nur mit

sehr vielen Nutzern effizient betrieben werden

können. Dass eine gemeinsame Infrastruktur

die Lehrmittelfreiheit gar nicht beschränken

würde, schließlich kann ja jedes Bundesland

auf einer einheitlichen Infrastruktur seine

eigenen Inhalte bereitstellen, wurde in den

Zuständigkeitsdiskussionen erstickt. So waren

die meisten Schulen schlicht nicht vorbereitet,

auf die Schulschließungen im März dieses

Jahres zu reagieren. Unkoordiniert wurden für

jedes Unterrichtsfach andere Programme installiert,

bei entsprechendem Einsatz aufseiten

der Eltern und der Lehrer manchmal sogar mit

überraschendem Erfolg.

Immerhin hier hat die Coronakrise nun

Deutschland den sprichwörtlichen Ruck gegeben.

Als die Schüler erzwungenermaßen zu

Hause saßen, ist wieder das Ausbildungsziel

Das Hasso-Plattner-Institut

aus der Vogelperspektive.

der Schulen in den Fokus getreten: Schülerinnen

und Schüler auf ihre Zukunft vorzubereiten.

Auf eine Zukunft, in der sie digitale

Kompetenzen brauchen, um sich in einer

von den digitalen Technologien immer mehr

getriebenen Welt souverän bewegen und ihr

eigenes Leben auch wirtschaftlich erfolgreich

gestalten zu können. Durch Lernplattformen

wie die HPI-Schul-Cloud können Schüler

digitale Kompetenzen erwerben, gemeinsam

an Projekten und in sozialen Netzwerken

arbeiten, wie sie es später auch im Beruf und

ihrem Sozialleben tun müssen. Sie können entdecken,

wo digitales Arbeiten Vorteile hat, wie

Immer sicher warm.

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kommen die Energiekosten, die vom individuellen Verbrauch abhängig sind. Die Details sind den Vertragsbedingungen zu entnehmen. 2) Das tatsächliche

Einsparpotential richtet sich nach den individuellen Gegebenheiten.


36

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

man Informationen recherchiert, bewertet,

aufbereitet, und sie können die Gesetze der

digitalen Welt erforschen, um mündige Bürger

dieser Welt zu werden.

Auch die letzten Digital-Verweigerer haben

durch die Krise erkannt, dass Digitalisierung

eine sehr wertvolle Ergänzung der analogen

Welt sein kann und es richtig ist, diese

in den Bildungsprozess mit einzubeziehen.

Schüler müssen die digitale Welt genau wie

die analoge verstehen lernen. Die Digitalisierung

hat eine Welt mit eigenen Gesetzen

erschaffen. Ständig anfallende Daten haben

einen erheblichen Wert, Wachstum geschieht

exponentiell, Wertschöpfung basiert auf mehr

als guter Hardware. Das Teilen von Informationen

ist kein Problem mehr. Vielmehr geht es

um die Frage, wie man das Teilen kontrollieren

kann und was man mit dem vielen verfügbaren

Wissen schaffen kann.

Ein weiterer Grund, warum Schüler ein Anrecht

auf Digitalisierung in der Bildung haben, ist

die Frage nach ihrem künftigen Wohlstand.

Selbst ohne die Coronakrise und ihre Kosten

in Billionenhöhe ist jeder Bundesbürger durch

die aktuelle Staatsverschuldung bereits mit

25.000 Euro Schulden belastet. Die Antwort

wird nicht Sparsamkeit allein sein können.

Vielmehr müssen Schüler auf die Wertschöpfung

in der digitalen Welt vorbereitet werden,

damit die global agierenden Unternehmen

der Zukunft auch in Deutschland wieder zu

Hause sind. Wir haben als alterndes Land gar

keine andere Wahl, als unseren Kindern in allen

Bereichen die bestmögliche Bildung zukommen

zu lassen. Dabei geht es insbesondere um

die Möglichkeit, die digitalen Lernprogramme

im Schulunterricht nutzen zu können. Dazu

braucht es eine sichere digitale Plattform,

von der aus diese Medien und Programme der

unterschiedlichsten Anbieter datenschutzkonform

genutzt werden können. Aus Gründen

der digitalen Souveränität in diesem zentralen

Bereich staatlichen Handelns muss eine solche

Plattform ein Open-Source-System sein.

Durch den von jedem einsehbaren Quelltext

wird sichergestellt, dass man niemals von

einem einzelnen Anbieter abhängig wird. So

entsteht mehr Vielfalt unter den Anbietern von

Lernprogrammen und so mehr Auswahl für die

Lehrer und Schüler.

Innenansicht des Potsdamer

Hasso-Plattner-Instituts.

Die Lernprogramme müssen sich weiter die Interaktionen

der Schüler genau merken, um sie

individuell fördern zu können. Diese Bildungsdaten

sind jedoch sensibel, schließlich finden

wir in ihnen die (Lern-)Stärken und (Lern-)

Schwächen des Nutzers. Die HPI-Schul-Cloud

hat es geschafft, Datenschutz zu ermöglichen,

ohne die Leistungskraft der digitalen

Systeme zu behindern: Der Zugang zu den

Lernsystemen erfolgt über eine Pseudonymisierung.

Beim Zugriff eines Schülers auf eine

Lernsoftware im Lernstore wird sein Name

in eine Chiffre XYZ verwandelt. Das Lernprogramm

kennt somit nur den Nutzer XYZ. Den

echten Namen kennen nur seine Lehrer und

Mitschüler in der HPI-Schul-Cloud. Den Lernprogrammen

reicht dies dagegen vollkommen

aus. Die personenbezogenen Daten der

Schüler sind geschützt und die Lernprogramme

können ihre Funktionalität voll entfalten.

Die Bereitstellung eines solchen sicheren

und datenschutzkonformen Raumes ist im

Bildungsbereich ein Muss.

Inzwischen hat die Bundesregierung die Mittel

bereitgestellt, dass alle Schulen die HPI-

Schul-Cloud nutzen können, noch während sie

entwickelt wird. Ohne die Coronakrise wäre es

sicher nicht dazu gekommen. Hoffentlich kann

auf der Basis dieser Erfahrungen das Klein-

Klein im deutschen Bildungssystem dauerhaft

überwunden werden. Brandenburg, Thüringen

und Niedersachsen jedenfalls machen sich auf

einen gemeinsamen Weg bei der Einführung

der HPI-Schul-Cloud. Vielleicht ergreifen auch

noch weitere Länder diese Chance.

Prof. Dr. Christoph Meinel ist seit über 15 Jahren Direktor des Hasso-Plattner-

Institutes (HPI) for Digital Engineering und seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für

Internet-Technologien und Systeme. Meinel ist u. a. Mitglied der acatech, der

Nationalen Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und Gastprofessor

an Universitäten im In- und Ausland. Das in Potsdam ansässige HPI ist das führende

Institut für Digitalisierung in Deutschland.

Grafik: pch.vector/freepik.com, Fotos: HPI/Kay Herschelmann, Dirk Laessig


Wie könnten

Büros 2030

aussehen?

Was wird dann

wichtiger sein

als heute,

was weniger?

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Prof. Dr. Dr. Ruth Stock-Homburg,

Prof. Dr. Wilhelm Bauer,

Prof. Dr. Dieter Lorenz, Prof. Jan Teunen,

Prof. Dr. Volker Nürnberg, Dr. Sandra Breuer,

Dr. Alexandra Hildebrandt, Dr. Christoph Quarch,

Dr. Michael Groß, Raphael Gielgen,

Samir Ayoub, Markus Albers, Fabian Kienbaum,

Anna Kopp, Kay Mantzel, Bernd Fels,

Tobias Kremkau, Christoph Magnussen,

Pia A. Döll, Ulrich Köhler und vielen mehr.

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Ausblicke auf das Büro 2030

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38

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

NEUE OSTDEUTSCHE FÜHRUNGSGENERATION

„THE TIME IS NOW“ –

WENDEKINDER

ÜBERNEHMEN FÜHRUNG

BBefinden wir uns in einer Zäsur? Und haben

ostdeutsch sozialisierte Betrachter*innen

aufgrund ihrer Transformationserfahrung

von 1989 eine besondere Antwort auf den

Umgang mit abrupten Veränderungen wie

jener der Coronapandemie? Für wen es der

erste Stillstand des Gewohnten ist, der mag

besonders überrascht sein und seine Vulnerabilität,

seine Verletzlichkeit spüren. Wer

Krise erlebt hat und kennt, mag einen weniger

großen Überraschungseffekt spüren und

schnell wieder in die Handlung gehen können.

Ostdeutsche Führungskräfte zeigen derzeit

gemeinsam mit deren Mitarbeiter*innen ihren

vitalen Beitrag zur Bewältigung der Coronakrise.

Denn unabhängig davon, ob in den 1950er-,

1960er-, 1970er- oder 1980er-Jahren in der

DDR Geborene – die Macher*innen der ostdeutschen

Transformationsgesellschaft und

deren Kinder, die Wendekinder, vereint eine biografische

Erfahrung des Wandels, welche zu einer

relevanten Kompetenz erwachsen ist: einer

„Transformationskompetenz“ (Lettrari/Nestler/

Porath 2020). Diese beschreibt die Fähigkeit,

Veränderungen mit einer veränderungsfreudigen

Haltung und Change-Instrumenten

bewusst zu managen. Sie findet augenblicklich

Anwendung im generationenübergreifenden

täglichen „Tun“. In dieser Krise, in welcher die

Wendekinder nicht mehr Kinder sind, sondern

in der in Organisationen verantwortungsvolle

Führungsaufgaben übernehmen, findet ein

produktiver Generationendialog statt, welcher

besser hätte nicht eingeleitet werden können.

Junge digitale Kompetenz trifft auf langjährige

analoge Berufserfahrung und wird in Zeiten

von konstantem Wandel gemeinsam neue Antworten

hervorbringen, welche die ostdeutsche

Wirtschaft weiterhin benötigt.

Die Generation der Wendekinder wird in dieser

Zukunft eine bedeutsame Rolle spielen. An der

Hand ihrer Eltern haben sie in jungen Jahren

einen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen

Wandel sui generis erlebt und waren

in hohem Maße sehr bald auch selbstständig

gefordert, sich in der „neuen Welt“ zu behaupten.

Denn der Elitenwechsel in der Elterngeneration

sorgte in jugendlichen Jahren für einen

oftmals hierarchiefreien Raum, welcher konstruktiv

gefüllt werden wollte: Ideen und Aktion

Fotos: scholty1970 /pixabay.com, W+M/Ralf Succo,


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 39

waren gefragt. In den meisten Fällen war ihr

Weg nach dem Schulabschluss verknüpft mit

Abwanderung, und Bildungsaufstieg begleitet

mit einer, manchmal diffusen, heimatlichen

Sehnsucht. Das Ergebnis dieser sehr besonderen

Form des Aufwachsens, in der ein

anderes Land in das eigene kam, mündet

entwicklungspsychologisch betrachtet in einer

„doppelten Sozialisation“ (Lettrari/Nestler/

Troi-Boeck 2016), ähnlich derer von Diplomatenkindern

(„Third Culture Kids“, Pollock 1999):

Sie können sich zwischen verschiedenen

Welten mühelos bewegen.

In jüngster Zeit erfreuen sich Ostdeutschland

und vor allem die Elterngeneration an den

hohen Rückwanderungsraten der Wendekinder.

Sie sind wieder da und „The Time is now“:

Jetzt ist die Zeit gekommen, wo sie anwenden

und zeigen können, was ihre Biografie so

besonders macht. Denn nach Aristoteles heißt

„Krise“ ganz schlicht: „Hier entscheidet sich

etwas. Die Krise ist der Weg entweder zur

Genesung oder in den Untergang, den Tod.“

In diesem Sinne ist „Krise“ ein Begriff, der die

Adriana Lettrari, Gründerin des

Netzwerks 3te Generation Ost.

Zeit unterteilt in ein Davor und ein Danach. Wie

das Danach und damit auch die wirtschaftliche

Zukunft Ostdeutschlands aussehen wird,

darauf kommt es jetzt an. Die ostdeutschen

Führungskräfte mit ihren Nachfolgern, den

Wendekindern, werden sie gemeinsam hervorbringen.

Für die Wendekinder in ihrer Lebensmitte

bedeutet dies in jedem Fall einen inneren

Wechsel vom Zuschauen zur Verantwortungs-

und damit Machtübernahme. Die Zeit dafür ist

jetzt gekommen.

Lesen Sie

den ausführlichen

Beitrag online

LITERATUR

Lettrari, Adriana/Nestler, Christian/

Porath, Jane (2020): Wendekinder

in der Berliner Republik und Europa.

Transformationskompetenz – eine

etymologische, transdisziplinäre

Exploration. In: Benkert, Volker

(Hrsg.): Unsere Mütter, unsere

Väter. Deutsche Generationen seit

1945. Campus Verlag, Frankfurt

am Main/New York.

Lettrari, Adriana/Nestler,

Christian/Troi-Boeck, Nadja

(Hrsg.) (2016): Die Generation

der Wendekinder – Elaboration

eines Forschungsfeldes. Springer

VS-Verlag, Wiesbaden.

Pollock, David C.: (2017): Third

Culture Kids: The Experience of

Growing Up Among Worlds


40

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

„UNSERE LÄNDER

WERDEN GESTÄRKT

AUS DER KRISE

HERVORGEHEN,

WEIL …“

Die Coronapandemie hat auch die neuen Bundesländer und Berlin nicht

verschont. In jedem dieser Länder wurden und werden große Anstrengungen

unternommen, Wege aus der Krise zu finden. Landespolitik und Unternehmen

arbeiten dabei eng zusammen.

WIRTSCHAFT+MARKT bat die Ministerpräsidenten der fünf neuen Länder –

Dr. Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt), Michael Kretschmer (Sachsen), Bodo Ramelow

(Thüringen), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) und

Dr. Dietmar Woidke (Brandenburg) – sowie Berlins Regierenden Bürgermeister

Michael Müller um Erläuterungen, wie sie ihre Länder aus dem Tal der Krise

und in eine hoffnungsfrohe Zukunft führen wollen. Lesen Sie die Namensbeiträge

der sechs Regierungschefs auf den folgenden Seiten.

Foto: XXX


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 41

Bodo Ramelow

(Thüringen, Die LINKE)

Manuela Schwesig

(Mecklenburg-Vorpommern, SPD)

Michael Müller

(Berlin, SPD)

Dr. Reiner Haseloff

(Sachsen-Anhalt, CDU)

Foto: Fotos: XXX Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern (1), Staatskanzlei Freistaat Sachsen (1), W+M (4)

Michael Kretschmer

(Sachsen, CDU)

Dr. Dietmar Woidke

(Brandenburg, SPD)


42

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

„UNSER LAND –

EIN WIRTSCHAFTS­

STANDORT MIT

HOHER TECHNOLOGIE­

KOMPETENZ“

Von Dr. Reiner Haseloff (CDU),

Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt

DDie Coronakrise hat auch in Sachsen-Anhalt

Wirtschaft und Gesellschaft schwer getroffen.

Niemand konnte damit rechnen, dass ein Virus

unseren Alltag auf den Kopf stellen würde. Es

gab keine Alternative dazu, die Priorität auf

den Schutz der Gesundheit zu legen und die

notwendigen Maßnahmen zu treffen. Das

Infektionsgeschehen in den Bundesländern

ist sehr unterschiedlich. Deshalb ist es richtig,

die Einschränkungen den Verhältnissen in den

Regionen anzupassen.

Die beispiellosen Rettungspakete des Bundes

und des Landes haben die Folgen der Coronapandemie

für die Wirtschaft Sachsen-Anhalts

zumindest etwas gedämpft. Allein im Rahmen

der Corona-Soforthilfe sind durch Bund und

Land Zuschüsse von insgesamt 290 Millionen

Euro an rund 37.000 Antragsteller in Sachsen-

Anhalt bewilligt worden. Gemessen an der

Dimension haben wir die Krise bisher gut bewältigt.

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass

wir gestärkt aus ihr hervorgehen werden. Dazu

gehören das stabile Wachstum in den letzten

Jahren und unsere inzwischen breit aufgestellte

Wirtschaft. Zudem sind in Sachsen-Anhalt

Bereiche überproportional vertreten, die

weniger stark von der Krise betroffen sind. Das

betrifft beispielsweise das Baugewerbe und

öffentliche Dienstleister. Die Krise zwingt uns

noch mehr als zuvor, uns auf die wesentlichen

Aufgaben zu konzentrieren. Das betrifft die

Gestaltung des Strukturwandels im Kohlerevier

und die konsequente Fortsetzung der

Forschungs- und Investitionsförderung. Allein

zwischen 2016 und 2019 wurden Unternehmensinvestitionen

mit rund 360 Millionen Euro

bezuschusst. Infrastrukturvorhaben wurden

mit weiteren 235 Millionen Euro unterstützt.

In den vergangenen Jahren sind wichtige

innovative Zentren im Land entstanden.

Sachsen-Anhalt wird immer mehr zu einem

Land der Zukunftstechnologien. Ein herausgehobenes

Beispiel unserer „Zukunftsorte“ ist

der Weinberg Campus in Halle, wo nicht nur

an Zukunftsthemen geforscht wird, sondern

auch neue Unternehmen und hochwertige

Arbeitsplätze entstehen. Ansässige Unternehmen

beschäftigen sich auch mit Projekten

im Zusammenhang mit der Coronapandemie,

beispielsweise in der Wirkstoffforschung, oder

sie sind an der Entwicklung eines Schnelltests

beteiligt. Die BioNTech Delivery Technologies

GmbH ist ein Tochterunternehmen des Mainzer

Impfstoffherstellers BioNTech.

Außerdem arbeiten wir in Sachsen-Anhalt

tatkräftig an der Gestaltung der Mobilitätsund

Energiewende mit. So plant die japanische

Horiba-Gruppe, ihren Standort in Barleben bei

Magdeburg zu einem globalen Kompetenzzen-

Dr. Reiner Haseloff

trum für Brennstoffzellen und Batterien auszubauen.

Zudem wollen wir Mitteldeutschland

zu einer Wasserstoff-Modellregion gestalten.

Nach wie vor gelingt es uns aber auch, in- und

ausländische Großunternehmen für eine Investition

in Sachsen-Anhalt zu gewinnen. So

hat die Progroup GmbH in Sandersdorf-Brehna

die weltweit modernste Papierfabrik

errichtet. In Bitterfeld-Wolfen will der global

führende Batteriehersteller Farasis Energy

eine Batterie-Fabrik bauen. In Leuna wird

eine Bioraffinerie des finnischen UPM-Konzerns

entstehen.

Für die Investoren ist Sachsen-Anhalt nicht

nur wegen seiner Flächenpotenziale und

Fördermöglichkeiten attraktiv. Sie nehmen

unser Land längst als Wirtschaftsstandort

mit hoher Technologiekompetenz wahr. Das

wird flankiert von großer Lebensqualität und

reichen Kulturangeboten.

Foto: XXX W+M


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 43

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Foto: XXX


44

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

„UNSERE

UNTERNEHMER

LASSEN SICH NICHT

UNTERKRIEGEN“

Von Michael Kretschmer (CDU),

Ministerpräsident des Freistaates Sachsen

DDie Coronapandemie hat rund um den Globus

große wirtschaftliche Verwerfungen hervorgerufen.

Auch bei uns sind die Auswirkungen

enorm. Blickt man über die Landesgrenzen

hinaus, ist dennoch klar: Deutschland ist

bislang vergleichsweise gut durch diese Krise

gekommen.

Zu tun hat das mit unserer wirtschaftlichen

Stärke. Mit einer Bevölkerung, die den Ernst

der Lage schnell erkannt hat und sich bis heute

mehrheitlich verantwortungsvoll verhält. Zu

tun hat das sicherlich auch mit einer entschlossenen

und umsichtigen Politik im Bund

und in den Ländern. Verantwortlichen, die auf

Michael Kretschmer

die Wissenschaft hören. Und die, wie wir dies

in Sachsen sehr intensiv tun, immer wieder

den Austausch suchen mit denen, die von den

einschränkenden Maßnahmen betroffen sind.

Wir werden die ökonomischen Auswirkungen

auch in Sachsen noch längere Zeit spüren. Es

gibt dennoch gute Gründe, zuversichtlich zu

bleiben. So hat der Bund ein gewaltiges Konjunkturprogramm

beschlossen, das nicht zuletzt

Unternehmen entlastet und stärkt. Darin

sind viele wichtige und sinnvolle Maßnahmen

enthalten. Richtig ist aber auch, dass es gilt,

Maß zu halten und uns immer bewusst zu sein,

dass der Staat mit solchen Programmen das

Geld der Bürger ausgibt.

Ergänzt wird das Bundesprogramm durch ein

milliardenschweres europäisches Wiederaufbauprogramm,

von dem auch Sachsen

profitiert. Helfen wird uns auch, dass wir

endlich eine solide Rechtsgrundlage und eine

Zukunftsperspektive für unsere Braunkohle-

Regionen haben. Auch hier fließen Milliarden.

Das eröffnet den Regionen einmalige Chancen

für eine neue Gründerzeit.

Optimistisch stimmt mich vor allem, dass

sich die Unternehmerinnen und Unternehmer

bei uns nicht unterkriegen lassen. Dass

sie Mut beweisen und gemeinsam mit ihren

Beschäftigten die Dinge anpacken. Sachsen

unterstützt und flankiert dies. Wir waren das

erste Bundesland mit einem Hilfsprogramm

für die Wirtschaft. Dieses haben wir mittlerweile

ausgeweitet: Mehr als eine Milliarde Euro

stehen für die Sicherung von Unternehmen

und Beschäftigung bereit. Schwerpunkt ist ein

Stabilisierungsfonds mit einem Volumen von

bis zu 400 Millionen Euro. Damit wollen wir

gerade den Mittelstand stärken. Wir greifen

zudem jungen Start-ups unter die Arme, damit

vielversprechende Projekte und Innovationen

trotz Corona gedeihen können.

Wir haben in Sachsen ganz bewusst Vorsorge

getroffen, um die Corona-Folgen abzumildern.

So sorgen wir – gemeinsam mit dem

Bund – auch dafür, dass unsere Kommunen

trotz zu erwartender Steuerausfälle finanziell

handlungsfähig bleiben. Denn nur so können

sie weiter investieren und Aufträge vergeben,

die gerade auch für die regionale Wirtschaft

wichtig sind. All das sorgt für Wachstumsimpulse

und Aufschwung.

Sachsen hat in den vergangenen Jahren

und Jahrzehnten große Herausforderungen

gemeistert – und sich seit seiner Wiedergründung

vor 30 Jahren wirtschaftlich unglaublich

erfolgreich entwickelt. Dabei war die Ausgangssituation

nach dem Mauerfall und der

deutschen Wiedervereinigung alles andere als

einfach. Auch deshalb bin ich voller Zuversicht,

dass es uns gemeinsam gelingt, die aktuelle

Bewährungsprobe zu bestehen.

Foto: XXX

Foto: Staatskanzlei Freistaat Sachsen


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 45

„BERLIN ALS DIGITALES

ZENTRUM UND INNOVA­

TIONSMOTOR WIRD AUCH

WEITER ZUKUNFTS­

IMPULSE SETZEN“

Von Michael Müller (SPD),

Regierender Bürgermeister von Berlin

Foto: XXX Laurence Chaperon

UUnser Land wird gestärkt aus der Coronakrise

hervorgehen, weil Berlin langfristig von

seinen Standortfaktoren profitiert – und weil

die letzten Monate gezeigt haben, dass wir

in schwierigen Phasen als Gemeinwesen zusammenstehen.

Die Berlinerinnen und Berliner

lassen sich nicht unterkriegen – auch wenn die

Herausforderungen enorm sind.

Corona hat die Berliner Wirtschaft in vollem

Lauf und in der ganzen Breite getroffen:

Die Dienstleistungsbranche mit den vielen

Selbstständigen, das Hotel- und Gaststättengewerbe

und die Kultur gehören überall zu

den besonders betroffenen Branchen – für

Berlin waren sie vor der Krise wichtige Säulen

der guten wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin

hat deshalb bereits zu Beginn der Krise einen

Schutzschirm gespannt und unbürokratische

Hilfe zur Überbrückung geleistet, früher als

andere Länder oder der Bund.

Mit unseren Soforthilfeprogrammen,

Zuschüssen und Liquiditätshilfen, insbesondere

für Soloselbstständige und kleine

bis mittelgroße Unternehmen, haben wir als

Bundesland einen wichtigen Beitrag zum

Erhalt unserer Wirtschaftsstruktur geleistet.

Allein die nicht rückzahlungspflichtigen

Soforthilfen wurden weit über 200.000 Mal

in Anspruch genommen. Mit den jüngeren

Unterstützungsprogrammen beschreiten

wir einen anderen Weg und fördern gezielt

nachhaltige Investitionen und Maßnahmen zu

Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Gesundheit,

Wissenschaft oder Mobilität.

Eines hilft uns dabei jetzt und für die Zukunft –

die Entwicklung Berlins in den letzten Jahren

war eine nachhaltige, die wichtigen Standortfaktoren

unserer Stadt haben Bestand: eine

vielfältige Wirtschaftsstruktur mit großen

Industrieunternehmen und innovativen Startups,

ein einzigartiges Umfeld aus Universitäten

und Forschungseinrichtungen, und auch

eine international sichtbare Kulturszene, die

Gäste aus aller Welt anzieht und zur enormen

Attraktivität Berlins als Arbeits-, Wohn- und

Lebensort beiträgt.

Es ist daher kein Zufall, dass in den letzten

sechs Jahren 270.000 Menschen nach Berlin

gekommen sind. Es ist kein Zufall, dass Berliner

Universitäten bei der Exzellenzinitiative

des Bundes führend sind und hier massiv

in Institute und Forschungseinrichtungen

investiert wird – beispielsweise in das Naturkundemuseum

(600 Millionen Euro) oder das

Deutsche Herzzentrum (400 Millionen Euro).

Und es ist kein Zufall, dass Unternehmen wie

Bayer, Siemens oder Tesla hohe dreistellige

Millionenbeträge in Berlin und die Region

Michael Müller

investieren. Dies alles passiert, weil mit Berlin

eine konkrete Zukunftsvision verbunden ist,

weil es hier optimale Rahmenbedingungen für

Innovationen gibt. Mit gezielter Schwerpunktsetzung

fördern wir diese Entwicklung seit

Langem; auch, indem wir die dafür passenden

Orte entwickeln – wie seit Jahren schon das

Technologiezentrum Adlershof, seit letztem

Jahr die Siemensstadt 2.0 oder in Zukunft die

Urban Tech Republic, die auf dem Gelände des

Flughafens Tegel entstehen wird.

Berlin als digitales Zentrum und Innovationsmotor

Deutschlands, Start-up-Hauptstadt

und internationaler Leuchtturm im Bereich

Wissenschaft und Forschung wird daher

auch weiter Zukunftsimpulse setzen – und

gemeinsam mit den anderen ostdeutschen

Ländern ein wichtiger Standort auf dem Weg

zur Industrie 2.0 werden.


46

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

„GEMEINSAM MIT NEUEN

STRATEGIEN IN DIE

ZUKUNFT. KOPF HOCH,

NICHT DIE HÄNDE!“

Von Bodo Ramelow (Die LINKE),

Ministerpräsident des Freistaates Thüringen

TThüringen wird gestärkt aus der Krise hervorgehen,

weil die Menschen hier aus dem (lehr-)

reichen Schatz der Transformationserfahrungen

der Nachwendezeit schöpfen können, um

auch die gegenwärtige Situation gemeinsam

zu meistern.

Thüringen ist seit Jahren ein Eldorado für

kleine, eigentümergeführte, mittelständische

Unternehmen, die sich durch eine immense

Innovationskraft und -freudigkeit auszeichnen.

Diese Fähigkeit, mutig auf grundstürzende

wirtschaftliche und gesellschaftliche

Wandlungen reagieren zu können, hat in

der Krise viele Firmen gerettet. Um nur ein

Beispiel unter vielen herauszugreifen: Das

Breckle Matratzenwerk Weida GmbH hat

sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten

einen Ruf als hochwertiger Matratzenproduzent

erarbeitet. Als COVID-19

im Februar zunächst nur in Ansätzen als

Menschheitsproblem am Horizont erschien,

hat das Unternehmen in rasantem Tempo

einen Teil seiner Produktion auf die Herstellung

von Mund-Nasen-Schutzbedeckungen

umgestellt – zunächst im rein händischen,

seit Kurzem auch im maschinellen Verfahren.

