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WIRTSCHAFT+MARKT HERBST / WINTER 2020/2021
HERBST
WINTER
2020
2021
DAS OSTDEUTSCHE UNTERNEHMERMAGAZIN
WIE DER
OSTEN DIE
KRISE
MEISTERT
31. Jahrgang | Deutschland 6,50 €
INVESTITIONEN
Die wichtigsten
Ansiedlungen
MOBILITÄT
Autobranche im
Wandel
JUBILÄUM
Kanzlerin Angela
Merkel blickt zurück
Wer auf zu neuen Ufern will,
findet bei uns die meisten
in ganz Deutschland.
EDITORIAL
WIRTSCHAFT+MARKT 3
MIT VORSPRUNG
AUS DER KRISE
Karsten Hintzmann
Chefredakteur
KH@WundM.info
Foto: Torsten George
MMan muss kein Prophet sein, um zu erahnen,
dass das Jahr 2020 als „Coronajahr“ in
die Geschichtsbücher eingehen wird. Erst
der Ausbruch und die rasend schnelle Verbreitung
des Virus im fernen China, dann die
flächenbrandartige Verbreitung auf der ganzen
Welt. Wochenlang standen Wirtschaft
und öffentliches Leben fast überall still.
Jetzt läuft die Suche nach einem wirksamen
Impfstoff auf Hochtouren. Niemand kann
vorhersagen, wie viele Infektionswellen die
Pandemie noch im Köcher hat.
Natürlich kommen wir in diesem Magazin
am alles überragenden Thema „Corona“
nicht vorbei. Aber wir haben versucht, den
Blick zu weiten – hin zu der Zeit, in der das
Virus gezähmt und überwunden sein wird. In
unserer Titelgeschichte gehen wir der Frage
nach, ob Ostdeutschland die Coronakrise gar
als Sprungbrett nutzen kann, um in einzelnen
Wirtschaftsbereichen beim ewigen Ost-
West-Vergleich nicht nur gleichzuziehen,
sondern vielleicht sogar einen Vorsprung
herauszuarbeiten. Lassen Sie sich von den
vielfältigen Ideen überraschen, die Sie auf
den folgenden Seiten finden werden. Fest
steht: Die neuen Länder sind zu einem
attraktiven Investitions- und Innovationsstandort
gereift, der in- und ausländische
Unternehmen aus vielen Branchen anzieht.
Stellvertretend für die sechs neuen Länder
beschreiben die Chefs der Wirtschaftsfördergesellschaften
von Brandenburg
und Sachsen Anhalt, wie etwa Tesla für die
Ansiedlung einer Gigafactory gewonnen
werden konnte oder welche Chancen moderne
Wasserstofftechnologien bieten.
Wir haben uns festgelegt – Corona hält uns
nicht davon ab, unbeirrt in Richtung Zukunft
zu schauen: auf die Herausforderungen,
die der Klimawandel mit sich bringt. Wir
befassen uns mit nachhaltigen Wirtschaftsmodellen,
konkreten Aspekten bei
der Umsetzung der Energiewende in den
ostdeutschen Ländern sowie emissionsfreien
Mobilitätskonzepten.
All diese Themen spielten auch beim
5. Ostdeutschen Wirtschaftsforum eine
Rolle, das trotz Corona in der zweiten
Septemberhälfte in Bad Saarow stattfinden
konnte. Eine Veranstaltung, die nicht
nur hinsichtlich der Referenten exzellent
besetzt war, sondern die schon im Vorfeld
ein so großes öffentliches Interesse er zeug te,
dass die Veranstalter – schweren Herzens
– vielen potenziellen Gästen auf grund
der räumlichen Coronaeinschränkungen
absagen mussten. Es ist zu hoffen, dass
dies im kommenden Jahr nicht mehr nötig
sein wird.
Eines werden Sie bei der Lektüre des Magazins
möglicherweise feststellen: Noch nie
zuvor hatten wir in WIRTSCHAFT+MARKT
eine derart hohe Konzentration so namhafter
Autoren und Interviewpartner wie in
dieser Ausgabe. An vorderster politischer
Front Bundeskanzlerin Angela Merkel und
die sechs ostdeutschen Regierungschefs,
ranghohe Unternehmenslenker wie Stefan
Kapferer (50Hertz) oder Bodo Rodestock
(VNG) sowie führende Wissenschaftler
wie Christoph Meinel (HPI) und Joachim
Ragnitz (ifo).
4
WIRTSCHAFT+MARKT
INHALTSVERZEICHNIS
29
W+M TITEL
08
W+M 30 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
08 Drei spannende Jahrzehnte
10 Dr. Angela Merkel: „Auch im
30. Jahr der deutschen Einheit
braucht es Mut, den einen oder
anderen Neuanfang zu wagen“
12 Interview mit dem Chef
der Einheitskommission,
Matthias Platzeck
14 Dr. Peter-Michael Diestel: Das
Einheitsjubiläum – ein Tag,
der freudig und nachdenklich
zugleich stimmt
16 Interview mit dem Ostbeauftragten
der Bundesregierung,
Marco Wanderwitz
W+M GESELLSCHAFT 18
Ostdeutsches Wirtschaftsforum zeichnet fünf
Unternehmen mit dem Preis „Vorsprung“ aus
18 Ostdeutsches Wirtschaftsforum
verleiht Wirtschaftspreis
„Vorsprung“
22 Preisträger aus Sachsen-Anhalt:
Ambulanz Mobile GmbH & Co. KG
23 Preisträger aus Mecklenburg-
Vorpommern: CENTOGENE AG
24 Preisträger aus Sachsen:
GK Software SE
25 Preisträger aus Brandenburg:
SIK-Holzgestaltungs GmbH
26 Preisträger aus Thüringen:
VACOM Vakuum Komponenten
& Messtechnik GmbH
W+M TITEL 40
Ostdeutsche Regierungschefs: Darum werden unsere
Länder gestärkt aus der Coronakrise hervorgehen
29 Prof. Dr. Joachim Ragnitz:
Ostdeutschland und die Macht
der Krise
32 Anna Herrhausen:
Nicht wieder normal
34 Prof. Dr. Christoph Meinel:
Digital-Reformer für Schulen:
Corona
38 Adriana Lettrari: „The time is
now“ – Wendekinder übernehmen
Führung
40 Sechs ostdeutsche Regierungschefs:
Darum werden unsere
Länder gestärkt aus der Coronakrise
hervorgehen
42 Dr. Reiner Haseloff: „Unser Land
– ein Wirtschaftsstandort mit
hoher Technologiekompetenz“
44 Michael Kretschmer: „Unsere
Unternehmer lassen sich nicht
unterkriegen“
45 Michael Müller: „Berlin als
digitales Zentrum und Innovationsmotor
wird auch weiter
Zukunftsimpulse setzen“
46 Bodo Ramelow: „Gemeinsam
mit neuen Strategien in die
Zukunft. Kopf hoch, nicht die
Hände!“
48 Manuela Schwesig:
„Gesundheit schützen und in die
Zukunft investieren“
49 Dr. Dietmar Woidke:
„Veränderungen sind für uns
nichts Neues“
50 Report: Investitionsboom
zwischen Rostock und Erfurt
54 Dr. Steffen Kammradt: Was
macht Brandenburg als Ansiedlungsstandort
so erfolgreich?
56 Thomas Einsfelder:
Mitteldeutschland auf dem Weg
zur Modellregion für grünen
Wasserstoff
58 Interview mit den sechs ostdeutschen
Wirtschaftsministern
62 Thomas Strobel:
Silicon Eastside schlägt erste
Wellen
INHALTSVERZEICHNIS WIRTSCHAFT+MARKT 5
66
W+M ZUKUNFTS-
MOBILITÄT
66 Infografik: Automobilindustrie
Ost auf der Überholspur in
Sachen Zukunftsmobilität
68 Report: Automobilindustrie –
eine Branche im Wandel
70 Hildegard Müller: Automobilindustrie
und Ostdeutschland sind
eine Erfolgsgeschichte – mit
Fortsetzung
72 Marktanalyse: Automobilwirtschaft
leidet weltweit unter den
Folgen der Coronakrise
76 Interview mit Michael Kotzbauer,
Vorstandsvorsitzender des Ostdeutschen
Bankenverbandes
77
W+M KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
77 Reflexion: Hier werden
Nachhaltigkeit und Energiewende
gelebt
78 Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung:
Ambitionierter
Klimaschutz zahlt sich aus
80 Tobias Fischer: Eine kreislauffähige
und gesunde Zukunft
83 Christian Pegel: „Das Thema
Wasserstoff wird die Energiewende
deutlich voranbringen“
84 Sebastian Saatweber:
Wie werden wir in Zukunft
arbeiten? Arbeitswelten neu
gedacht
86 Interview mit Stefan Kapferer,
Vorsitzender der Geschäftsführung
von 50Hertz
88 Bodo Rodestock: „Einigkeit
in Vielfalt“ – Faktor für eine
erfolgreiche Energiewende in
Ostdeutschland
89 Interview mit Achim Oelgarth,
Dr. Bernd Rolinck und Kristian
Kreyes zum Thema Nachhaltigkeit
in der Finanzwirtschaft
92 Umfrage: Positiver Ausblick für
den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland
W+M
ZUKUNFTSMOBILITÄT 68
Automobilindustrie – eine Branche im Wandel
30 JAHRE
DEUTSCHE
EINHEIT 10
Bundeskanzlerin Angela Merkel
zieht eine Zwischenbilanz
Beiträge, die mit diesem Logo
gekennzeichnet sind, finden Sie
ausführlich im W+M-Onlinemagazin.
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Web-Content.
03
W+M WEITERE
BEITRÄGE
03 Editorial
05 Impressum
94
W+M GESELLSCHAFT
94 Ostdeutsches Wirtschaftsforum:
„Davos des Ostens“
trotzt Corona und fokussiert
sich auf Zukunftsthemen
Fotos: W+M, Glashütte original, NOMOS, Ralf Lehmann
IMPRESSUM
WIRTSCHAFT+MARKT
Das Ostdeutsche Unternehmermagazin
Ausgabe: Herbst/Winter 2020/2021
Redaktionsschluss: 20.10.2020
Verlag: W+M Wirtschaft und Markt GmbH
Friedrichstraße 171, 10117 Berlin
Tel.: 030 505638-00
info@wirtschaft-markt.de
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www.wirtschaft-markt.de
Herausgeber/Geschäftsführer:
Frank Nehring, frank.nehring@wirtschaft-markt.de
Chefredakteur:
Karsten Hintzmann, karsten.hintzmann@wirtschaft-markt.de
Autor: Matthias Salm
Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in
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Differenzierung (z. B. Teilnehmer/Teilnehmerinnen) verzichtet.
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grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform
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DAS W+M-ONLINEMAGAZIN
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MACHER IM INTERVIEW
Die Ministerpräsidenten und Wirtschaftsminister
der neuen Länder und Berlin sind regelmäßig
zu Gast bei WIRTSCHAFT+MARKT. Ebenso
Vorstandsvorsitzende, Vorstände und Geschäftsführer wichtiger
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Prof. Florian Stapper
der Insolvenzexperte
Beate Lecloux
die Mode- und Stilberaterin
Ein Überblick zum Nachlesen:
Vertreter aus der Politik (Auswahl)
Die Ministerpräsidenten Manuela
Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern),
Michael Kretschmer (Sachsen), Bodo Ramelow
(Thüringen), Dr. Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt),
Dr. Dietmar Woidke ( Brandenburg) und Michael Müller (Berlin)
Ronald Haffner
Steuerberater und Buchrezensent
Dr. Eberhard Frohnecke
der Rechtsanwalt
Die Wirtschaftsminister Harry Glawe
(Mecklenburg-Vorpommern), Ramona Pop
(Berlin), Prof. Armin Willingmann
(Sachsen-Anhalt), Prof. Jörg Steinbach
( Brandenburg)
Das ostdeutsche
Wirtschaftsmagazin, das Sie
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Christian Pegel, der Minister für
Energie, Infrastruktur und Digitalisierung des Landes
Mecklenburg Vorpommern
Fotos: Laurence Chaperon, Wolf Lux, EM Gohlke, Torsten Pross, David Marschalsky/WFBB
Wirtschaftsvertreter
( Auswahl)
Bodo Rodestock, Vorstand
Finanzen und Personal, VNG AG
Michael Kotzbauer, Bereichsvorstand
Mittelstandsbank Mitte/Ost der Commerzbank AG
Dr. Steffen Kammradt, Sprecher der
Geschäftsführung der Wirtschaftsförderung Brandenburg
Thomas Einsfelder, Geschäftsführer der
Investitions- und Marketinggesellschaft
Sachsen-Anhalt
Thomas Strobel, Geschäftsführer der
FENWIS GmbH
Hildegard Müller, Präsidentin
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8
WIRTSCHAFT+MARKT
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
Drei Jahrzehnte ist es nunmehr her, seit es zur deutschen Wiedervereinigung
kam. Eigentlich sollte das Jubiläumsjahr reich gefüllt sein mit Veranstaltungen,
die an die denkwürdigen Monate zwischen der friedlichen
Revolution im Herbst 1989 und dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober
1990 erinnert hätten. Die Coronapandemie machte diese Pläne zunichte – der
Erinnerungskanon musste stark eingekürzt werden.
In WIRTSCHAFT+MARKT kommen drei Politiker zu Wort, die ganz unterschiedlich
mit der deutschen Einheit, dem Werden und Wachsen seit Herbst
1990 und den aktuellen Fragen der Angleichung von Ost und West befasst
sind: Matthias Platzeck (SPD), langjähriger Ministerpräsident in Brandenburg
und Chef der Kommission „30 Jahre Deutsche Einheit“, Dr. Peter- Michael
Diestel (CDU), Innenminister der letzten und einzig frei gewählten DDR-
Regierung im Jahr 1990, prominenter Anwalt und engagierter Kämpfer für
eine faire Teilhabe der Ostdeutschen im geeinten Deutschland, und Marco
Wanderwitz (CDU), Ostbeauftragter der Bundesregierung, Parlamentarischer
Staatssekretär und Bundestagsabgeordneter aus Sachsen.
Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum
(OWF) stiftete in diesem Jahr
erstmalig einen Preis für erfolgreiche
Unternehmen in den neuen
Ländern. Ausgezeichnet wurden
Unternehmen, die sich in den
letzten drei Jahrzehnten innovativ
entwickelt haben und zu regionalen
Leuchttürmen gereift sind. Wir
stellen nicht nur die fünf Preisträger
vor, sondern nennen alle 36
Firmen, die in die engere Wahl für
den OWF-Preis 2020 kamen.
Bringt mehr
Spannung
in Ihr Leben
e-dis.de/energieloesungen
10 WIRTSCHAFT+MARKT
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
30
WIRTSCHAFT+MARKT 11
VON BUNDESKANZLERIN DR. ANGELA MERKEL (CDU)
Foto: © Bundesbildstelle.de / Steins, Sandra
Am 3. Oktober 1990 hat Deutschland seine
staatliche Einheit wiedergewonnen. Das sind
nüchterne Worte. Aber sie stehen für einen der
bewegendsten und glücklichsten Momente der
deutschen Geschichte – herbeigeführt durch
politisches Gespür und diplomatisches Geschick,
durch die Freiheits- und Demokratiebewegungen
in den mittel- und osteuropäischen
Staaten und vor allem durch die Entschlossenheit
und Zivilcourage freiheitsliebender
Menschen in der DDR.
Drei Jahrzehnte voller Veränderungen folgten.
Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen
Bundesländern erlebten tiefe Umbrüche. Das
Zusammenwachsen unseres Landes gestaltete
sich manchmal mühsamer als erwartet. Gerade
auch der wirtschaftliche Auf- und Umbau
hat ungemein viel Kraft gekostet. Aber heute
wissen wir, dass er gelungen ist. Die unzähligen
Erfolgsgeschichten wären nicht denkbar ohne
den Mut, die Tatkraft und Weitsicht, die viele
Unternehmerinnen und Unternehmer in Ostdeutschland
bewiesen haben. Sie alle, die Risiken
eingegangen sind und die wirtschaftliche
Erneuerung vorangebracht haben, verdienen
Dank und Anerkennung.
Sicherlich lassen Wirtschaftskraft und
Wirtschaftsstrukturen in den ostdeutschen
Bundesländern insgesamt immer noch
Wünsche offen. Die Folgen jahrzehntelanger
Teilung und Planwirtschaft sind zwar in weiten
Teilen bereinigt, aber gewiss nicht zur Gänze.
Vor allem fehlt es an Konzernzentralen und
Großunternehmen. Doch umso beachtlicher
ist das hohe Leistungsniveau der mittelständisch
geprägten Wirtschaft. Viele ostdeutsche
Unternehmen sind Weltmarktführer dank ihrer
großen Innovationsfreude und technologischen
Exzellenz – etwa in der Mikroelektronik,
der Elektromobilität oder bei Leichtbautechnologien.
Hierbei hat sich nicht zuletzt der Aufbau
moderner Bildungs- und Forschungseinrichtungen
bezahlt gemacht.
Insgesamt betrachtet haben sich die Lebensverhältnisse
in Ost und West stark angenähert.
Unterschiede zeigen sich in vielen
Bereichen immer weniger in pauschalen
Ost-West-Vergleichen, sondern vielmehr bundesweit
mit Blick auf die jeweiligen länder- und
regionalspezifischen Gegebenheiten.
Angesichts der Fortschritte der letzten 30 Jahre
orientiert sich die Politik der Bundesregierung
heute an regionalen Strukturschwächen
und Ausstattungsunterschieden, wo immer in
Deutschland sie zutage treten. Wir sehen uns
dem Ziel verpflichtet, möglichst gleichwertige
Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet
zu schaffen. Dazu dienen neben dem
Europäischen Struktur- und Investitionsfonds
etwa auch das Strukturstärkungsgesetz für
die Kohleregionen sowie die ab 2020 geltenden
Regelungen für den bundesstaatlichen
Finanzausgleich.
Auch im 30. Jahr der Deutschen Einheit
braucht es Mut, den einen oder anderen Neuanfang
zu wagen. Ob in Wirtschaft, Wissenschaft,
Gesellschaft oder Politik – an neuen
Herausforderungen mangelt es gewiss nicht.
Ich verstehe das weniger als Problem, sondern
vielmehr als Chance. Das verdeutlicht ein Blick
zurück : Wenn wir uns vergegenwärtigen, was
wir in Deutschland gemeinsam geleistet und
erreicht haben, dann wissen wir auch, dass wir
allen Grund haben, optimistisch in die Zukunft
zu blicken.
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12
WIRTSCHAFT+MARKT
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
Matthias Platzeck (SPD), Chef der
„Einheitskommission“ und langjähriger
Ministerpräsident in
Brandenburg, spricht über das Zusammenwachsen
von Ost und West,
Fehler im Einigungsprozess und
die Arbeit seiner Kommission unter
Corona-Bedingungen.
W+M: Herr Platzeck, Sie leiten die Kommission
„30 Jahre Deutsche Einheit“. Wie sieht die
Arbeitsbilanz dieser Kommission aus?
Matthias Platzeck: Als die Kommission vor
einem Jahr eingesetzt wurde, haben wir uns
die Arbeitsweise und Bilanz natürlich anders
vorgestellt, als sie sich jetzt vor dem Hintergrund
der Coronakrise abbildet. Die Bundesregierung
gab uns zwei Hauptaufgaben mit
auf den Weg: zum einen, für dieses gesamte
Jahr einen Plan vorzulegen, der dem Anlass
gerecht wird – also Feste, Feierlichkeiten und
Bürgerdialoge zu organisieren, aber auch die
wichtigsten Ereignisse – oder „Meilensteine“
– der Jahre 1989 und 1990 durch Konferenzen
und andere Veranstaltungen zu würdigen. Und
zum anderen sollen wir der Bundesregierung
Handlungsempfehlungen unterbreiten.
W+M: Konnten denn vorher überhaupt noch
Veranstaltungen stattfinden?
Matthias Platzeck: Ja, einiges haben wir
geschafft, etwa am 9. November 2019 den
längsten Gesprächstisch des Landes entlang
der ehemaligen Grenze von Lübeck bis nach
Hof. Damit wollten wir einen Kontrapunkt zu
den offiziellen Feierlichkeiten setzen, die sich
ja meistens auf Berlin konzentrieren. Auch
Konferenzen zum Beispiel anlässlich der Gründung
des Neuen Forums und der Etablierung
des „Runden Tisches“ konnten wir durchführen.
Und die ersten der geplanten Bürgerdialoge
fanden auch noch statt. Dabei haben wir
alte Städtepartnerschaften zwischen Ost und
West revitalisiert und Menschen aus diesen
Städten zusammengeführt. Da ging es dann
meist frohgemut, heftig und sehr diskursiv zu.
Die Menschen hatten sich offenkundig etwas
zu sagen.
W+M: Die Kommission soll ja aber auch über
dieses Jubiläumsjahr hinauswirken.
Matthias Platzeck: Richtig. Bis zum Jahresende
werden wir Handlungsempfehlungen erarbeiten,
die sich auf den zukünftigen Umgang
mit der Deutschen Einheit, dem Nationalfeiertag
und den Feierlichkeiten beziehen, die ja der
Gefahr unterliegen, rituell zu werden und die
Gesellschaft zu wenig zu erreichen. Darüber
hinaus betrachten wir Fragen der gesellschaftlichen
Entwicklung zwischen Ost und West. So
geht es auch um das Problem, dass Ostdeutsche
in wichtigen Positionen in Deutschland
noch immer viel zu wenig vertreten sind.
W+M: Hand aufs Herz, Herr Platzeck, wie
steht es aus Ihrer persönlichen Sicht um die
Deutsche Einheit und das Zusammenwachsen
von Ost und West?
Matthias Platzeck: Wenn man nüchtern
auf die Ausgangsposition schaut, muss man
zu dem Schluss kommen: Wir können alle
sehr froh sein, dass es zur Deutschen Einheit
gekommen ist und dass wir heute diesen
hohen Entwicklungsstand haben. Das sage
ich mit dem Blick darauf, was in der Welt um
uns herum passiert und auch mit Blick auf die
Ausgangssituation im Osten Deutschlands im
Jahr 1990.
W+M: Damals sah die Lage überhaupt nicht
gut aus …
Matthias Platzeck: Eben! Und darum würde
ich mir wünschen, dass mehr Ostdeutschen als
bislang klar wird, welche massive Kraftanstrengung
durch sie in den vergangenen 30 Jahren
vollbracht wurde. Wir haben aus dem Umbruch
– der in Wirklichkeit vor allem ein Zusammenbruch
war – einen Aufschwung gemacht, auf
den wir heute wirklich stolz sein können. Was
wir gemeinsam erreicht haben, ergibt heute
wirklich genügend Stoff für ein deutliches
ostdeutsches Selbstbewusstsein. Ich bin
manchmal etwas neidisch auf die Bayern: Normale
Babys kommen auf die Welt und machen
Foto: W+M
WIRTSCHAFT+MARKT 13
irgendwann ihren ersten Schrei. Und in Bayern
rufen sie als Erstes: „Mia san mia!“ Ich finde,
in den 30 Jahren ist so viel Positives im Osten
Deutschlands passiert, dass wir uns diese
Grundhaltung auch aneignen sollten.
W+M: Welche Defizite bleiben mit Blick auf
die innere Einheit bestehen?
Matthias Platzeck: Einige. Denn natürlich
wurden auch Fehler gemacht, teilweise sogar
gravierende. Und manche Dinge dürfen nicht
bleiben, wie sie sind.
W+M: Welche Dinge meinen Sie konkret?
Matthias Platzeck: Wir haben zum Beispiel
sehr viel Kraft darauf verwendet, die DDR-Geschichte
aufzuarbeiten. Jetzt spüren wir:
Irgendetwas ist uns dabei nicht gelungen. Wir
haben die Aufarbeitung fast ausschließlich auf
die Fragen von Repression und Unterdrückung
zentriert. Und haben dadurch zugelassen,
dass das Leben in der DDR nur unter diesem
Scheinwerfer betrachtet wurde. Ganz viele
Menschen im Osten fanden aber andere
Aspekte in ihrem Leben wichtig – Glück und
Unglück in der Familie, Erfolge und Misserfolge
im Arbeitsleben. Sie haben ein Leben gelebt
und das oft sehr respektabel. Dieser Alltag,
der die Erinnerung vieler Ostdeutschen prägt,
ist in der nachträglichen Bewertung völlig
untergegangen.
W+M: Viele sagen: Die Vereinigung fand
nicht auf Augenhöhe statt.
Matthias Platzeck: Das stimmt ja auch.
Und das ist ein zweites Problem, bei dem ein
klarer Stockfehler gemacht wurde. Wir stellen
heute fest, dass sich viele Menschen im Osten
immer noch als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen.
Das ist psychologisch und kulturell belastend.
Wenn man zwei Gesellschaften zusammenfügt,
von denen eine objektiv klar überlegen
ist, dann ist man klug beraten, den kleineren
und schwächeren Teil nicht nackt und bloß
dastehen zu lassen, als Bittsteller ohne eigene
Leistungen und ohne Selbstwertgefühl. Regine
Hildebrandt hat schon 1990 darauf hingewiesen,
wie wichtig es ist, dass die Menschen der
unterlegenen Gesellschaft das Gefühl haben
können, sie bringen auch was mit und sind
nicht nur doof. Solche „Haltegriffe“ zu installieren,
wäre auch volkswirtschaftlich preiswerter
gewesen.
W+M: Sie haben wiederholt beklagt, dass
bis heute viel zu wenige Ostdeutsche in Führungspositionen
gelangt sind. Wie könnte das
geändert werden?
Matthias Platzeck: Das bleibt ein schwieriges
Thema. In Debatten darüber sagt immer
irgendwer: „Hört doch mal auf, am Ende geht
es doch um Kompetenz.“ Aber wenn man das
zu Ende denkt, hieße das doch: Die Ostdeutschen
wären einfach zu doof. Das ist natürlich
völliger Unfug. Einen nüchternen und viel
treffenderen Satz zu diesem Thema hat Prof.
Raj Kollmorgen geprägt: „Eliten rekrutieren
sich immer aus Eliten.“
W+M: Was ist damit gemeint?
Matthias Platzeck: Na ja, wir haben in den
Neunzigerjahren zugelassen, dass die Eliten
bei uns im Osten aus dem Westen kamen.
Dafür gab es damals gute Gründe, alles sollte
schließlich möglichst schnell wie im Westen
funktionieren. Bloß: Jetzt reproduzieren sich
diese Eliten immer wieder. Etliche wissenschaftliche
Untersuchungen belegen, dass
diese Entwicklung auf das Selbstwertgefühl
der Ostdeutschen drückt. Das ist ein echtes
Problem, für das wir bis heute keine Lösung
haben. Es gibt ja den gut gemeinten Vorschlag,
eine „Ostquote“ einzuführen. Ich glaube nicht,
dass das rechtlich machbar ist. Ich halte es
nach 30 Jahren aber auch nicht für angemessen.
Wir würden doch schon an der Frage
scheitern, wer eigentlich Ostdeutscher ist.
W+M: Das Problem besteht trotzdem weiter,
oder nicht?