Über 600.000 FFP2- und fünf Millionen

OP-Masken sollen Monat für Monat das Werk

in Weida verlassen.

Dass solch ein Kraftakt gelingen kann, setzt

ein großes Vertrauen zwischen Belegschaft

und Geschäftsführung voraus. Dieses Band,

das seit jeher in kleinen Unternehmen besonders

eng ist, hat sich auch unter COVID- 19-

Bedingungen als belastbar erwiesen. Dabei

ereignet sich das aktuelle Geschehen in einer

besonders sensiblen Zeit für viele Thüringer

Unternehmen. Die Generation derjenigen, die

nach 1989 quasi über Nacht lernen mussten,

als Selbstständige zu agieren, verabschiedet

sich in den wohlverdienten Ruhestand. Sie

übergibt den Staffelstab an Nachfolgerinnen

und Nachfolger, die oft bereits als „Gesamtdeutsche“

aufgewachsen sind und für die

Digitalisierung oder „Wirtschaft 4.0“ wie selbstverständlich

zum Alltag gehören. In dieser

Situation des Überganges, in der sich die

Lebenserfahrungen der „Alten“ mit den Ideen

der „Jungen“ überlagern, hat sich COVID-19

in manch einem Fall als Durchlauferhitzer für

industrielle Innovation erwiesen.

Besonders hart hat die Pandemie Tourismus,

Gastronomie und die Veranstaltungswirtschaft

getroffen. Und doch: Auch hier haben

verschiedene Akteure alle Kräfte gebündelt

und sich gemeinsam neue Wege durch die

Krise gebahnt. Stellvertretend seien hier die

Veranstalter des Sonne-Mond-und- Sterne-

Festivals (SMS) an der Bleichlochtalsperre

genannt. Ihr SMS kann in 2020 aufgrund der

Hygieneschutzmaßregeln nicht stattfinden –

ökonomisch ein echter Super-Gau. Und was taten

sie? Das Festivalgelände in einen riesigen

Caravan-Platz mit Food-Trucks und Strand

umbauen. Ja, es ist nicht dasselbe – aber es

ist ein bewundernswerter und durchaus auch

lukrativer Versuch, wieder Boden unter die

Füße zu bekommen.

Breckle und das SMS stehen stellvertretend

für all diejenigen Gewerbetreibenden, die in

den vergangenen Monaten Hürden überwunden

haben, die in ihrer Höhe durchaus mit

denen der Nachwendezeit vergleichbar sind.

Sie alle sorgen dafür, dass Thüringen gestärkt

aus dem Tal namens COVID-19 hervorgehen

wird. Dabei können sie auf die Unterstützung

der Landesregierung bauen. Mein Motto: gemeinsam

mit neuen Strategien in die Zukunft.

Kopf hoch, nicht die Hände!

Bodo Ramelow

Foto: XXX W+M


Foto: XXX

MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 47


48

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

„GESUNDHEIT SCHÜTZEN

UND IN DIE ZUKUNFT

INVESTIEREN“

Von Manuela Schwesig (SPD),

Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern

EEigentlich wollten wir in diesem Jahr Jubiläum

feiern: In den vergangenen 30 Jahren haben die

Menschen in Mecklenburg-Vorpommern eine

Diktatur überwunden, einen tief greifenden

Wandel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

verkraftet, Arbeitsplätze geschaffen,

das Land schöner und moderner gemacht –

mit besten Chancen für die Zukunft. Man kann

sagen: Wir können mit Krisen umgehen. Aber

das Coronavirus konnten und können wir so

wenig gebrauchen wie jede andere Region auf

der Welt. Corona hat den Alltag der Menschen

auf den Kopf gestellt. Viele Unternehmen

sehen ihre Existenz bedroht und wissen nicht,

wie lange die Krise noch dauern wird. Das Virus

kostet Wachstum und Arbeitsplätze. Und es

Manuela Schwesig

zwingt die Politik zu einem Spagat: Wir müssen

die Gesundheit schützen, der Wirtschaft durch

die Krise helfen und in die Zukunft investieren.

Mecklenburg-Vorpommern ist weniger vom

Coronavirus betroffen als andere Bundesländer.

Weniger Menschen haben sich angesteckt,

weniger sind gestorben. Das liegt auch

daran, dass alle mitgezogen haben. Bürgerinnen,

Bürger und Unternehmen haben strenge

Einschränkungen und Schutzmaßnahmen

akzeptiert. Für die Landesregierung ist es

wichtig, ihr Vorgehen mit den Unternehmen,

den Wirtschaftsverbänden, den Gewerkschaften

und den Kommunen zu beraten.

Früher als andere Bundesländer hat Mecklenburg-Vorpommern

zudem einen MV-Schutzfonds

aufgelegt, der Betrieben, aber auch

Kulturschaffenden und sozialen Einrichtungen

Überbrückungsmöglichkeiten für coronabedingte

Einnahmeausfälle bietet. In der Krise

ist das Land zusammengerückt.

Wir unterstützen große Unternehmen wie

die Werften ebenso wie die vielen kleinen und

mittelständischen Betriebe, die das Rückgrat

der Wirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns

bilden, ob im Tourismus, in der Lebensmittelproduktion

oder in der Gesundheitswirtschaft.

Wir wollen, dass alle Unternehmen und alle

Arbeitsplätze gut durch die Krise kommen.

Gleichzeitig halten wir an den Investitionen in

den nächsten Jahren fest: vom Breitbandausbau

über die beitragsfreie Kinderbetreuung

bis zur Verbesserung der Finanzausstattung

der Kommunen. Auch Zukunftstechnologien

wie die Wasserstoffwirtschaft können

mit Unterstützung des Landes rechnen. Der

MV-Schutzfonds und die dafür notwendige

Kreditaufnahme sind möglich, weil Mecklenburg-Vorpommern

viele Jahre lang solide

gewirtschaftet und seit 2006 keine neuen

Schulden mehr gemacht hat. In der Krise ernten

wir die Früchte guter Arbeit: Wir verbinden

Krisenhilfe mit Zukunftsinvestitionen.

Dies alles aber setzt eines voraus: Alle müssen

weiter vorsichtig sein. Mecklenburg-Vorpommern

hat die Hauptsaison im Tourismus und

den Start des neuen Schul- und Kitajahrs ohne

einen großen Anstieg der Infektionszahlen

bewältigt. Ende August können wir sagen: Wir

haben Corona im Griff. Aber das Virus mit all

seinen Gefahren ist immer noch da, und eine

weitere Zeit strenger Einschränkungen wäre

für den Alltag der Menschen schwer erträglich

und für die Wirtschaft fatal. Es hängt von uns

allen ab: Je besser wir uns im Alltag schützen,

desto weniger Infektionen wird es geben.

Desto normaler können wir leben, desto freier

können wir wirtschaften. Wenn wir weiter

aufeinander achten, die Regeln einhalten und

zusammenhalten, dann können wir gestärkt

aus der Coronakrise herauskommen.

Foto: XXX Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 49

„VERÄNDERUNGEN

SIND FÜR UNS

NICHTS NEUES“

Von Dr. Dietmar Woidke (SPD),

Ministerpräsident von Brandenburg

Foto: XXX W+M

VVor einigen Wochen habe ich in Strausberg

im Osten Brandenburgs einen Hersteller für

Mikroelektronik besucht. Ich habe mich durch

die Produktion führen lassen, habe mit der

Geschäftsführung und vielen Beschäftigten

gesprochen und natürlich gefragt, wie das

Unternehmen bisher durch die Coronakrise

gekommen ist. Die Antwort war ganz

einfach: „Gut.“ Nach einem anfänglichen Einbruch

der Umsatzzahlen hat das Unternehmen

darauf gesetzt, die Produktion schnell

auf Desinfektionsmittel zum Selbstkostenpreis

umzustellen.

Das hat funktioniert und wurde von den Kundinnen

und Kunden begeistert aufgenommen.

Der Umsatz stabilisierte sich, das Unternehmen

brauchte keine öffentlichen Hilfen und

mir wurde – nicht ohne Stolz – berichtet,

dass mittlerweile sogar ein neuer Mitarbeiter

eingestellt wurde.

Natürlich ist das nur ein Beispiel. Nicht jede

Firma kann so schnell und flexibel reagieren,

manche Wege sind steiniger. Aber dennoch:

Solche modernen, innovativen Firmen gibt es

viele bei uns. Und der Besuch hat mir gezeigt,

dass wir auch deshalb bisher gut durch

die Krise gekommen sind, weil wir schnell

handeln. Weil wir flexibel sind. Vielleicht

auch, weil Veränderungen für uns nichts

Neues sind.

Unsere Wirtschaftsstruktur mit vielen kleinen

und mittleren Unternehmen kommt uns dabei

zugute. Und wir ziehen besonders aus den

letzten 30 Jahren die Kraft, dass wir bisher

noch jede Krise gemeistert haben. Das gilt

auch für die Pandemie – die nicht zu Ende ist,

sondern die uns weiter begleiten wird. Wir haben

früh deutlich gemacht, dass wir um jeden

Arbeitsplatz kämpfen werden. Mit beispiellosen

Unterstützungsmaßnahmen für unsere

Wirtschaft und die Menschen.

Ohnehin stecken wir in einem Transformationsprozess,

der mit der Pandemie gar nichts

zu tun hat. Im Sommer hat der Bundestag

das Kohleausstiegs- und das Strukturstärkungsgesetz

beschlossen. Für uns bedeutet

das, dass wir die Lausitz als leistungsstarke

und lebenswerte Region, als Modellregion für

Klimaschutz und Wirtschaftswachstum gestalten

wollen. Die Gesetzgebung des Bundes

setzt dafür den wichtigen Rahmen.

Neben diesen beiden Punkten – unserer

Wirtschaftsstruktur, die Innovationen fördert,

und dem Wandel, den wir ohnehin gemeinsam

bewältigen – gibt es noch einen Faktor,

der uns hilft: Unternehmen, die erkennen,

dass es bei uns die Bedingungen gibt, unter

denen man ganz hervorragend etwas Neues

aufbauen kann. Der Autohersteller Tesla baut

bei uns die erste europäische Gigafactory. Und

Dr. Dietmar Woidke

die BASF baut in Schwarzheide eine hochmoderne

Batteriematerialproduktion auf. Diese

Schlüsselinvestitionen ziehen viele andere

nach sich und sorgen für sichere Arbeitsplätze

für die Zukunft.

Im 30. Jahr der deutschen Einheit gibt es also

nicht nur einen Grund, warum Brandenburg

auch aus der Coronakrise gestärkt hervorgehen

kann – es gibt viele. Trotz der weiterhin

aktuellen Gefahr durch die Pandemie können

wir mit Optimismus in die Zukunft sehen.

Das haben wir in diesem Jahr auch bei der

EinheitsEXPO im September und den Feiern

zum 30. Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober

in Potsdam gezeigt. Und wir haben uns

gefreut, dass wir viele Gäste bei uns begrüßen

konnten – unter anderen Bedingungen als

geplant, aber mit nicht geringerer Freude über

diesen Jahrestag!


50

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

INVESTITIONS-

BOOM ZWISCHEN

ROSTOCK UND ERFURT

Die neuen Bundesländer und Berlin

sind in den letzten Jahren mehr und

mehr in den Blick in- und ausländischer

Investoren geraten. Das liegt

vor allem auch an den guten Rahmenbedingungen

– vergleichsweise

günstige Grundstückspreise sowie

gut ausgebildete Fachkräfte – und

an der Förderpolitik der Länder, die

Investoren den roten Teppich ausrollen.

Während man in Berlin stolz

darauf ist, dass das Traditionsunternehmen

Siemens einen kompletten

Campus errichtet und die Hauptstadt

ihr Image als Start-up-Hochburg

ausbaut, haben die fünf Flächenländer

unterschiedlichste Investoren

angeworben.

VON KARSTEN HINTZMANN

Grünheide wird der Standort der neuen Tesla-Gigafactory.

Brandenburg

und die Chance auf weitere Ansiedlungen

Die Top-Ansiedlung des Jahres 2019: Der

von Zulieferunternehmen im Tesla-Umfeld

US-Konzern Tesla entschied sich für Grünheide verbunden. Die Ansiedlung katapultierte

(Landkreis Oder-Spree) als Standort für seine den Standort Brandenburg in die Champions

europäische Gigafactory. Mit dieser Ansiedlung

sind mehrere Tausend neue

League der Elektromobilität.

Arbeitsplätze

Foto: Blomst/pixabay.com, Grafik: dgim-studio/freepik.com, starline/freepik.com


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 51

Das japanische Ernährungswirtschaftsunternehmen

Fuji Oil errichtet in Golßen (Landkreis

Dahme-Spreewald) eine Produktionsanlage

für Nahrungsergänzungsmittel. Damit verbunden

sind ein Investitionsvolumen von 15 Millionen

Euro und bis zu 21 neue Arbeitsplätze.

Das britische Unternehmen Oxford PV Germany

errichtete in Brandenburg an der Havel

2017 eine Produktionsstätte für neuartige

Dünnschicht-Photovoltaik-Zellen mit 24 neuen

Arbeitsplätzen. 2019 erweiterte Oxford PV

den Standort bereits.

Oxford PV Germany produziert seit 2017 Dünnschicht-Photovoltaik-Zellen in Brandenburg an der Havel.

Großansiedlung in Ludwigsfelde (Landkreis

Fotos: minthu/pixabay.com, Oxford PV Germany, Tradebe, Karls

Teltow-Fläming): Die Deutsche Post DHL

Group investiert 92 Millionen in die Errichtung

eines zentralen Paketzentrums und schafft

damit 600 neue Arbeitsplätze.

Das japanische Unternehmen Yamaichi

Electronics baut in Frankfurt (Oder) eine neue

Betriebsstätte für die Fertigung elektromechanischer

Bauteile, Kabelkonfektionen

sowie Baugruppen. Damit verbunden sind ein

Investitionsvolumen von nahezu 13 Millionen

Euro und 137 Arbeitsplätze.

Die österreichische Firma Hamburger Rieger

errichtet in Spremberg (Landkreis Spree-Neiße)

eine zweite Papierfabrik. Damit verbunden

sind ein Investitionsvolumen von 370 Millionen

Euro und 200 Arbeitsplätze.

Papier wird nun auch in Spremberg

durch Hamburger Rieger hergestellt.

Das Schweizer Unternehmen Endress+Hauser

siedelt in Stahnsdorf (Landkreis Potsdam-Mittelmark)

150 Arbeitsplätze zur Herstellung von

Hightech-Systemen zur Druckmessung in der

Verfahrenstechnik an.

In Schwarzheide (Landkreis Oberspreewald-Lausitz)

siedelt sich das spanische

Umwelttechnik-Unternehmen Tradebe an, das

auf die Rückgewinnung von Lösungsmitteln

aus industriellen Produktionskreisläufen spe-

zialisiert ist. Damit verbunden sind zunächst

17 Arbeitsplätze und ein Investitionsvolumen

von gut 10 Millionen Euro.

Umwelttechnik-Unternehmen Tradebe

eröffnet einen Standort in Schwarzheide.

Mecklenburg-Vorpommern

Die weltweit agierende Ypsomed AG eröffnete

mit ihrer Tochtergesellschaft YpsoMed

Produktion GmbH 2019 einen Produktionsstandort

in Schwerin. Auf einer Fläche von

19.000 Quadratmetern entstehen Bauteile für

Pens, Autoinjektoren und Pumpensysteme.

Ziel ist es, am neuen Produktionsstandort

jährlich bis zu 10 Millionen Infusionssets herzustellen.

Diese verbinden die Insulinpumpe

mit dem Körper und fördern das Insulin. Mit

dem Injektionspens können sich Menschen mit

chronischen Erkrankungen flüssige Medikamente

subkutan verabreichen. Rund 150

neue Arbeitsplätze sollen in den kommenden

Jahren entstehen. Das Gesamtinvestitionsvolumen

des Vorhabens in Schwerin beträgt 81,1

Millionen Euro. Das Wirtschaftsministerium

unterstützt das Vorhaben mit einem Investitionszuschuss

in Höhe von 9,75 Millionen Euro.

Das Unternehmen AKKU SYS Akkumulator

und Batterietechnik hat am Pommerndreieck

(Gemeinde Süderholz, Landkreis Vorpommern-Rügen)

einen Produktions- und Logistikstandort

eröffnet. Der neue Standort des

Unternehmens umfasst neben dem Lager und

der Akku- und Batteriepack-Konfektionierung

auch die Produktion von Gabelstaplerbatterien.

Geplant sind 30 Arbeitsplätze am neuen

Standort. Die Gesamtinvestitionen des Unternehmens

für die Neuansiedlung betragen rund

3,7 Millionen Euro. Das Wirtschaftsministerium

unterstützt das Vorhaben mit rund 1,3

Millionen Euro.

Die Unternehmensgruppe „Karls“ hat ihren Sitz

vor den Rostocker Stadttoren in Rövershagen.

Kerngeschäft des Familienunternehmens ist

der Anbau von Erdbeeren auf heute rund 410

Hektar Land. Der anschließende Verkauf von

Erdbeeren erfolgt an rund 450 Verkaufsständen.

Jährlich werden nach Unternehmensangaben

bis zu 8.000 Tonnen geerntet und etwa

sechs Millionen Gläser Marmelade verkauft.

Zuletzt hat das Unternehmen in Koserow auf

Usedom investiert und ein weiteres Erlebnis-Dorf

eröffnet. Die Gesamtinvestitionen

des Vorhabens betrugen rund 8,1 Millionen

Euro. Das Wirtschaftsministerium flankierte

das Vorhaben aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe

„Verbesserung der regionalen

Wirtschaftsstruktur“ (GRW) in Höhe von rund

1,6 Millionen Euro.

Das neueste Karls-Erlebnisdorf in Koserow.

Das familiengeführte Unternehmen PALM-

BERG Büroeinrichtungen + Service GmbH aus

Schönberg (Landkreis Nordwestmecklenburg)

hat sich seit seiner Gründung zu einem

gefragten Anbieter in der Büromöbelindustrie


52

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

Moderne Büroeinrichtungen von PALMBERG Büroeinrichtungen + Service GmbH.

Das US-amerikanische Luft- und Raumfahrtunternehmen

Sierra Nevada Corporation

(SNC) und die 328 Support Services GmbH

(328SSG) haben im August 2019 ihre Pläne

zur Gründung eines neuen Flugzeugherstellers

am Flughafen Leipzig/Halle bekannt

gegeben. Die Tochtergesellschaft DRA GmbH

will am mitteldeutschen Airport die Endfertigung

des Regionalflugzeuges vom Typ

D328NEU ansiedeln. Rund 80 Millionen Euro

sollen in Infrastruktur, Produktionshallen,

Maschinen und den Aufbau der Endmontagelinie

investiert werden. Langfristig ist die

Schaffung von bis zu 250 direkten Arbeitsplätzen

vorgesehen.

Der US-amerikanische Genomik-Dienstleister

GENEWIZ wird in Leipzig ein Hightech-Labor

entwickelt. Das Unternehmen entwickelt und

produziert moderne Büromöbeleinrichtungen.

Nach Unternehmensangaben werden die

selbst produzierten Möbel in Deutschland, den

Niederlanden, Belgien, Österreich, Luxemburg

und in die Schweiz verkauft. PALMBERG hat

zur Erweiterung der Produktionskapazitäten

eine weitere Betriebsstätte in Rehna errichtet.

Im neuen Werk sollen akustisch wirksame

Elemente für die Bürowelt hergestellt werden.

Mit der 9-Millionen-Euro-Investition sollen 50

Arbeitsplätze entstehen.

Die als Spin-off der Rostocker Universität von

dem Neurologen Prof. Arndt Rolfs gegründete

und heute börsennotierte Centogene AG

ist eines der größten Biotech-Unternehmen

weltweit. Das Unternehmen wandelt globale

genetische Daten in medizinische Entscheidungen

um. Mehr als 400 Centogene-Mitarbeiter

erwirtschaften in den Bereichen

Genetik, Bioinformatik, IT, Proteomik und

Metabolomik inzwischen einen Umsatz

von mehr als 50 Millionen Euro. Neben dem

Hauptsitz in Rostock unterhält das Unternehmen

weitere Standorte in Berlin, Hamburg,

Frankfurt, Cambridge (USA), Dubai (Vereinigte

Arabische Emirate), Greater Noida (Indien) und

Wien (Österreich). In Rostock wurde zuletzt in

Forschung in Rostock.

den notwendigen Ausbau der Kapazitäten zur

Forschung und innovativen Entwicklung auf

dem Gebiet der Medizin investiert. Im Rahmen

der Erweiterung entstand ein neues Diagnostikzentrum.

Die Gesamtinvestitionen des

Unternehmens betrugen 11,9 Millionen Euro.

Das Wirtschaftsministerium unterstützt das

Vorhaben mit knapp drei Millionen Euro.

Sachsen

In Leipzig entsteht derzeit für den Automobilzulieferer

DRÄXLMAIER eine 25.000

Quadratmeter große Produktionsstätte. Die

Fertigstellung des Neubaus ist bis Ende 2020

vorgesehen. Die Firma wird dort ein leistungsstarkes

800-Volt-Gesamtbatteriesystem für

einen rein elektrisch betriebenen Sportwagen

aus dem Premiumsegment fertigen.

Die YELLOW TEC PLASTIC GmbH hatte

im April 2019 ihre Standortentscheidung

für Sachsen verkündet. In Görlitz will das

Medizintechnik-Unternehmen Kunststoffprodukte

für den medizinischen Bereich und

die Biotechnologie herstellen. Diese kommen

in Laboren, Kliniken und der Pharmabranche

zum Einsatz. Das Unternehmen schafft im

Görlitzer Werk 60 Arbeitsplätze.

Im September 2019 erhielt Leipzig den

Zuschlag für die Ansiedlung der Bundesagentur

für Sprunginnovationen. Im Wettbewerb

um den Standort hatte das Land Sachsen

Leipzig tatkräftig unterstützt. Laut Bundesforschungsministerium

wird die Agentur

zunächst für eine Laufzeit von zehn Jahren

geplant und mit insgesamt rund einer Milliarde

Euro finanziert.

mit modernsten Sequenzierungsplattformen

und Laborautomationstechnologien schaffen.

Das Unternehmen investiert rund fünf

Millionen Euro und schafft etwa 50 neue, hoch

qualifizierte Arbeitsplätze.

Die Aircraft Composites Sachsen GmbH

(Acosa), eine Tochter der Elbe Flugzeugwerke,

stellt in Kodersdorf künftig Frachtraumverkleidungen

und Bodenplatten für Airbus her. Die

Investition beläuft sich auf rund 40 Millionen

Euro und schafft rund 150 Arbeitsplätze.

Bodenplatten für Airbus werden

künftig in Kodersdorf gefertigt.

Mit der größten Einzelinvestition in der Geschichte

des Unternehmens errichtet Bosch

eine neue Chipfabrik in Dresden. Am Standort

sollen für die wachsenden Anwendungen in

der Mobilität und im Internet der Dinge Halbleiter

auf Basis der 300-Millimeter-Technologie

produziert werden. Insgesamt beläuft sich

das Investitionsvolumen für den Standort auf

rund eine Milliarde Euro.

In der nordsächsischen Stadt Torgau entsteht

die größte und modernste Speisepilzfarm

Europas. Das südkoreanische Unternehmen

Green Co. Ltd. ist in Europa Marktführer für

Foto: XXX PALMBERG Büroeinrichtungen + Service GmbH, jarmoluk/pixabay.com, Aircraft Composites Sachsen GmbH


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 53

die industrielle Pilzproduktion. Gemeinsam

mit seinem chinesischen Vertriebspartner

hatte sich der südkoreanische Investor zur

Mushroom Park GmbH zusammengeschlossen

und mit seinem Investment rund 100 neue

Arbeitsplätze geschaffen.

In Torgau werden Speisepilze gezüchtet.

Sachsen-Anhalt

Die Geschichte des Verkehrsflughafens Cochstedt

ist bislang keine glückliche gewesen. Über

Jahre fehlten dem Flughafen Entwicklungsperspektiven.

Im Zuge der Insolvenz des Flughafenbetreibers

gelang es dem Wirtschaftsministerium,

das Deutsche Zentrum für Luft- und

Raumfahrt (DLR) davon zu überzeugen, den

Verkehrsflughafen in den kommenden Jahren

zu einem Forschungsflughafen umzuwandeln.

Das Wirtschaftsministerium stellt dem DLR

hierfür eine Sonderfinanzierung über 15,8 Millionen

Euro bereit und wird den Standort künftig

auch mit institutioneller Forschungsförderung

unterstützen. Es entsteht ein Testzentrum

für unbemannte Flugobjekte, die heutzutage

interessant für zahlreiche Branchen sind. Es

ist davon auszugehen, dass sich im Umfeld des

Forschungsflughafens weitere Unternehmen

ansiedeln werden, zumal das DLR auch mit der

Uni Magdeburg kooperieren wird.

Die Automobilindustrie ist im Umbruch.

Sachsen-Anhalt ist bestrebt, die Chancen

zu nutzen, die sich aus dem Wandel hin zu

alternativen Antriebstechnologien ergeben.

Ein wichtiger Meilenstein hierbei ist die

Ansiedlung von Farasis in Bitterfeld-Wolfen.

Das Unternehmen wird für 600 Millionen

Euro eine Batteriefabrik bauen und 600 Arbeitsplätze

schaffen. Das Wirtschaftsministerium

geht davon aus, dass im Zuge der

Farasis-Ansiedlung weitere Ansiedlungen,

unter anderem von Zulieferern, folgen. So

beabsichtigt der niederländische Konzern

AMG, eine Lithium-Raffinerie in Sachsen-

Anhalt zu errichten.

Das Wirtschaftsministerium fördert die

Bildung einer Wasserstoff-Modellregion

Mitteldeutschland. In Leuna forschen die

Fraunhofer-Gesellschaft sowie große Konzerne

wie Total und Linde unter anderem an

der wirtschaftlichen Nutzung von grünem

Wasserstoff. Jüngst fand hier der Spatenstich

für die Wasserstoff-Elektrolysetestund

Versuchsplattform statt – die aktuellen

Aktivitäten fördert das Wirtschaftsministerium

mit acht Millionen Euro.

In Barleben bei Magdeburg steht ein Erweiterungs-Investment

der Horiba-Gruppe in.

Der japanische Konzern will hier sein weltweit

größtes Testzentrum für Batterie- und

Brennstoffzellen errichten.

Um Nachhaltigkeit geht es auch bei der

Ansiedlung des finnischen Großkonzerns

UPM in Leuna. UPM investiert 550 Millionen

Euro in eine industrielle Bioraffinerie, was

einen enormen wirtschaftlichen Schub für

den noch jungen Bereich der Biochemie in

Sachsen- Anhalt mit sich bringt. In der Bioraffinerie

sollen Biochemikalien auf Holzbasis

hergestellt werden, etwa 200 Arbeitsplätze

werden entstehen.

Thüringen

Im Herbst 2019 startete am „Erfurter Kreuz“

bei Arnstadt das größte Investitionsvorhaben

Thüringens – die Errichtung des neuen Batteriezellenwerks

der chinesischen Contemporary

Amperex Technology Co. Ltd. (CATL). Bis Anfang

2022 wird hier mit der „Contemporary Amperex

Technology Thuringia GmbH“ (CATT) die erste

Produktionsstätte von CATL außerhalb Chinas

entstehen. Insgesamt investiert das Unternehmen

mittelfristig 1,8 Milliarden Euro in seinen

Standort und schafft bis zu 2.000 Arbeitsplätze.

Lutz-Gruppe plant Standort am „Erfurter Kreuz“.

Der Möbelhändler XXXLutz will in sein

wachsendes Online-Geschäft investieren

und plant hierfür den Bau eines neuen

E-Commerce-Centers im Industriegebiet

„Erfurter Kreuz“. Geplant sind unter anderem

die Ansiedlung von Programmierern,

Callcenter-Mitarbeitern und Mitarbeitern in

der Auftragsabwicklung. Am neuen Standort

plant die Lutz-Gruppe Investitionen in Höhe

von 70 Millionen Euro und die Schaffung von

100 neuen Arbeitsplätzen. Bis 2022 soll die

Mitarbeiterzahl auf insgesamt 400 Beschäftigte

ansteigen.

Foto: Fotos: XXX peter-facebook/pixabay.com, cebbi/pixabay.com, XXXLutz

Volle Energie in Sachsen-Anhalt.