Matthias Platzeck: Ganz klar, ja. Die zu
geringe Repräsentanz von Ostdeutschen an
wichtigen Positionen in Wirtschaft, Verwaltung,
Politik bleibt ein ungesunder Zustand –
übrigens nicht nur für den Osten, sondern für
unser Land insgesamt. Aber eine Sofortlösung
dafür sehe ich nicht. Wichtig ist, dass wir
Problembewusstsein schaffen, am Thema
dranbleiben und eine fortgesetzte öffentliche
Debatte führen – und kleine Schritte gehen,
wie zum Beispiel Mentorennetzwerke schaffen
und ab und an auch kämpfen. Wie zum
Beispiel bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichtes,
wo jetzt zum ersten Mal
jemand aus Ostdeutschland kommt.
Interview:
KARSTEN HINTZMANN
UND FRANK NEHRING
Lesen Sie
das ausführliche
Interview online
14
WIRTSCHAFT+MARKT
Vor 30 Jahren konnten wir nach dem
Sturz der Mauer am 03.10.1990 die
deutsche Wiedervereinigung feiern.
Erinnern wir uns: Die Mauer wurde
von 17 Millionen couragierten Ostdeutschen
vom Osten her eingerissen,
was die Folge hatte, dass es
wohl nie wieder in Deutschland Stalinismus
geben wird. Dieses Ereignis
größter Zivilcourage, Freude und
auch des Friedens hat die Menschen,
die dieses erleben durften, für immer
geprägt. Deshalb sind die folgenden,
zur Nachdenklichkeit anregenden
Gedanken notwendig.
VON DR. PETER-MICHAEL
DIESTEL (CDU),
RECHTSANWALT UND
INNENMINISTER A. D.
dritten Generation im vereinten Deutschland
leben, erscheint der Blick zurück doch etwas
zwiespältig. Wer aber aus der Vergangenheit
nichts lernt, wird zukünftig über den kleinsten
Kieselstein stolpern.
Verloren gegangen ist uns die Freude der
friedlichen Grenzöffnung und die damit erlangte
Freiheit für uns Ostdeutsche. Warum ist das
so? Fehlt den ehemaligen DDR-Bürgern Demut
oder Dankbarkeit – oder beides? Im Folgenden
möchte ich als führend Beteiligter an dem historischen
Prozess ein Resümee ziehen:
Die Dinge, die mich nachdenklich stimmen, sind
einfach aufzuzeigen und lassen sich zahlenmäßig
nachweisen. Die Präsenz ostdeutscher Persönlichkeiten
in der Öffentlichkeit findet kaum
statt. Rundfunk und Fernsehen, besonders in
den Bereichen Kunst und Kultur, sind auch in
den fünf neuen Bundesländern so besetzt, dass
in der Regel Menschen hier tätig sind, die früher
hier nicht gelebt haben und uns jetzt das Leben
erklären. Trotzdem haben wir den omnipräsenten
Kai Pflaume, gelegentlich Katharina Witt,
und Toni Kroos spielt bei Real Madrid Fußball.
Nach der Wiedervereinigung erleben wir fast
eine vollständige Ausgrenzung der Ostdeutschen
aus den Eliten dieses Landes. In fast
allen ostdeutschen Gesellschaftsstrukturen
sitzen an den Hebeln, die wichtig sind, Leute
aus dem Westen. Der umgekehrte Prozess
von Ost nach West gilt als Einbahnstraße – die
falsch zu befahren unter Strafe steht.
Warum kann in dieser Bundesrepublik im
30. Jahr der Deutschen Einheit kein im Osten
sozialisierter Mensch die BRD als Botschafter
vertreten? Wir haben wohl über 200 Persönlichkeiten
in diesem diplomatischen Rang.
Wenn man sich Rektoren deutscher Universitäten
und Hochschulen, auch die im Osten gelegenen,
anschaut, kann man feststellen, dass die
Ausgrenzung ostdeutscher Wissenschaftler hier
vollständig gelungen ist.
EEs wird in diesem Jahr nicht nur wegen der
Coronaepidemie wohl eine etwas schmalbrüstige
Feier werden. Auch wenn wir jetzt in der
Foto: XXX
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
WIRTSCHAFT+MARKT 15
Gleiche Tendenzen stellen wir fest, wenn man
den Anteil Ostdeutscher in Justiz, Ministerien
und Behörden betrachtet. Besonders krass
erscheint mir die Besetzung ostdeutscher
Gerichte und Behörden mit Persönlichkeiten,
die hier nicht gelebt haben und möglicherweise
eine Position im Altbundesgebiet nicht erlangen
konnten. Diesen Zustand halte ich für verfassungswidrig,
was wohl jedem, der lesen kann
und Gesetze versteht, auch einleuchten müsste.
Warum es auch im 30. Jahr der Deutschen
Einheit keinen Ostdeutschen im Rang des
Generals beziehungsweise Chefinspektors gibt?
Man könnte jetzt diese Aufzählungen uferlos
fortführen, immer mit dem Hinweis, dass es die
umgekehrte Tendenz nicht gibt.
Warum haben wir im Osten Deutschlands
immer mehr Landtags- und Bundestagsabgeordnete,
die ursprünglich in den alten Bundesländern
gelebt haben? Das letzte prominente
Beispiel ist Olaf Scholz (SPD), der jetzt im
Land Brandenburg für seine Partei antritt. Es
erscheint schon peinlich, wenn in den letzten
Tagen die deutschen Medien aufwendig
berichten, dass eine ostdeutsche Frau erstmals
als Richterin am Bundesverfassungsgericht
ernannt wurde, und dies zum allerersten Mal in
der Geschichte dieser Republik.
Das, was die Politik dummerweise vorlebt, setzt
sich natürlich auch in den Wirtschaftsstrukturen
unseres Landes, besonders bei der Besetzung
von Vorständen und Aufsichtsräten börsennotierter
Unternehmen fort. Vielleicht beschreibe
ich gerade eine wesentliche Ursache mit dem
Fehlen ostdeutscher Menschen in Leitungsbereichen,
sodass Flughafen, Autobahn und
andere Großprojekte nicht mehr erfolgreich zu
Ende geführt werden können, weil ostdeutscher
Fotos: Susann Welscher; Zeichnung: Willi Sitte
Sachverstand fehlt?
30 Jahre nach der fast christlichen Wiedervereinigung
unseres Vaterlandes ist es notwendig
und zulässig, auf die von mir gezeigten
Missstände hinzuweisen, denn es gibt keine
Erklärung und kein Erfordernis für die Ausgrenzung
eines so großen Teils unseres Volkes.
Gehässigerweise könnte man sagen: „Ihr seid
dumm und schwach, ihr lasst es euch gefallen
und deshalb gehen wir mit euch so um“.
Eigentlich müsste man, so wie wir über die
Ostfriesen und Schildbürger Witze gemacht
haben, Entsprechendes auch über die Ostdeutschen
tun. Ich glaube aber, dass das, was ich
aufzeige, zu traurig ist, um darüber zu lachen.
Lachen kann nur der, der die Unzufriedenheit
der Menschen der fünf neuen Bundesländer
nicht kennt oder nicht zur Kenntnis nehmen will.
Wenn meine Mitstreiter von damals, Lothar de
Maizière und Rainer Eppelmann, den Menschen
im Osten Deutschlands vor 30 Jahren vorausgesagt
hätten, welche Realität sie erwartet, dann
hätte es den friedlichen, wunderschönen Weg
der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes so
nicht gegeben.
Diese bitteren Erkenntnisse sind notwendig,
und sie müssen angesprochen werden, weil wir
auf einem falschen Weg sind. Immer mehr Menschen
in den neuen Bundesländern wenden sich
von den etablierten Parteien und vor allem von
den sich etabliert haltenden Politikern ab.
Wenn die von mir aufgezeigten Missstände
nicht erkannt und einer Korrektur zugeführt
werden, befürchte ich, dass sich das wiederholen
wird, was die Geschichte uns gelehrt hat.
Nämlich ein Volk, das sich einmal erfolgreich
erhoben hat, wird sich immer wieder erheben.
Der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung
sollte ein Anlass sein, gesellschaftliche
Gemeinsamkeiten zu erkennen, historische
Verantwortung zu spüren und endlich Vernunft
und Fairness bei der Betrachtung des anderen
walten zu lassen.
Lesen Sie
den ausführlichen
Artikel online
16
WIRTSCHAFT+MARKT
Marco Wanderwitz (CDU), Ostbeauftragter
der Bundesregierung,
über die Folgen der Coronakrise
für die neuen Länder, die Lücke bei
den Lebensverhältnissen zwischen
West und Ost und die Zukunft seines
Amtes.
W+M: Herr Wanderwitz, seit Februar dieses
Jahres sind Sie Ostbeauftragter der Bundesregierung.
Was haben Sie sich konkret für die
verbleibenden Monate dieser Legislaturperiode
vorgenommen?
Marco Wanderwitz: Als Beauftragter der
Bundesregierung für die neuen Länder achte
ich darauf, dass innerhalb der Bundesregierung
die besonderen Belange der neuen
Länder und die spezifischen Interessen der
Bevölkerung in den neuen Ländern angemessen
berücksichtigt werden – angefangen bei
Fragen des wirtschaftlichen Aufholprozesses
über sozialpolitische Fragen bis hin zu den
wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen der
Förderung von Demokratie und der weiteren
Aufarbeitung der SED-Diktatur.
An dieser Daueraufgabe dranzubleiben, ist
nicht immer einfach, denn ich kann in meiner
Funktion nicht einfach Weisungen erteilen. Das
will ich aber auch gar nicht. Viel wichtiger ist
mir, als Anwalt für die Menschen in den neuen
Ländern einzutreten und für ihre Belange zu
sensibilisieren. Ich spreche Sachen an, die
nicht gut laufen und greife auch ein, wenn das
Erfordernis besteht.
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
WIRTSCHAFT+MARKT 17
Foto: W+M
Wertvoll ist hierbei, mit vielen Menschen über
ihre Sicht der Dinge zu reden. Dazu dient eine
Gesprächsreihe, ähnlich der der „Sachsengespräche“
von Ministerpräsident Michael
Kretschmer, die ich, beginnend im Herbst, in
vielen Orten in den neuen Ländern durchführen
werde. Die Coronapandemie zwingt uns
dabei natürlich, sorgfältig zu überlegen, wie
und in welchem Rahmen die geplanten Diskussionen,
die eigentlich schon laufen sollten,
stattfinden können. Ich bin aber zuversichtlich,
dass wir ein Format finden, mit den Menschen
vor Ort in Kontakt zu kommen und in einen
Dialog mit ihnen zu treten. Themen gibt es genug:
zum Beispiel, wie die neuen Länder wirtschaftlich
weiter aufholen können, wie wir den
Strukturwandel in der Braunkohle bewältigen,
wie wir die Repräsentanz in Führungsetagen
erhöhen, und auch darüber, wie wir unsere Demokratie
lebendig halten können. Mein Ziel ist,
dass es nicht beim Reden bleibt, sondern dass
sich aus den Gesprächen konkrete Handlungsansätze
für meine Arbeit ergeben.
Wir feiern dieses Jahr das 30-jährige Jubiläum
der Wiedervereinigung, und trotzdem gibt es
immer noch Nachwirkungen von SED-Unrecht
und nach wie vor Aufarbeitungsbedarf in
dem Bereich. Deshalb ist auch das weiterhin
eine Aufgabe des Beauftragten für die neuen
Länder.
W+M: Wie beurteilen Sie die Wirksamkeit
der Hilfen von Bund und Ländern für den ostdeutschen
Mittelstand in der aktuellen Krise?
Marco Wanderwitz: Mit dem KfW-Sofortprogramm
wurde ein schnell wirksames Instrument
in kurzer Zeit für die mittelständische
Wirtschaft bereitgestellt. Bis Anfang August
wurden rund 10.500 Einzelkredite mit einem
Volumen von 3,6 Milliarden Euro an kleine und
mittlere Betriebe in den neuen Ländern ausgezahlt.
Der Bund übernimmt dabei in einem
bislang nie da gewesenen Umfang Risiken
zwischen 80 und 100 Prozent und trägt wesentlich
zum Erhalt der Unternehmen und der
Überwindung von Liquiditätsengpässen bei.
Sie verschaffen den Unternehmen Luft bei der
weiteren Bewältigung der Krise.
Darüber hinaus gibt es Corona-Soforthilfen
des Bundes für Selbstständige, Freiberufler,
kleine Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten.
Rund 470.000 von ihnen haben in den
neuen Ländern und Berlin Zuschüsse von bis
zu 9.000 Euro beziehungsweise 15.000 Euro
erhalten. Insgesamt wurden über 3,4 Milliarden
Euro Bundesmittel an die neuen Länder
ausgezahlt.
Das Kurzarbeitergeld in den neuen Ländern
hat zudem dazu beigetragen, dass Massenarbeitslosigkeit
verhindert werden konnte. Für
viele Arbeitnehmer und Unternehmen ist dies
eine der ganz entscheidenden Maßnahmen.
Die Coronakrise hat viele Unternehmen hart
getroffen. Schon heute zeigt sich aber, dass
ohne die Unterstützungen noch viel mehr
Unternehmen von kurzfristigen Schließungen
getroffen wären. Das gilt insbesondere für
kleinere Unternehmen und Dienstleister ohne
nennenswerte Rücklagen. Der Wirtschaftsstruktur
in den neuen Ländern kommt diese
Hilfe daher aus meiner Sicht besonders zugute
und wird – wie die Zahlen zeigen – auch rege
in Anspruch genommen.
W+M: Wir begehen in diesem Jahr den 30.
Jahrestag der deutschen Einheit. Wo stehen
wir heute in Sachen Angleichung der Lebensverhältnisse
zwischen Ost und West?
Marco Wanderwitz: Mit der friedlichen
Revolution im Herbst 1989 haben die Bürgerinnen
und Bürger mutig für Freiheit und
Demokratie gekämpft und 40 Jahre deutsche
Teilung überwunden. In den vergangenen
30 Jahren sind die voneinander getrennten
deutschen Teilgesellschaften wieder zusammengewachsen,
und die Angleichung der
Lebensverhältnisse ist weit vorangeschritten.
Es macht heute so gut wie keinen wahrnehmbaren
Unterschied mehr, ob Sie in Erfurt oder
in Mainz einkaufen oder zum Arzt gehen.
Die Ausstattung mit Konsumgütern und
Sozialleistungen ist weitgehend identisch. Ein
gewisser Unterschied allerdings ist bis heute
spürbar: der Unterschied in der Leistungskraft
der Wirtschaft und damit natürlich
auch bei den Verdienstmöglichkeiten und
der Steuerkraft. Das ist volkswirtschaftlich
gesehen erst mal ganz normal, weil sich die
Entwicklung einer Wirtschaft immer nur über
sehr lange Zeiträume, häufig über Generationen
hinweg, vollziehen kann. Zum Zeitpunkt
der Wiedervereinigung lag die Produktivität
der ostdeutschen Wirtschaft nur bei einem
Drittel, heute liegt sie bei über 82 Prozent des
deutschen Durchschnitts. Wir haben damit
einen gewaltigen Erfolg erzielt, auf den alle
Menschen in den neuen Ländern wirklich
stolz sein können. Die weitere Angleichung
der Lebensverhältnisse in puncto Wirtschaft
bleibt natürlich auch in Zukunft eine Priorität
unserer Politik.
W+M: Sehen Sie Chancen, dass es zu einer
Angleichung der Lebensverhältnisse kommt?
Wenn ja, bis wann könnte das der Fall sein?
Und: Welche Maßnahmen müssten dafür
ergriffen werden?
Marco Wanderwitz: Eindeutig ja, die Leistungskraft
der Unternehmen, die Einkommen
und die Beschäftigungsmöglichkeiten werden
sich zwischen den alten und neuen Ländern
auch in Zukunft weiter angleichen, wenn
vielleicht auch nicht im Tempo früherer Jahre.
Wie lange es dauern wird, hängt auch von
unseren Maßstäben ab. Sind 100 Prozent
die Zielmarke oder können wir auch gewisse
Unterschiede, wie es sie auch in den alten
Bundesländern gibt, in einem föderalen
Gemeinwesen zulassen? Vor allem wird es
von der Entwicklung der Unternehmen selbst
abhängen, von ihrer Innovationsfähigkeit,
ihren Strategien und der globalen Verflechtung.
Auf allen diesen Gebieten werden wir
die Unternehmen auch künftig mit unseren
Mittelstands- und Innovationsprogrammen
nachdrücklich unterstützen.
W+M: Es gab und gibt Stimmen aus der
Politik, die das Amt des Ostbeauftragten nach
30 Jahren für verzichtbar halten. Wie sehen
Sie das?
Marco Wanderwitz: Ich hätte das vor fünf
Jahren auch gesagt. Aber ein wenig länger
werden wir es doch noch brauchen. Noch sind
ja nicht alle Themen abgearbeitet. Die Einheit
in den Köpfen ist dabei ein wichtiger Punkt.
Die Demokratie ist noch nicht so gefestigt wie
in den alten Bundesländern. Leider. Das sehe
ich als wichtigen Punkt der Beauftragung, hier
tätig zu sein.
Interview:
KARSTEN HINTZMANN
UND FRANK NEHRING
Lesen Sie
das ausführliche
Interview online
18
WIRTSCHAFT+MARKT
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
WIRTSCHAFTS-PREIS
„VORSPRUNG“ FÜR INNOVATIVE
UND STANDORTPRÄGENDE
FIRMEN AUS DEN NEUEN
LÄNDERN
36 exzellente Kandidaten – Jury unter Leitung von Matthias Platzeck
hat die Qual der Wahl bei Verleihung der ersten Preise des Ostdeutschen
Wirtschaftsforums
Von Karsten Hintzmann
Im 30. Jahr der deutschen Einheit wollten ternehmen soll regionale oder gar überregionale
die Macher des Ostdeutschen Wirtschaftsforums
Strahlkraft besitzen und sich zu einem
(OWF) einen besonderen Akzent regionalen Leuchtturm entwickelt haben.
setzen. Erstmals wurde in diesem Jahr der Das Unternehmen hat neue, innovative Geschäftsideen
Wirtschaftspreis „Vorsprung“ verliehen.
umgesetzt und zur Marktreife
Aus allen neuen Ländern gingen unzählige geführt, und es hat mit einem oder mehreren
Vorschläge ein. In die engere Wahl kamen Produkten europäische oder gar internationale
am Ende 36 Unternehmer und Unternehmen,
Marktführerschaft erlangt. Das Unter
die auf den folgenden Seiten nehmen unterstützt soziale, kulturelle oder
dokumentiert sind. Sie alle erfüllten die sportliche Projekte in der Heimatregion. Das
vorgegebenen Kriterien: Der Firmensitz gesamte Schaffen der Unternehmerin beziehungsweise
muss in den neuen Ländern liegen. Das Un
des Unternehmers ist geeignet,
anderen Mittelständlern Mut hinsichtlich
der Weiterentwicklung von Geschäftsideen
zu machen und Vorbildwirkung gegenüber
jungen Menschen zu entfalten, damit diese
selbst unternehmerisch tätig werden. Das
Unternehmen ist sicher und in der Substanz
unbeschadet durch die derzeitige Coronakrise
gesteuert worden.
Die hochkarätig besetzte Jury unter Leitung
des langjährigen brandenburgischen Ministerpräsidenten
Matthias Platzeck (SPD) hatte
am Ende die Qual der Wahl. Sie entschied sich
für fünf Unternehmen, die höchst unterschiedliche
Branchen repräsentieren und zum
Teil bereits seit Jahrzehnten erfolgreich am
Markt sind.
Foto: W+M/Ralf Succo
WIRTSCHAFT+MARKT 19
Longlist: Nominierungen für den OWF-Unternehmerpreis 2020
01
02
03
Neulandia UG
BRANDENBURG
SONOTEC GmbH
SACHSEN-ANHALT
Relaxdays
Halle/Saale
SACHSEN-ANHALT
04
05
06
A.MUSE, Designhaus
Halle/Saale
SACHSEN-ANHALT
Jugendfilmcamp
Arendsee
SACHSEN-ANHALT
Tesvolt GmbH
Wittenberg
SACHSEN-ANHALT
07
08
09
Knufmann GmbH
Klötze
SACHSEN-ANHALT
Hasomed GmbH
Magdeburg
SACHSEN-ANHALT
LLT Applikation Gmbh
Ilmenau
THÜRINGEN
10
11
12
VACOM Vakuum
Großlöbichau
THÜRINGEN
Bauerfeind AG
Zeulenroda-Triebes
THÜRINGEN
EPC Engineering & Technologies GmbH
Arnstadt
THÜRINGEN
13
14
15
Layertec
Mellingen
THÜRINGEN
Deutzer Technische Kohle GmbH
Zeuthen
BRANDENBURG
GA Generic Assays GmbH
Blankenfelde-Mahlow
BRANDENBURG
16
17
18
getemed Medizin- und Informationstechnik AG
Teltow
BRANDENBURG
Körber & Körber GmbH
Birkenwerder
BRANDENBURG
Christoph Miethke GmbH & Co. KG
Potsdam
BRANDENBURG
20
WIRTSCHAFT+MARKT
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
19
20
21
UniCaps GmbH
Frankfurt (Oder)
BRANDENBURG
UNITAX-Pharmalogistik GmbH
Schönefeld
BRANDENBURG
SIK-Holzgestaltungs GmbH
Berlin
BRANDENBURG
22
23
24
Ambulanz Mobile Schönebeck GmbH & Co. KG
Schönebeck
SACHSEN-ANHALT
Störtebeker Braumanufaktur GmbH
Stralsund
MECKLENBURG-VORPOMMERN
Centogene AG
Rostock
MECKLENBURG-VORPOMMERN
25
26
27
Oehm und Rehbein GmbH
Rostock
MECKLENBURG-VORPOMMERN
GWA Hygiene GmbH
Stralsund
MECKLENBURG-VORPOMMERN
Micro-Hybrid Electronic
Hermsdorf
THÜRINGEN
28
29
30
Asphericon
Jena
THÜRINGEN
Testa Motari Automotive GmbH
Johanngeorgenstadt
SACHSEN
Wandelbots GmbH
Dresden
SACHSEN
31
32
33
COLDPLASMATECH GmbH
Greifswald
MECKLENBURG-VORPOMMERN
Dr. Födisch Umweltmesstechnik AG
Markranstädt
SACHSEN
GK Software SE
Schöneck
SACHSEN
35
35
36
ibes AG
Chemnitz
SACHSEN
KRONOS
Dresden
SACHSEN
watttron GmbH
Freital
SACHSEN
HIER
TRIFFT WIRTSCHAFT
WISSENSCHAFT.
Team Bilberry, Mateyusz Krain (li.) und Krzysztof Dobrinin
©Marco Warmuth/TGZ Halle GmbH
ES IST EIN GÄNGIGES KLISCHEE: SACHSEN-ANHALT UND INNOVATIONEN?
DAS PASST NICHT ZUSAMMEN.
Wir treten den Gegenbeweis an und zeigen, dass in Sachsen-Anhalt Prägendes
entsteht. Standorte in Sachsen-Anhalt bieten dazu die perfekten Bedingungen.
Es sind unsere ZUKUNFTSORTE. Hier konzentrieren sich Wissenschaft, Forschung
und Wirtschaft an einem Ort. Die Wege sind kurz, das ermöglicht Begegnung
und Austausch. Neue Ideen entstehen und werden so einfacher realisiert.
www.zukunftsorte-sachsen-anhalt.de
22
WIRTSCHAFT+MARKT
PREISTRÄGER AUS SACHSEN-ANHALT: AMBULANZ MOBILE GMBH & CO. KG
Der Marktführer bei Krankentransportwagen
kommt aus Schönebeck
IIm Januar 1991, nur drei Monate nach der
Deutschen Einheit, hatten sieben ehemalige
Traktorenwerker die Idee, eine Firma zu
ten Akquisitionsfahrten jedoch ernüchternd.
Alexander Richter und Hans-Jürgen Schwarz,
gelernte Maschinenbau-Ingenieure und Gründer
des Unternehmens, mussten kämpfen und
Durchsetzungsvermögen lernen.
Im Jahr 2000 waren schon über 100 Mitarbeiter
beschäftigt, über 600 Spezialfahrzeuge
wurden an Kunden in Deutschland und Österreich
verkauft. Der erste Kunde in Österreich
war das Rote Kreuz in Kärnten. Es wird heute
noch mit Ambulanzfahrzeugen aus Schönebeck
beliefert. Das zweite Geschäftsfeld, die
Krankentransportwagen (KTW), wurde im
Jahr 1998 aktiviert. Im selben Jahr wurde das
erste Notarzteinsatzfahrzeug entwickelt und
ein Jahr später der erste Rettungstransport-
gründen, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen und nicht in die Arbeitslosigkeit gehen
zu müssen. Mit einer alten Produktionshalle
fing es an, und am 1. Juli 1991 wurde die Firma
gegründet, für die es noch kein Produkt und
keinen Markt gab. Das erste Produkt war ein
Kraftfahrzeug für mobilitätseingeschränkte
Personen auf Basis eines Ford Transit, die erswagen.
Das Unternehmen entwickelte sich
kontinuierlich und stabil weiter und bis heute
erfolgen fortlaufend kreative Innovationen in
allen Produktbereichen.
Mit den später folgenden weiteren Eigenentwicklungen,
wie dem Rettungswagen Typ
DELFIS (auf den Basis-Fahrzeugen Mercedes
Sprinter und VW Crafter) und dem großen
Rettungswagen TIGIS, veränderte Ambulanz
Mobile nicht nur weltweit das Erscheinungsbild
einer Branche, sondern es revolutionierte
sie. Die Firma wuchs und wuchs. In den Jahren
2003, 2007, 2010 und 2015 wurden umfangreiche
bauliche Investitionen getätigt und
heute verfügt die Firma über mehr als 13.000
Quadratmeter reiner Produktionsfläche.
Permanente Ausbildung und umfangreiche
Qualifizierung sorgen für ein gut geschultes
Personal. Fünf Ausbildungsberufe und zwei
duale Studienrichtungen sorgen für Fachkräftenachwuchs,
um auch in Zukunft an der
Spitze stehen zu können. Über 50 europaweite
Patente und Schutzrechte zeugen davon, wie
innovativ die Firma an der Elbe ist.
Die Produktion von Ambulanzfahrzeugen
läuft auf vollen Touren.
Eines der erfolgreichsten Krankenwagen-Produkte
ist der Ford Transit NOVARIS. Kein anderer
KTW wird in Mitteleuropa in einer größeren
Stückzahl gebaut. Ein Beleg dafür ist die Tatsache,
dass das Bayerische Rote Kreuz allein
von diesem Produkt seit 2009 mehr als 1.000
KTW in Schönebeck gekauft hat. Inzwischen
arbeiten mehr als 300 Beschäftigte bei Ambulanz
Mobile Schönebeck. Über 1.600 Spezialfahrzeuge
werden hier jährlich gebaut und in
mehr als 40 Länder geliefert. Das Unternehmen
verfügt heute über ein großes Netz an
Partnern, unter anderem in den Niederlanden,
Finnland, Spanien, Italien, Ungarn, Kroatien,
der Schweiz, in Slowenien, im Nahen Osten sowie
auf Taiwan. Der Hauptentwicklungs- und
Produktionsstandort ist jedoch, und so soll es
auch bleiben, Schönebeck an der Elbe.