Um dem weiter anhaltenden Marktwachstum

gerecht zu werden, entsteht in Eisfeld

das insgesamt elfte Wellpappformatwerk

der Progroup AG. Durch den hochmodernen

Produktionsstandort der Unternehmenstochter

Prowell GmbH mit einer Jahreskapazität

von 140.000 Tonnen Wellpappformaten,

wird die Gesamtkapazität bei Progroup

auf 1,5 Millionen Tonnen gesteigert. Das

Investitionsvolumen des Projekts liegt bei

etwa 50 Millionen Euro. Im Vierschichtbetrieb

wird das Werk insgesamt 52 neue

Arbeitsplätze schaffen.


54

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

Das britische Solarunternehmen Oxford PV hat in Brandenburg an der Havel investiert.

WAS MACHT BRANDENBURG

ALS ANSIEDLUNGSSTANDORT

SO ERFOLGREICH?

Brandenburg hat sich 30 Jahre nach der deutschen

Einheit zu einem Qualitätsstandort und zu einem erfolgreichen

Ansiedlungsstandort entwickelt. Kompetenzen in

Branchen und Technologien, eine gut ausgebaute Infrastruktur,

qualifizierte Fachkräfte sowie Gewerbeflächen

in günstigen Lagen sind nur einige Beispiele für ansiedlungsrelevante

Standortfaktoren, mit denen Brandenburg

bei Investoren punktet. Auch die Lage der Bundeshauptstadt

Berlin im Herzen Brandenburgs unterstützt

die hohe Wahrnehmung der Region.

VON DR. STEFFEN KAMMRADT

GGerade der Mix der unterschiedlichen Stärken

von Metropole und Flächenland trägt zur

Attraktivität des Ansiedlungsstandortes

bei. Die europäischen Verkehrsachsen, die in

Brandenburg zusammentreffen, verbinden

die Region mit wichtigen Wirtschaftszentren

im Nachbarland Polen, mit Häfen an Nordund

Ostsee oder mit dem sächsischen Industrierevier.

Das zahlt sich aus: Brandenburg und

Berlin sind 2019 erstmals zur Nummer 1 aller

Logistikregionen in Deutschland aufgestiegen

und damit vorbeigezogen an etablierten

Standorten wie der Region um Frankfurt am

Main oder Hamburg.

Die Brandenburger Wirtschaftspolitik und

die Wirtschaftsförderung des Landes, die

WFBB, greifen diese Standortvorteile aktiv

auf und setzen sie konsequent in der Investorenansprache

ein. Ziel sind hochwertige

Ansiedlungen entlang der Wertschöpfungsketten

mit zukunftssicheren Arbeitsplätzen.

Prominentestes Beispiel ist die Ansiedlung

der Tesla-Gigafactory in Grünheide. Brandenburg

hat sich im Standortwettbewerb um diese

Großinvestition erfolgreich durchgesetzt.

Die starke Rolle der erneuerbaren Energien

Foto: Michael Jungblut/WFBB


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 55

in Brandenburg hat mit zu diesem Erfolg

beigetragen. Bezogen auf die Einwohnerzahl

nimmt Brandenburg beim Ausbaustand der

erneuerbaren Energien bundesweit Platz 1

ein. Die Ansiedlung von Tesla bringt nicht nur

mehrere Tausend neue Industriearbeitsplätze

in die Region, sondern zugleich eine Zukunftstechnologie,

die prägend sein wird für

die Mobilität der Zukunft.

Fotos: yannickmcosta/pixabay.com, David Marschalsky/WFBB

Energiewende und Mobilitätswende sind

Transformationsthemen, die neue und erweiterte

Wertschöpfungsketten mit sich bringen

und damit große Chancen für die weitere

wirtschaftliche Entwicklung bieten. Das ist

eine besondere Chance auch für die Lausitz,

die traditionsreiche länderübergreifende

Energie- und Industrieregion in Brandenburg

und Sachsen. Die Lausitz ist Schaufenster

der Energiewende und kann hochwertige

Investitionen verbuchen, so zum Beispiel die

Investition von BASF in Batteriekomponenten

in Schwarzheide. Auf dem Gelände der BASF

investiert auch das spanische Umwelttechnik-Unternehmen

Tradebe. Ebenfalls in der

Lausitz angesiedelt hat sich das japanische

Ernährungsunternehmen Fuji Oil. Allesamt

Investitionen mit Perspektive. Spannende

Perspektiven bieten auch Innovationen wie

im umweltfreundlichen Fliegen: Rolls-Royce

Deutschland arbeitet in Kooperation mit der

Brandenburgischen Technischen Universität

Cottbus-Senftenberg und der APUS-Aeronautical

Engineering GmbH in Strausberg

an einem Verbundprojekt „Hybrid-Elektrisches

Fliegen“ zur Entwicklung umweltschonender

Antriebstechnologien für die

Luftfahrt. Eine andere Facette der Mobilität

der Zukunft – das autonome Fahren – hat mit

dem Testzentrum der DEKRA einen starken

Anker in der Lausitz gesetzt.

Tesla soll schon bald ein Brandenburger Markenzeichen werden.

2019 war das Rekordjahr für die Brandenburger

Wirtschaftsförderung mit mehr als 4.300

Arbeitsplätzen – und darin ist Tesla noch

gar nicht eingerechnet. Und diese positive

Entwicklung dauert an – selbst in Corona-Zeiten

sind spannende Investitions- und

Innovationsprojekte in der Bearbeitung. In

Oberhavel erlebt Hennigsdorf mit dem Shared

Service Center von Francotyp-Postalia einen

schönen Ansiedlungserfolg. Im Havelland

baut das Schweizer Schienenverkehrstechnik-Unternehmen

Stadler einen Produktionsstandort

für Drehgestelle auf. Große

Projekte in Ludwigsfelde sind das DHL-Zentrum

und Chefs Culinar, die zusammen über

1.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Darüber

hinaus erweitern ansässige Unternehmen

ihre Standorte: Walter Schmidt investiert in

Vetschau, das britische Solarunternehmen

Oxford PV in Brandenburg an der Havel, die

österreichische Firma Klenk in Baruth oder

der japanische Elektronikspezialist Yamaichi

in Frankfurt (Oder).

Dr. Steffen Kammradt ist Sprecher der Geschäftsführung

der Wirtschaftsförderung Brandenburg

(WFBB). Nach Tätigkeiten in Verwaltung und

Privatwirtschaft ist er seit 2001 für das Land

Brandenburg tätig. Wirtschaftsförderung,

sagt der 54-Jährige, ist nicht nur ein Job,

sondern auch eine Leidenschaft. Glücklichster

Moment seines bisherigen Berufslebens

war der 12. November 2019 – als Elon

Musk die Ansiedlung der Tesla-Gigafactory in

Brandenburg verkündete.

Brandenburg ist ein Standort im Aufbruch.

Die Produktivität der Brandenburger

Industrie ist seit der deutschen Einheit mit

am stärksten gestiegen. Im Brandenburger

verarbeitenden Gewerbe legte die Bruttowertschöpfung

je Erwerbstätigen um nahezu

862 Prozent zu. Die steigende Produktivität

resultiert vor allem aus dem modernen

Anlagevermögen. Der Modernisierungsgrad

der Brandenburger Industrieanlagen ist sehr

hoch. Die Investitionen sind 4,5-mal höher

als der Umsatz. Das ist im bundesweiten

Vergleich ein Spitzenwert.

Das schlägt sich positiv in Wirtschaftsrankings

nieder. Die neue Studie des Instituts der

deutschen Wirtschaft (IW) weist gleich zwei

Brandenburger Regionen an der Spitze der

Aufsteigerregionen aus, die sich in den letzten

Jahren besonders gut entwickelt haben: Havelland-Fläming

im Westen und Prignitz-Oberhavel

im Nordwesten Brandenburgs. Beide Regionen

haben sich zum Vorbild gemausert. Zur

Region Havelland-Fläming sagt das IW wörtlich:

„Die Arbeitslosigkeit ist deutlich geringer als

noch vor einigen Jahren, die Kaufkraft höher, die

Bewohner im Schnitt jünger. Internetverbindungen

laufen schneller und Einwohner sowie

Kommunen sind geringer verschuldet. Damit

punktet die Region im bundesweiten Vergleich

der neuen IW-Studie am meisten.“

Last but not least: In Kürze eröffnet mit dem

BER ein leistungsfähiger internationaler

Flughafen in Brandenburg. Das bringt einen

weiteren Schub für die gesamte deutsche

Hauptstadtregion. Im kommenden Jahr

startet dann die Tesla-Gigafactory. Und damit

geht die Erfolgsgeschichte Brandenburgs als

Ansiedlungsstandort weiter.


56

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

MITTELDEUTSCHLAND

AUF DEM WEG ZUR

MODELLREGION FÜR

GRÜNEN WASSERSTOFF

VON THOMAS EINSFELDER, GESCHÄFTSFÜHRER DER

INVESTITIONS- UND MARKETINGGESELLSCHAFT

SACHSEN-ANHALT (IMG)

Thomas Einsfelder

IIn Leuna forscht die Fraunhofer-Gesellschaft

an der wirtschaftlichen Nutzung von grünem

Wasserstoff. Über Netzwerke an den Planungen

beteiligt sind Global Player wie Siemens,

Linde AG, VNG Gasspeicher GmbH, ONTRAS

Gastransport GmbH, Terrawatt Planungsgesellschaft

mbH, DBI Gastechnologisches

Institut gGmbH Freiberg, Uniper, 50Hertz

Transmission GmbH sowie das Fraunhofer

IMWS. Jüngst fand hier der Spatenstich für die

Wasserstoff-Elektrolysetest- und Versuchsplattform

(ELP) statt – die aktuellen Aktivitäten

fördert das Wirtschaftsministerium mit

acht Millionen Euro. Total und Linde würdigten

die Projekte in Leuna vor allem, weil sie bereits

umgesetzt werden. Weltweit gebe es zwar

viele Ideen, doch ein Großteil davon sei noch

weit von der Umsetzung entfernt. „Mit der

Versuchsplattform ELP und dem im Zuge des

Braunkohle-Strukturwandels geplanten neuen

Fraunhofer-Institut für Wasserstoff- und

Kohlenstoff-Prozesstechnik (IWKP) könnte

sich Sachsen-Anhalt als führender Standort

im Bereich der Wasserstofftechnologie

etablieren und als nationales Kompetenzzentrum

wahrgenommen werden“, erklärte auch

Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Prof.

Dr. Armin Willingmann, der seit Jahren offensiv

für eine Wasserstoff-Modellregion Mitteldeutschland

wirbt.

Auch ich bin nicht erst seit diesem Spatenstich

in Leuna überzeugt davon, dass Mitteldeutschland,

allen voran Sachsen-Anhalt,

das Zeug hat, europaweit zur Modellregion

für grünen Wasserstoff aufzusteigen, denn

hier existiert bereits die gesamte Wertschöpfungskette

für den Energieträger der

Zukunft. Innovative Ideen sind hier schon zu

Leuchttürmen gewachsen. In der Wasserstoffmodellregion

Mitteldeutschland entsteht

eine komplette Wertschöpfungskette, die

unter Verwendung erneuerbarer Energien

grünen Wasserstoff herstellt, ihn speichert

und transportiert. Als Wirtschaftsförderungsgesellschaft

für das Land Sachsen-Anhalt

nutzt die IMG dieses Alleinstellungsmerkmal

offensiv im Standortmarketing für den

Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort. In

unserer Ansiedlungsstrategie bildet der „grüne

Wasserstoff“ einen der wichtigsten Anker im

Kompetenzfeld „New Energy/New Mobility“.

Gemeinsam mit der Bioökonomie sehe ich hier

Möglichkeiten – gerade auch im Hinblick auf

Foto: IMG, Grafik: starline/freepik.com


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 57

den durch den Kohleausstieg notwendigen

Strukturwandel – Sachsen-Anhalt mittelfristig

als Land der Zukunftstechnologien zu positionieren.

Wir laden internationale Unternehmen

und Institutionen herzlich ein, Teil dieser

Erfolgsgeschichte zu werden. Hier stimmen

Know-how, Infrastruktur und Nutzungspotenzial.

Davon sind wir überzeugt, wissen um die

Bedeutung dieser Potenziale für den Standort.

Deshalb sieht sich die IMG als Teil der hier

entstandenen Netzwerke aus Wirtschaft und

Wissenschaft und unterstützt Interessenten

mit der gesamten Bandbreite unseres Serviceportfolios,

leidenschaftlich, professionell

und offen für nationale und internationale

Forschungs- und Technologiekooperationen,

um gemeinsam mit starken Partnern diese

Vision zu verwirklichen.

Einzigartige Kooperation über

Ländergrenzen hinweg

Und noch etwas finde ich bemerkenswert:

Gemeinsam streben die Länder Brandenburg,

Sachsen und Sachsen-Anhalt an, die

Region als Vorreiter der Energiewende und

der modernen Mobilität zu etablieren. Das

Eckpunktepapier der Länder zur Entwicklung

einer regionalen Wasserstoffwirtschaft ist

eine gemeinsame Willenserklärung zum Aufbau

einer grünen Wasserstoffwirtschaft. Eine

so breite Kooperation über Ländergrenzen

hinweg ist einzigartig. Den Ländern kommt es

entscheidend darauf an, schnell einen Markt

für erneuerbaren Wasserstoff aufzubauen.

Die Chancen der Energiewende sollen mit dem

Strukturwandel durch den Kohleausstieg bis

2038 mit dem Markthochlauf einer grünen

Wasserstoffwirtschaft proaktiv genutzt

werden. Mit dem Anspruch, eine ganzheitliche

Wasserstoff-Modellregion zu werden, ist die

Abbildung der gesamten Wertschöpfungskette

verbunden. Dazu gehören Forschung,

Mobilität, Industrie, Brennstoffzellen, Elektrolyseure

und die Wärmeversorgung. Sektoren

werden in der Region aktiv gekoppelt und der

Transformationsprozess der Wirtschaft und

Industrie in eine CO 2 -neutrale Energieregion

gestärkt. Die Länder setzen sich dabei insbesondere

für eine Anpassung des regulatorischen

Rahmens ein, um die Produktion und

Nutzung von grünem Wasserstoff wettbewerbsfähig

zu gestalten.

Hier stimmen Know-how, Infrastruktur

und Nutzungspotenzial

Wenn also die Möglichkeiten von Forschung

und Entwicklung genutzt werden, zugeschnitten

auf den Bedarf der Unternehmen in

Mitteldeutschland, ist dies die Antwort sowohl

für das Erreichen klimapolitischer Ziele als

auch zur Bewältigung der Herausforderungen

für die energieintensiven Industrien, gerade

bei uns in Sachsen-Anhalt. Nachhaltigkeit

und Wirtschaftlichkeit könnten so verbunden

werden, einen intelligenten Umgang mit beschränkten

Ressourcen und die Wettbewerbsfähigkeit

von Unternehmen vereinen. Die europäischen

und nationalen Strukturwandelmittel

sollten hierfür zielgerichtet genutzt werden.

Dass die Region das kann, hat sie schon beim

Ausbau der erneuerbaren Energien bewiesen.

Mit über 56 % erneuerbarer Energien am

Stromverbrauch leistet Mitteldeutschland

einen wichtigen Beitrag zur Energiewende in

Deutschland. Insbesondere die hohe installierte

Leistung der erneuerbaren Energien ist

eine solide Basis zur Produktion von grünem

Wasserstoff. Und Sachsen-Anhalt hat Erfahrungen

in der großtechnischen Produktion und

Nutzung von Wasserstoff. In der Region gibt

es zudem ein großes Potenzial zur Nutzung

von Wasserstoff im Mobilitätsbereich oder

zur stofflichen Nutzung in der Stahl- und

Chemieindustrie, in Raffinerien und in energieintensiven

Industrien, wie etwa Zement, Glas,

Papier. Wenn ausreichend Wasserstoff zu

wettbewerbsfähigen Kosten regional hergestellt

wird, trägt dies zur Wettbewerbsfähigkeit

und Nachhaltigkeit der energieintensiven

Industrie vor Ort bei. Nun muss es also darauf

ankommen, dem aus überschüssigem Solarund

Windstrom erzeugten Wasserstoff auch

im industriellen Maßstab zum Durchbruch zu

verhelfen.

Foto: VNG AG

Die VNG Gasspeicher GmbH ist mit ihren unterirdischen Gasspeichern in Bad Lauchstädt HYPOS-Partner der ersten Stunde. Die oberirdischen Rohre

bieten den Zugang für Wartung und Reinigung der Pipeline.


58

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

WARUM OSTDEUTSCHLAND

SO INTERESSANT FÜR

INVESTOREN IST

Drei Fragen an die ostdeutschen Wirtschaftsminister Martin Dulig (Sachsen, SPD),

Harry Glawe (Mecklenburg-Vorpommern, CDU), Ramona Pop (Berlin, Grüne),

Prof. Dr. Jörg Steinbach (Brandenburg, SPD), Wolfgang Tiefensee (Thüringen, SPD)

und Prof. Dr. Armin Willingmann (Sachsen-Anhalt, SPD)

W+M: Was sind die wichtigsten Argumente,

mit denen Sie um Investoren werben?

Martin Dulig: Sachsen punktet mit seiner

Bildungs- und Wissenschaftslandschaft mit

hervorragend ausgebildeten Fachkräften,

mit einer modernen Infrastruktur sowie einer

exzellenten Vernetzung zwischen Hochschulen,

außeruniversitären Forschungseinrichtungen

und Unternehmen. Die zentrale

Lage in der Mitte Europas erweist sich für

den Freistaat als echter Standortvorteil.

Darüber hinaus bietet Sachsen mit seiner

Mischung aus eindrucksvollem historischen

Erbe, einer Vielzahl kultureller Attraktionen

Martin Dulig

(Sachsen, SPD)

und Naturschönheiten eine ausgezeichnete

Lebensqualität.

Harry Glawe: Es gibt vieles, was Mecklenburg-Vorpommern

als Investitionsstandort

attraktiv macht. Ein paar Beispiele: das

Land liegt zentral zwischen den Metropolen

Hamburg, Berlin, Kopenhagen und Stettin

sowie dem Baltikum und Skandinavien. Wir

haben eine moderne Infrastruktur, gute Anbindungen

über innerdeutsche Autobahnen,

effiziente Schienenlogistik nach West- und

Südeuropa, den Flughafen Rostock/Laage als

Personen- und Frachtflughafen und unsere

Ostseehäfen. Vor allem die Häfen gehören

zu den wachsenden Wirtschaftszentren des

Landes. Eine wesentliche Stärke unseres

Landes sind qualifizierte und motivierte

Fachkräfte. So gibt es beispielsweise jährlich

rund 3.500 Hochschulabsolventen in den

MINT-Studiengängen. In unseren Gesprächen

mit Investoren wird deutlich, dass weiche

Standortfaktoren wie Kindertagesstätten,

Schulen sowie ein attraktives Wohnumfeld

und Freizeitangebot immer bedeutender

werden. Auch damit kann Mecklenburg-Vorpommern

punkten. Zudem unterstützen

wir mit guten Rahmenbedingungen und

interessanten Fördermöglichkeiten neue

Investoren, ebenso beispielsweise bestehende

Unternehmen, Gründer, Nachfolger sowie

Forscher. Was mich besonders freut, ist die

Rückmeldung unserer Unternehmer, dass

es in Mecklenburg-Vorpommern unkompliziert

zugeht – kurzfristige Termine, schnelle

Entscheidungswege und zuverlässige

Gesprächspartner sind unser Merkmal. Das

wollen wir auf jeden Fall weiter beibehalten.

Ramona Pop: Berlin ist Kreativmetropole,

Start-up-Hub, innovativer Technologie- und

Wissenschaftsstandort. Wir sind eine der dynamischsten

Wirtschaftsregionen Deutschlands,

bieten einmalige Chancen und präsentieren

uns für Unternehmer*innen als eine der

lebenswertesten Städte Europas. Mit unserer

Wirtschafts- und Technologieförderung

für Unternehmen, Investoren und Wissenschaftseinrichtungen

unterstützen wir diese

Entwicklung Berlins zur Innovationsstadt.

Berlin ist eine Stadt des ständigen Wandels.

In vielen Branchen spielt die Digitalisierung

aller gesellschaftlichen Bereiche heute eine

ganz zentrale Rolle. Veränderungen sind für

viele junge, dynamische Menschen spannend.

Die Wandelbarkeit von Berlin hat die Stadt

schon immer für viele Zuzügler interessant

gemacht. Berlin zählt mittlerweile zu den

Foto: W+M


MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 59

Foto Ramona Pop: Wolf Lux, W+M

attraktivsten Standorten für Fachkräfte der

Digitalwirtschaft. Mehr als 70.000 Menschen

arbeiten heute bereits in der Berliner Digitalwirtschaft,

bis 2030 könnte sich diese Zahl

sogar verdreifachen. Wir haben also das Potenzial

an Talenten und Fachkräften, und die

Unternehmen wissen, dass sie hier in Berlin

qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

insbesondere für die digitale Arbeitswelt,

finden. Daher bin ich überzeugt, dass das

offene und tolerante Berlin auch weiterhin

ein außerordentlich attraktiver Standort für

qualifizierte Menschen aus der ganzen Welt –

und somit auch für Investoren – bleibt.

Ramona Pop

(Berlin, Grüne)

Jörg Steinbach: Die deutsche Hauptstadtregion

hat sich seit der Wende zu einem

modernen Wirtschaftsstandort entwickelt,

der sich zunehmend mit den etablierten

Metropolregionen Deutschlands messen

kann. Unser größtes Pfund, mit dem wir

wuchern können, ist unsere Industriefreundlichkeit

in der Fläche. Neue Industrieparks

wie in Schwedt oder auch in Cottbus – das

sind berlinnahe Standorte in der „Greater

Berlin“-Region. Und die heißt Brandenburg.

Brandenburg ist geprägt von einer leistungsfähigen

Industrie sowie einem wachsenden

Mittelstand und punktet zudem mit hoher

Lebens- und Freizeitqualität. Das Land

Brandenburg hat diese Entwicklung mit

seiner Förderpolitik – mit der Fokussierung

auf innovative, wachstumsstarke Cluster

wie beispielsweise die Energietechnik, die

Ernährungsindustrie oder die Logistik sowie

auf regionale Wachstumskerne – maßgeblich

unterstützt. Konkret besticht der

Wirtschaftsstandort Brandenburg durch

seine vielfältigen Serviceleistungen für die

angesiedelten Unternehmen, die exzellente

Symbiose von Forschung und Wirtschaft, ins-

besondere für Start-ups, und über die breite

Palette maßgeschneiderter Gewerbe- und

Industriestandorte. Und: Brandenburg liegt

an den zentralen europäischen Verkehrsachsen,

was sich immer mehr zu einem strategischen

Wettbewerbsvorteil entwickelt hat.

Vor allem aber verfügt das Land über gut

ausgebildete und hoch motivierte Fachkräfte.

So nehmen in Brandenburg deutlich mehr

Beschäftigte an beruflichen Weiterbildungen

teil, als dies in Deutschland insgesamt üblich

ist. Die Landesregierung engagiert sich im

Schulterschluss mit den Sozialpartnern dafür,

Brandenburg zu einem Land der guten Arbeit

zu machen. Das heißt: Wir werben nicht nur

mit gut ausgebildeten Fachkräften, wir erwarten

auch, dass Unternehmen, die sich bei

uns ansiedeln, attraktive Arbeitsbedingungen

bieten – um Menschen für Brandenburg zu

gewinnen und sie hier zu halten.

Wolfgang Tiefensee: Die zentrale Lage in

Deutschland und Europa, mitten in einem der

wirtschaftsstärksten Märkte der Welt – im

Umkreis von 800 km finden sich 280 Millionen

potentielle Kunden, werden 70 Prozent der

europäischen Wirtschaftsleistung generiert,

finden 80 Prozent der europäischen Forschung

und Entwicklung statt. Damit Investoren diese

Vorteile nutzen können, verfügt Thüringen

über eine exzellente Verkehrsinfrastruktur,

verfügt mit Erfurt über den zentralen

ICE-Knotenpunkt, bietet schnelle und direkte

Anbindungen an die Flughäfen in Frankfurt

Wolfgang Tiefensee

(Thüringen, SPD)

und Leipzig und letztlich in alle deutschen

Großstädte. Und es gibt natürlich weitere

Argumente für den Standort: qualifizierte

Fachkräfte – 80 Prozent der Beschäftigten

verfügen über einen Facharbeiter- oder

Meisterabschluss, 14 Prozent haben ein

Studium absolviert; die gute Hochschul- und

Forschungslandschaft – mit allein zehn staatlichen

Universitäten und Fachhochschulen;

eine leistungsfähige Wirtschaftsförderung mit

innovativen Unterstützungsangeboten für Unternehmen;

und last but not least mit der Landesentwicklungsgesellschaft

eine One-stop-

Agentur, die potenziellen Investoren einen

umfassenden Service aus einer Hand bietet.

Die breite Branchenstruktur der Thüringer

Wirtschaft und die Vielzahl von ausländischen

Investitionsprojekten zeigen, dass Thüringen

als Investitionsstandort gefragt ist.


60

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

Armin Willingmann: Sachsen-Anhalt hat

sich in den vergangenen vier Jahren verstärkt

zu einem Land der Zukunftstechnologien

entwickelt – und das nicht rein zufällig: Wir

haben die Wirtschaft mit unserer hervorragenden

Wissenschaftslandschaft enger vernetzt,

gezielt in Forschung investiert und die

Wirtschaftsförderung passgenau umstrukturiert.

Die Zeiten, in denen Sachsen-Anhalt

einfach nur mit Fläche und niedrigen Löhnen

geworben hat, sind glücklicherweise längst

vorbei. Heute können wir bei Investoren mit

sehr triftigen und zeitgemäßen Argumenten

punkten: Wer zu uns kommt, hat dank unserer

hervorragenden Hochschulen und Forschungseinrichtungen

Zugriff auf Fachkräfte

und kann gemeinsame Forschungs- und

Entwicklungsprojekte vorantreiben. Freilich

stellen wir auch eine attraktive Investitionsförderung

und viele weitere Dinge in Aussicht,

doch ich habe den Eindruck, dass wir bei den

jüngsten Ansiedlungen vor allem mit unserer

Wissenschaftslandschaft punkten konnten.

Zudem verfolgen wir das Prinzip ‚Stärken

stärken‘. Für Unternehmen wie Farasis

oder UPM ist es attraktiv, sich an einem Ort

anzusiedeln, der beispielsweise über eine

große Tradition und erhebliche Kompetenz im

Bereich Chemie verfügt.

Prof. Dr. Armin Willingmann

(Sachsen-Anhalt, SPD)

W+M: Gibt es eine Investition oder Ansiedlung

aus der jüngsten Vergangenheit, auf die

Sie besonders stolz sind?

Martin Dulig: Mit Bosch investiert ein

global tätiges Unternehmen in Sachsen und

tätigt hier die größte Einzelinvestition seiner

Unternehmensgeschichte. Diese Investition

ist höchst erfreulich. Das neue Werk

bereichert das Netzwerk „Silicon Saxony“

und stärkt das gesamte Umfeld aus Zulieferern

und Dienstleistern am schon jetzt

bedeutendsten europäischen Standort für

Mikroelektronik. Die Standortentscheidung

von Bosch ist ähnlich bedeutsam wie die Entscheidung

von Siemens Ende 1993 für eine

Halbleiterfertigung in Dresden.

Harry Glawe

(Mecklenburg-Vorpommern, CDU)

Harry Glawe: Stolz ist das falsche Wort.

Ich bin sehr dankbar für jeden einzelnen

Unternehmer, der mutig und engagiert sein

Geschäft betreibt, gesellschaftlich verantwortungsvoll

handelt und so Arbeitsplätze

bei uns im Land sichert und schafft.

Ramona Pop: Dass wir uns gegen die internationale

Konkurrenz durchgesetzt haben

und Siemens 600 Millionen Euro in den elften

Berliner Zukunftsort Siemensstadt investiert,

macht mich natürlich stolz. Wir haben

erfolgreich die Voraussetzungen geschaffen,

dass Siemens in den Wirtschaftsstandort

Berlin investiert. Unsere Stadt ist mit der

boomenden Digitalwirtschaft, den internationalen

Talenten und der modernen Industrie

der passende Standort für den neuen Innovations-Campus.

Siemensstadt 2.0 sichert

nicht nur Arbeitsplätze, sondern schafft auch

neue. Gemeinsam mit Siemens stärken wir

international die Wettbewerbsfähigkeit des

Wirtschaftsstandortes Berlin und Deutschland.