Geschäftsführer Hans-Jürgen Schwarz
nimmt den Preis auf dem OWF entgegen.
Fotos: Ambulanz Mobile GmbH & Co. KG , W+M/Ralf Succo
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT WIRTSCHAFT+MARKT 23
30
DDie CENTOGENE AG ist ein Unternehmen
für seltene Krankheiten, das sich
darauf konzentriert, klinische, genetische
und biochemische Daten in medizinische
Lösungen für Patienten umzuwandeln.
Mit Hauptsitz in Rostock und weiteren Niederlassungen
in Berlin sowie in Cambridge,
Massachusetts, USA, widmet sich CENTO-
GENE der Umwandlung der Wissenschaft der
genetischen Information in Lösungen und
Hoffnung für Patienten mit seltenen Krankheiten
und deren Familien. CENTOGENE bietet das
gesamte Spektrum moderner Methoden und
Technologien für die Humangenetikanalyse.
Volkmar Weckesser (Mitte), Chief Information
Officer der CENTOGENE AG, nimmt in
Bad Saarow den OWF-Wirtschaftspreis
entgegen. Erste Gratulanten sind der
Juryvorsitzende Matthias Platzeck (l.) und
OWF-Veranstalter Frank Nehring.
PREISTRÄGER AUS MECKLENBURG-VORPOMMERN: CENTOGENE AG
Weltmarktführer in der Diagnostik
seltener angeborener Krankheiten
Foto: W+M/Ralf Succo
Es ist in der Forschung aktiv und entwickelt
ständig neue und innovative Produkte für die
Humangenetik.
So sieht sich das Unternehmen selbst: „Wir
setzen uns für ‚seltene‘ seltene Krankheiten
ein, indem wir unser weltweites Wissen auf
dem Markt für seltene Krankheiten nutzen, die
Epidemiologie verstehen, die klinische Heterogenität
der mehr als 3800 Krankheiten analysieren
und innovative Biomarker entwickeln.
Basierend auf diesem Wissen bringen wir
Rationalität in Behandlungsentscheidungen
und beschleunigen dadurch die Entwicklung
neuer Orphan Drugs (Arzneimittel für seltene
Leiden – Anmerkung der Redaktion).“
CENTOGENE wurde 2006 als Spin-off der
Rostocker Universitätsklinik von Dr. Arndt Rolfs
gegründet, einem Neurologen mit langjähriger
klinischer Erfahrung bei seltenen Erbkrankheiten.
Von Beginn an war es sein Ziel, die
Wissenschaft klinischer und genetischer Daten
in medizinische Lösungen für Patienten zu verwandeln.
Diese Vision basiert auf der Tatsache,
dass unter den 7.000 identifizierten seltenen
Krankheiten schätzungsweise 80 Prozent –
also etwa 5.600 Krankheiten – einen genetischen
Ursprung haben. Von diesen seltenen
Erbkrankheiten haben jedoch nur etwa vier Prozent
eine von der FDA zugelassene Behandlung
(Anmerkung der Redaktion: Die FDA – Food and
Drug Administration – ist eine US-Behörde, die
für die Zulassung und Marktüberwachung von
Lebensmitteln, Medikamenten und Medizinprodukten
verantwortlich ist).
Da die Diagnose eines Patienten mit einer
seltenen Krankheit normalerweise durchschnittlich
etwa sieben Jahre dauert, besteht
weltweit ein erheblicher unerfüllter Bedarf
an qualitativ hochwertigen genetischen Informationen
im Bereich seltener Krankheiten
zur Früherkennung, wirksamen Behandlung
von Patienten und die Beschleunigung der
Entwicklung von Orphan Drugs.
Inzwischen ist die CENTOGENE AG Weltmarktführer
in der Diagnostik seltener
angeborener Krankheiten. Das Unternehmen
verfügt über die weltweit größte Datenbank
auf diesem Gebiet. In den digitalen Archiven
der Firma lagern genetische Informationen
von bisher einer halben Million Patienten aus
rund 120 Ländern.
In der Coronakrise hat das Rostocker Unternehmen
seine Labore für lebensrettende
Coronatests geöffnet. Unter anderem an den
Flughäfen Frankfurt (Main), Hamburg und
Düsseldorf wurden moderne begehbare Testzentren
eingerichtet, in denen sich Passagiere
kurzfristig untersuchen lassen können.
24
WIRTSCHAFT+MARKT
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
PREISTRÄGER AUS SACHSEN: GK SOFTWARE SE
Europäischer Marktführer für
Softwaresysteme für Großhändler
DDie GK Software SE hatte ihre Anfänge im
August 1990, wenige Monate nach dem
Mauerfall und vor der deutschen Einheit: ohne
Förderung oder Venture Capital, nur mit der
Vision von Rainer Gläß, „eine der besten Softwares
der Welt zu entwickeln“. Zwei Rechner,
ein Ziel und unglaublich viel Energie. Start als
Zwei-Mann-Firma in einer Zwei-Raum-Wohnung
in Schöneck, zwar keine Garage wie bei
Hewlett-Packard, aber die Gründer Gläß und
Kronmüller (GK) lernten sich beim Bau einer
Garage kennen. Aus dem Nichts und aus eigener
Kraft entstand ein Global Player mit über
1.200 Mitarbeitern aus 20 Nationen und über
100 Millionen Euro Jahresumsatz am Standort
im Vogtland. Die GK Software SE ist an der
Frankfurter Börse im MDAX des Prime-Standards
für mittelgroße Unternehmen als
einziges Unternehmen aus Ostdeutschland
notiert. GK ist Sachsens größtes
Softwareunternehmen mit Sitz der
Konzernzentrale im Freistaat.
Die Firma hat mit einem einfachen Abrechnungsprogramm
für Händler begonnen
und ist heute europäischer Marktführer für
Softwaresysteme für Großhändler (Omni-
Channel Store-Solutions). Die Software
von GK verbindet alle Abrechnungssysteme
der Kassen in Läden (zum Beispiel alle rund
12.000 Kassen von Netto in Deutschland),
mit dem Online-Shop und mit den mobilen
Geräten. Die Daten sind verbunden mit der
Lagerhaltung, sodass jeder Ausgang an der
Kasse zur automatischen Nachbestellung im
Lager führt. Die Software bietet elektronische
Waagen und digitale Preisschilder an den Regalen,
auf künstlicher Intelligenz basierte und
mehrfach am Tag wechselnde Preisanpassungen
sowie eine Kasse als Computer mit
fast zeitechtem Druck des Kassenbons. Mit
den Preisanpassungen wird beispielsweise
der Abverkauf von Frischwaren wie Erdbeeren
automatisiert gesteuert, damit das Lager geleert
und weniger Lebensmittel weggeworfen
werden müssen.
Die Software wird im Lizenz-Modell oder als
Mietmodell aus der Cloud angeboten. Bei allen
aktuellen Themen der Digitalisierung ist GK
vorn dabei: Handel 4.0, künstliche Intelligenz/
Machine Learning, Big Data, Virtual Reality,
Blockchain, Cloud und mehr.
Wer zum Beispiel bei Aldi, Lidl, Edeka,
Douglas, Dehner, Fressnapf, Hornbach,
Kärcher, Thalia, WMF, Coop und Migros in der
Schweiz oder Woolworth in den USA seinen
Einkauf bezahlt, tut dies an hochmodernen
digitalen Kassensystemen, die in der Zentrale
in Schöneck entwickelt wurden und betreut
werden. Zwölf der weltweit 50 größten
Einzelhändler sind Kunden der GK, insgesamt
235 Handelsunternehmen als Kunden,
304.000 Installationen in über 60 Ländern,
13 Firmenstandorte in sieben Ländern. Der
Ritterschlag: die Aufnahme der GK-Produkte
in den SAP-Produktkatalog. Die SAP-Software
für Händler heißt „SAP Retail by GK“ und
kommt aus Sachsen.
OWF-Preisträger Rainer
Gläß (2.v.r.) mit Jurychef
Matthias Platzeck,
Sachsens Wirtschaftsminister
Martin Dulig
und OWF-Veranstalter
Frank Nehring (v.l.)
WIRTSCHAFT+MARKT 25
PREISTRÄGER AUS BRANDENBURG: SIK-HOLZGESTALTUNGS GMBH
Einzigartige Kinderspielplatzgeräte
aus dem Holz der Robinie
Fotos: W+M/Ralf Succo
Die SIK-Holzgestaltungs GmbH gestaltet individuelle
Kinderspielplatzgeräte aus kreativen
Ideen und Robinienholz. Am 1. Mai 1988 gründeten
Claudia und Klaus-Peter Gust die Firma
SIK-Holz für künstlerische Holzgestaltungen.
Nach der Wende konzentrierte sich das inhabergeführte
Unternehmen ausschließlich auf
die Gestaltung von Kinderspielplatzgeräten.
„Die Krummschaftigkeit des Holzes, der Maserwuchs
und die besonderen physikalischen
Eigenschaften der Robinie machten das Holz
besonders interessant für die Gestaltung unserer
Kinderspielplatzgeräte ohne chemischen
Holzschutz und ohne Langeweile“, erläutert
Klaus-Peter Gust.
Bedingt durch einen überzeugenden Service,
eine hohe Produktqualität, das kreative Design,
die hohen Sicherheitsstandards und nicht
zuletzt durch gutes Marketing wurde SIK-Holz
zu einer weltweiten Leitmarke der Spielplatzgerätegestaltung.
Heute arbeiten in der Langenlipsdorfer
Spielplatzmanufaktur 230 Mitarbeiter. Das
Unternehmen ist ein erfolgreicher Ausbildungsbetrieb
für Produktdesigner, Kaufleute,
Holzbildhauer und Tischler. Im Durchschnitt
werden jährlich 20 bis 25 junge Menschen
von den Ausbildern betreut. Absolventen der
Ausbildungsabteilungen gewannen bereits
mehrfach Auszeichnungen.
Die Werkstattbereiche SIK-Holzgestaltungs
GmbH erstrecken sich über eine Fläche von
fast sechs Hektar. Um der wachsenden
Nachfrage der nationalen und internationalen
Kunden gerecht zu werden, wurde im
Oktober 2018 die BauArt-Playgrounds GmbH
in Welzow/Spree-Neiße-Kreis gegründet.
Dort arbeiten derzeit zwölf Mitarbeiter. Das
Unternehmen soll bis 2022 rund 40 Mitarbeiter
beschäftigen.
Das Unternehmen engagiert sich auch für
soziale Projekte. So unterstützte SIK-Holz im
Die Geschäftsführer Marc Oelker (2.v.l.)
und Klaus-Peter Gust (3.v.l.) umrahmt von
Matthias Platzeck (l.), Frank Nehring (2.v.r.)
und Jörg Steinbach (r.).
Ein von der SIK-Holzgestaltungs GmbH
errichteter Spielplatz im japanischen Anjo.
Jahr 2000 Jugendliche aus Ost- und Westdeutschland
dabei, einen Kinderspielplatz im
südafrikanischen Soweto aufzubauen. Diesem
ersten „Regenbogenprojekt“ folgten bis
heute elf weitere Projekte. Der Regenbogen
steht für einen symbolischen Brückenschlag
zwischen Arm und Reich, Nord und Süd,
Schwarz und Weiß.
26
WIRTSCHAFT+MARKT
30
JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
PREISTRÄGER AUS THÜRINGEN: VACOM VAKUUM KOMPONENTEN & MESSTECHNIK GMBH
Familiengeführter Vakuumspezialist
mit eigenem Forschungszentrum
Die VACOM Vakuum Komponenten &
Messtechnik GmbH wurde 1992 in Jena
gegründet und ist, mit zentralem Firmensitz
in Großlöbichau bei Jena und etwa 350 Mitarbeitern,
heute weltweit aktiv. Mit ihrer Leitmarke
Precision & Purity hat sich VACOM auf
die Entwicklung, Fertigung und den Vertrieb
von Vakuumkomponenten und Vakuummesstechnik
für höchste Anforderungen in
Industrie und Wissenschaft spezialisiert und
gehört damit zu den führenden europäischen
Anbietern für Vakuumtechnik. Kernkompe-
tenzen sind die Vakuummechanik, elektrische
und optische Durchführungen, die Vakuummesstechnik
sowie die Vakuumoptik mit entsprechenden
Alleinstellungsmerkmalen. Zu
den letzten Eigenentwicklungen gehören die
AluVac-Vakuumkomponenten und -kammern
aus Aluminium für ideale Vakuumbedingungen
sowie das multifunktionale Vakuummessgerät
NOVION. Dazu kommen innovative
Technologien für spezielle Anforderungen
an die für Anwendungen vom Hochvakuum
bis zum extremen Ultrahochvakuum erforderliche
Reinheit und Partikelfreiheit der
Produkte sowie den Nachweis durch Sauberkeitsmessungen.
VACOM hat die Sauberkeit
von Bauteilen messbar gemacht, Standards
für Vakuum- und Reinheitsklassen entwickelt
und die FiT-Richtlinie für filmische Verunreinigungen
mit erarbeitet. Zu den Kunden zählen
Unternehmen aus Hightech-Bereichen
wie Analytik, Halbleitertechnik, Elektronik,
Optik, Solar- und Beschleunigertechnik sowie
Luft- und Raumfahrt.
Als eigentümergeführtes Familienunternehmen
ist VACOM auf kontinuierliche Innovation
und Nachhaltigkeit ausgerichtet. So verfügt
das Produktions- und Technologiezentrum,
das 2011 gebaut wurde, über modernste
Maschinen und Anlagen und besitzt ein
eigenes Forschungs- und Entwicklungszentrum.