Und selbst in der Coronakrise dürfen wir

uns über zahlreiche Ansiedlungsprojekte mit

neu geschaffenen Arbeitsplätzen freuen.

Jörg Steinbach: Die prominenteste Ansiedlung

in jüngster Zeit ist zweifelsohne

die erfolgreiche Anwerbung des Elektroautoherstellers

Tesla, der seine europäische

Gigafactory in Grünheide errichtet. Das ist

sogar das größte Ansiedlungsvorhaben in der

Geschichte Brandenburgs – und ein Meisterstück

unserer Wirtschaftsförderung. Die

Tesla-Ansiedlung ist nicht nur eine Chance

für Grünheide, sondern für ganz Brandenburg

und darüber hinaus – eine Ansiedlung, die

eine Sogwirkung erzeugen wird und vielfältige

Impulse in unserer gesamten Wirtschaft

setzen wird. Firmen, die vorher noch nicht mal

wussten, wo Brandenburg liegt, haben uns

nun auf der Landkarte entdeckt – als ideale

Region für Innovation und Zukunftstechnologien

– und wollen sich hier auch ansiedeln.

Wolfgang Tiefensee: Sicherlich die neue

Batteriezellenfabrik von CATL am Erfurter

Kreuz – eine der bedeutendsten Industrieansiedlungen

der letzten Jahrzehnte, um die wir

seit Anfang 2017 intensiv geworben haben.

Das ist eine Ansiedlung der Superlative, mit

der Thüringen zum wichtigsten europäischen

Standort für die Produktion von Batteriezellen

werden und damit einen ganz wesentlichen

Beitrag zur Mobilitätswende leisten

kann.

Armin Willingmann: Ich freue mich sehr,

dass es uns nach langen Verhandlungen

gelungen ist, das Deutsche Zentrum für

Luft- und Raumfahrt nach Sachsen-Anhalt

zu holen. Dort werden zwar nicht gleich

von heute auf morgen Hunderte oder gar

Foto Prof. Dr. Armin Willingmann: Andreas Lander (1), W+M (1)


MUT ZUM VORSPRUNG

Foto Prof. Dr. Jörg Steinbach: Till Budde

Tausende Arbeitsplätze entstehen. Doch mit

dem Testzentrum entwickelt sich ein einst

perspektivloser Verkehrsflughafen zu einem

Zukunftsort, der attraktiv für weitere Unternehmen

und Start-ups aus den Bereichen

Luft- und Raumfahrt sowie Logistik ist. Auch

hier wird unser Erfolgsrezept, Wirtschaft mit

Wissenschaft zu verknüpfen, in den kommenden

Jahren seine Wirkung entfalten, zumal

auch die Otto-von-Guericke-Universität

Magdeburg mit dem DLR kooperieren wird.

W+M: Wird es zeitnah weitere nennenswerte

Ansiedlungen geben? Wenn ja, in

welchen Branchen?

Martin Dulig: Ich möchte potenziellen Investoren

nicht vorweggreifen. Die Investoren

erwarten grundsätzlich eine vertrauliche

Behandlung ihrer Investitionsabsichten und

entscheiden in der Regel selbst über den

jeweiligen Zeitpunkt der Bekanntgabe.

Harry Glawe: Die Nachfrage ist da, die

Coronapandemie macht der Wirtschaft vielerorts

zu schaffen. Wir führen Gespräche mit

Vertretern verschiedener Branchen. In jüngster

Zeit stammten die ansiedlungsinteressierten

Unternehmen beispielsweise aus den

Branchen Tourismus, Logistik, Lebensmittelindustrie

und Medizintechnik. Die Gespräche

sind vertraulich. Wir informieren gern, wenn

alles in trockenen Tüchern ist.

Ramona Pop: Berlin bleibt ein attraktiver

Wirtschaftsstandort und wir tun alles dafür,

weiterhin die richtigen Rahmenbedingungen

zu setzen – auch in der Krise. Aus meinen

zahlreichen Gesprächen mit Unternehmen

weiß ich, dass viele an ihren geplanten Investitionen

festhalten wollen. Auch die Anträge

auf Förderung gewerblicher Investitionen, die

sogenannten GRW-Mittel von Bund und Land,

lassen für das erste Halbjahr keinen signifikanten

Rückgang erkennen. Bedenken muss

man auch: Viele Effekte von Corona treten

erst mit Verzögerung ein, sodass sich unser

Blick auf das zweite Halbjahr richtet.

Prof. Dr. Jörg Steinbach

(Brandenburg, SPD)

Jörg Steinbach: Das Investitionsgeschäft

läuft trotz Corona gut. Unsere Wirtschaftsförderung

begleitet eine Reihe von vielversprechenden

Projekten insbesondere in der

Industrie und der Logistik. Gerade erst haben

wir das Richtfest des US-Batterieproduzenten

Microvast für seine Europazentrale

in Ludwigsfelde gefeiert. Das Schienenverkehrstechnik-Unternehmen

Stadler investiert

im Havelland. Die DHL stellt ihr neues

Mega-Paketzentrum fertig. Die BASF hat vor

wenigen Wochen den Aufbau einer Kathodenproduktion

für die Batteriefertigung in

Schwarzheide bekannt gegeben. In der Lausitz

arbeiten wir mit Hochdruck an weiteren

Ansiedlungen. Die WFBB hat gemeinsam mit

der Wirtschaftsförderung Sachsen und mit

Unterstützung des Bundes eine Investitionsoffensive

für die Lausitz gestartet. Davon

sind weitere spannende Projekte internationaler

Investoren zu erwarten. In wenigen

Wochen werden wir mit dem BER über einen

leistungsfähigen Airport von internationalem

Format in Brandenburg verfügen. Das Flughafenumfeld

ist eine attraktive Ansiedlungsregion.

Kurzum: Es ist einiges in der Pipeline.

Wolfgang Tiefensee: Das Land steht derzeit

trotz Coronakrise mit 275 Investoren in

Kontakt, die sich neu in Thüringen ansiedeln

oder bestehende Standorte erweitern wollen,

vor allem aus Branchen wie dem Maschinenbau,

der Batterie- und Speichertechnologie,

der Automobilindustrie, Elektrotechnik, Optik,

Medizintechnik oder unternehmensnahen

Dienstleistungen wie z. B. der Logistik. Dabei

geht es um Investitionen von rund 5,4 Milliarden

Euro. Bemerkenswert ist dabei die große

Zahl ausländischer Investitionsvorhaben,

insgesamt 117 – ein Spitzenwert auch im

Vergleich mit den letzten Jahren. Das heißt:

Ja, es wird weitere Ansiedlungen geben. Aber

man muss natürlich realistisch sein: Nicht alle

Projekte werden am Ende auch umgesetzt,

und so viele ganz „große Fische“ schwimmen

auch nicht mehr vorbei. Wir sind natürlich

auch darauf vorbereitet, etwa mit unserer

Großflächeninitiative – aber das Hauptaugenmerk

gilt dem organischen Wachstum aus

dem Bestand unserer überwiegend mittelständischen

Unternehmen heraus.

Armin Willingmann: Ich gehe stark davon

aus, insbesondere in den Bereichen Chemie

und Automotive. Der niederländische Konzern

AMG hat beispielsweise Anfang des Jahres

bekannt gegeben, eine Lithium-Raffinerie im

Süden Sachsen-Anhalts errichten zu wollen,

die Gespräche hierzu sind weit vorangeschritten.

Lithium wird etwa bei der Fertigung

von Batterien für Elektroautos benötigt. Auch

das Solar Valley erlebt möglicherweise eine

Renaissance. So hatte der Schweizer Maschinenbauer

Meyer Burger jüngst angekündigt,

eine neue Fertigung von Solarzellen in

Thalheim aufbauen zu wollen. Darüber hinaus

investiert Hanwha Q-Cells 125 Millionen Euro

in den Ausbau seines Forschungs- und Entwicklungszentrums

im Solar Valley. Es macht

durchaus Sinn, diese Investitionen in einem

größeren Kontext zu betrachten: Überall dort,

wo Wandel stattfindet – Automobilindustrie,

Energiewirtschaft – wird auch investiert. Und

Sachsen-Anhalt hat sich in den letzten vier

Jahren zu einem hoch attraktiven Investitionsstandort

entwickelt, übrigens auch

für internationale Investoren, wie jüngste

Ansiedlungen zeigen.

Interviews: Karsten Hintzmann


62

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

SILICON EASTSIDE

SCHLÄGT ERSTE WELLEN:

VIER GRÜNDER IM

REVOLUTIONSMODUS

Inzwischen wissen wir: Fahrzeuge

werden zunehmend durch Software

bestimmt. Damit verliert die analoge

Autotechnologie-Führerschaft

immer mehr an Gewicht. Tesla & Co.

„überholen ohne einzuholen“ – man

kennt das Motto hierzulande noch

gut. Parallel dazu sind einige junge

ostdeutsche Unternehmen bereits im

Zukunftsmodus gestartet. Bleiben sie

auf Erfolgskurs, könnten sie einige

Branchen ziemlich durcheinanderwirbeln.

Entsteht ein Silicon Eastside?

VON THOMAS STROBEL

Bleiben wir zunächst beim Auto als dem

Erfolgsindikator der deutschen Wirtschaft

schlechthin. Schon vor Corona raste die gesamte

Branche dank „Schummel-Software“

ungebremst in eine Abgasskandal-Nadelkurve.

Jetzt schließt sich eine Corona-Schussfahrt

an und drängt große Hersteller infolge

langjähriger Zukunftsignoranz ein weiteres

Mal an den Fahrbahnrand. Sie kommen

– um im Bild zu bleiben – damit von der

Zukunfts-Autobahn ab und landen auf dem

holprigen Feldweg nebenan.

Noch während der Pandemie bestätigen

Negativnachrichten für Wolfsburger oder

Stuttgarter Marken im Wochentakt: Die

Corona-Folgen stellen Geschäftsmodelle

und Geschäfte ohne robuste mittelfristige

Zukunftsperspektive jetzt früher infrage

als in wirtschaftlichen Schönwetterzei-

ten: Karstadt-Kaufhof, Schlachtbetriebe,

Lufthansa, Thyssen-Krupp oder die Deutsche

Bahn sind weitere Beispiele …

Umsteuern: mehr denn je Herausforderung

und Chance zugleich

„Neue Chancen jetzt nutzen!“. Die Umsetzung

dieser vier Worte ist für alle vorausdenkenden,

aktiven, kreativen, gestaltenden – ergo

„hand“-elnden – Akteure in Wirtschaft und

Politik unerlässlich für eine erfolgreiche

Zukunftsgestaltung – nicht zuletzt im Sog

von Corona.

Vor welchen Fragen stehen insbesondere

ostdeutsche Wirtschaftspraktiker aus Sicht

eines prozessbegleitenden Zukunftslotsen,

der moderierte Zukunftsarbeit für Regionen,

Branchen oder Firmen betreibt?

Grafik: pch.vector/freepik.com, Foto: room


MUT ZUM VORSPRUNG

WIRTSCHAFT+MARKT 63

Welche neuen Geschäftsmodelle rund um

virtuelle und zugleich softwarebasierte

Unternehmen sind für die hiesigen Besonderheiten

erfolgversprechend?

Wie sollen neuartige Geschäftsstrukturen

wie interdisziplinäre Erfolgscluster, mit der

Wissenschaft vernetzte Verbünde oder

virtuelle Projekte für die künftige Wertschöpfung

genutzt werden?

Welche Prioritäten für Unternehmen und

Führungskräfte bieten die Grundlage für

Nachhaltigkeit, Resilienz und Achtsamkeit,

um aus der Krise heraus die Weichen für

die Zukunft zu stellen?

Aus welchen traditionellen Problemen

können heute Grundlagen für den Vorsprung

von morgen entstehen? Beispiele

sind hier die intelligente Nutzung auslaufender

Kohletagebau-Flächen oder die

Etablierung vollkommen neuer Strukturen

wie dem DLR-Erprobungszentrum für

Drohnen in Cochstedt/Sachsen-Anhalt,

der Etablierung des Umwelt- und

Naturschutzdatenzentrums Deutschland

im Mitteldeutschen Revier oder dem Bau

eines Eisenbahn-Testzentrums in der

Oberlausitz.

Start-ups mit Mut zum Vorsprung

Hat der Osten Champions von morgen, deren

konzeptioneller Vorsprung gegenüber dem

Stand der Technik in ihren jeweiligen Branchen

eher mit dem Metermaß als mit dem Lineal

zu messen ist? Ja unbedingt, wenn diese

auch nicht dutzendfach vertreten sind. Vier

Visionäre zwischen Rostock und Dresden, die

unternehmerisch mit bereits beachtlichen

Zwischenerfolgen unterwegs sind, seien kurz

vorgestellt:

Der 3D-Weltenerschaffer aus Jena: Gründer

Hans Elstner hat mit seiner DIY-Plattform

rooom ein intuitiv zu bedienendes Online-Baukastensystem

für 3D, Virtual Reality (VR)

und Augmented Reality (AR) geschaffen. Das

ohne Vorkenntnisse zu öffnende Einfallstor

für eigene 3D-Räume/Welten begeistert

Business-Anwender wie Privatnutzer gleichermaßen.

Der Clou: Gegen einen geringen

Beitrag lassen sich per Scanner der rooom AG

von beliebigen Objekten eigene 3D-Modelle

erstellen.

rooom als erste Do-it-yourself-Plattform für

Inhalte in 3D, AR & VR: Das Start-up arbeitet

mit sehr kleinen Datenmengen und ermöglicht

dadurch ausgezeichnete Ladezeiten.

Foto: XXX


64

WIRTSCHAFT+MARKT

TITEL

digitalen Umkleidekabinen ausstatten: Wer

sie betritt, wird von Kopf bis Fuß abgescannt

und kann mittels eines „Wunder“-spiegels

Wunsch-Kleidung auf seinen Körper projizieren.

Anprobe, ohne sich zigmal umzuziehen;

die Nutzer fühlen sich in die Zukunft katapultiert.

Der Gründer und CEO der jungen

Unternehmensgruppe ADCADA mit inzwischen

einem Dutzend Firmen, will in zahlreiche Richtungen

expandieren.

UG-Mitgründerin Laura Gertenbach: „Wir lieben

Fleisch, aber die heutigen Produktionslinien

Programmieren mittels Sensorjacke oder TracePen:

Wandelbots aus Dresden sorgt für mehr

digitale Flexibilität im Mittelstand.

sind nicht mehr zeitgemäß. Forscher haben gezeigt,

dass es anders funktioniert, also machen

wir es.“

Der „Elon Musk“ aus Dresden: Auch wenn

der „Focus“ mit diesem Namensvergleich

zu 90 Prozent schiefliegen sollte, wären

die verbleibenden 10 Prozent Musk, die der

IT-Profi Christian Piechnick mit seiner Firma

Wandelbots verkörpert, dennoch folgenreich.

Nach dem Motto „No Codes Robotics“ leitet

das Start-up eine neue Robotik-Ära mit dem

Unterschied ein, dass jetzt auch Laien per TracePen

Industrieroboter ganz ohne Programmierkenntnisse

teachen können.

Der Mittelstandskonzernchef aus Rostock:

Seine Lösungen u. a. für die Bereiche Handel,

Fashion, Healthcare, Immobilien und Gastro

verblüffen. Bereits mit 15 hatte Benjamin

Kühn folgende digital-innovative „Spiegel“-Idee

im Kopf; jetzt ist er fast 24 und will

seine zwei ersten Fashion.Zone-Shops mit

Anziehen ohne umziehen dank eines genialen

Brückenschlags zwischen Offline-und Onlineshopping:

Der Fashion.Zone-Mirror aus Rostock

macht's möglich.

Die Zellfleisch-Produzentin aus Mecklenburg:

Innocent Meat will den Fleischmarkt der Zukunft

nachhaltig verändern. Das zellbasierte Kunst-

Fleisch mit identischem Geschmack, Nährwert

und Aroma wie aus tierischer Produktion,

wächst vergleichsweise schnell in Bioreaktoren

heran. Dem naturnahen Herstellprozess

liegen gentechnikfreie Tierzellen und pflanzliche

Nährstoffe zugrunde. Die neue Fleischproduktion

benötigt im Vergleich zu herkömmlichen

Methoden 99 Prozent weniger Landfläche, 95

Prozent weniger Frischwasser und verursacht

80 Prozent weniger CO 2 . Mitbegründerin und

CEO ist Laura Gertenbach. (Foto 5)

Ich bin davon überzeugt, dass Start-ups und

Jungfirmen, die noch zu Pandemiezeiten ihre

zukunftsorientierten Konzepte in Angriff nehmen,

jetzt womöglich ein Momentum nutzen

können, das so schnell nicht wiederkommt: Die

sonst gefährlichen, etablierten Wettbewerber

oder „Platzhirsche“ haben zumeist gerade

Besseres zu tun, als sich den Wadenbeißern

zu erwehren: Sie sind massiv auf ihr eigenes

Überleben in der Krise fokussiert und können

darum Quereinsteigern und Innovatoren weniger

Aufmerksamkeit widmen.

Grafik: pch.vector/freepik.com, Fotos: Wandelbots, Adcada, Innocent Meat, Wirtschaft+Markt


MUT ZUM VORSPRUNG

WIRTSCHAFT+MARKT 65

„Nach-Corona“ aus Sicht eines

Zukunftslotsen

Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum von

Wirtschaft und Markt wollte sich mit mittelfristigen

Zukunftsperspektiven für die

neuen Bundesländer in gewohntem Umfeld

befassen, nun hat allerdings das Virus für alle

Gestalter dieser Prozesse neue, unverrückbare

Prämissen geschaffen. Noch immer hofft alle

Welt auf das baldige Ende der Pandemie und

stellt sich mehr oder weniger besorgte Fragen

zum „Danach“. Was lehrt uns Corona, welche

Anstöße hat der Lockdown gegeben, an welchen

Stellen müssen wir uns von Gewohntem

verabschieden? Dem Zukunftslotsen sind dazu

folgende Gedanken wichtig:

„Nach Corona“ wird es so nicht geben, denn wir

werden weiter mit dem Risiko von Pandemien

leben müssen. SARS-CoV-2 ist eine Zäsur,

weil damit eine Zeit massiver Veränderungen

raumgreifend begonnen hat. Zwei wesentliche

Kennzeichen dafür sind:

Eine gedankenlos konsumierende Überflussgesellschaft

wurde durch das Virus

auf eine normale Wohlstandsgesellschaft

zurückgebremst – das Nachhaltigkeitsbewusstsein

wächst. Erreichtes wie die

Digitalisierung des Schulbetriebs, Videokonferenzen

statt Geschäftsreisen oder

mehr Fahrräder in den Innenstädten, wird

sich kaum mehr zurückdrängen lassen.

Durch Corona werden die Menschen erstmals

spürbar auf die Folgen der „Massenmenschhaltung“

aufmerksam, sie erleben

jetzt insbesondere in den Metropolen und

Großstädten hautnah die Konsequenzen,

die von Unternehmern, Politik und Verbrauchern

in der Massentierhaltung seit

Jahren negiert wurden.

Wirtschaftspolitische Folgen

Corona hat Entscheidungen erzwungen, die

Politiker über Jahrzehnte für nicht umsetzbar

gehalten hatten. Deshalb sollte der anstehende

Neustart als Aufbruch in die Zukunft

verstanden und als Chance gestaltet werden.

Förderung für Unternehmen und Branchen

sind nur dann angebracht, wenn damit Beiträge

zu Nachhaltigkeit, Ressourceneinsparungen

und Einhaltung der Klimaziele geleistet werden.

Auch sollte es bei staatlichen Konjunkturpaketen

und Hilfestellungen eine Unterscheidung

zwischen „echten Corona-Opfern“ und

„Untätigkeitsopfern bei Zukunftsstrategien

und Transformation“ geben. Letztere sind

durch das Virus lediglich früher als erwartet

auf die Realitätsfolgen der eigenen Trägheit

gestoßen worden.

So wie vor Corona alle gleich sind, darf dieser

Gleichbehandlungsgrundsatz nicht durch Auffanghilfen

zugunsten der „Lauten“ verfälscht

werden. Nicht weniger systemrelevant und

damit gesellschaftskritisch ist die Masse

derjenigen, die „leise“ leiden. Daraus ergibt sich

zwangsläufig die Fragestellung: Gleichbehandlungsgrundsatz

und soziale Marktwirtschaft –

wie passt das heute und morgen zusammen?

Vielleicht kommen wir im Kontext Corona und

Zukunftsgestaltung zu neuen Ansatzpunkten

mit auf Systemrelevanz bezogenen Gehaltsstrukturen

und Steuerreformen, die Mitgestalter

des gewünschten „Zukunftssystems“

belohnen.

Unternehmerische Folgen

Achtsamkeit ist in diesen Tagen ein ähnliches

Modewort wie es Innovation noch vor Jahren

war. Die Folgen von Corona zwingen uns zum

Richtungswechsel, damit wir nicht in die alten

Problemfelder von Globalisierung, Ressourcenbedarf

und Klimawandel zurückfallen. Der

Einstieg in eine nachhaltigere Lebensweise

und Wirtschaft bietet sich jetzt an, wird

sicher auch bei einem kleinen Prozentsatz der

mündigen Verbraucher zu einem veränderten

Kauf- und Konsumverhalten führen und kann

von langfristig erfolgreichen Unternehmen als

Chance genutzt werden: In einer ressourcenfressenden

Wegwerf-Welt haben Zukunfts-Innovatoren,

die Nachhaltigkeit in den Fokus

nehmen, mindestens einen wahrnehmbaren

Wettbewerbsvorteil sicher.

Etliche global tätige Unternehmen planen

bereits ein Redesign der aktuellen Liefer- und

Wertschöpfungsketten, um für Pandemien

oder andere denkbare Unterbrechungsszenarien

die Robustheit ihrer Prozesse zu

verbessern und die Eigenversorgung mit

strategischen Gütern, wozu nicht nur Masken

und Schutzanzüge gehören, zu gewährleisten.

Dazu müsste gleichzeitig die regionale,

nationale und europäische Unabhängigkeit

gesteigert oder zumindest kurzfristig nutzbare

Alternativlösungen vorgehalten werden. Das

Gestaltungsmotiv geplanter Robustheit und

Zuverlässigkeit muss dabei aber Vorfahrt

haben gegenüber pauschalen Rückwärtsbewegungen

wie spontane Renationalisierung.

Trotz des wirtschaftlichen Corona-Desasters

sind jene Unternehmen im Vorteil, die die Krise

als Zukunftschance angehen. Es sind oft die,

die im Rahmen ihrer Unternehmensplanung

schon länger mit Zukunftsbildern und Szenarien

unterschiedliche Handlungsalternativen

untersucht und strategisch vorausschauend

durchdacht haben. Sie können ihre bisherigen

Maßnahmenpläne und Roadmaps jetzt an

neue Randbedingungen anpassen und mit

aktualisierten Prioritäten die Umsetzung

verfolgen.

Der Münchner Thomas Strobel ist Geschäftsführer der FENWIS GmbH. Der

57-jährige Dipl.-Ing. für Maschinenwesen mit Berufserfahrung in branchenübergreifenden

Strategie- und Planungsteams sowie im Innovationsmanagement

gilt als besonders industrienah. Als Zukunftslotse

ist er methodisch und inhaltlich darauf spezialisiert, für mittelständische

Unternehmen und Industrieverbände aus Zukunftstrends

erfolgversprechende Geschäftsstrategien, neue Geschäftsmodelle

und Umsetzungspläne systematisch abzuleiten.


66

WIRTSCHAFT+MARKT

ZUKUNFTSMOBILITÄT

AUTOMOBILINDUSTRIE OST

AUF DER ÜBERHOLSPUR IN

SACHEN ZUKUNFTSMOBILITÄT

Die Automobilwirtschaft in den neuen Bundesländern

hat sich speziell in den letzten zehn Jahren dynamisch

entwickelt. Nahezu jeder ostdeutsche Ministerpräsident

oder Wirtschaftsminister behauptet daher voller Stolz,

dass ohne Fahrzeugteile aus seinem Bundesland kein

deutsches Auto fahren würde. Widerlegt hat diese steile

These noch niemand. In der Tat haben sich die unzähligen

hoch spezialisierten Mittelständler auf diesem Gebiet

unverzichtbar gemacht. Sie beliefern längst nicht mehr

nur den heimischen Markt, Fahrzeugteile „made in Eastgermany“

sind weltweit gefragt.

Doch das absehbare Ende der Verbrennungsmotoren

zwingt die Branche zum Umdenken. Die Produktion muss

kurz- und mittelfristig an die Bedürfnisse der Elektromobilität

angepasst werden. Speziell die im Osten beheimateten

Autoschmieden haben sich auf den neuen Trend

bereits eingestellt und sind dabei, sich auf die Überholspur

in Sachen Zukunftsmobilität zu begeben.

Die hier abgebildeten Zahlen und Fakten vermitteln einen

Eindruck von der Stärke und Leistungskraft der Automobilwirtschaft

zwischen Mecklenburg-Vorpommern

und Thüringen.


WIRTSCHAFT+MARKT 67

9 %

aller Beschäftigten

der ostdeutschen

Industrie arbeiten

in der Automobilindustrie

13 % aller in Deutschland

produzierten Pkw wurden in

Ostdeutschland hergestellt.

Hinzu kommen viele Beschäftigte in

anderen Wirtschaftszweigen, die ihren

Arbeitsplatz dem Automobil verdanken

596.500

PKW

wurden 2019 in

Ostdeutschland

produziert

10,8

MRD. EURO

EXPORT

(2019)

12 %

des Umsatzes der ostdeutschen

Industrie

werden in der

Automobilwirtschaft

erwirtschaftet.

14 % der Exporte der ostdeutschen

Industrie entfielen im Jahr 2019

auf die Automobilindustrie.

946 MIO.

EURO INVES­

TITIONEN

(2018)

Damit legten die Investitionen gegenüber

2017 um ein Fünftel (+21 %) zu.


68

WIRTSCHAFT+MARKT

AUTOMOBILINDUSTRIE –

EINE BRANCHE IM WANDEL

Wie für das gesamte Land spielt die Automobilindustrie auch für die ostdeutschen

Bundesländer eine besondere Rolle – sie ist eine der zentralen Säulen

der Industrie. Neun Prozent aller Beschäftigten in der ostdeutschen Industrie

arbeiten in der Automobilindustrie. 73.000 Menschen verdienen ihr Geld in

dieser Branche, die derzeit zwei Herausforderungen gleichzeitig meistern

muss – die Coronakrise und den Strukturwandel in Richtung Elektromobilität.

VON KARSTEN HINTZMANN

Die Zahlen aus den letzten Jahren waren

beeindruckend: In den neuen Bundesländern

wurden pro Jahr knapp 600.000 Pkw

gefertigt, rund 13 Prozent aller in Deutschland

hergestellten Autos. Der Gesamtumsatz der

Branche lag im Osten Deutschlands bei über

25 Milliarden Euro, die Investitionen betrugen

mehr als 940 Millionen Euro. Nach zehn Jahren

des Wachstums, der Internationalisierung und

einem stetigen Aufwuchs der Erträge und der

Beschäftigung steht die deutsche Automobilindustrie

vor einem längerfristigen Strukturwandel.

Die Trends der Elektrifizierung der

Antriebe sowie die zunehmende Etablierung

automatisierter Fahrfunktionen und neuer

Mobilitätsdienstleistungen werden die Wertschöpfungsnetzwerke

und die Produktion von

Zulieferern und Automobilherstellern zum Teil

tiefgreifend verändern. Die damit verbundenen

Auswirkungen beeinflussen schon jetzt maßgeblich

den Industriestandort Deutschland

und somit auch Ostdeutschland.

Nicht zuletzt auch deshalb, weil Corona das

Autogeschäft massiv verhagelt hat. Aufgrund

der Folgewirkungen der Coronapandemie

kam es nach Angaben des Verbandes der

Automobilindustrie (VDA) im ersten Halbjahr

2020 zu starken Absatzrückgängen auf den

internationalen Pkw-Märkten. Der durch das

Coronavirus bedingte parallele Einbruch der

meisten Märkte ist historisch beispiellos: In

den großen Absatzregionen China, USA und

Europa wurden in Summe 7,5 Millionen Pkw

weniger verkauft als im Vorjahreszeitraum.

Das entspricht einem Absatzrückgang von

28 Prozent. In Japan reduzierte sich die Nachfrage

um ein Fünftel. In Russland und Brasilien

ist der Absatz ebenfalls massiv eingebrochen.