Dort arbeiten über 30 Wissenschaftler,
Ingenieure und hoch qualifizierte Techniker
als Spezialisten verschiedener Nationalitäten
zusammen. Im August 2019 wurde eine
neue Hightech-Fertigungshalle eingeweiht,
in der moderne Produktions- und Lagertechnik
im Sinne der Industrie 4.0 eine „smarte“
Fertigung realisieren. Eine weitere Besonderheit
sind die zusätzlichen 65 in Kübeln
gepflanzten Bäumen und 45 Hängepflanzen,
die den neuen Fertigungsbereich als grünes
Refugium präsentieren und für ein gutes
Klima sorgen.
Die mehr als 350 Mitarbeiter sind der Motor
des Unternehmens, das seit 1993 Nachwuchskräfte
ausbildet. Seit Gründung der
Firma haben rund 150 Azubis ihre Ausbildung
bei VACOM abgeschlossen – ein großer
Teil davon gehört heute den verschiedenen
Teams, teils als Abteilungsleiter, an. Zurzeit
werden über 30 Jugendliche in zwölf
kaufmännischen und technischen Berufen
ausgebildet. VACOM setzt sich in der Region
für die Förderung des wissenschaftlich-technischen
Nachwuchses (MINT) ein: Bereits seit
1996 ist VACOM ein Hauptsponsor der Mathematikolympiade
in Jena und unterstützt
auch die artverwandte Physikolym piade.
Studierende der Ernst- Abbe-Hochschule
und der Friedrich- Schiller-Universität in Jena
werden durch die Betreuung von Praktika und
Abschlussarbeiten gefördert.
Stolze OWF-Preisträger vor der
heimischen Produktionshalle in
Großlöbichau: die Geschäftsführer
Dr. Ute Bergner und Jens Bergner.
Foto: VACOM Vakuum Komponenten & Messtechnik GmbH
Wir vernetzen Strom,
Wärme und Verkehr.
enviaM-Gruppe treibt die Digitalisierung der Energiewende voran.
Die Energiewende ist maßgeblich für die Erreichung der Klimaschutzziele. In der Energiewelt von morgen wachsen
Strom, Wärme und Verkehr immer enger zusammen. Unter #enviaM2030 arbeitet auch die enviaM-Gruppe an der
Zukunft. Wir entwickeln mit Partnern aus der Region die erforderlichen Lösungen. Die Digitalisierung ist dabei unser
Treiber. Über all dem steht die Vision, das „Internet der Energie“ zu gestalten. Daran arbeiten täglich rund 3.300
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie füllen die Vision mit Leben – innovativ, partnerschaftlich und ökologisch.
Damit sorgen wir auch in Zukunft für eine sichere und nachhaltige Energieversorgung in Ostdeutschland.
Mehr über unsere wegweisenden
aktuellen Projekte erfahren Sie unter:
www.enviaM-Gruppe2030.de
28
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
EEs heißt, die Coronakrise sei die größte Herausforderung
für Deutschland seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs. Für die vorwiegend kleinteilige
und mittelständisch geprägte Wirtschaft
in den fünf neuen Ländern und Berlin ist sie in
jedem Fall die schwerste Belastungsprobe seit
1990, als die bis dato vorhandene Wirtschaftsstruktur
in Folge der deutschen Einheit nahezu
komplett zusammenbrach.
Birgt die im März 2020 begonnene aktuelle Krise
die Gefahr, dass der noch junge Mittelstand zwischen
Rügen und Erzgebirge ernsthaften Schaden
nimmt? Oder ist diese Krise möglicherwiese
sogar eine Chance für den Osten, den seit drei
Jahrzehnten beklagten Rückstand gegenüber
den alten Bundesländern schneller als erhofft
wettzumachen und auf manchen Feldern gar
einen technologischen Vorsprung zu gewinnen?
Unsere Titelgeschichte greift vielfältige Aspekte
dieser Fragestellungen auf. Wissenschaftler,
führende Politiker – unter anderen Bundeskanzlerin
Angela Merkel und die sechs ostdeutschen
Regierungschefs – Wirtschaftsförderer und
Unternehmer kommen zu Wort.
Foto: XXX
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 29
OSTDEUTSCHLAND
UND DIE MACHT DER
KRISE
ANALYSE VON PROF. DR. JOACHIM RAGNITZ,
MANAGING DIRECTOR DES IFO-INSTITUTS DRESDEN
Foto: XXX
Die aktuelle Coronakrise hat die ostdeutsche
Wirtschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Aktuellen Prognosen zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt
in diesem Jahr um rund sechs
Prozent zurückgehen. Nach Befragungen
des ifo-Instituts rechnen die Unternehmen
im Osten in ihrer Gesamtheit damit, dass es
rund elf Monate dauern wird, bis sich ihre
Geschäftslage wieder normalisiert haben wird;
17 Prozent der ostdeutschen Unternehmen
nehmen die Coronakrise als ernsthafte Bedrohung
ihrer Existenz wahr. Es wird deshalb
Unternehmenspleiten geben – die bislang
nur deswegen nicht eingetreten sind, weil die
Insolvenzantragspflicht ausgesetzt wurde.
Für den Herbst ist insoweit eine Welle von
Unternehmensschließungen zu befürchten,
der wohl nicht nur ertragsschwache, sondern
auch im Kern gesunde Unternehmen zum
Opfer fallen werden. Die damit verbundenen
Forderungsausfälle werden wiederum auch
Banken in Mitleidenschaft ziehen. Zudem ist
mit Arbeitsplatzverlusten und Einkommenseinbußen
für die Betroffenen zu rechnen.
Selbst wenn es gelingt, einen zweiten
umfassenden Lockdown zu verhindern, wird
die Wirtschaft wohl erst Ende 2021 wieder ihr
Vorkrisenniveau erreichen; manche Branchen
(und Regionen) dürften aber noch längere Zeit
die Krisenfolgen spüren. Die ohnehin schon
labile Wirtschaftsentwicklung in weiten Teilen
Ostdeutschlands – die ja zusätzlich auch die
Folgen der Alterung und den strukturellen
Umbruch insbesondere im Automobilsektor
zu verkraften hat – wird dadurch zusätzlich
belastet.
Natürlich kann man eine Krise wie die derzeitige
auch als Chance betrachten, da sie
in gewisser Weise eine „Produktivitätspeitsche“
darstellt: Aus dem Markt ausscheiden
werden als erstes jene Unternehmen, deren
Geschäftsmodell ohnehin kritisch gesehen
werden musste und die deswegen nur geringe
finanzielle Reserven haben aufbauen können;
darüber hinaus auch solche, deren Inhaber
(zum Beispiel aus Altersgründen) ohnehin
schon über eine Schließung nachdachten. Nach
dieser Sichtweise verbleiben die stärkeren
Unternehmen, also jene mit höherer Produktivität,
besserer Anpassungsfähigkeit
und allgemein guten Zukunftsperspektiven,
und dies könnte dafür sorgen, dass ganz
Deutschland und damit auch Ostdeutschland
gestärkt aus der Krise herauskommen würde.
Vielleicht wird es auch nicht so schlimm, denn
auch wenn Unternehmen schließen müssen,
werden diese dort, wo ein lukrativer Markt
besteht, auch wieder ersetzt werden: Hotels
oder Gastronomiebetriebe in attraktiven
Regionen werden mittel- bis langfristig auch
wieder gute Geschäfte machen können, und
Neugründer werden typischerweise auch mit
30 WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
neuen Ideen und innovativen Konzepten antreten
und damit die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft
in der Breite stärken. Alle Erfahrung lehrt jedoch
auch, dass der Wiederaufbau gemeinhin länger
dauert als die Zerstörung funktionsfähiger Strukturen.
Die Rückkehr auf einen neuen Wachstumspfad
wird deshalb wohl nicht kurzfristig gelingen – und
auf dem Weg dahin wird es jede Menge Opfer geben.
Schön ist das alles nicht.
Niemand kann heute seriös sagen, wie sich die
Entwicklung nach Überwindung der Coronapandemie
darstellen wird, und auch die Politik ist nicht zu beneiden,
denn sie wird noch auf absehbare Zeit „auf Sicht“ fahren
müssen: Gesundheitspolitische Risiken müssen gegenüber
negativen wirtschaftlichen Konsequenzen abgewogen
werden, und keineswegs ist es so, dass die Vermeidung
von Infektionsfällen unbedingten Vorrang vor den Folgen
eines neuerlichen Herunterfahrens wirtschaftlicher Aktivität
haben kann. Dies spricht insbesondere für lokal angepasste
Maßnahmen, wenn sich neue Corona-Infektionsherde herausbilden,
und gegen flächendeckende Restriktionen, wie sie
im Frühjahr ergriffen wurden. Die Politik muss zudem auch die
längerfristige Entwicklung im Blick behalten – und die Herausforderungen,
die mit all den Megatrends verbunden sind, die
schon vor der aktuellen Krise angelegt waren und danach wohl
auch wieder voll durchschlagen werden: Klimawandel, Fachkräftemangel,
Digitalisierung, Globalisierung, um nur die Wichtigsten zu
nennen. Letzten Endes ist es aber ohnehin Aufgabe der Unternehmen
und der Gesellschaft, nicht des Staates, sich auf die genannten
Megatrends einzustellen.
Der Staat hat umfangreiche Hilfsprogramme auf den Weg gebracht,
um Unternehmenszusammenbrüche und Entlassungen zu vermeiden.
Sinnvoll waren auf jeden Fall die umfassenden Kurzarbeiterregelungen
(auch wenn sowohl die bereits beschlossene Aufstockung der Höhe des
Kurzarbeitergeldes wie auch die jetzt diskutierte Verlängerung lediglich
sozialpolitisch motiviert sind) und die Liquiditätshilfen von Bund und
Ländern. Letztere waren aber viel zu knapp bemessen: Besser wäre es
wohl gewesen, hätte die Politik die letzten Endes von ihr mitverursachten
Schäden umfassend ausgeglichen (sei es über großzügige steuerliche
Verlustrückträge oder direkte Transfers). Für das Problem, dass davon
auch ohnehin kränkelnde Unternehmen profitieren, hätten sich Lösungen
finden lassen. In ihrer Gesamtheit waren die beschlossenen Hilfen aber vor
allem eines, nämlich teuer, weil „für jeden etwas dabei“ sein sollte (wie es
der Bundesfinanzminister formulierte); die Wirkungen vieler der getroffenen
Maßnahmen dürften jedoch beschränkt bleiben: Nachfragestützende Maßnahmen
wie die temporäre Umsatzsteuerermäßigung oder der Kinderbonus
Illustration: freepik.com
Mit dem Herzen dabei.
Foto: ifo-institut
dürften ins Leere laufen, wenn die Konsumenten
angesichts unsicherer Einkommensperspektiven
ohnehin keine größeren
Anschaffungen planen; Kredithilfen sind
nicht hilfreich, wenn der Fortbestand eines
Unternehmens infrage steht; die zwischenzeitlich
beschlossenen Überbrückungshilfen
haben Anspruchsvoraussetzungen,
die eine Vielzahl von betroffenen Unternehmen
eben nicht wird erfüllen können.
Viele Maßnahmen waren zudem wenig
zielgenau, weil davon auch solche Unternehmen
profitierten, die von den Nachfrageausfällen
überhaupt nicht betroffen
waren. Es war auch nicht besonders klug,
die coronabedingten Hilfsprogramme mit
dem Anspruch zu verknüpfen, gleichzeitig
auch eine „Transformation“ der Wirtschaft
in Gang zu setzen. Letzten Endes tragen all
die Investitionsprogramme im sogenannten
„Zukunftspaket“ der Bundesregierung
nicht dazu bei, die aktuelle konjunkturelle
Schwächephase zu überwinden; vielmehr
sollte hier wohl die Gunst der Stunde
genutzt werden, mittelfristig ohnehin
geplante Maßnahmen, deren Finanzierung
aktuell nicht möglich schien, unter dem
Deckmantel der Krisenbewältigung über
die Aufnahme von Schulden zu finanzieren
Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist
Managing Director des ifo-Instituts Dresden.
und damit vorzuziehen. All die Schulden, die
jetzt neu gemacht werden, wird man auch
wieder zurückzahlen müssen (wobei vieles
dafür spricht, die Rückzahlung zeitlich zu
strecken), und es ist absehbar, dass die
Handlungsspielräume des Staates dadurch
für längere Zeit eingeschränkt werden.
Wichtig ist es deshalb, notwendige Einsparungen
nicht gerade dort vorzunehmen, wo
es mangels langfristiger Mittelbindungen
zwar einfach, aber aus wachstumspolitischen
Gründen besonders problematisch
wäre (also vor allem bei Bildung und
Forschung). Und man wird auch darüber
nachdenken müssen, ob es einen „Solidarbeitrag“
all jener Bevölkerungsgruppen
braucht, die von der Pandemie überhaupt
nicht betroffen waren – zum Beispiel durch
Umwidmung des Solidaritätszuschlags, der
für den Aufbau Ost ja eigentlich nicht mehr
erforderlich ist.
Die aktuelle Krise hat zwar gezeigt, dass
die Menschen zusammenrücken und sich
gemeinsam den Herausforderungen stellen
können, wenn diese nur außergewöhnlich
genug sind und eine ernst zu nehmende
Krisenkommunikation erfolgt. Aber gerade
in Ostdeutschland scheint der Zusammenhalt
auch schon wieder zu bröckeln;
diejenigen, die sich ohnehin als Verlierer im
Transformationsprozess der letzten Jahre
sehen, gewinnen wieder an Oberwasser.
Das Risiko einer weiteren und dauerhaften
Spaltung der Gesellschaft wird sich nicht
durch forsche Sprüche, durch „Framing“
oder beharrliches Ausgrenzen abweichender
Meinungen vermeiden lassen. Hier liegt
eine Gefahr, die vielleicht ebenso groß ist
wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen
der Coronapandemie: dass damit
Menschen (und Wähler) verloren gehen,
deren Mitarbeit am weiteren Gelingen des
wirtschaftlichen Aufholprozesses in Ostdeutschland
dringend erforderlich ist. Die
Politik wäre gut beraten, auch diese Gefahr
im Auge zu behalten.
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32
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
NICHT WIEDER NORMAL!
Unser Wirtschaftssystem ist überhitzt
und ausbeuterisch. Wir müssen
den Neustart nach Corona nutzen, um
das zu ändern.
VON ANNA HERRHAUSEN
MMonate ohne viele Kontakte – was sehen wir,
wenn wir diese Zeit zum Hinschauen nutzen?
Wir sehen die Natur ausgebeutet, Luft, Böden
und Wasser verschmutzt, die Artenvielfalt
schwindend. Wir sehen die Schere zwischen
Arm und Reich. Wir sehen das Erfinden und
Hochstilisieren von kultureller Identität. Wir
sehen international verflochtene Lieferketten,
die Kosten reduzieren und Lagerhaltung
minimieren sollen. Wir sehen unsere
Abhängigkeit von Bestätigung von außen, sei
es über die Statussymbole des Konsums, die
Likes, die Follower.
Sieht es nicht bizarr aus?
Viele haben nun den Reflex, schnell zum
Zustand vor dem Schock zurückkehren zu
wollen. Aber: Was für eine Chance ließen wir
damit verstreichen!
Spätestens seit der Club of Rome 1972 die
Studie „Die Grenzen des Wachstums“ ver-
öffentlichte, wissen wir, dass unser Wirtschaftssystem
nicht nachhaltig ist: linear statt
zirkulär, überhitzt, ausbeuterisch. Jahr für
Jahr bekommen wir vor Augen geführt, dass
wir die Menschheit noch nicht von der „Geißel
des Krieges“ befreit haben – auch wenn sich
bereits 1945 die Regierungen der Gründungsstaaten
der Vereinten Nationen genau dazu
bekannt haben.
Die großen Hoffnungen, die wir in Wissenschaft
und Wirtschaft gesteckt haben, haben
sich bisher nicht bestätigt – nämlich, dass wir
uns, erstens, aus dem Nachhaltigkeitsdilemma
„heraus-erfinden“ können und, zweitens,
dass wir uns aus dem Konfliktdilemma
„ heraus-handeln“ können.
Wenn man der Krise etwas Gutes abgewinnen
kann, ist es dies: Sie stellt die Unvermeidbarkeit
mancher Entwicklung infrage.
Sie widerlegt Glaubenssätze, die wir oft
genug vorgeschoben haben, um uns der
Verantwortung zu entziehen: „Das ist die
Globalisierung, die Digitalisierung, der Markt!“
Dabei sind Kurs und Geschwindigkeit nicht
vorgezeichnet, sogar angebliche Megatrends
sind umkehrbar.
Nun gibt uns der Stillstand die Chance, den
Neustart bewusst zu gestalten. Dazu müssen
wir verstehen, was unser System antreibt.
Was sind die Prämissen? Was wollen wir behalten,
was loslassen, was anders gewichten?
Wir glauben an die Würde des Menschen und
damit an sein Recht auf Selbstverwirklichung.
Mit diesem Recht gehen individuelle und
kollektive Verantwortung für die Allgemeinheit
und die Allgemeingüter einher.
Jetzt gilt es, eine Einsicht neu zu beleben: Niemand
ist eine Insel. Wir alle sind verbunden auf
diesem Planeten – über Grenzen, Generationen
und Wahlperioden hinweg. Und so dürfen
wir nun die Balance justieren zugunsten der
Natur, zugunsten derer, die Hilfe suchen, zugunsten
junger und noch kommender Generationen.
Für sie müssen wir den Schlagwörtern
Nachhaltigkeit, Diversität und Menschlichkeit
endlich Substanz verleihen.
Das Heute darf nicht weiter zulasten des
Morgen gehen. Die Konjunkturpakete, die
jetzt geschnürt werden, sollen die Gesundheit
unserer Gesellschaft und unserer Volkswirtschaft
unterstützen: Wir müssen unser
Bildungssystem aufwerten, die Grundlagenforschung
stärker fördern, die physische und
digitale Infrastruktur ausbauen und sichtbar
machen, wie wertvoll Arbeit ist.
Externe Effekte des Wirtschaftens – wenn
Industrien etwa Unmengen sauberen
Grafiken: unitonevector/freepik.com, Econceptive/ Shmidt Sergey/joe pictos/Ben Davis/Icongeek26/ thenounproject.com
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 33
Wassers verbrauchen – sollen sich im Preis
der Produkte widerspiegeln. An die Stelle von
linearer Wertschöpfung darf die Kreislaufwirtschaft
treten. Auch wenn die Digitalisierung
unser Leben immer stärker prägt – und
Algorithmen für Menschen Entscheidungen
treffen könnten –, der Mensch steht selbst
in der Verantwortung. Kurzum: Künstliche
Intelligenz darf nicht hinwegtäuschen über
menschliche Ignoranz.
Wenn wir auf die vergangenen Wochen blicken,
stellen wir fest, wie anpassungsfähig wir
Menschen sind. Wie ähnlich wir uns doch alle
sind. Wir können auf vieles verzichten, nicht
aber auf die Verbindung miteinander und nicht
auf die Natur. Mit diesem Selbst-bewusst-Sein
sollten wir aus der Krise hervorgehen. Und den
Neustart bewusst gestalten.
Mit freundlicher Genehmigung der überregionalen
Wochenzeitung DIE ZEIT. Dort erschien dieser Beitrag
am 9. Juli 2020.
Anna Herrhausen ist seit
2016 Geschäftsführerin der
Alfred Herrhausen Gesellschaft.
Nach Stationen als
Unternehmensberaterin bei
McKinsey und im Corporate-
Responsibility- Bereich der
Allianz-Gruppe wechselte sie 2014 in
den Bereich Kommunikation und Soziale
Verantwortung der Deutschen Bank. Ende 2016 übernahm sie die
Leitung der Alfred Herrhausen Gesellschaft. Als akademischen
Hintergrund bringt sie einen Bachelor in Philosophie, Politik- und
Wirtschaftswissenschaften der Oxford University, einen Master
in International Affairs der Columbia University sowie die Promotion
an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Internationale
Beziehungen mit. Anna Herrhausen ist Mitglied im European
Council on Foreign Relations (ECFR) und im Kuratorium der Hertie
School of Governance.
Foto: XXX
50Hertz ist der Übertragungsnetzbetreiber im Norden und Osten Deutschlands
und sichert in diesen Regionen die Stromversorgung von 18 Millionen Menschen.
Wir setzen uns dafür ein, dass 100 Prozent des Stromverbrauchs in unserem Netzgebiet
schon 2032 aus Erneuerbaren Energien gedeckt werden können. 2019
waren es 60 Prozent. Damit setzen wir ein klimapolitisches Zeichen und ein Signal
für eine starke Wirtschaft mit Zukunft.
50hertz.com
© Adobe Stock / ens Ottoson
34
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
DIGITAL-
REFORMER
FÜR SCHULEN:
CORONA
COVID-19 steht nicht im Verdacht, positive Seiten zu
haben. Doch die Not hat geholfen, die digitale Transformation
unseres Landes voranzubringen, nicht als einen
überflüssigen Luxus zu begreifen, sondern als Grundlage
für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.
Und natürlich muss das in der Schule beginnen. Lange
hat die föderale Verfassung die Digitalisierung in den
Schulen verhindert. Unterschiedliche Interessenkonflikte
auf staatlichen Ebenen haben zu einem konzeptlosen
Aktionismus geführt, dessen Schwächen während der
Schulschließungen sichtbar wurden. Dabei ist die Digitalisierung
in der Schule kein Selbstzweck. Schüler brauchen
digitale Fertigkeiten, um mündige Bürger in der modernen
digitalen Welt zu werden und erfolgreich Wirtschaft und
Gesellschaft unseres Landes gestalten zu können. Doch
warum tun wir uns in Deutschland so schwer mit der
Digitalisierung?
VON PROF. DR. CHRISTOPH MEINEL
Grafik: pch.vector/freepik.com, Fotos: Kay Herschelmann, Lutz Hannemann
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 35
EExemplarisch können wir als Hasso-Plattner-Institut
(HPI) über das Thema Bildung berichten.
Hier beobachten wir seit über fünf Jahren,
wie Interessenkonflikte die Zielerreichung
verhindern, nämlich bestmögliche Bildung. In
Politikerreden zur Bildungspolitik war schon
vor 15 Jahren die Rede von Digitalisierung. Es
wurden Pilotprojekte durchgeführt, jedoch
ohne nachhaltigen Erfolg. Erst der DigitalPakt
Schule der Bundesregierung hat in einem nationalen
Kraftakt eine stabile Finanzierungsgrundlage
geschaffen. Das HPI wurde damals
von der Bundesregierung gebeten, eine datenschutzkonforme
digitale Lernumgebung, die
Das Hasso-Plattner-Institut überzeugt
mit einer modernen Architektur.
HPI-Schul-Cloud, zu schaffen. Doch anstatt
dieses Angebot einer einheitlichen digitalen Infrastruktur
für deutsche Schulen anzunehmen,
haben sich viele Länder auf den Weg gemacht,
eigene Lernsysteme zu entwickeln, nicht verstehend,
dass digitale Infrastrukturen nur mit
sehr vielen Nutzern effizient betrieben werden
können. Dass eine gemeinsame Infrastruktur
die Lehrmittelfreiheit gar nicht beschränken
würde, schließlich kann ja jedes Bundesland
auf einer einheitlichen Infrastruktur seine
eigenen Inhalte bereitstellen, wurde in den
Zuständigkeitsdiskussionen erstickt. So waren
die meisten Schulen schlicht nicht vorbereitet,
auf die Schulschließungen im März dieses
Jahres zu reagieren. Unkoordiniert wurden für
jedes Unterrichtsfach andere Programme installiert,
bei entsprechendem Einsatz aufseiten
der Eltern und der Lehrer manchmal sogar mit
überraschendem Erfolg.
Immerhin hier hat die Coronakrise nun
Deutschland den sprichwörtlichen Ruck gegeben.
Als die Schüler erzwungenermaßen zu
Hause saßen, ist wieder das Ausbildungsziel
Das Hasso-Plattner-Institut
aus der Vogelperspektive.
der Schulen in den Fokus getreten: Schülerinnen
und Schüler auf ihre Zukunft vorzubereiten.
Auf eine Zukunft, in der sie digitale
Kompetenzen brauchen, um sich in einer
von den digitalen Technologien immer mehr
getriebenen Welt souverän bewegen und ihr
eigenes Leben auch wirtschaftlich erfolgreich
gestalten zu können. Durch Lernplattformen
wie die HPI-Schul-Cloud können Schüler
digitale Kompetenzen erwerben, gemeinsam
an Projekten und in sozialen Netzwerken
arbeiten, wie sie es später auch im Beruf und
ihrem Sozialleben tun müssen. Sie können entdecken,
wo digitales Arbeiten Vorteile hat, wie
Immer sicher warm.
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kommen die Energiekosten, die vom individuellen Verbrauch abhängig sind. Die Details sind den Vertragsbedingungen zu entnehmen. 2) Das tatsächliche
Einsparpotential richtet sich nach den individuellen Gegebenheiten.
36
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
man Informationen recherchiert, bewertet,
aufbereitet, und sie können die Gesetze der
digitalen Welt erforschen, um mündige Bürger
dieser Welt zu werden.
Auch die letzten Digital-Verweigerer haben
durch die Krise erkannt, dass Digitalisierung
eine sehr wertvolle Ergänzung der analogen
Welt sein kann und es richtig ist, diese
in den Bildungsprozess mit einzubeziehen.
Schüler müssen die digitale Welt genau wie
die analoge verstehen lernen. Die Digitalisierung
hat eine Welt mit eigenen Gesetzen
erschaffen. Ständig anfallende Daten haben
einen erheblichen Wert, Wachstum geschieht
exponentiell, Wertschöpfung basiert auf mehr
als guter Hardware. Das Teilen von Informationen
ist kein Problem mehr. Vielmehr geht es
um die Frage, wie man das Teilen kontrollieren
kann und was man mit dem vielen verfügbaren
Wissen schaffen kann.
Ein weiterer Grund, warum Schüler ein Anrecht
auf Digitalisierung in der Bildung haben, ist
die Frage nach ihrem künftigen Wohlstand.
Selbst ohne die Coronakrise und ihre Kosten
in Billionenhöhe ist jeder Bundesbürger durch
die aktuelle Staatsverschuldung bereits mit
25.000 Euro Schulden belastet. Die Antwort
wird nicht Sparsamkeit allein sein können.
Vielmehr müssen Schüler auf die Wertschöpfung
in der digitalen Welt vorbereitet werden,
damit die global agierenden Unternehmen
der Zukunft auch in Deutschland wieder zu
Hause sind. Wir haben als alterndes Land gar
keine andere Wahl, als unseren Kindern in allen
Bereichen die bestmögliche Bildung zukommen
zu lassen. Dabei geht es insbesondere um
die Möglichkeit, die digitalen Lernprogramme
im Schulunterricht nutzen zu können. Dazu
braucht es eine sichere digitale Plattform,
von der aus diese Medien und Programme der
unterschiedlichsten Anbieter datenschutzkonform
genutzt werden können. Aus Gründen
der digitalen Souveränität in diesem zentralen
Bereich staatlichen Handelns muss eine solche
Plattform ein Open-Source-System sein.