Den europäischen Markt trifft es in der

Coronakrise am härtesten: In Europa wurden

im ersten Halbjahr 5,1 Millionen Pkw neu

zugelassen – 39 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.

Die fünf größten europäischen

Absatzmärkte lagen allesamt zweistellig im

Minus.

Halbjahr 2020 haben sich die Anmeldungen

damit trotz der Coronakrise auf 93.682 Elektroautos

nahezu verdoppelt (+96 Prozent).

Treiber der dynamischen Entwicklung waren

auch im Juni die Plug-in-Hybride. Sie verzeichneten

einen Anstieg um 274 Prozent auf

den neuen Rekordwert von 10.749 Einheiten.

Ihr Anteil an den Elektro-Neuzulassungen

erreichte damit 57 Prozent. Das Marktvolumen

rein batterieelektrischer Fahrzeuge stieg

auf 8.119 Einheiten, das entsprach

einem Zuwachs um 41 Prozent.

Die deutsche Automobilindustrie

konnte ihren

Marktanteil bei Elektroautos

im Juni auf 67 Prozent

(Vorjahresmonat: 46 Prozent)

ausbauen. Die Modelloffensive ist in

vollem Gange – deutsche Konzernmarken,

mit ihren für die Elektromobilität wichtigen

ostdeutschen Standorten, bieten inzwischen

rund 70 verschiedene Modelle an. Bis Ende

2023 sollen es dann mehr als 150 sein.

ERSTE POSITIVE NACHRICHTEN

Allerdings gibt es inzwischen auch wieder

erste gute Nachrichten von der Autofront,

speziell aus dem Zukunftssektor Elektromobilität.

Im Juni nahmen die Neuzulassungen von

Elektro-Pkw laut Kraftfahrt-Bundesamt mit

einem Zuwachs um 118 Prozent auf 18.897

Fahrzeuge wieder Fahrt auf. Der Anteil am

Gesamtmarkt stieg auf 8,6 Prozent. Im ersten

Im Vergleich zu gewerblichen Käufern verhalten

sich aktuell private Käufer jedoch nach wie

vor zurückhaltend. Im Juni lag ihr Anteil an den

Elektroneuzulassungen bei 28 Prozent. „Die

ab 1. Juli 2020 für sechs Monate abgesenkte

Mehrwertsteuer in Kombination mit dem

deutlich erhöhten Umweltbonus sollte in den

nächsten Monaten zu einer Auflösung des

Nachfragestaus bei privaten Käufern führen.

Grafiken: macrovector/freepik.com


ZUKUNFTSMOBILITÄT WIRTSCHAFT+MARKT 69

Für Hersteller, Handel und Kunden besteht nun Klarheit über die Förderung

beim Kauf von Elektroautos. Beide Maßnahmen sind wichtige

Instrumente, um die Erneuerung der Fahrzeugflotte durch klima- und

umweltfreundliche Elektrofahrzeuge zu unterstützen“, lautet die

Einschätzung von Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der

Automobilindustrie.

ACOD TREIBT ZUKUNFTSTHEMEN

In den neuen Bundesländern hat sich bereits vor 16 Jahren

ein Netzwerk etabliert, das sich inzwischen zum Treiber der

automobilspezifischen Zukunftsthemen gemausert hat – das

Automotive Cluster Ostdeutschland (ACOD). Es verzahnt Automobilhersteller,

Zulieferer, Dienstleister, Forschungsinstitute,

Verbände und Institutionen, um gemeinsam die Leitthemen

Digitalisierung, Elektromobilität und Flexibilisierung voranzubringen.

Dabei liegen ACOD die Produkte und Produktionstechnologien

der ostdeutschen Automobilwerke von VW,

Opel, Daimler, Porsche und BMW besonders am Herzen.

Grafiken: microone/freepik.com

Die Clusterverantwortlichen sehen es als ihre Aufgabe,

regionale Aktivitäten zu bündeln und dadurch Synergien

innerhalb der Branche für ganz Ostdeutschland zu

erzeugen. Kleine und mittelständische Unternehmen

werden bei der Vernetzung untereinander und mit

Hochschulen unterstützt, damit sie Leistungen für

Fahrzeughersteller oder deren Direktlieferanten erbringen

können. Auf diese Weise soll die ostdeutsche

Automobilindustrie nachhaltig wachsen und Schritt

für Schritt leistungsfähiger werden.

Erklärtes Ziel von ACOD ist es, dazu beizutragen,

dass sich die neuen Bundesländer zu einem europäischen

Zentrum für Hightech-Produkte der

Automobilindustrie entwickeln.


70

WIRTSCHAFT+MARKT

GESELLSCHAFT

AUTOMOBILINDUSTRIE UND

OSTDEUTSCHLAND SIND

EINE ERFOLGSGESCHICHTE –

MIT FORTSETZUNG

Von Hildegard Müller, Präsidentin des

Verbandes der Automobilindustrie (VDA)

Ostdeutschland ist Autoland – mit einer

Tradition, die bis zu den Anfängen des Automobilbaus

zurückreicht. Und in dem heute in

Werken mit höchster Effizienz modernste,

nachhaltigste Fahrzeuge und Technologien

produziert werden: Hightech-Elektronik, Verbundstoffe

und Elektrofahrzeuge der neuesten

Generation. In Zwickau oder Leipzig laufen

Elektro-Autos vom Band, die international

Maßstäbe setzen. In Leipzig werden außerdem

wegweisende Carbon-Karossieren gefertigt,

in Kamenz Batterien für die neue Generation

der Stromer – um nur einige Beispiele dieser

Erfolgsgeschichte zu nennen.

In den fünf ostdeutschen Bundesländern wird

die Zukunft produziert, sie sind ein starker

Automobilstandort. Aber natürlich leidet auch

der unter den Auswirkungen der tiefsten

Rezession der Nachkriegsgeschichte

infolge der Coronapandemie.

Die Maßnahmen zur Stabilisierung,

die die Politik ergriffen

hat, müssen nun auch

an die Situation in den

ostdeutschen Ländern

angepasst werden.

Zu Beginn des zweiten

Halbjahres hat sich der weltweite

Pkw-Absatz nach dem beispiellosen

Einbruch in den ersten sechs Monaten zwar

etwas stabilisiert. Aber wir sollten uns nicht

täuschen lassen. Die Coronakrise ist nicht ausgestanden.

Die Zahl der Ansteckungen steigt

weltweit, und dies wird nicht ohne Auswirkungen

auf Wirtschaft, Produktion und Nachfrage

bleiben. COVID-19 und die Folgen der Pandemie

in den Griff zu bekommen, ist kein Sprint,

kein Dauerlauf – das wird ein Ultramarathon

für Politik und Wirtschaft. Für uns alle.

Umso wichtiger ist es daher, mehr als Notfallmanagement

zu betreiben und diese Krise

dafür zu nutzen, Reformen in Wirtschaft und

Politik voranzutreiben. Nötig ist ein Stabilisierungs-

und Wiederaufbauprogramm, das

in eine zukunftsgerichtete Industriepolitik auf

nationaler wie europäischer Ebene eingebettet

ist. Eine solche aktive Industriepolitik,

die natürlich dem Klimaschutz

verpflichtet ist, muss die

Bedürfnisse der jeweiligen

Regionen berücksichtigen

und eng abgestimmt sein

zwischen der EU und

den Mitgliedsländern.

Denn 27 Einzelkämpfer,

die jeweils für sich agieren,

werden es nicht schaffen,

den Standort Europa nach Corona fit für die

Zukunft zu machen – auch mit Blick auf die

Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber

China und den USA. Gelingt ein solches Reform-

und Zukunftsprogramm, kann unsere

Volkswirtschaft und damit die deutsche

Automobilindustrie am Ende sogar gestärkt

aus dieser Krise hervorgehen.

Für die deutschen Automobilhersteller und

Zulieferer in Ost und West ist es entscheidend,

sich möglichst rasch zu erholen und zu alter

Stärke zurückzufinden. Denn die Unternehmen

stehen vor den größten Herausforderungen

seit Bestehen dieser Industrie. Die Klimaschutzziele,

zu denen sich die Automobilindustrie

ausdrücklich bekennt, erfordern einen

schnellen Umstieg auf alternative Antriebe

und eine Weiterentwicklung moderner Verbrenner.

Der Weg zur CO 2 -freien Mobilität, den

unsere Hersteller und Zulieferer mit hohem

Engagement und enormen Investitionen eingeschlagen

haben, fordert diese Industrie an

sich schon auf das Äußerste.

Hinzu kommen die Entwicklung digitaler Technologien,

Services und Geschäftsmodelle sowie

die Vernetzung und Automatisierung des

Automobils und Fahrens. Das sich wandelnde

Mobilitätsverhalten der Menschen und die

Foto: Grafiken: XXX microone/freepik.com, vectorpocket/freepik.com


ZUKUNFTSMOBILITÄT WIRTSCHAFT+MARKT 71

Hildegard Müller

Foto: XXX VDA

Debatten in Metropolen, welchem Verkehrsträger

wie viel Platz in den Citys eingeräumt

werden soll, sind weitere Herausforderungen.

Diese Debatten polarisieren leider auch und

werden oft nicht mit Blick darauf geführt, dass

die Menschen ganz unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse

haben.

Eine jüngst vom Verband der Automobilindustrie

durchgeführte Umfrage unter seinen

Mitgliedern im Bereich der Zulieferer hat

ergeben, dass aufgrund der tief greifenden

Veränderungen ein knappes Drittel bereits vor

der Coronakrise Personalabbau in Deutschland

geplant hat. Dafür ausschlaggebend

waren bei mehr als zwei Dritteln der betroffenen

Unternehmen die allgemein schwache

Konjunktur und die hohen Kosten am Standort

Deutschland. Wir brauchen daher zusätzlich zu

den Maßnahmen gegen Corona eine Senkung

der steuerlichen Belastung von Unternehmen,

bezahlbare Energie, weniger Bürokratie und

vor allem keine weiteren Belastungen.

Nur so können wir dauerhaft Produktion

und Beschäftigung im Land halten. Und

das ist gerade zur Sicherung des erreichten

Wohlstands in Ostdeutschland wichtig. Die

Automobilindustrie ist dort seit der Wiedervereinigung

die treibende Kraft des Aufschwungs,

der aus einer klugen Förderpolitik, exzellent

ausgebildeten und motivierten Fachkräften

sowie einer guten Kostenstruktur resultiert.

In den knapp 300 Betrieben mit mehr als 20

Mitarbeitern der fünf östlichen Bundesländer

arbeiten 73.000 Beschäftigte. 596.000 Pkw

wurden 2019 in Ostdeutschland produziert.

Dieser Erfolgsgeschichte soll fortgeschrieben

werden.

Dafür brauchen wir in Deutschland und Europa

die richtigen politischen Rahmenbedingungen.

Aus den vielen im Konjunkturpaket formulierten

Absichten muss schnell konkretes

Handeln folgen. Erfolgreiche Digitalisierung

etwa gelingt nur, wenn die bis 2025 geplanten

flächendeckenden 5G-Netze dann auch

tatsächlich existieren. Gerade in Ostdeutschland

ist es entscheidend, dass modernste

Infrastruktur entsteht, damit die Region für

Arbeitskräfte, Investoren und Unternehmen

attraktiv bleibt. Dazu gehören auch ein gutes

Bildungsangebot und der weitere Ausbau der

Verkehrsinfrastruktur.

Zuletzt brauchen wir eine Debatte darüber,

wie wir die Mobilität der Zukunft gestalten

wollen und dabei den Bedürfnissen der Menschen

ihrer jeweiligen Lebenssituation gerecht

werden. In ländlichen und dünner besiedelten

Regionen wie in vielen Gegenden Ostdeutschlands

beispielsweise wird für längere Distanzen

über Land, in abgelegenen Regionen

und in kleinen Gemeinden das Auto absolut

unverzichtbare Grundlage individueller Mobilität

bleiben. Und wir müssen im Auge behalten,

dass individuelle Mobilität weiterhin bezahlbar

ist. Aber auch das gilt für alle Menschen – egal

wo sie wohnen und arbeiten.


72

WIRTSCHAFT+MARKT

AUTOMOBILWIRTSCHAFT

LEIDET WELTWEIT UNTER

DEN FOLGEN DER

CORONAKRISE

Die deutschen Automobilhersteller und -zulieferer sind stark von Exporten

abhängig. Doch die Handelsmöglichkeiten haben sich in diesem Jahr auf vielen

Märkten verschlechtert. WIRTSCHAFT+MARKT bat die Gesellschaft für Außenwirtschaft

und Standortmarketing GTAI um eine internationale Marktanalyse.

VON KARSTEN HINTZMANN

USA

Für die Autobranche

ist das Coronavirus

ein sehr harter

Einschnitt. Wegen des

stark eingeschränkten

Luftverkehrs stehen zahlreiche Flugzeuge der

Airlines still. Mancherorts dürfen Fabriken,

Geschäfte und Restaurants wieder unter Auflagen

öffnen. Kaum wiedereröffnet, musste

Ford die Produktion in zwei Montagewerken

indes erneut anhalten, nachdem Mitarbeiter

positiv auf das Coronavirus getestet wurden.

Neben der Gefahr eines Virusausbruchs muss

die US-Autoindustrie auch auf Unterbrechungen

in der Teileversorgung, insbesondere aus

Mexiko, gefasst sein. So musste unter anderem

Daimler bereits in der zweiten Maihälfte

wegen Lieferengpässen die Arbeit in seinem

US-Montagewerk in Tuscaloosa, Alabama,

wieder stoppen.

Im Gegensatz zu früheren Krisen

wurden diesmal alle drei Weltmärkte

– in rascher Folge erst China,

dann Europa und die USA – stark

erschüttert. Die Autokonzerne

versuchen in dieser Situation, mehr

Fahrzeuge per Direktvertrieb über das Internet

zu verkaufen. Mit Auto-Konfiguratoren auf

den Internetseiten der Hersteller lassen sich

Wunschausstattungen bereits heute individuell

zusammenstellen, sodass nur ein Zahlungsweg

und ein Verfahren zur kontaktlosen

Auslieferung gefunden werden muss.

CHINA

Nach einem katastrophalen 1. Quartal 2020

mit einem Minus von 42,4 Prozent beim

Kfz-Absatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum

und mit 56,4 Prozent weniger verkauften

Elektroautos im Zeitraum Januar bis April

2020 gibt es für die chinesische Kfz-Industrie

erste Lichtblicke. Nach Angaben der China

Association of Automobile Manufacturers

(CAAM) wurden im April 2020 bereits 4,4

Prozent mehr Kfz und nur noch 2,6 Prozent

weniger Pkw verkauft als im Vorjahresmonat.

Automobilbauer sehen eine Sonderkonjunktur

durch bislang aufgeschobene und nun nachgeholte

Autokäufe, Herstellerrabatte und

die neue Attraktivität des Fahrens

im eigenen Auto voraus. Ob diese

Entwicklung nachhaltig ist, muss

sich zeigen. Dabei verlängert der

Staat auch Subventionen wie den

Erlass der Kaufsteuer für Elektroautos bis

Ende 2022.

Das besser laufende Premiumsegment, das

von deutschen Automobilbauern dominiert

wird, visiert für 2020 jedoch eine schwarze

Null bis hin zu einem leichten Plus an. Schwer

tut sich trotz Verlängerung von Subventionen

und Steuerbefreiung der Elektromobilitätssektor.

In den ersten fünf Monaten 2020

wurden 38,7 Prozent weniger Autos mit

alternativem Antrieb verkauft als im Vorjahreszeitraum.

Die COVID-19-Pandemie hat

dem Elektromobilitätssektor herbe Verluste

beschert. In den ersten vier Monaten 2020

brach die Produktion um 44,8 Prozent im Vergleich

zur Vorjahres periode ein. Der

Absatz ging um 43,4 Prozent

deutlich zurück.

BRASILIEN

Brasiliens Kfz-Industrie

steht vor einer

Umstrukturierung. Nach

einem drastischen Einbruch

im Zuge der Coronakrise werden sich Verkauf

und Produktion nur langsam erholen. Das

Verbrauchervertrauen fehlt. Im Kfz-Verleih,

Foto: Grafiken: XXX freepik/freepik.com


ZUKUNFTSMOBILITÄT

WIRTSCHAFT+MARKT 73

Foto: Grafiken: XXX Gelindrang/thenounproject.com, mehmetbuma/freepik.com

Pkw und leichte Nutzfahrzeuge produzieren

wird. Das wäre ein Minus von 850.000 Einheiten

gegenüber 2019. Für die Teilefertigung

prognostiziert der Branchenverband für 2020

einen Einbruch um 28 Prozent auf einen Wert

von 70,9 Milliarden US-Dollar. Für 2021 wird

vieles darauf ankommen, wie schnell sich die

Nachfrage in den USA wieder erholt.

FRANKREICH

Nach einem starken Einbruch während des

strikten achtwöchigen Lockdowns hat sich der

Absatz von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen

seit der schrittweisen Lockerung ab Mitte

Mai 2020 wieder deutlich erholt. Im Juni und

Juli lagen die Verkäufe leicht höher als in den

Vorjahresmonaten, obwohl der Juli 2020 einen

Werktag weniger zählte als 2019.

Die Krise hat vor allem den Not leidenden

Autobauer Renault hart getroffen. Anfang Juni

hat die Regierung eine Kreditgarantie für fünf

Milliarden Euro gewährt. Im Gegenzug

garantiert das Unternehmen den

Fortbestand einiger Standorte.

Drei Fabriken sollen schließen und

ein großes Montagewerk in Flins

für andere Aktivitäten umgewidder

wichtigsten Abnehmerbranche, fiel der

Umsatz um 90 Prozent. Auch der Export geht

zurück. Der Sektor konnte keine Hilfskredite

mit der Entwicklungsbank BNDES aushandeln.

Ohne diese droht vielen lokalen Zulieferern

und Händlern die Insolvenz. Zudem verteuert

der Wechselkurs die importierten Komponenten.

Erste Werke nahmen den Betrieb im April

wieder auf, einige zögerten

den Wiederbeginn bis

Ende Juni heraus. Alle

Investitionen liegen

auf Eis.

MEXIKO

Die Aussichten für Mexikos

Kfz-Industrie sind düster. Wie schnell sich die

Branche erholt, hängt von der Entwicklung auf

dem US-amerikanischen Markt ab. Mexikos

Kfz-Industrie darf seit dem 18. Mai wieder

produzieren. Damit endete für Fahrzeughersteller

und Zulieferer eine siebenwöchige

Durststrecke, während der jegliche

Fertigung untersagt war. Die

Absatzaussichten bleiben aber

eingetrübt: Die Analysefirma

IHS Markit geht davon aus, dass

Mexiko 2020 rund 2,9 Millionen

met werden. Renault und PSA zahlen in einen

Fonds zur Stützung der Zulieferindustrie ein.

Weitere 350 Millionen Euro kommen der Modernisierung

von Fabriken und der Forschung

zugute. Die Industrie hat zugesagt, ab 2025

eine Million elektrische und Hybrid-Autos im

Land herzustellen. Der französische Staat hat

Kauf- und Verschrottungsprämien erhöht, um

hohe Lagerbestände infolge der Corona krise

abzubauen.

ITALIEN

Im April 2020 wurden

im ganzen Land nur

4.279 Fahrzeuge zugelassen.

In den ersten

Monaten dieses Jahres waren

es nur halb so viele wie im vergleichbaren

Vorjahreszeitraum. Im Gesamtjahr könnten

bis zu 500.000 Kfz weniger verkauft werden

als im Vorjahr. Es wird immer wahrscheinlicher,

dass die Regierung starke Kaufanreize

gewähren wird. Sinnvoll wäre angesichts des

durchschnittlichen Flottenalters von 12 Jahren

eine Abwrackprämie. Der Automobilverband

Anfia fordert zudem, den Ökobonus auf Fahrzeuge

auszuweiten.


74

WIRTSCHAFT+MARKT

RUSSLAND

Die schwache Nachfrage, Lieferausfälle

und angeordnete Werksferien setzen der

russischen Fahrzeugbranche

zu. Die Produktion

kann 2020 nicht an die

Werte der Vorjahre

anknüpfen. Die Fahrzeugproduktion

leidet

erheblich unter der Coronapandemie.

Im April

2020 mussten die meisten

Fabriken ihre Fließbänder anhalten. Neben den

Zwangsferien wirken sich Engpässe bei der

Teileversorgung negativ aus. Aufgrund der sinkenden

Pkw-Nachfrage gingen viele Hersteller

im Mai und Juni zu Vier-Tage-Wochen und

reduzierter Schichtenanzahl über.

Deshalb ist für 2020 mit einem

Rückgang der Pkw-Produktion

(2019: 1,53 Millionen) zu rechnen;

in den ersten vier Monaten

2020 ist diese um 33,5 Prozent

eingebrochen. Dennoch laufen in

der Branche viele Investitionsprojekte

im Rahmen der Sonderinvestitionsverträge

weiter, unter anderem bei AwtoWAS, Volkswagen,

Toyota und GAZ. Zwölf Autobauer mit

Werken in Russland wurden als „systemrelevant“

eingestuft, darunter Volkswagen.

Von Januar bis April 2020 ging der Automobilverkauf

um insgesamt 19,1 Prozent auf

415.102 Stück zurück. Ausgangsbeschränkungen

und Betriebsschließungen haben viele

Autohäuser in Existenznot gebracht. Experten

der Investmentbank VTB Capital erwarten,

dass der Markt für Pkw und leichte

Nutzfahrzeuge im Jahr 2020 um ein

Fünftel auf 1,4 Millionen Einheiten

schrumpft. Das Hilfspaket des

Staates von 25 Milliarden Rubel

zielt vor allem auf Nutzfahrzeuge:

Verschiedene Ministerien wollen in

diesem Jahr 25.000 Kleintransporter

und zusätzliche Krankenwagen aus russischer

Produktion kaufen. Außerdem stellt die Regierung

Gelder für vergünstigte Autokredite und

Leasingraten bereit.

SPANIEN

Spanien ist der zweitgrößte europäische

Fahrzeugproduzent. Der

Absatz leidet unter der Schwäche

des Binnenmarktes und wichtiger

Auslandsmärkte. Nach vier bis fünf Wochen

Stillstand nahmen Ende April und Anfang

Mai 2020 die meisten der 17 Automobilfabriken

ihre Arbeit wieder auf. Die Unternehmen

produzieren mit gesundheitlichen Schutzmaßnahmen

und reduzierter Stückzahl. Da die

Branche zu 80 Prozent von Exporten abhängig

ist, richtet sich der Blick auf die Auslandsnachfrage.

Viele Abnehmerländer kämpfen aber

ebenfalls mit den Folgen der Coronakrise. Im

Mai kursierten erste Schätzungen, laut denen

die Fertigung 2020 um etwa 25 Prozent unter

der Stückzahl von 2019 liegen könnte.

GROSSBRITANNIEN

Die Schließungsanordnung für

Autohäuser im Zuge der Ausgangsbeschränkungen

haben

die Registrierungszahlen aller

Kfz-Typen im April um zweistellige

Raten fallen lassen. Die diesjährigen

Aussichten für den Absatz aller Kfz-Typen

bleiben schlecht, weil die Unsicherheit über die

wirtschaftliche Erholung bei den Abnehmern

bleibt. Der Automobilverband SMMT erwartet

für 2020 rund 1,7 Millionen Pkw-Neuregistrierungen,

der niedrigste Wert seit 1992.

Mittelfristig gute Aussichten bestehen für den

Absatz von Linienbussen, da die Regierung

laut Ankündigung im Februar den Ausbau des

öffentlichen Personennahverkehrs

mit fünf Milliarden Pfund stärken

will. Auch könnten E-Scooter

bald die Städte erreichen.

UNGARN

Nach überaus erfolgreichen

Vorjahren 2018 und 2019 rutschte die

Foto: Grafiken: XXX freepik/freepik.com


ZUKUNFTSMOBILITÄT WIRTSCHAFT+MARKT 75

Automobilindustrie im 1. Quartal 2020 in die

Krise. Alle Automobilwerke des Landes waren

im März und April 2020 aufgrund ausbleibender

Nachfrage und aus Sicherheitsgründen

von mehrwöchigen Produktionsstopps

betroffen. Auch große Automobilzulieferer,

wie Bosch, Continental oder Denso, arbeiteten

wochenlang mit deutlich reduzierter

Kapazitätsauslastung. Die Krise bremst die

Realisierung großer Investitionsprojekte, wie

etwa den Bau des neuen BMW-Werkes in

Debrecen, zwar aus. An den Plänen soll aber

mit zeitlicher Verzögerung

festgehalten werden.

INDIEN

In Indiens Kfz- und

Zulieferindustrie

laufen seit Mitte Mai

nach fast zwei Monaten

wieder die Bänder. Aufgrund

von Störungen in der Lieferkette geschieht

dies allerdings nur mit Kapazitäten von

höchstens 15 Prozent. Wegen der schon vor

der Coronakrise hohen Lagerbestände bei den

Original Equipment Manufacturers (OEM) und

den Teileherstellern sowie der für 2020/21

erwarteten schwachen Nachfrage nach Pkw

und Nutzfahrzeugen dürften viele Autobauer

ihre Investitionspläne zurückstellen. Vor allem

die Zulieferindustrie hofft, von einer stärkeren

Diversifizierung der globalen Supply-Chain bei

den OEM profitieren zu können. Die Regierung

will Kfz-Unternehmen mit Investitionsvergünstigungen

nach Indien locken.

JAPAN

Japans Automobilbranche

gibt 2020 keine Prognose ab.

Insgesamt dürfte die weltweite

Produktion der japanischen Automobilhersteller

um ein Drittel geringer

ausfallen als im Vorjahr, schätzen Marktbeobachter.

Lieferkettenunterbrechung und Nachfragerückgang

im In- und Ausland zogen Produktionsstopps

nach sich. Kapazitätsausbau

ist kaum gefragt, jedoch die Umrüstung auf

striktere Standards für Kraftstoffeffizienz, die

in Japan und im Ausland verlangt werden. Um

diese zu erreichen, müssen die Kfz-Hersteller

verstärkt auf Modelle mit neuen Antrieben,

wie Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeuge,

umstellen.

SÜDKOREA

Steuervergünstigungen beim Kauf bewirken

auf Südkoreas Kfz-Markt eine deutliche

Zunahme der Zulassungszahlen.

Deutsche Anbieter profitieren

überdurchschnittlich. Die Zahl

der in Südkorea produzierten

Kfz fiel 2019 unter vier Millionen

Einheiten. In den ersten vier Monaten 2020

sank sie um 17,3 Prozent im Vergleich zum

Vorjahreszeitraum. Hauptgrund ist die eingebrochene

Autonachfrage im Ausland

aufgrund von Lock- und Shutdowns.

Dementsprechend ist GM Korea,

das viele Fahrzeuge exportiert,

trotz steigenden Absatzes in

Südkorea mit einem Minus von circa

29 Prozent stark betroffen. Lediglich

bei SsangYong war der Rückgang noch

höher. Hyundai und Kia treiben die Themen

Elektroautos, autonomes Fahren und Brennstoffzellen

voran.

Der Kfz-Absatz sank 2019 bei einem zunehmenden

SUV-Anteil insgesamt um 1,8 Prozent

auf 1,8 Millionen Einheiten. Entgegen dem

Trend der Vorjahre waren Importeure stärker

betroffen als nationale Anbieter. Auch dank

einer bis Ende Juni 2020 befristeten Reduzierung

der Erwerbssteuern beim Autokauf

fiel in den ersten vier Monaten von 2020 der

Absatz trotz des Coronavirus nur um 2,3

Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Die Importeure verzeichneten ein Plus

von 9,5 Prozent. Deutsche Marken

schnitten noch besser ab. Tesla

verkaufte von Januar bis April.

FAZIT

Dr. Jürgen Friedrich, GTAI-Geschäftsführer und Sprecher der Geschäftsführung, sagt:

„Die Coronapandemie hat die Pkw-Märkte dieses Jahr weltweit hart getroffen. Auch in China fiel

das erste Quartal katastrophal aus. Bereits seit Mai werden jedoch dank Nachholeffekten und

günstiger Rabatte pro Monat wieder mehr Pkw mit Verbrennungsmotor verkauft als im jeweiligen

Vorjahresmonat. Bei Elektroautos hielten sich die Kunden bislang hingegen zurück; erst im

Juli gelang es, den Absatz des Vorjahresmonats zu übertreffen. Ob die Trendwende nachhaltig

ist, muss man sehen.“

Foto: Grafiken: XXX Gelindrang/thenounproject.com, mehmetbuma/freepik.com


76

WIRTSCHAFT+MARKT

ZUKUNFTSMOBILITÄT

AUSLANDS MÄRKTE

BLEIBEN FÜR OST ­

DEUTSCHLAND

WICHTIG

Interview mit Michael Kotzbauer, Vorsitzender des Vorstands des

Ostdeutschen Bankenverbandes, zu den Folgen von Corona für die ostdeutsche

Exportwirtschaft und den Umbau der Automobilindustrie

W+M: Die deutsche Exportwirtschaft hat in

der Coronapandemie einen starken Einbruch

erlebt. Wie lange wird der Weg zu einer Erholung

der Märkte dauern?

Michael Kotzbauer: Diese Frage kann derzeit

niemand seriös beantworten. Auch wenn

wir uns auf einem guten Weg der Besserung

befinden, ist es gegenwärtig noch nicht absehbar,

wann das Vor-Krisen-Niveau erreicht

sein wird. Erfreulich ist deshalb schon jetzt,

dass etwa in den Umfragen des Ifo-Instituts

die Exporterwartungen wieder ansteigen und

sich ein vorsichtiger Optimismus verbreitet.

Dennoch bleibt die Situation vage. Es wird

stark darauf ankommen, wie lange die Pandemie

noch andauert, ob es eine spürbare zweite

Welle und einen erneuten Lockdown gibt. Auch

ist entscheidend, wie sich die Situation bei

den wichtigen Handelspartnern entwickelt,

allen voran in China und den USA – Stichwort

Präsidentschaftswahlen.

W+M: Wie sehr hat die Coronakrise die

ostdeutsche Exportwirtschaft getroffen?

Michael Kotzbauer: Die Folgen der Pandemie

haben starke Auswirkungen auf das

gesamte Exportgeschäft. Das betrifft Ost wie

West. In den Schlüsselbranchen wurden deutliche

Exportrückgänge verzeichnet. Für den

ostdeutschen Maschinenbau etwa gingen die

Auslandsaufträge um 20 Prozent zurück. Die

Automobilindustrie in Sachsen erlitt ein Minus

von 38 Prozent. Jedoch zeichnet sich bereits

eine leichte Erholung ab.

W+M: Der Automobilbau und seine Zuliefererindustrie

befanden sich schon vor Corona in

einem starken Wandel. Wie sieht die Situation

jetzt aus?

Michael Kotzbauer: Der Auftragsrückgang

in der Zuliefererindustrie in den ostdeutschen

Bundesländern hat den sich bereits vor Corona

abzeichnenden Anpassungsbedarf in der Autobranche

verschärft. Die Branche wird aber

für Ostdeutschland bedeutsam bleiben.

W+M: Bietet der Umbau der Branche in Ostdeutschland

auch Chancen?

Michael Kotzbauer: So ist es. Die Automobilindustrie

bleibt sicherlich eine Schlüsselindustrie.

Allein in Sachsen und Mitteldeutschland

arbeiten über 185.000 Beschäftigte in

diesem Bereich, darunter viele, die sich bereits

mit Transformationsthemen befassen. Wichtig

ist, dass der Umbau der Branche gelingt, Forschung

und Entwicklung und Innovation in den

Bereichen Elektromobilität und autonomes

Fahren vorangetrieben werden. Ist man hier

erfolgreich, kann sich Ostdeutschland ganz

vorn in diesen Bereichen positionieren.

W+M: Inwieweit müssen die Export-Unternehmen

ihre Geschäftsmodelle in Folge der

gegenwärtigen Situation neu ausrichten?

Michael Kotzbauer: Unternehmen, die

stark von der Unterbrechung der Lieferketten

betroffen waren, werden darüber nachdenken,

inwieweit ihr Geschäftsmodell umstrukturiert

werden muss. Dies beinhaltet zum Beispiel, ob

man weiter auf Just-in-time-Produktion setzt

oder doch höhere Lagerhaltungskosten in Kauf

nimmt und dafür mehr Planungssicherheit erlangt.

Wichtig bleibt aber, dem Auslandsmarkt

nicht den Rücken zu kehren.

W+M: Welche Maßnahmen sollte die Politik

nun zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts

Ostdeutschland einleiten?

Michael Kotzbauer: Sie sollten vor allem darauf

abzielen, die Innovationskraft, Leistungsund

Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen

Unternehmen zu stärken. Die Konjunkturpakete

der Bundesregierung und Länder zielen

in Teilen schon darauf ab, und gerade die

Wasserstoffstrategie birgt große Chancen für

den Standort. Wichtig ist aber auch die aktive

Unterstützung und Anwerbung von Start-ups.

Für die Exportwirtschaft sollten bestehende

Instrumente der Exportfinanzierung gestärkt

und angepasst werden. Wir begrüßen, dass

die Hermes-Deckung der Bundesregierung

auch auf marktfähige Risiken erweitert

wurde. Wichtig ist auch eine Ausformulierung

beziehungsweise die Anpassung konkreter

Außenwirtschaftsstrategien der ostdeutschen

Bundesländer.

W+M: Wie können die ostdeutschen Banken

die exportierenden Unternehmen dabei

unterstützen?

Michael Kotzbauer: Unsere Mitglieder, die

privaten Banken, stehen als Finanzierungspartner

des Mittelstandes an der Seite der

Unternehmen und beraten sie in Möglichkeiten

der Exportfinanzierung. Insbesondere

jetzt können wir sie bei der Absicherung von

Exportgeschäften unterstützen und durch

unser Fachwissen und weltweites Netzwerk

sachkundige Risikobewertungen für die Auslandsmärkte

anbieten.

Interview: Matthias Salm

Grafiken: Ayub Irawan/thenounproject.com, freepik/freepik.com, Commerzbank AG


KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

WIRTSCHAFT+MARKT 77

HIER WERDEN

NACHHALTIGKEIT UND

ENERGIEWENDE GELEBT

Die neuen Bundesländer

gehören

im deutschlandweiten

Vergleich

zweifellos zu den

Vorreitern bei der

Umsetzung der

Energiewende, mit

der dem Klimawandel

wirksam

begegnet werden

soll. In den vergangenen

Jahren

sind auf dem weiten Land und

in der vorgelagerten Ostsee zahlreiche

Windparks entstanden. Auch

Photovoltaikanlagen und Biomassekraftwerke

gibt es vielerorts. Etliche

Studien gehen davon aus, dass

Ostdeutschland bereits heute den

eigenen Energiebedarf komplett aus

selbst produzierter erneuerbarer

Energie decken könnte.

Der nahe Ausstieg aus der Kohle

und die in diesem Zusammenhang

bereitgestellten Hilfen für

den Strukturwandel werden dafür

sorgen, dass beispielsweise aus

dem heutigen Kohlezentrum Lausitz

in den kommenden Jahrzehnten ein

Referenzzentrum für erneuerbare

Energien wird.

Viele Bundesländer haben jüngst

begonnen, sich auf das Zukunftsthema

Wasserstoff zu fokussieren.

An der Verfeinerung vorhandener

Wasserstofftechnologien – speziell

für schwere Nutzfahrzeuge – wird

gearbeitet, erste Produktionsanlagen

stehen bereits.

Auch in Fragen der

Zukunftsmobilität

gehören in den neuen

Ländern angesiedelte

Automobilwerke und

Zulieferbetriebe inzwischen

zu den Taktgebern.

Die Metropole

Berlin schmiedet Pläne,

Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren

mittelfristig

komplett aus der

City zu verbannen. Am

Stadtrand hält sie mit dem

CleanTech Business Park eine von der

Infrastruktur her ideal angebundene

Industrieansiedlungsfläche bereit,

die exklusiv Unternehmen vorbehalten

ist, die auf Nachhaltigkeit und

Klimafreundlichkeit setzen.

Längst ist die „grüne“ Industrie in

Ostdeutschland ein bedeutsamer

Wirtschaftszweig und wichtiger

Arbeitgeber.


78

WIRTSCHAFT+MARKT

KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

AMBITIONIERTER KLIMA­

SCHUTZ ZAHLT SICH AUS

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK)

untersucht wissenschaftlich und gesellschaftlich relevante

Fragestellungen in den Bereichen Globaler Wandel,

Klimawirkung und Nachhaltige Entwicklung. Es genießt

national wie international einen exzellenten Ruf. Naturund

Sozialwissenschaftler erarbeiten interdisziplinäre

Einsichten, welche wiederum eine Grundlage für Entscheidungen

in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft

darstellen. Das auf dem Potsdamer Telegrafenberg

beheimatete PIK wurde 1992 gegründet und hat heute

etwa 300 Mitarbeiter.

Grafiken: inspiring/ozzichka/freepik.com


WIRTSCHAFT+MARKT 79

Erstmalig war das PIK in diesem Jahr auf dem

Ostdeutschen Wirtschaftsforum (OWF) in

Bad Saarow vertreten. Anders Levermann,

Professor für die Dynamik des Klimasystems

am PIK, referierte zum Thema „Klimawandel

und die Folgen für die Wirtschaft“.

Mit dieser Thematik befasst sich das PIK in

weltweiter Dimension. Erst jüngst präsentierte

ein internationales Wissenschaftlerteam

unter der Leitung des Potsdam-Instituts für

Klimafolgenforschung die Ergebnisse einer

komplexen Untersuchung anhand von speziellen

Computersimulationen. Sie kamen zu dem

Schluss, dass die Begrenzung der Erderwärmung

auf unter zwei Grad ein wirtschaftlich

optimales Gleichgewicht zwischen künftigen

Klimaschäden und den heutigen Kosten für

den Klimaschutz herstellt. Das würde einen

CO 2

-Preis von mehr als 100 US-Dollar pro

Tonne erfordern.

Jener Tag, an dem der Weltklimarat im Auftrag

der UNO seinen sogenannten 1,5-Grad-Bericht

veröffentlichte, war auch der Tag, an dem der

amerikanische Forscher William Nordhaus den

Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften „für

die Integration des Klimawandels in die langfristige

makroökonomische Analyse“ erhielt.

Konkret gelang ihm das mittels einer Computersimulation,

seinem Dynamic Integrated

Climate-Economy (DICE)-Modell. Im Pariser

Abkommen der UNO (Dezember 2015) wurde

vereinbart, die globale Erwärmung auf deutlich

unter zwei Grad zu begrenzen, um Klimarisiken

einzudämmen. Nordhaus' Zahlen deuten auf

3,5 Grad als eine gleichsam wirtschaftlich

optimale Erwärmung bis zum Jahr 2100 hin.

Die vor Kurzem in der wissenschaftlichen

Zeitschrift „Nature Climate Change“ veröffentlichte

Studie bietet eine Aktualisierung

des DICE-Modells, welche helfen kann, die

Perspek tiven in Einklang zu bringen, so heißt

es beim PIK.

„Im Wesentlichen haben wir das Nordhaus-

Modell aufgeschnürt, gründlich überprüft und

einige wichtige Aktualisierungen vorgenommen,

die auf den neuesten Erkenntnissen der

Klimawissenschaft und Wirtschaftsanalyse

basieren“, erklärt Martin Hänsel, Hauptautor

der Studie und Forscher im PIK. „Wir haben

festgestellt, dass die Ergebnisse der aktualisierten

Version tatsächlich in guter Übereinstimmung

mit der Pariser 2-Grad-Grenze für

die globale Erwärmung stehen.“

KÜNFTIGE GENERATIONEN IM BLICK

Die Aktualisierungen umfassen ein akkurateres

Kohlenstoffkreislaufmodell, eine neue

Gewichtung des Temperaturmodells, eine

angepasste Schadensfunktion und neue

Erkenntnisse über die normativen Annahmen

des Modells. Diese zeigen sich konkret bei

der Frage, wie eine gerechte Verteilung von

Wohlstand zwischen heutigen und zukünftigen

Generationen gestaltet werden sollte, die den

Klimawandel berücksichtigt – ausgedrückt

in der sogenannten sozialen Diskontrate.

Deren Aktualisierung basiert nun auf einer

breiten Palette von Expertenempfehlungen

zur Generationengerechtigkeit. Ergänzt wird

dies durch angepasste Annahmen in Bezug auf

die Emissionen von anderen Treibhausgasen

zusätzlich zum CO 2

, Technologien zu negativen

Emissionen (also dem Herausholen von Kohlendioxid

aus der Atmosphäre) und wie zügig

eine Abkehr von einer kohlenstoffbasierten

Wirtschaft erreicht werden kann.

WIE SCHLIMM WIRD ES?

Die Schadensfunktion beurteilt, wie stark

sich künftige Klimaveränderungen auf die

Weltwirtschaft auswirken werden. Co-Autor

Thomas Sterner, Professor an der Universität

Göteborg, erklärt: „Die standardmäßige Schadensfunktion

im DICE-Modell hat eine Reihe

von methodischen Mängeln. Unsere Analyse

baut auf einer kürzlich durchgeführten Meta-

Analyse auf, in der wir diese Mängel beheben.

Infolgedessen finden wir höhere Schäden als

im Standard-DICE-Modell. Allein nach dem,

was wir in den letzten zehn Jahren gesehen

haben, ist die Annahme hoher klimabedingter

wirtschaftlicher Schäden leider realistisch.“

Darüber hinaus schaut die Studie auch auf das,

was manchmal als die normative „Black Box“

wahrgenommen wird: Wie oft in der Wirtschaftswissenschaft

enthält das, was wie eine

nüchterne mathematische Funktion aussieht,

eine Reihe normativer Annahmen. Die sogenannte

„soziale Diskontrate“ ist ein solcher

Fall. Sie gibt an, wie wir das zukünftige Wohlergehen

unserer Kinder und Enkelkinder bewerten

– eine grundlegend moralische Frage.

„Die Klimaauswirkungen unserer Emissionen

reichen weit in zukünftige Generationen hinein.

Um diese langfristigen Folgen angemessen

bewerten zu können, müssen wir unterschiedliche

Ansichten darüber berücksichtigen, wie

wir einen Ausgleich zwischen den Interessen

heutiger und zukünftiger Generationen schaffen

können“, erläutert Moritz Drupp, Co-Autor

und Professor am Exzellenzcluster Klima,

Klimawandel und Gesellschaft der Universität

Hamburg. Erstmals enthält die Studie eine

repräsentative Auswahl von Empfehlungen

von mehr als 170 Experten zu den normativen

Annahmen der sozialen Diskontrate. „Unser

aktualisiertes Modell zeigt, dass das 2-Grad-

Ziel nach den von der Mehrheit der Experten

vorgeschlagenen sozialen Diskontraten ökonomisch

optimal ist.“

DER RICHTIGE PREIS FÜR KOHLEN-

DIOXID

Die Änderungen am Modell, insbesondere

die Neubewertung der sozialen Diskontrate

zugunsten des Wohlergehens künftiger

Generationen, haben weitere Auswirkungen:

Sie führen zu einem höheren Preis für CO 2

.

Während das Standard-DICE-Modell von

Nordhaus knapp 40 US-Dollar pro Tonne CO 2

im Jahr 2020 ergibt, errechnet das aktualisierte

DICE-Modell einen CO 2

-Preis von über

100 Dollar. Die CO 2

-Preise, die sich aus der

Mehrheit der Expertenmeinungen zur sozialen

Diskontierung ergeben, sind mit wenigen

Ausnahmen höher als das, was in den meisten

Sektoren, selbst in den ehrgeizigsten Regionen

der Welt, umgesetzt wird. „Das ist ein weiterer

Beleg dafür, welch ein entscheidendes politisches

Instrument eine intelligente CO 2

-Preisgestaltung

ist“, so die Schlussfolgerung

von Co-Autor Ben Groom, Professor an der

Universität Exeter und Mitglied des Grantham

Research Institute on Climate Change an der

London School of Economics. „Unsere Studie

bedeutet damit auch, dass eine ehrgeizigere

Klimapolitik nötig ist, um zu vermeiden, dass

wir unseren Kindern eine ungerechtfertigt hohe

Last der Klimaauswirkungen hinterlassen.“

Der Beitrag basiert auf einem Pressetext des

Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).


80

WIRTSCHAFT+MARKT

KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

EINE KREISLAUFFÄHIGE

UND GESUNDE ZUKUNFT

Weniger Verkehr auf den Straßen, spürbar bessere Luft in Ballungszentren und glasklares Wasser in den Häfen

Venedigs: Die Coronapandemie brachte kurzzeitig nicht nur die Weltwirtschaft zum Erliegen, sondern auch Umweltbelastungen

durch Industrie, Mobilität und Konsum. Doch klar ist: Dieser Ausnahmezustand ist nicht zukunftsfähig,

weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich. Der Circular-Economy-Ansatz, also eine konsequente Kreislaufwirtschaft,

hingegen liefert langfristige Lösungen für eine umwelt- und menschenfreundliche Zukunft. Diese Denkweise liegt

auch dem Cradle-to-Cradle-Designprinzip (C2C) zugrunde, bei dem Produkte, Prozesse und Gebäude so gestaltet

werden, dass sie gesund für den Menschen und sicher für die Umwelt sind.

VON TOBIAS FISCHER

Dipl.-Ing. Tobias Fischer ist Senior Consultant bei Drees & Sommer am Standort Berlin. Seit mehr

als zehn Jahren beschäftigt er sich mit Themen rund um das nachhaltige Bauen und der Circular

Economy. Kernthemen sind dabei die Gebäudezertifizierung und Cradle-to-Cradle-Beratung.

Insbesondere die Aspekte des kreislauffähigen Gebäudedesigns und die materialökologische

Begleitung von Bauvorhaben nehmen in seinem beruflichen Alltag einen hohen Stellenwert

ein. Seinen universitären Abschluss erlangte er an der Universität Karlsruhe im Fachbereich der

Architektur und absolvierte 2010 seine Ausbildung zum DGNB Auditor. Vor seiner Zeit bei Drees

& Sommer war er als Architekt im In- und Ausland sowie als Senior Consultant im Bereich der

Nachhaltigkeit in einem Karlsruher Ingenieurbüro tätig.

Im Pariser Abkommen von 2015 konnte eine

globale Einigung zur Bekämpfung des Klimawandels

gefunden werden. Hierfür beläuft

sich das gesetzte Klimaziel auf eine Erderwärmung

von ungefähr 1,5 Grad. Um dieses

Ziel zu erreichen, müssen bis zum Jahr 2030

40 Prozent weniger Emissionen ausgestoßen

werden als noch 1990. Vor allem Unternehmen

stehen dabei im Fokus und tragen durch

ihr weitreichendes, wirtschaftliches Handeln

Verantwortung gegenüber Gesellschaft und

Umwelt. Durch die Vermeidung von Downcycling,

Rohstoffverbrauch und Abfall liefert

das Cradle-to-Cradle®-Designprinzip einen

Lösungsansatz, um den ökologischen Fußabdruck

nicht nur zu verringern, sondern sogar

positiv zu gestalten. Das C2C-Prinzip stellt

somit die Weichen für eine neue industrielle

Revolution: die Circular Economy.

CIRCULAR ECONOMY FÜR POSITIVEN

ÖKOLOGISCHEN FUSSABDRUCK

Die Revolution 5.0 setzt einen ganzheitlichen

Paradigmenwechsel voraus, denn sie steht

für eine Wirtschaft mit positivem Einfluss auf

Mensch und Umwelt. Das lineare Take-make-waste-System,

bei dem Rohstoffe zu

Produkten verarbeitet werden, die später als

Abfall zur Umweltlast werden, gehört somit

der Vergangenheit an. Die Circular Economy als

Nachfolger des Digitalisierungszeitalters lebt

von einer veränderten Denkweise, die nicht nur

Produkte, sondern auch Prozesse, Gebäude

und ganze Städte nachhaltig verändert. Um

das zu erreichen, muss der Lebenszyklus von

Produkten und Dienstleistungen neu gedacht

werden. Anstatt eines linearen Systems wird

in Kreisläufen gedacht, in denen Rohstoffe

zirkulieren und für verschiedenste Zwecke in

gleicher Qualität wiederverwendet werden.

Downcycling wird also zu Upcycling.

Zentral ist es dabei, Wirtschaftlichkeit, soziale

Gerechtigkeit und Ökologie nicht als Gegenspieler,

sondern als drei einander fördernde

Dimensionen zu sehen und zu vereinen. Das

schafft Platz für neue Ideen und Innovationen,

ganz im Interesse von Gesellschaft und Natur.

Foto: Drees & Sommer


WIRTSCHAFT+MARKT 81

DIE NATUR ALS VORBILD

Das vom deutschen Chemiker Michael Braungart

und vom amerikanischen Archi tekten

William McDonough entwickelte Cradle­ to-

Cradle-Prinzip fußt auf drei fundamentalen

Paradigmen: Nährstoffe bleiben Nährstoffe,

erneuerbare Energien werden konsequent

genutzt und gesellschaftliche sowie biologische

Diversität werden stets gefördert. Die

Natur ist dabei ständiges Vorbild und somit

Wegweiser in allen wichtigen Entscheidungen.

Besonders beim Grundsatz der Nährstoffe

geht es um die Circular Economy, in der unsere

Wirtschaft in zwei kontinuierlichen Kreisläufen

zu sehen ist. Im biologischen Kreislauf

zirkulieren Verbrauchsgüter wie Kleidung,

Verpackungen oder Reinigungsmittel, die nach

ihrem Verbrauch direkt in die Umwelt zurückgeführt

werden, beispielsweise als Kompost,

und keine weiteren Belastungen darstellen.

Anders verhält es sich bei den Gebrauchsgütern:

Im technischen Kreislauf befinden sich

zum Beispiel elektronische Artikel oder Möbel.

Diese werden schon in der Herstellung für

die nächste Nutzungsphase gestaltet und

optimiert, und Qualitätsverluste werden durch

diese Herangehensweise vermieden. Später

können die Materialien problemlos und ohne

Abfall wiederverwendet werden.

FAST JEDE INDUSTRIE PROFITIERT

VON C2C

Das Potenzial der Circular Economy ist enorm,

denn sie findet in fast jeder Industriebranche

Anwendung und verbessert deren Prozesse,

Denkweisen und somit Umwelteinflüsse.

So kann das C2C-Prinzip in der Herstellung

von Textilien, Verpackungen und Kosmetika

gewinnbringend integriert werden. In der

Modeindustrie ist beispielsweise Wolford

Vorreiter und produziert C2C-zertifizierte

Kleidung, deren Inhaltsstoffe sicher, gesund

und sowohl für die Biosphäre als auch die

Technosphäre optimiert sind.

Auch in der Bau- und Immobilienbranche

gewinnt Cradle to Cradle an Bedeutung. Immer

mehr Hersteller setzen auf kreislauffähige und

gesundheitlich unbedenkliche Materialien und

lassen ihre Bauprodukte mit dem Cradle­ to-

Cradle®-Zertifikat auszeichnen. Unter den

zertifizierten Produkten sind inzwischen

System- und Glastrennwände, Bodenbeläge,

Isolierungsprofile und Deckensysteme.

Diese Entwicklung ist nicht nur willkommen,

sondern durchaus notwendig, da der Bau

und das Betreiben von Gebäuden eine starke

Belastung für die Umwelt darstellen. Allein

der Bausektor verbraucht in Europa fast 50

Prozent der Rohstoffe und verursacht 60

Prozent des gesamten Abfalls. Mit einem

ganzheitlichen C2C-Ansatz können Gebäude

von der Planung über den Bau bis hin zum

Betrieb ressourcen- und energieeffizient

entwickelt werden. Dabei werden die in den

Gebäuden gebundenen Rohstoffe so verbaut,

dass sie am Ende der Nutzung wieder als

Ausgangsstoff für neue Projekte dienen. Dies

wird vor allem dadurch möglich, dass die nach

Cradle to Cradle optimierten und zertifizierten

Produkte schadstofffrei, sortenrein trennbar

und vollständig rezyklierbar sind. So werden

alle verwendeten Bauteile und Materialien

Teile eines geschlossenen Kreislaufes und die

Gebäude zu Rohstoffdepots. Für Bauherren

und Projektentwickler lässt sich dadurch nicht

nur ein ökologischer, sondern auch ein ökonomischer

Zusatznutzen erzeugen.

Foto: EPEA – Part of Drees & Sommer Source Braungart McDonough


82

WIRTSCHAFT+MARKT

THE CRADLE – EIN HOLZHYBRID-

GEBÄUDE NACH C2C

Zu den Vorreitern, wenn es um von Cradle

to Cradle inspirierte Immobilien geht, gehört

das Holzhybrid-Bürogebäude „The Cradle“ in

Düsseldorf. Es stammt aus der Feder der HHP

Architekten und wird von INTERBODEN Innovative

Gewerbewelten® realisiert. Wie der Name

bereits vermuten lässt, wird das Gebäude in

Anlehnung an das Cradle-to-Cradle®-Designprinzip

umgesetzt. Konkret bedeutet das: Alle

dort eingesetzten Produkte werden auf ihren

ökologischen Fußabdruck, Materialgesundheit,

Recyclingfähigkeit und Trennbarkeit geprüft.

Zum Einsatz kommen nur chemisch unbedenkliche

und kreislauffähige Materialien. Nach dem

späteren Gebäudeabriss gehen sie in den technischen

oder den biologischen Kreislauf zurück

– ganz ohne Qualitätsverluste und Abfälle.

Eine weitere Besonderheit beim The Cradle

ist, dass bei diesem Projekt Cradle to Cradle

erstmalig mit der digitalen Planungsmethode

Building Information Modeling (BIM) verknüpft

wird. Alle verfügbaren Informationen

zu unterschiedlichen Bauteilen des Gebäudes

werden dabei in einem sogenannten Building

Circularity Passport, also Gebäude-Materialpass,

hinterlegt. Dieser funktioniert wie

ein klassischer Bauteilkatalog, der zusätzlich

Cradle-to-Cradle-Kriterien beinhaltet, und gibt

Auskunft über die verwendeten Materialien

sowie deren chemische Beschaffenheit und

ökologische Auswirkung. Diese Verknüpfung

von BIM und C2C ist bisher einmalig.

Das anspruchsvolle Projekt soll in rund zwei

Jahren fertiggestellt werden.

CRADLE TO CRADLE BEI BESTANDS-

BAUTEN

Um die Kriterien eines kreislauffähigen Gebäudes

zu erfüllen, muss nicht zwingenderweise

neu gebaut werden.

Auch Bestandsbauten können so umgestaltet,

saniert und renoviert werden, dass sie dem

C2C-Konzept gerecht werden. Bei Bestandssanierungen

ist zu berücksichtigen, dass auch

hier Rohstoffe und Materialien verbaut werden,

die potenziell unendlich lang zirkulieren

und wiederverwendet werden können. Das

weltweit erste Projekt dieser Art ist das C2C

Lab in Berlin, das 2019 seine Pforten öffnete.

Eine sanierungsbedürftige Gewerbeeinheit

wurde mithilfe unterschiedlicher Partner der

C2C NGO in ein Reallabor verwandelt, in dem

nachhaltige Innovationen erleb- und greifbar

gemacht werden. In diesem Showroom sitzt

nun auch die neue Geschäftsstelle der Cradle

to Cradle NGO. Die Experten der EPEA GmbH

und der Drees & Sommer SE haben bei der

Umsetzung des C2C Labs aktiv mitgewirkt

und begleiten aktuell auch The Cradle mit

C2C-Beratung.

Neben diesen beiden Projekten gibt es noch

viele weitere Bauprojekte, bei denen sich das

Cradle to Cradle-Prinzip durch seinen wertvollen

Einfluss auf Mensch und Umwelt bewährt

hat. Beispiele sind das Rathaus im niederländischen

Venlo oder der RAG-Neubau auf dem

Zeche Zollverein in Essen. Für eine enkelfähige

Zukunft ist es aber notwendig, dass das

C2C-Prinzip branchenübergreifend zum Einsatz

kommt und flächendeckend umgesetzt

wird. Nur so ist es möglich, die Zukunft unserer

Erde nachhaltig und positiv zu verändern.

Fotos: INTERBODEN bloomimage, C2C LAB


KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT WIRTSCHAFT+MARKT 83

„DAS THEMA WASSERSTOFF

WIRD DIE ENERGIEWENDE

DEUTLICH VORANBRINGEN“

VON CHRISTIAN PEGEL, MINISTER FÜR ENERGIE,

INFRASTRUKTUR UND DIGITALISIERUNG IN

MECKLENBURG- VORPOMMERN

Christian Pegel (SPD)

Grafiken: Freepik/starline/freepik.com, Foto: EM Gohlke

MMecklenburg-Vorpommern zählt bundesweit

zu den Vorreitern in Sachen Energiewende.

Das liegt vor allem daran, dass wir in unserem

Flächenland und auf der Ostsee davor hervorragende

Bedingungen für das Erzeugen

von Windenergie haben. So hat sich M-V, wie

wir den langen Namen unseres Bundeslands

abkürzen, zu einem „Windland“ entwickelt. Inklusive

einer neuen Branche, die viele Tausend

hoch qualifizierte Arbeitsplätze gebracht und

zum Aufschwung unserer Häfen und Werften

beigetragen hat.

Hinzu kommt, dass unsere Landwirte und auch

Industriebetriebe frühzeitig begonnen haben,

die Potenziale von Biomasse und Solarenergie

auszuloten. Dies alles hat dazu geführt, dass

wir bereits seit 2013 rein rechnerisch mehr erneuerbaren

Strom erzeugen als wir überhaupt

an Strom verbrauchen.

Genau hier knüpfen unsere Pläne für die

Zukunft an: Wir wollen die saubere Energie,

die wir bei uns im Land produzieren, auch

vollständig nutzen und dies möglichst gleich

dort, wo sie entsteht. Wir wollen diese Energie

für andere Bereiche einsetzbar machen – für

die Mobilität, für die Wärmeversorgung, für

die Industrie.

Ein großes Thema ist bei uns nicht erst seit

heute die klimafreundliche Herstellung von

Wasserstoff und ähnlichen aus sauberem

Strom gewonnenen Energielieferanten: Wir

haben die Windanlagen, die diesen liefern. In

einem Flächenland wie unserem ist es sehr

sinnvoll, ihn gleich vor Ort dezentral zu nutzen.

Und wir haben eine lebhafte Szene, die sich

schon seit Jahren mit

diesem Thema befasst und

auch schon Erfolge vorzuweisen

hat. Um nur vier Beispiele

zu nennen:

Die Hochschule Stralsund hat schon seit 2009

ein Institut für regenerative Energiesysteme

und zum Beispiel die kohlendioxidfreie

Methanolproduktion optimiert. Das in M-V

ansässige Unternehmen Apex hat kürzlich

Europas größte netzgekoppelte Wasserstoffanlage

in Betrieb genommen und versorgt das

gesamte Unternehmen und eine öffentliche

Wasserstofftankstelle mit emissionsfreier

Energie. Zwei weitere Projekte treiben die Idee

von Wasserstoff-Lkw und CO 2

-freiem Ammoniak

voran, der in der Landwirtschaft und als

Schiffstreibstoff eingesetzt werden könnte.

Auch Landwirtschaft und Schiffe haben wir in

Mecklenburg-Vorpommern mit unseren

vielen Seen, Flüssen und der

Ostsee ja reichlich.

Um es kurz zu machen:

Mecklenburg-Vorpommern

will auch Wasserstoffland

werden. Wir

haben längst erkannt,

welche Chancen das

Thema Wasserstoff

birgt. Es hat das

Potenzial, einen

neuen Wirtschaftszweig

bei uns im Land zu begründen,

der die Wertschöpfungskette

von der Erzeugung bis

zum Verbrauch abbildet und dabei

Arbeitsplätze schafft. Und: Ich bin überzeugt,

wenn wir den bei uns im Land erzeugten

Strom auch bei uns im Land nutzbar machen,

steigert dies auch die Akzeptanz für unsere

Windenergieanlagen.

Das Thema Wasserstoff wird die

Energiewende deutlich voranbringen

– und wir in

Mecklenburg-Vorpommern

wollen

ganz vorn mit

dabei sein.


84

WIRTSCHAFT+MARKT

KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

VERÄNDERUNGNG IST

DAS NEUE NORMAL

Wie werden wir in Zukunft arbeiten?

Arbeitswelten neu gedacht

VON SEBASTIAN SAATWEBER

Zu Hause, im Café, 9 to 5 oder 24/7? Moderne Büroarbeiter nutzen flexibel

Raum, Zeit und Strukturen, um ihre Aufgaben auszuführen. Der ehemals

feste Rahmen wird mehr und mehr einer Flexibilisierung in der Arbeitsorganisation

weichen. Das bedeutet nicht nur, dass es möglich sein sollte, jeden

Tag den Arbeitsort neu zu wählen, sondern auch Arbeitsumgebungen zu

schaffen, die, mit entsprechender Technologie ausgestattet, die Möglichkeit

bieten, mit anderen Teammitgliedern in Kontakt zu bleiben.

Die Entwicklung hin zum orts- und zeitunabhängigen Arbeiten ist keineswegs

neu, doch erfährt sie im Zuge der Pandemie eine neue Richtung, mit der wesentliche

Fragen verbunden sind, z. B.: Was können Unternehmen von den aktuellen

Herausforderungen lernen? Und kann das Büro als primärer Arbeitsort Schritt

halten oder wird es langfristig von der Bildfläche verschwinden?

Arbeit und ihre Methoden haben sich im letzten Jahrzehnt rasant verändert.

Arbeits umgebungen mit ihren Gepflogenheiten hinken den Entwicklungen jedoch

immer etwas hinterher. Lange, dunkle Büroflure mit Einzelbüros, in denen die

Mitarbeiter unter den Augen der Führungskräfte in Präsenzarbeitszeit sitzen, sind

nicht mehr auf heutige und zukünftige Anforderungen ausgerichtet. Aber: Arbeitsumgebungen

lassen sich verändern. Schon vor der Pandemie war der Wille nach Veränderung

groß. „Agilität“, eine „neue Unternehmens- und Führungskultur“ sowie „flexible,

effiziente und intelligente Bürolandschaften“ werden gern im Zuge des Wettbewerbs um

qualifizierte Mitarbeiter unter dem Themenfeld „New Work“ zusammengefasst. Arbeitswelten,

damit sie langfristig funktionieren, müssen entsprechend der jeweiligen Unternehmensanforderungen

und unter gleichwertiger Betrachtung von Raum, Technologie

und Kultur entwickelt werden. Erst wenn wir verstehen, wie eine Organisation funktioniert,

können wir bedarfsgerechte und auf individuelle Anforderungen ausgerichtete Arbeitsumgebungen

ableiten. Flächeneffizienz und flexible Möblierungskonzepte sind ein hoch aufgehängtes

Thema. Es zu betrachten kann jedoch nur mit einer gleichzeitigen Steigerung des

Wohlbefindens der Nutzer und einer entsprechend gelebten Führungskultur einhergehen.

Jeder Eingriff in die Arbeitsorganisation bringt auch Veränderung für alle Beteiligten mit sich.

Das ist mühsam. Doch alte Systeme aufrechtzuhalten, kostet immer mehr Zeit, Energie und

Ressourcen. Je länger man sich den Themen verschließt, desto aufwendiger wird der Wandel.

Unternehmen, die das früh erkannt haben, konnten relativ schnell auf einen Lockdown reagieren

und ihre Mitarbeiter zu fast 100 Prozent ins „Home Office“ schicken. Die Erfahrungen zeigen:

Arbeit von zu Hause aus funktioniert. Mit dieser Entkopplung der Arbeit vom Ort gehen Ängste

und Bedenken der Beschäftigten einher: durch flexible Konzepte seinen persönlich zugewiesenen

Arbeitsplatz zu verlieren, die Kolleg*innen in offenen, lauten und chaotischen Flächen nicht

Foto: Pexels/pixabay.com


WIRTSCHAFT+MARKT 85

aufzufinden oder den eigenen Status nicht weiter durch die Größe des Büros zu

definieren. Auch die Befürchtung, ständig und überall erreichbar zu sein und nicht

mehr zwischen Beruf und Privatleben trennen zu können, gehört dazu. Dies alles sind

gerechtfertigte Einwände, die aber im Kontext tatsächlich gelebter „neuer Arbeit“

fast immer ausklingen. Wichtig ist die frühzeitige und enge Einbindung der Mitarbeitenden

und Führungskräfte in den Veränderungsprozess.

Auch wenn dieses Szenario zurzeit gern geäußert wird: Einen Großteil der Mitarbeitenden

jetzt pauschal mobil arbeiten zu lassen und Büroflächen abzumieten,

ist auf jeden Fall viel zu kurz gedacht.

Grafik: Arbeitswelten ganzheitlich Betrachten | Kinnarps Next Office Concept®

Das Büro der Zukunft wird ein Arbeitsort von vielen sein, in dem Mitarbeitende

für unterschiedlichste Tätigkeiten zusammenkommen, ein Ort des persönlichen

Austauschs, in dem neue Ideen entwickelt werden. Räume für konzentriertes

Arbeiten werden bereitgestellt. Mitarbeiterführung und Unternehmenskultur

werden wesentliche Erfolgsfaktoren. Einen Weg zurück in die „alte Welt“, in

der wir neu erlernte Arbeitsmethoden in festgefügte Räume „pressen“ und

Unternehmen an ausgedienten Strukturen festhalten, wird es hoffentlich

nicht geben. Ein Umdenken auf vielen Ebenen ist gefordert: die Betrachtung

neuer Arbeitszeit-, Schutz- und Gesundheitsmodelle und entsprechende

Gesetzgebungen. Die Einbindung neuer Technologien oder KI

gehören ebenso dazu wie neue Mobilitäts-, Stadtentwicklungs- und

Klimaschutzkonzepte. Denken wir Arbeit und ihre Räume neu. Fordern

wir, dass wir uns alle mehr öffnen. Trauen wir uns, öfter „einfach mal

zu machen“.

Es bleibt abzuwarten, welche neuen, uns bisher unbekannten, digitalen

und analogen Arbeitsorte entstehen. Wir werden sehen, welche

gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Nebeneffekte

daraus erwachsen. Eines ist klar: Die uns bekannte Arbeitswelt

wird auf den Kopf gestellt und das Büro muss sich im Zuge der

Entwicklungen neu erfinden.

Geben wir dem Büro eine Chance! Wir werden es auch in Zukunft

noch brauchen – wie auch immer es dann aussehen wird.

Sebastian Saatweber, Strategie-Berater bei

der Kinnarps GmbH im komplexen Themenfeld

„New Work“. Der Vater von drei Kindern

wohnt in Hamburg und begleitet erfolgreich

natio nale und internationale Unternehmen

und Organisationen auf dem abenteuerlichen

Weg in zukunftsfähige Arbeitswelten.


86

WIRTSCHAFT+MARKT

KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

ERNEUERBARE ENERGIEN

SIND EINE CHANCE FÜR

OSTDEUTSCHLAND!

Die 50Hertz Transmission GmbH, Übertragungsnetzbetreiber für

Ostdeutschland, Berlin und Hamburg, will bis zum Jahr 2032 in ihrem

Versorgungsgebiet 100 Prozent der Stromnachfrage aus erneuerbaren

Energien decken. Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung

von 50Hertz, äußert sich im W+M-Interview über die klima- und

industriepolitische Initiative seines Unternehmens und den Stand der

Energiewende in Ostdeutschland.

VON FRANK NEHRING UND MATTHIAS SALM

Stefan Kapferer, Vorsitzender der

Geschäftsführung von 50Hertz

W+M: Herr Kapferer, der Klimaschutz steht

derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung im

Schatten der Coronapandemie. Wie beurteilen

Sie vor diesem Hintergrund den aktuellen

Stand der Energiewende?

Stefan Kapferer: Die Herausforderungen

des Klimawandels sind auch in der Coronakrise

keinesfalls kleiner geworden. Lange Zeit

wurde ja vor allem über die Ziele der Energiewende

diskutiert. Mittlerweile sind diese

klar definiert: Europa soll im Jahr 2050 ein

klimaneutraler Kontinent sein. Wir diskutieren

jetzt nicht mehr über die Ziele, sondern über

geeignete Technologien zu deren Erreichung.

Für Unternehmen wie 50Hertz, die für solche

Fragen die nötige Expertise besitzen, bietet

das viele Chancen, sich in den Prozess einzubringen.

W+M: Gegenwärtig werden in der Politik

auch Stimmen laut, die einer wirtschaftlichen

Erholung nach der Coronapandemie Vorrang

vor einem nachhaltigen Umbau der Wirtschaft

geben wollen. Teilen Sie diese Auffassung?

Stefan Kapferer: Den Prozess der Transformation

jetzt zurückzustellen, wäre eine

falsche Entscheidung. Wirtschaftliches

Wachstum wird ja u. a. aus dem Umbau des

Energiesystems entstehen. Das wissen auch

die Unternehmen: Die energieintensiven

Branchen in Ostdeutschland – ob Stahlhersteller,

Automobilproduzenten oder die

Chemieindustrie – haben sich allesamt dem

Ziel verschrieben, klimaneutral zu wachsen.

Eine andere Frage ist, welche Förderung die

Wirtschaft in der gegenwärtigen Situation

benötigt, um diese Transformation leisten zu

können. Da sind beispielsweise das Wasserstoffprogramm

der Bundesregierung oder

die Fördermittel für den Aufbau der Ladeinfrastruktur

sicherlich wichtige und richtige

Maßnahmen.

Fotos: 50Hertz, Grafiken: rawpixel.com/macrovector/freepik.com


WIRTSCHAFT+MARKT 87

W+M: Trotzdem beklagen Kritiker, die

Energiewende komme nicht schnell genug

voran. Was sind Ihrer Ansicht nach die größten

Hemmnisse?

Stefan Kapferer: Das größte Problem

bleibt weiter die Bezahlbarkeit und die Frage,

wie teuer der Strom am Ende sein wird.

Aber: Mittlerweile gibt es auch Betreiber von

Erneuerbare- Energien-Anlagen, die keine Subventionen

unter Einschluss der EEG-Umlage

benötigen. Das ist ein sehr guter Trend.

W+M: Zur Energiewende zählt auch der

umstrittene Kohlekompromiss. Sie waren

Mitglied der Kohlekommission. Wie bewerten

Sie deren Entscheidung heute?

Stefan Kapferer: Ich halte den Kohlekompromiss

nach wie vor für ein gutes Ergebnis.

Die Kritik – etwa an den hohen Kosten des

Kohleausstiegs – teile ich so nicht. Der größte

Teil der veranschlagten Mittel fließt in den

Strukturwandel in den Kohlerevieren. Es ist

sinnvoll investiertes Geld, denn vor allem die

Lausitz braucht Entwicklungsperspektiven.

Diese Investitionen wären auch notwendig

geworden, hätten wir einen anderen Fahrplan

zum Kohleausstieg beschlossen.

W+M: Ostdeutsche Länder wie Brandenburg

und Mecklenburg-Vorpommern galten

lange Zeit als Vorreiter der Energiewende.

Haben Sie diese Position eigentlich mittlerweile

eingebüßt?

Stefan Kapferer: In Brandenburg kann ich

eine solche Entwicklung nicht erkennen. Alleine

die Nachfrage nach Solarpark-Projekten

in Brandenburg ist so groß, dass sie gar nicht

alle verwirklicht werden können. Mecklenburg-Vorpommern

als vergleichsweise dünn

besiedeltes Land liegt hingegen bei der Nutzung

der Onshore-Windkraft im bundesweiten

Vergleich nur im Mittelfeld. Hier gibt es in der

Tat noch Luft nach oben.

W+M: Welche Chancen und Risiken ergeben

sich denn aus der Energiewende für den Wirtschaftsstandort

Ostdeutschland?

Stefan Kapferer: Die Energiewende bietet

für Ostdeutschland vor allem Chancen. Wer

hätte etwa vor fünf Jahren die Prognose

gewagt, dass sich ein Konzern wie Tesla für

Brandenburg als Standort entscheidet? Für

Ostdeutschland sprechen viele gute Gründe:

Es existiert eine exzellente klassische Infrastruktur,

Unternehmen finden hier hoch

qualifizierte Arbeitskräfte und in Städten

wie Berlin, Jena oder Dresden hat sich eine

sehr vitale Start-up-Szene entwickelt. Dazu

haben wir im Versorgungsgebiet von 50Hertz

einen der höchsten Anteile an erneuerbaren

Energien in ganz Europa. Und der wird

weiter wachsen: durch die Anbindung der

Offshore-Windkraft in der Ostsee und die

Flächenverfügbarkeit für zusätzliche Solarund

Windkraftanlagen. Das verschafft Ostdeutschland

Wettbewerbsvorteile gegenüber

anderen Regionen Deutschlands.

W+M: Wie wird Ostdeutschland von diesen

Vorteilen profitieren?

Stefan Kapferer: Es war sicher etwas zu

kurz gesprungen, dass früher ein Stück weit

der Eindruck erweckt wurde, die Energiewende

schaffe ausschließlich unmittelbar

direkte Arbeitsplätze. Das tut sie natürlich

auch. Noch wichtiger aber sind die mittelbaren

Effekte. Die Möglichkeit, den Strombedarf

zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien

zu decken, steigert die Attraktivität eines

Wirtschaftsstandorts für viele energieintensive

Unternehmen. Das ist die Zukunft. Mit

unserer Initiative „Von 60 auf 100 bis 2032“

möchten wir als Netzbetreiber unseren Anteil

zu dieser Entwicklung leisten.

W+M: Welches Ziel verfolgen Sie konkret

mit dieser Initiative?

Stefan Kapferer: Wir wollen bis zum Jahr

2032 den Strombedarf zu 100 Prozent aus

erneuerbaren Energien decken und dieses

volatile Stromangebot vollständig in das System

integrieren. Dazu gehört beispielsweise,

dass wir neue Ansätze in der Systemführung

entwickeln, um das Netz auch bei steigenden

Mengen erneuerbaren Stroms weiterhin sicher

zu fahren. Dabei spielt die Digitalisierung eine

wichtige Rolle, freie Übertragungskapazitäten

im Netz zu erkennen und dann auch zu nutzen.

W+M: An wen richten Sie sich mit dieser

Initiative?

Stefan Kapferer: Da gibt es verschiedene

Zielgruppen. Zunächst einmal soll unsere

Initiative eine Wirkung nach innen entfalten.

Wir wollen europaweit federführend sein bei

Technologien zur Netz- und Systemstabilität.

Wir wollen aber auch nach außen eine aktive

Rolle einnehmen. So planen wir beispielsweise

eine Studie, um herauszufinden, wo in unserem

Netzgebiet noch freie Kapazitäten für die

Einbindung erneuerbarer Energien vorhanden

sind. Diese Daten wollen wir Investoren

transparent zugänglich machen, um ihnen

Investitionsentscheidungen zu erleichtern. Darüber

hinaus wollen wir Politik und Investoren

unsere Erfahrungen in der Kommunikation mit

der Öffentlichkeit weitergeben. Wir wissen,

je früher und transparenter man Energieprojekte

kommuniziert, desto eher lässt sich eine

Zustimmung der Bevölkerung gewinnen.

Lesen Sie

das ausführliche

Interview online


88

WIRTSCHAFT+MARKT

KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

„EINIGKEIT IN VIELFALT“ –

FAKTOR FÜR EINE ERFOLG-

REICHE ENERGIEWENDE IN

OSTDEUTSCHLAND

VON BODO RODESTOCK, VORSTAND FÜR FINANZEN/IT/PERSONAL DER VNG AG

Region haben – und diese auch als Chance

nutzen sollten. Als ostdeutsche Region haben

wir Zugang zu allen Energieträgern – perspektivisch

auch zu Wasserstoff als Zukunftstechnologie.

Insbesondere groß angelegte

Kooperationen und Projekte – wie exemplarisch

das Engagement rund um Wasserstoff

verdeutlicht – werden regional sowohl in

Politik als auch Wissenschaft und Wirtschaft

bereits stark vorangetrieben. Doch könnten

solche Kooperationen ein noch größeres

Wertschöpfungspotenzial entfalten, wenn sie

zukünftig auch länderübergreifend gedacht

VNG ist seit mehr als 60 Jahren in Ostdeutschland

fest verankert. Als Energieunternehmen

mit der Kernkompetenz Erdgas begleiten wir

die Energiewende mit spezifischem Blick auf

die neuen Bundesländer und sehen zwei wesentliche

Ziele für ein nachhaltiges Wirtschaften

in Zeiten des Klimawandels: zum einen das

Erreichen der nationalen und europäischen

Klimaziele – mit dem übergeordneten Ziel der

Klimaneutralität bis 2050. Mit Blick auf unsere

unternehmerische Ausrichtung und unserem

Antrieb, erfolgreich die Transformation von

Gas zu vollziehen, legen wir mit unserer unlängst

aktualisierten Strategie VNG 2030+ den

Fokus hierbei noch stärker auf die Entwicklung

dekarbonisierter Geschäftsfelder mit grünen

Gasen und digitaler Infrastruktur.

Das zweite Ziel für eine erfolgreiche Energiewende

in Ostdeutschland sehen wir im Erhalt

und dem Schaffen von regionaler Wertschöpfung

– eine Herausforderung, die aufgrund

der demografischen und wirtschaftsstrukturellen

Gegebenheiten der Region nach einer

besonderen Betrachtung verlangt: Sei es

die vielfältige Betriebsgrößenstruktur, die

die ostdeutsche Unternehmenslandschaft

kennzeichnet, der offene und erfindungsreiche

Umgang mit Veränderungs- und Transformationsprozessen,

eine mannigfaltig ausgeprägte

Forschungskultur sowie eine sich breit entwickelnde

Start-up-Szene – die ostdeutschen

Bundesländer verfügen grundsätzlich genau

über jene Akteure und Charakteristika, die es

braucht, um den hiesigen Wirtschaftsstandort

sukzessive zu stärken.

Es ist eben diese Vielfalt, die in ihrem Zusammenspiel

aus unterschiedlichen Akteuren

der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die

ostdeutsche Energielandschaft maßgeblich

prägt und gemeinsam den Wandel zu einer

klimaneutralen Wirtschaft aktiv begleiten will.

Im wörtlichen Sinne also eine „Einigkeit in Vielfalt“,

die die ökonomischen, ökologischen und

sozialen Besonderheiten in Ostdeutschland

formt und so zu einem erfolgreichen Gelingen

der Energiewende in dieser Region beitragen

will und kann.

Wir müssen uns nur noch stärker bewusst

machen, dass wir diese Potenziale hier in der

und umgesetzt würden.

Im Kern liegt der Schlüssel zum Erfolg im

Verzahnen von Energieträgern, Akteuren

und Kompetenzen – nicht nur, aber auch in

Ostdeutschland. Genau hier bietet das ostdeutsche

Wirtschaftsforum als Netzwerk die

Gelegenheit, nimmt die besonderen Anforderungen

und Fragestellungen der ostdeutschen

Bundesländer in den Blick und vermag,

wirtschaftliche und strukturelle Chancen

abzuleiten – für eine erfolgreiche Energiewelt

von morgen.

Bodo Rodestock

Fotos: VGN/Jeibmann Photographik, Torsten Pross, Grafik: Vectorium/freepik.com


WIRTSCHAFT+MARKT 89

DAS THEMA NACHHALTIGKEIT

IST IN DER FINANZ WIRTSCHAFT

ANGEKOMMEN

Der Klimaschutz stellt auch die Finanzwirtschaft vor eine

wichtige Zukunftsaufgabe. Welche Rolle die Banken bei

der Transformation der Wirtschaft übernehmen können,

erklären im Interview mit W+M Achim Oelgarth, geschäftsführendes

Vorstandsmitglied des Ostdeutschen

Bankenverbands, Dr. Bernd Rolinck, Leiter des Expertenteams

Zukunftsbranchen bei der Deutsche Bank AG und

Kristian Kreyes, Bereichsleiter Wirtschaft bei der Investitionsbank

des Landes Brandenburg.

VON MATTHIAS SALM

Grafiken: rawpixel.com/artistdesign13/freepik.com

W+M: Der Klimaschutz war bis zum Ausbruch

der Coronapandemie das beherrschende

wirtschaftspolitische Thema. Gerät es nun in

den Hintergrund oder ist es gerade jetzt die

richtige Zeit für mehr Nachhaltigkeit?

Achim Oelgarth: Nach einer Phase der

akuten Krisenbewältigung rücken auch in

Coronazeiten die „normalen“ Herausforderungen

für die Wirtschaft wieder in den Fokus.

Besonders drängend bleibt ein effektiver

Klima- und Umweltschutz – einerseits, um die

Lebensgrundlagen der Gesellschaft zu erhalten,

andererseits gilt es, die Zukunft der Wirtschaft

zu sichern. Zugleich gewinnt auch die

Berücksichtigung etwa von sozialen Faktoren

an Bedeutung. Insofern ist es richtig, wenn

von dem Re-Start auch ein starkes Aufbruchssignal

unter grünem Vorzeichen ausgeht. Klar

ist aber auch: Umfang, Geschwindigkeit und

konkrete Maßnahmen müssen betriebswirtschaftlich

und ökologisch machbar bleiben.

Dr. Bernd Rolinck: Die Coronakrise hat

gezeigt, wie anfällig Gesundheits-, Gesellschafts-

und Wirtschaftssysteme selbst in

den Industrieländern sind. Künftig ist daher

noch stärker auf deren Anpassungs- und

Widerstandsfähigkeit zu setzen. Wenn wir

als reiche Volkswirtschaften Geld in die Hand

nehmen, um die Schäden der akuten Krise zu

mildern und die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft

durch gezielte Investitionen zu fördern,

dann sollten diese die Widerstandsfähigkeit

gegen künftige Krisen zum Ziel haben. Und das

meint Nachhaltigkeit.

Kristian Kreyes: Trotz der Coronapandemie

ist jetzt genau die richtige Zeit für Investitionen

in eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft.

Wann, wenn nicht jetzt? Wir sehen

uns mit einem rasch steigenden globalen

Bevölkerungswachstum und zunehmendem

Energieverbrauch konfrontiert. Gleichzeitig

sind wir in vielen Bereichen noch auf endliche

Ressourcen angewiesen. Daher hat die


90

WIRTSCHAFT+MARKT

KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

EU-Kommission Ende 2019 den European

Green Deal vorgestellt, in dessen Rahmen die

Europäische Investitionsbank zur „Klimabank“

umgebaut werden soll. Der EU-Rat hat dazu

den mehrjährigen Finanzrahmen sowie das

europäische Konjunktur- und Investitionsprogramm

gegen die Folgen der Coronakrise in

Höhe von insgesamt rund 1,8 Billionen Euro

beschlossen. Das ist der größte Haushalt in

der Geschichte der EU, und er soll nachhaltig

investiert werden. Gerade öffentlichen Mitteln

kommt hier eine besondere Verpflichtung zu.

W+M: Welcher Zeithorizont verbleibt für

eine Transformation unserer Wirtschaft?

Achim Oelgarth: Die deutliche Mehrheitsmeinung

unter den Wissenschaftlern ist hier

relativ klar: Es ist notwendig, schnell und

gezielt unsere bisherige Lebens- und Wirtschaftsweise

umzusteuern.

Dr. Bernd Rolinck: Die Transformation zu

einer emissionsarmen Gesellschaft und Wirtschaft

und der Erhalt der natürlichen Ökosysteme

sind sicher die vordringlichsten Themen.

Die Veränderungen werden Wachstum sowie

Verteilung von Wertschöpfung und Wohlstand

weltweit und zwischen Industrien betreffen.

Die Weichen für die Zukunft

einzelner Wirtschaftsstandorte

und

Unternehmen

werden jetzt gestellt – wenn nicht durch

die Wirtschaft selbst, dann durch politische

Regulierung.

Kristian Kreyes: Der Weltklimarat hat klar

dargelegt, in welchem Ziel- und Zeitrahmen

gehandelt werden muss, um die Erderwärmung

auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das von der

Bundesregierung verabschiedete Klimaschutzgesetz

kommt da genau richtig. Es

verpflichtet Deutschland, bis zum Jahr 2030

die CO 2

-Emissionen um 55 Prozent zu reduzieren,

im Vergleich zu 1990. Bis 2050 sollen

Deutschland und Europa dann CO 2

-neutral

sein. Wenn das gelingt, sind wir auf einem

guten Weg.

W+M: Welche Rolle spielt die Finanzwirtschaft

bei der Transformation?

Achim Oelgarth: Auf dem Weg zu mehr

Nachhaltigkeit ergeben sich für die Wirtschaft

eine Reihe von Herausforderungen. Hierfür

sind neben Innovationen auch erhebliche

Investitionen notwendig. So ging die EU-Kommission

bei Auflage des Green Deals davon

aus, dass bis 2030 zusätzlich 260 Milliarden

Euro jährlich nötig sind, um die Klimaziele

zu erreichen. Die Finanzwirtschaft kann

dabei durch eine entsprechende Lenkung der

Finanzströme den Umbau in den Unternehmen

aktiv begleiten. Dies stärkt die Wettbewerbsfähigkeit

der finanzierten Unternehmen

und reduziert Nachhaltigkeitsrisiken in den

Bankbilanzen. Wichtig ist dabei, dass eine

Bewertung eines Vorhabens

als „grün“ nicht das alles entscheidende

Kriterium für eine Kreditvergabe sein kann.

Hier bleibt ebenso der Blick auf die Bonität,

das Ausfallrisiko und die Werthaltigkeit der

Investition entscheidend.

Dr. Bernd Rolinck: Die Transformation

unserer Wirtschaftssysteme wird auch die

Struktur des weltweiten Kapitalstocks betreffen.

Kapital wird sich in Bewegung setzen,

und Mittel aus einzelnen Industrien werden

in andere fließen. Dieser Prozess sollte von

professionellen Finanzmarktakteuren mitgestaltet

werden, um Effizienz im Umbau zu

gewährleisten. Diese wissen am ehesten um

das Management von Risiken ebenso wie um

die Realisierung von Chancen und sollten sich

frühzeitig mit den Umbrüchen beschäftigen.

Kristian Kreyes: Unser Beitrag als

Förder bank besteht darin, nachhaltige

Landesförder programme zu managen und

neue, zusätzliche Geldquellen für die Transformation

zu erschließen. Wir fördern beispielsweise

mit eigenen Programmen die nachhaltige

Entwicklung in Brandenburg. So haben wir

dieses Jahr erstmalig einen sogenannten

Social Bond emittiert und damit Investoren die

Chance gegeben, in die Bildungsinfrastruktur

und in den sozialen Wohnungsbau in Brandenburg

zu investieren. Der Bond war innerhalb

weniger Stunden mehrfach überzeichnet. Die

Nachfrage nach nachhaltigen Finanzprodukten

ist in den vergangenen

Jahren erfreulicherweise

merklich

gestiegen.

Grafiken: rawpixel.com/freepik/artistdesign13/freepik.com, Fotos: OBV, Deutsche Bank AG, ILB


WIRTSCHAFT+MARKT 91

W+M: Bringt Nachhaltigkeit auch

geschäftspolitische Chancen mit sich?

Achim Oelgarth: Das Thema ist unter mehreren

Aspekten für die Kreditinstitute relevant.

Die Kunden werden zunehmend anspruchsvoller

in Bezug auf Nachhaltigkeit und haben

entsprechende Ansprüche an ihre Bank. Nachhaltigkeit

ist damit – zumindest heute noch –

ein Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb.

Gleichzeitig steigt etwa im Anlagegeschäft die

Nachfrage nach entsprechenden Investments.

Und nicht zuletzt befasst sich eine Vielzahl von

Unternehmen mit der Transformation ihrer

Geschäftsmodelle. Dies ermöglicht auch den

finanzierenden Banken, sich neue Geschäftsfelder

zu erschließen.

Dr. Bernd Rolinck: Selbstverständlich

bringt Nachhaltigkeit auch geschäftspolitische

Chancen mit sich! Viele Unternehmen werden

ihre Geschäftspartner künftig stark unter

Nachhaltigkeitsaspekten auswählen. Wer sich

hier früh nachhaltig ausgerichtet hat, wird

dabei gewinnen. Speziell die Finanzwirtschaft

wird davon profitieren, finanzielle Mittel und

Lösungen für dediziert nachhaltige Projekte

oder Unternehmen bereitzustellen bzw. für

nachhaltig motivierte Investoren geeignete

Anlagen zu strukturieren.

Kristian Kreyes: Natürlich, schließlich

entstehen völlig neue Branchen, Produkte

und Dienstleistungen. Zudem werden sich

bestehende Unternehmen und Infrastrukturen

an geänderte Rahmenbedingungen anpassen

müssen. Denken Sie beispielsweise an die

Kohleregion Lausitz, die gerade im Begriff ist,

sich neu zu erfinden. Aber auch im Kleinen gibt

es vielfältige Chancen für neue Geschäftsideen.

So stellt z. B. das von uns finanzierte

Start-up ME Energy autarke Ladesäulen für

Elektroautos her, die den Strom aus klimaneutralem

Bio-Methanol erzeugen. Aus meiner

Sicht ist es entscheidend, dass Wirtschaft und

Wissenschaft Hand in Hand arbeiten, damit

aus neuen Erkenntnissen innovative, nachhaltige

Geschäftsmodelle werden können.

W+M: Wie werden Nachhaltigkeitsparameter

in den geschäftspolitischen Strategien

berücksichtigt?

Achim Oelgarth: Klimaschutz und Nachhaltigkeit

sind auch für Banken eine wichtige

Handlungsmaxime. Sie werden integraler

Bestandteil der Geschäftsstrategie. Zugleich

spielen Nachhaltigkeitsaspekte bei der Risikobewertung

eine zunehmend wichtigere Rolle –

von den Auswirkungen des Klimawandels bis

hin zu politischen Entscheidungen, etwa weil

emissionsstarke Industrieunternehmen hohe

CO 2

-Preise zahlen müssen. Um die Geschäftspolitik

und das Risikomanagement entsprechend

steuern zu können, müssen die Risiken

und Chancen auch erkannt und bewertet

werden können. Hierfür haben die einzelnen

Institute jeweils Standards entwickelt.

Dr. Bernd Rolinck: Die Europäische Zentralbank

weist immer wieder darauf hin, dass die

europäischen Banken nach ihrer Ansicht die

Risiken aus dem Klimawandel – um nur ein

Beispiel zu nennen – noch nicht ausreichend

in ihrem Risiko-Management berücksichtigen.

Über ein Konsultationsverfahren entwickelt

sie eigene Empfehlungen zum Umgang mit

Klima- und Umweltrisiken im Banksektor. Eine

Reihe von Banken in Deutschland – auch die

Deutsche Bank – haben eine gemeinsame

Vereinbarung geschlossen, um die Kredit- bzw.

Investmentportfolien im Einklang mit den Zielen

des Pariser Klimaabkommens auszurichten

und durch die Finanzierung der Transformation

hin zu einer emissionsarmen und klimaresilienten

Wirtschaft und Gesellschaft, die

Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu

begrenzen und das 1,5-Grad-Ziel anzustreben.

Kristian Kreyes: Seit 2019 steht Nachhaltigkeit

auch im Fokus der Aufsicht. So hat die

Bundesanstalt für Finanzaufsicht (BaFin) im

Mai 2019 die BaFin-Perspektiven zu Nachhaltigkeit

veröffentlicht und im Dezember

ihr Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken.

Dieses Jahr hat die BaFin zudem

angekündigt, dass sie die Nachhaltigkeit des

Geschäftsmodells in Zeiten der Niedrigzinsen

prüfen wird. Außerdem wird Sie auch darauf

achten, dass Umwelt-, Sozial- und Governance-

Risiken in Banken berücksichtigt werden. Sie

sehen, Nachhaltigkeit ist in der Finanzwirtschaft

angekommen.

Achim Oelgarth,

geschäftsführendes Vorstandsmitglied

des Ostdeutschen

Bankenverbands

Dr. Bernd Rolinck,

Leiter des Expertenteams

Zukunftsbranchen bei der

Deutsche Bank AG

Kristian Kreyes,

Bereichsleiter Wirtschaft

bei der Investitionsbank des

Landes Brandenburg


92

WIRTSCHAFT+MARKT

KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT

UMFRAGE TRENDOST

POSITIVER AUSBLICK

FÜR DEN WIRTSCHAFTS-

STANDORT

DDie Coronapandemie hat gezeigt, wie abrupt

Unternehmen und der Wirtschaftsstandort

vor neue Herausforderungen gestellt werden

können. Vieles hat sich grundlegend verändert,

die kommenden Monate bleiben wohl

außergewöhnlich. Auch für die Unternehmen

und den Wirtschaftsstandort gilt es, sich auf

eine neue Realität einzustellen. Was heißt

dies bezogen auf Ostdeutschland?

Der Ostdeutsche Bankenverband hat gemeinsam

mit „Wirtschaft+Markt“ die Umfrage

TrendOst durchgeführt. Im August wurden

hierzu Führungskräfte und Experten aus

Banken, Unternehmen, Verbänden/Kammern

sowie Politik zu ihren Einschätzungen des

Liquidität

Nachfrage

Investitionen

Lieferketten

Produktion

Wirtschaftsstandorts und den Herausforderungen

sowie Reaktionen der Unternehmen

befragt. Geantwortet haben 225 Teilnehmer/-innen,

primär aus Ostdeutschland.

WIRTSCHAFTSSTANDORT BEHAUP-

TET SICH AUCH UNTER CORONA-

BEDINGUNGEN

Das konjunkturelle Fahrwasser ist stürmischer

geworden. Umso wichtiger ist es, dass

die Standortfaktoren die hiesige Unternehmenslandschaft

wirkungsvoll unterstützen.

Bei einer Gesamtbewertung erhält der

Wirtschaftsstandort auf der Schulnotenskala

eine 3+, bewegt sich also im Mittelfeld.

Durchwachsen bleibt die Wahrnehmung der

Welche Auswirkungen hat die Coronakrise nach Ihren Erfahrungen auf

ostdeutsche Unternehmen?

negativ neutral positiv

einzelnen Rahmenbedingungen. Zufrieden ist

man weitgehend mit Förderung und Flächenangebot

(2- bis 3+). Problemfelder bleiben

Breitband, Fachkräfteverfügbarkeit und

Verwaltungshandeln (Tendenz 3 bis 4). Ein

Lob erhalten dagegen Politik und Behörden

bei den Corona-Hilfen (bester Wert mit 2-).

Dass die Hilfen auch dringend notwendig

waren bzw. sind, zeigt die Frage nach den

Auswirkungen der Pandemie auf die Unternehmen.

Nicht überraschend wurden bei

Liquiditätssituation und Lieferketten deutlich

negative Folgen attestiert. Als Unterstützungsmaßnahmen

misst man vor allem den

Zuschüssen von Bund oder Land sowie der

Corona-Überbrückungshilfe eine hohe Relevanz

zu. Ebenfalls sind die KfW-Kreditprogramme

sowie die erweiterten Bürgschaften

für einen größeren Teil von Bedeutung. Als

wirksamstes Instrument wird das Kurzarbeitergeld

beschrieben, fast 70 Prozent

bewerten dieses mit „sehr relevant“.

STÄRKERE INTERNATIONALISIE-

RUNG PROGNOSTIZIERT

Die Auswirkungen der Pandemie haben vor

allem Unternehmen mit internationalen

Beziehungen schnell und deutlich gespürt. In

Folge davon wird eine weitere Diversifizierung

der Lieferketten und Absatzkanäle, aber auch

eine stärkere regionale Vernetzung prognostiziert.

Dazu passt, dass auch die Rückholung

von Kompetenzen an deutsche Standorte

erwartet wird.

Personal

0 % 50 % 100 %

Ostdeutscher Bankenverband e. V. (Quelle: Eigene Umfrage über Lamapoll, August 2020;

207 Antworten, Mehrfachauswahl möglich)

Insgesamt ist die direkte Einbindung grenzüberschreitender

Wertschöpfungsketten im

Osten noch immer vergleichsweise gering.

Mit der hiesigen Außenhandelsperformance

sind 50 Prozent der Befragten nur

Grafiken: OBV


WIRTSCHAFT+MARKT 93

Welche grundlegenden Änderungen in der Struktur der Wertschöpfungskette

wird es für Unternehmen durch die Coronapandemie geben?

stimme überhaupt nicht zu

stimme vollkommen zu

Lieferketten werden diversifiziert

Steigende regionale Vernetzung

Absatzkanäle werden diversifiziert

Rückverlagerung von Kernkompetenzen nach D

Fertigungstiefe steigt

Geplante Auslandsinitiativen werden ausgesetzt

Beschaffungskooperationen mit anderen

Fokussierung auf den EU-Binnenmarkt

Keine Änderung

Stärkere Internationalisierung

0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 %

Ostdeutscher Bankenverband e. V. (Quelle: Eigene Umfrage über Lamapoll, August 2020; 206 Antworten, Mehrfachauswahl möglich)

teils zufrieden. Für die nächsten zehn Jahre

wird aber eine spürbare Veränderung der

Exportaktivitäten erwartet, wenn auch sehr

branchenindividuell. Einen Schub in der Internationalisierung

sollten primär die Unternehmen

aus Chemie/Pharmazie, Biotech und

Informationstechnik erfahren. Die – stark

exportorientierte – Automobilindustrie wird

dagegen auf dem Rückzug gesehen.

NACHHALTIGKEIT UND KLIMA-

SCHUTZ BLEIBEN AUF DER AGENDA

Dem Thema „Nachhaltigkeit“, insbesondere

mit Blick auf dem Klimaschutz, bescheinigt

gut die Hälfte der Befragten bereits jetzt

eine hohe Relevanz, in zehn Jahren ist dies

für fast 90 Prozent der Fall. Als stärkste

Treiber werden dabei vor allem die Anforderungen

der Kunden und der Gesellschaft

im Allgemeinen sowie das Motiv der

Ressourceneinsparung und die Erfüllung

der gesetzlichen Vorgaben erlebt. Auch

Banken und Finanzierungspartner fragen

zwar inzwischen stärker bei Unternehmen

nach entsprechenden Anstrengungen nach,

werden in dieser Rolle aber noch nicht von

allen wahrgenommen.

Zugleich gibt es einen positiven Aspekt

aus der Coronapandemie zu verzeichnen.

Sechs von zehn Antwortenden meinen,

dass hierdurch das Thema Nachhaltigkeit

an Bedeutung gewinnt. Hinsichtlich von

Konjunktur- und Unterstützungsmaßnahmen

besteht zwar eine hohe Präferenz, den

Unternehmen zunächst wieder auf die Beine

zu helfen (zwei Drittel). Dennoch sollte die

Mittelverwendung durchaus auch Klima-/

Umweltschutz und soziale Belange in den

Unternehmen unterstützen.

Wie verändert sich aus Ihrer Sicht das Exportgeschäft in den nächsten zehn

Jahren für die folgenden Branchen?

Biotech-Industrie

Chemie und Pharmazie

IT/Telekommunikation

Maritime Wirtschaft

Automobilindustrie

Ostdeutscher Bankenverband e. V. (Quelle: Eigene Umfrage über Lamapoll, August 2020;

201 Antworten, Mehrfachauswahl möglich/Branchenauswahl)

2 %

2 %

6 %

41 %

59 %

83 %

65 %

58 %

10 %

14 %

sinkt

steigt

Fazit

Trotz Corona bleibt der Blick verhalten

optimistisch: Der Großteil

der Antwortenden rechnet damit,

dass sich im Verlauf des nächsten

Jahres die wirtschaftliche Situation

weitgehend normalisiert. Der

Wirtschaftsstandort ist durchaus

attraktiv, kann in den einzelnen

Ausprägungen aber noch besser

werden. Vor allem die Frage nach

dem Platz innerhalb der internationalen

Wertschöpfung und die

Transformation hin zu nachhaltigen

Geschäftsmodellen wird die Unternehmen

in den nächsten Jahren

intensiv beschäftigen. Dabei

sollten nicht nur Risiken, sondern

auch die Chancen gezielt in den

Blick genommen werden. Erst

im Juli gelang es, den Absatz des

Vorjahresmonats zu übertreffen.

Ob die Trendwende nachhaltig ist,

muss man sehen.


94

WIRTSCHAFT+MARKT

GESELLSCHAFT

Franziska Giffey, Steffen Mau,

Adriana Lettrari und Thomas Brockmeier

„DAVOS DES OSTENS“ TROTZT

CORONA UND FOKUSSIERT

SICH AUF ZUKUNFTSTHEMEN

Drei Tage lang erörterten führende Vertreter aus Wirtschaft,

Wissenschaft und Politik auf dem 5. Ostdeutschen

Wirtschaftsforum (OWF) die Folgen der Coronakrise

und Zukunftsperspektiven des Wirtschaftsstandortes

Ostdeutschland. Unter dem Motto „Mut zum Vorsprung –

wie wir gemeinsam die Krise meistern“ wurde jedoch

nicht nur über die aktuelle Situation der ostdeutschen

Wirtschaft diskutiert, sondern wurden in vielfältiger

Weise Zukunftsthemen beleuchtet – Digitalisierung,

Energie- und Mobilitätswende, Nachhaltigkeit, „grüne“

Geschäftsmodelle und Ostdeutschland als attraktiver

Investitionsstandort.

VON KARSTEN HINTZMANN

DDas „Davos des Ostens“, wie das Ostdeutsche

Wirtschaftsforum seit der ersten Veranstaltung

im Jahr 2016 inoffiziell genannt wird,

entfaltete ungeachtet der coronabedingten

Veranstaltungsbeschränkungen – pro Veranstaltungstag

durften nur rund 120 Teilnehmer

in Bad Saarow vor Ort sein – auch in diesem

Jahr eine besondere politische Zugkraft. Für

den Eröffnungsabend hatte sich Bundesfamilienministerin

Franziska Giffey (SPD) angesagt.

Sie sprach sich für eine weitere Angleichung

der Lebensverhältnisse zwischen West und

Ost sowie für mehr Führungskräfte mit

ostdeutschen Biografien in Spitzenpositionen

aus. Giffey sagte: „Die Ostdeutschen haben

allen Grund, stolz zu sein auf das Erreichte

und die positive Entwicklung, darauf, dass

sie viele Veränderungen gut gemeistert

haben. Und, dass sie in einigen Bereichen

und Regionen inzwischen eine Vorreiterrolle

haben. Was in herausfordernden Jahrzehnten

geleistet wurde, das verdient Wertschätzung.

Die noch vorhandenen Ungleichheiten müssen

aber weniger werden, bestenfalls ganz

verschwinden. Dazu gehört, aktiv gegen die

Strukturschwäche im Osten und die Unterrepräsentanz

von ostdeutscher Lebenserfahrung

in wichtigen Ämtern zu wirken. Unterschiede

bei den Löhnen, dem Vermögen oder

auch bei der Besetzung von Führungspositionen

– das ändert sich nicht von allein, wie viele

vielleicht gehofft hatten.“ Die junge Generation

solle, so Giffey, selbstbewusst sein und weiter

aktiv an Verbesserungen arbeiten.

Franziska Giffey mit Gästen. Ankunft von Peter Altmaier in Bad Saarow. Marco Wanderitz im Interview.


OSTDEUTSCHES WIRTSCHAFTSFORUM 2020 WIRTSCHAFT+MARKT 95

Olaf Scholz

Frank Nehring, Martin Dulig, Jörg Steinbach, Wolfgang Tiefensee

Rommy Arndt

Frank Nehring

Am zweiten Konferenztag gaben sich Spitzenpolitiker

quasi die Klinke in die Hand. Zum Auftakt

sprach Vizekanzler und Bundesfinanzminister

Olaf Scholz (SPD) zu den ostdeutschen

Unternehmern. Auch der Ostbeauftragte der

Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU),

und die ostdeutschen Wirtschaftsminister

Martin Dulig (Sachsen), Prof. Dr. Jörg Steinbach

(Brandenburg), Wolfgang Tiefensee (Thüringen)

und Prof. Dr. Armin Willingmann (Sachsen-

Anhalt) diskutierten mit den OWF-Gästen.

Am Abschlusstag referierte Bundeswirtschaftsminister

Peter Altmaier (CDU) über

„Die Krise als Motor des Strukturwandels“.

Er zeigte sich optimistisch, dass die vorrangig

mittelständisch geprägte Wirtschaft in

den neuen Bundesländern gestärkt aus der

Coronakrise hervorgehen werde. Altmaier

sagte: „Corona ist derzeit eine der größten

Herausforderungen. Wir stehen weiter fest an

der Seite der Unternehmen, damit niemand

sein Geschäft nur aufgrund der Krise aufgeben

muss. Wie wir überall sehen können, bringt die

Krise aber auch neue Ideen und Geschäftsmöglichkeiten

hervor. Deswegen bin ich überzeugt,

dass die ostdeutsche Wirtschaft künftig

besser dastehen wird als vor der Krise.“ Eine

besondere Wirkung werde, so Bundesminister

Altmaier, das Kohleausstiegsgesetz entfalten.

Altmaier: „Mit den getroffenen Vereinbarungen

mit den Ländern sorgen wir rechtzeitig

und umfassend dafür, dass sich das Lausitzer

und das Mitteldeutsche Revier in moderne und

zukunftsweisende industrielle Regionen mit

attraktiven Arbeitsplätzen wandeln können.“

Peter Altmaier

Fotos: W+M/Ralf Succo

Bodo Rodestock

Stefan Kapferer

Matthias Platzeck


96

WIRTSCHAFT+MARKT

GESELLSCHAFT

Achim Oelgarth

Friedrich Merz war live zugeschaltet.

Joachim Ragnitz

Mit Blick auf den wirtschaftlichen Aufholprozess

der neuen Bundesländer würdigte der

Bundeswirtschaftsminister die Innovationsbereitschaft

des hiesigen Mittelstands: „Der

Mittelstand ist das Rückgrat der ostdeutschen

Wirtschaft. Zusammen mit ihren Beschäftigten

haben die Unternehmen mit viel Mut und

neuen Ideen die wirtschaftliche Erneuerung in

den vergangenen 30 Jahren möglich gemacht.

Dieser Leistung drücke ich meinen vollen

Respekt aus.“

Friedrich Merz, einer der Bewerber um den

CDU-Bundesvorsitz, regte die Bildung von

Sonderwirtschaftszonen in Ostdeutschland

an. In einer Liveschaltung zum Ostdeutschen

Wirtschaftsforum sagte Merz: „Ich könnte mir

Sonderwirtschaftszonen in Grenznähe zu Polen

vorstellen“. Konkret nannte Merz die Regionen

Frankfurt (Oder), Stettin und Görlitz. Auf diese

Weise könnten die neuen Länder in die Lage

versetzt werden, sich einen Vorsprung im

gesamtdeutschen Vergleich zu erarbeiten,

so Merz. Der CDU-Politiker appellierte an die

in Ostdeutschland verantwortlichen Wirtschaftslenker

und Politiker, sich noch stärker

für die Schaffung eines Klimas zu engagieren,

das Unternehmensgründungen befördert.

Merz: „Wir brauchen in Ostdeutschland ein

Klima, in dem junge Menschen Mut fassen,

selbst Unternehmen zu gründen oder auch

bestehende Unternehmen zu übernehmen.“

Franziska Giffey Steffen Kammradt Anna Herrhausen


OSTDEUTSCHES WIRTSCHAFTSFORUM 2020 WIRTSCHAFT+MARKT 97

Christian Ehler

Armin Willingmann

Christian Pegel

Anders Levermann

Erstmalig wurden im Rahmen des Ostdeutschen

Wirtschaftsforums erfolgreiche und innovative

Unternehmen ausgezeichnet, die sich

zu regionalen Leuchttürmen entwickelt haben.

Sie erhielten den Wirtschaftspreis des OWF,

der den Titel „Vorsprung“ trägt. Die Preisträger

waren von einer namhaft besetzten Jury unter

Leitung des langjährigen brandenburgischen

Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD)

ausgewählt worden.

Am Ende der dreitägigen Veranstaltung in Bad

Saarow zog Veranstalter und Initiator Frank

Nehring ein durchweg positives Fazit: „Wir sind

froh und dankbar, dass wir das Ostdeutsche

Wirtschaftsforum trotz erschwerter Rahmenbedingungen

in hoher Qualität durchführen

konnten. In Bad Saarow sind viele gute Ideen

zusammengetragen worden, die darauf abzielen,

die Wirtschaft in den neuen Ländern auch

nach Überwindung der Coronakrise zukunftsfähig

zu machen.“

Frank Nehring und Olaf Scholz

Peter Altmaier im Interview

Fotos: W+M/Ralf Succo

Christoph Meinel

Robert Hermann


GESELLSCHAFT

WIRTSCHAFT+MARKT 98

DIE TEILNEHMER DES 5. OSTDEUTSCHEN

WIRTSCHAFTS FORUMS IN BAD SAAROW

Foto: W+M/Ralf Succo

A

Iroda Abdumalikova

Peter Altmaier

Rommy Arndt

Wolfram Axthelm

B

Tino Barth

Dr. Jan Bellgardt

Dr. Ute Bergner

Harald Bergner

Jens Bergner

Andreas Bilfinger

Prof. Dr. Thomas Brockmeier

Sarah Burggraf-Sperlich

C

Michael Carl

D

Stefan Di Bitonto

Sandro Dietze

Klaus Dornbusch

Martin Dulig

E

Norbert Eder

Dr. Christian Ehler

Katja Einecke

Annika Einhorn (Beg. AM)

Jens-Uwe Eras

F

Dr. Nathalie Fiechtner

Tobias Fischer

Claudia Flick

Daniela Freimann

Björn Friedrich

G

Alexander Gallrein

Dave Gebauer

Dr. Franziska Giffey

Matthias Gille

Jan Hinrich Glahr

Rainer Gläß

Dr. Andreas Golbs

Andrea Gottschalk

Markus Graebig

Niklas Graf von Bernstorff

Christian Gräff

Reinhard Grimm

Tobias Grohmann

Enrico Großer

Klaus-Peter Gust

Volker Gustedt

H

Frank Haacker

Dr. Claudia Hanisch

Arnd Heidemüller

Stephan Hemmerich

Philipp Hentschel

Dr. Robert Hermann

Dr. Anna Herrhausen

Christian Herschel

Hans-Peter Hiepe

Karsten Hintzmann

Andreas Hopmann

Thomas Horn

Axel Hylla

I

Anke Illing

J

Annette Jaecker

Brigita Jeroncic

Andrea Joras

K

Dr. Steffen Kammradt

Stefan Kapferer

Eva Kemme

Silvia Kohlmann

Dr. Marcus Kölling

Michael Kotzbauer

Denes Kovats

Thomas Kralinski

Carsten Krause

Thoralf Krause

Kristian Kreyes

Norbert Kunz

L

Matti Lehmann

Dr. Katrin Leonhardt

Dr. Adriana Lettrari

Prof. Anders Levermann

André Listemann

Hendrik Luttmer

M

Eddy Maniurka

Dr. Maik Mattheis

Prof. Dr. Steffen Mau

Ulf Mauderer

Márk Mautner

Matthias May

Prof. Dr. Christoph Meinel

Till Meyer

Dr. Alexander Montebaur

Eckhard Moschcau

N

Dr. Uwe Nawrath

Frank Nehring

Helga Nehring

Dr. Robert Nehring

Marco Nix

Christopher Nüßlein

O

Sabine Oberlein

Achim Oelgarth

Marc Oelker

Volker Otto

P

Christian Pegel

Armin Pempe

Matthias Platzeck

Jens Pommerenke

Silke Poppe

R

Prof. Dr. Joachim Ragnitz

Carla Rechling-Kurz

Dr. Helmar Rendez

Frank Reschke

Kerstin Maria Rippel

Bodo Rodestock

Michael von Roeder

Dr. Bernd Rolinck

Andreas Roth

Philipp Ruta

S

Sebastian Saatweber

Stephan Sasse

Friedrich W. Schmitz

Dirk Schneemann

René Scholz

Olaf Scholz

Thies Schröder

Katrin Schübel

Alexander Schumann

Dagmar Schwarz

Hans-Jügen Schwarz

Hendrik Siewert

Frank Smyrek

Stephan Spehr

Jürgen Sperlich

Annegret Spillner

Ralph-Dieter Stein

Prof. Dr. Jörg Steinbach

Tillmann Stenger

Matthias Stoffregen

Thomas Strobel

T

Christian Tertel

Michael Thomas

Wolfgang Tiefensee

V

Peter Vollmer

W

Marco Wanderwitz

Matthias Weber

Dr. Volkmar Weckesser

Danny Wehnert

Markus Weigold

Ute E. Weiland

Christian Weiß

David Wiechmann

Prof. Dr. Armin Willingmann

Andreas Winkler

Dr. Arnulf Wulff

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Thorsten Zimmermann


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OSTDEUTSCHES WIRTSCHAFTSFORUM

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Mitveranstalter

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Institut

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Niederlassung Dresden

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Bankenverband Ostdeutscher

Bankenverband

LeipzigerEnergie

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Chemnitz

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Ostbrandenburg

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UV

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Interessengemeinschaft der

Unternehmerverbände

Ostdeutschlands und Berlin

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EUROPAS ERSTES ERLEBNISWEINGUT

OSTDEUTSCHES WIRTSCHAFTSFORUM

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5,9 Mrd. EUR

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2,5 Mrd. EUR

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