Durch den von jedem einsehbaren Quelltext
wird sichergestellt, dass man niemals von
einem einzelnen Anbieter abhängig wird. So
entsteht mehr Vielfalt unter den Anbietern von
Lernprogrammen und so mehr Auswahl für die
Lehrer und Schüler.
Innenansicht des Potsdamer
Hasso-Plattner-Instituts.
Die Lernprogramme müssen sich weiter die Interaktionen
der Schüler genau merken, um sie
individuell fördern zu können. Diese Bildungsdaten
sind jedoch sensibel, schließlich finden
wir in ihnen die (Lern-)Stärken und (Lern-)
Schwächen des Nutzers. Die HPI-Schul-Cloud
hat es geschafft, Datenschutz zu ermöglichen,
ohne die Leistungskraft der digitalen
Systeme zu behindern: Der Zugang zu den
Lernsystemen erfolgt über eine Pseudonymisierung.
Beim Zugriff eines Schülers auf eine
Lernsoftware im Lernstore wird sein Name
in eine Chiffre XYZ verwandelt. Das Lernprogramm
kennt somit nur den Nutzer XYZ. Den
echten Namen kennen nur seine Lehrer und
Mitschüler in der HPI-Schul-Cloud. Den Lernprogrammen
reicht dies dagegen vollkommen
aus. Die personenbezogenen Daten der
Schüler sind geschützt und die Lernprogramme
können ihre Funktionalität voll entfalten.
Die Bereitstellung eines solchen sicheren
und datenschutzkonformen Raumes ist im
Bildungsbereich ein Muss.
Inzwischen hat die Bundesregierung die Mittel
bereitgestellt, dass alle Schulen die HPI-
Schul-Cloud nutzen können, noch während sie
entwickelt wird. Ohne die Coronakrise wäre es
sicher nicht dazu gekommen. Hoffentlich kann
auf der Basis dieser Erfahrungen das Klein-
Klein im deutschen Bildungssystem dauerhaft
überwunden werden. Brandenburg, Thüringen
und Niedersachsen jedenfalls machen sich auf
einen gemeinsamen Weg bei der Einführung
der HPI-Schul-Cloud. Vielleicht ergreifen auch
noch weitere Länder diese Chance.
Prof. Dr. Christoph Meinel ist seit über 15 Jahren Direktor des Hasso-Plattner-
Institutes (HPI) for Digital Engineering und seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für
Internet-Technologien und Systeme. Meinel ist u. a. Mitglied der acatech, der
Nationalen Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und Gastprofessor
an Universitäten im In- und Ausland. Das in Potsdam ansässige HPI ist das führende
Institut für Digitalisierung in Deutschland.
Grafik: pch.vector/freepik.com, Fotos: HPI/Kay Herschelmann, Dirk Laessig
Wie könnten
Büros 2030
aussehen?
Was wird dann
wichtiger sein
als heute,
was weniger?
Das sind Leitfragen,
die die 58 Autoren dieses
Buches beantworten.
Ihre Gedanken weisen
den Weg in die Zukunft
des Büros und der
Büroarbeit.
Ein wichtiges Buch
zur richtigen Zeit.
Mit Beiträgen von:
Prof. Dr. Dr. Ruth Stock-Homburg,
Prof. Dr. Wilhelm Bauer,
Prof. Dr. Dieter Lorenz, Prof. Jan Teunen,
Prof. Dr. Volker Nürnberg, Dr. Sandra Breuer,
Dr. Alexandra Hildebrandt, Dr. Christoph Quarch,
Dr. Michael Groß, Raphael Gielgen,
Samir Ayoub, Markus Albers, Fabian Kienbaum,
Anna Kopp, Kay Mantzel, Bernd Fels,
Tobias Kremkau, Christoph Magnussen,
Pia A. Döll, Ulrich Köhler und vielen mehr.
OFFICE PIONEERS
Ausblicke auf das Büro 2030
Visionen. Chancen. Herausforderungen.
Robert Nehring (Hg.)
PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin
208 Seiten, 21 x 29,7 cm
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38
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
NEUE OSTDEUTSCHE FÜHRUNGSGENERATION
„THE TIME IS NOW“ –
WENDEKINDER
ÜBERNEHMEN FÜHRUNG
BBefinden wir uns in einer Zäsur? Und haben
ostdeutsch sozialisierte Betrachter*innen
aufgrund ihrer Transformationserfahrung
von 1989 eine besondere Antwort auf den
Umgang mit abrupten Veränderungen wie
jener der Coronapandemie? Für wen es der
erste Stillstand des Gewohnten ist, der mag
besonders überrascht sein und seine Vulnerabilität,
seine Verletzlichkeit spüren. Wer
Krise erlebt hat und kennt, mag einen weniger
großen Überraschungseffekt spüren und
schnell wieder in die Handlung gehen können.
Ostdeutsche Führungskräfte zeigen derzeit
gemeinsam mit deren Mitarbeiter*innen ihren
vitalen Beitrag zur Bewältigung der Coronakrise.
Denn unabhängig davon, ob in den 1950er-,
1960er-, 1970er- oder 1980er-Jahren in der
DDR Geborene – die Macher*innen der ostdeutschen
Transformationsgesellschaft und
deren Kinder, die Wendekinder, vereint eine biografische
Erfahrung des Wandels, welche zu einer
relevanten Kompetenz erwachsen ist: einer
„Transformationskompetenz“ (Lettrari/Nestler/
Porath 2020). Diese beschreibt die Fähigkeit,
Veränderungen mit einer veränderungsfreudigen
Haltung und Change-Instrumenten
bewusst zu managen. Sie findet augenblicklich
Anwendung im generationenübergreifenden
täglichen „Tun“. In dieser Krise, in welcher die
Wendekinder nicht mehr Kinder sind, sondern
in der in Organisationen verantwortungsvolle
Führungsaufgaben übernehmen, findet ein
produktiver Generationendialog statt, welcher
besser hätte nicht eingeleitet werden können.
Junge digitale Kompetenz trifft auf langjährige
analoge Berufserfahrung und wird in Zeiten
von konstantem Wandel gemeinsam neue Antworten
hervorbringen, welche die ostdeutsche
Wirtschaft weiterhin benötigt.
Die Generation der Wendekinder wird in dieser
Zukunft eine bedeutsame Rolle spielen. An der
Hand ihrer Eltern haben sie in jungen Jahren
einen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen
Wandel sui generis erlebt und waren
in hohem Maße sehr bald auch selbstständig
gefordert, sich in der „neuen Welt“ zu behaupten.
Denn der Elitenwechsel in der Elterngeneration
sorgte in jugendlichen Jahren für einen
oftmals hierarchiefreien Raum, welcher konstruktiv
gefüllt werden wollte: Ideen und Aktion
Fotos: scholty1970 /pixabay.com, W+M/Ralf Succo,
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 39
waren gefragt. In den meisten Fällen war ihr
Weg nach dem Schulabschluss verknüpft mit
Abwanderung, und Bildungsaufstieg begleitet
mit einer, manchmal diffusen, heimatlichen
Sehnsucht. Das Ergebnis dieser sehr besonderen
Form des Aufwachsens, in der ein
anderes Land in das eigene kam, mündet
entwicklungspsychologisch betrachtet in einer
„doppelten Sozialisation“ (Lettrari/Nestler/
Troi-Boeck 2016), ähnlich derer von Diplomatenkindern
(„Third Culture Kids“, Pollock 1999):
Sie können sich zwischen verschiedenen
Welten mühelos bewegen.
In jüngster Zeit erfreuen sich Ostdeutschland
und vor allem die Elterngeneration an den
hohen Rückwanderungsraten der Wendekinder.
Sie sind wieder da und „The Time is now“:
Jetzt ist die Zeit gekommen, wo sie anwenden
und zeigen können, was ihre Biografie so
besonders macht. Denn nach Aristoteles heißt
„Krise“ ganz schlicht: „Hier entscheidet sich
etwas. Die Krise ist der Weg entweder zur
Genesung oder in den Untergang, den Tod.“
In diesem Sinne ist „Krise“ ein Begriff, der die
Adriana Lettrari, Gründerin des
Netzwerks 3te Generation Ost.
Zeit unterteilt in ein Davor und ein Danach. Wie
das Danach und damit auch die wirtschaftliche
Zukunft Ostdeutschlands aussehen wird,
darauf kommt es jetzt an. Die ostdeutschen
Führungskräfte mit ihren Nachfolgern, den
Wendekindern, werden sie gemeinsam hervorbringen.
Für die Wendekinder in ihrer Lebensmitte
bedeutet dies in jedem Fall einen inneren
Wechsel vom Zuschauen zur Verantwortungs-
und damit Machtübernahme. Die Zeit dafür ist
jetzt gekommen.
Lesen Sie
den ausführlichen
Beitrag online
LITERATUR
Lettrari, Adriana/Nestler, Christian/
Porath, Jane (2020): Wendekinder
in der Berliner Republik und Europa.
Transformationskompetenz – eine
etymologische, transdisziplinäre
Exploration. In: Benkert, Volker
(Hrsg.): Unsere Mütter, unsere
Väter. Deutsche Generationen seit
1945. Campus Verlag, Frankfurt
am Main/New York.
Lettrari, Adriana/Nestler,
Christian/Troi-Boeck, Nadja
(Hrsg.) (2016): Die Generation
der Wendekinder – Elaboration
eines Forschungsfeldes. Springer
VS-Verlag, Wiesbaden.
Pollock, David C.: (2017): Third
Culture Kids: The Experience of
Growing Up Among Worlds
40
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
„UNSERE LÄNDER
WERDEN GESTÄRKT
AUS DER KRISE
HERVORGEHEN,
WEIL …“
Die Coronapandemie hat auch die neuen Bundesländer und Berlin nicht
verschont. In jedem dieser Länder wurden und werden große Anstrengungen
unternommen, Wege aus der Krise zu finden. Landespolitik und Unternehmen
arbeiten dabei eng zusammen.
WIRTSCHAFT+MARKT bat die Ministerpräsidenten der fünf neuen Länder –
Dr. Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt), Michael Kretschmer (Sachsen), Bodo Ramelow
(Thüringen), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) und
Dr. Dietmar Woidke (Brandenburg) – sowie Berlins Regierenden Bürgermeister
Michael Müller um Erläuterungen, wie sie ihre Länder aus dem Tal der Krise
und in eine hoffnungsfrohe Zukunft führen wollen. Lesen Sie die Namensbeiträge
der sechs Regierungschefs auf den folgenden Seiten.
Foto: XXX
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 41
Bodo Ramelow
(Thüringen, Die LINKE)
Manuela Schwesig
(Mecklenburg-Vorpommern, SPD)
Michael Müller
(Berlin, SPD)
Dr. Reiner Haseloff
(Sachsen-Anhalt, CDU)
Foto: Fotos: XXX Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern (1), Staatskanzlei Freistaat Sachsen (1), W+M (4)
Michael Kretschmer
(Sachsen, CDU)
Dr. Dietmar Woidke
(Brandenburg, SPD)
42
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
„UNSER LAND –
EIN WIRTSCHAFTS
STANDORT MIT
HOHER TECHNOLOGIE
KOMPETENZ“
Von Dr. Reiner Haseloff (CDU),
Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt
DDie Coronakrise hat auch in Sachsen-Anhalt
Wirtschaft und Gesellschaft schwer getroffen.
Niemand konnte damit rechnen, dass ein Virus
unseren Alltag auf den Kopf stellen würde. Es
gab keine Alternative dazu, die Priorität auf
den Schutz der Gesundheit zu legen und die
notwendigen Maßnahmen zu treffen. Das
Infektionsgeschehen in den Bundesländern
ist sehr unterschiedlich. Deshalb ist es richtig,
die Einschränkungen den Verhältnissen in den
Regionen anzupassen.
Die beispiellosen Rettungspakete des Bundes
und des Landes haben die Folgen der Coronapandemie
für die Wirtschaft Sachsen-Anhalts
zumindest etwas gedämpft. Allein im Rahmen
der Corona-Soforthilfe sind durch Bund und
Land Zuschüsse von insgesamt 290 Millionen
Euro an rund 37.000 Antragsteller in Sachsen-
Anhalt bewilligt worden. Gemessen an der
Dimension haben wir die Krise bisher gut bewältigt.
Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass
wir gestärkt aus ihr hervorgehen werden. Dazu
gehören das stabile Wachstum in den letzten
Jahren und unsere inzwischen breit aufgestellte
Wirtschaft. Zudem sind in Sachsen-Anhalt
Bereiche überproportional vertreten, die
weniger stark von der Krise betroffen sind. Das
betrifft beispielsweise das Baugewerbe und
öffentliche Dienstleister. Die Krise zwingt uns
noch mehr als zuvor, uns auf die wesentlichen
Aufgaben zu konzentrieren. Das betrifft die
Gestaltung des Strukturwandels im Kohlerevier
und die konsequente Fortsetzung der
Forschungs- und Investitionsförderung. Allein
zwischen 2016 und 2019 wurden Unternehmensinvestitionen
mit rund 360 Millionen Euro
bezuschusst. Infrastrukturvorhaben wurden
mit weiteren 235 Millionen Euro unterstützt.
In den vergangenen Jahren sind wichtige
innovative Zentren im Land entstanden.
Sachsen-Anhalt wird immer mehr zu einem
Land der Zukunftstechnologien. Ein herausgehobenes
Beispiel unserer „Zukunftsorte“ ist
der Weinberg Campus in Halle, wo nicht nur
an Zukunftsthemen geforscht wird, sondern
auch neue Unternehmen und hochwertige
Arbeitsplätze entstehen. Ansässige Unternehmen
beschäftigen sich auch mit Projekten
im Zusammenhang mit der Coronapandemie,
beispielsweise in der Wirkstoffforschung, oder
sie sind an der Entwicklung eines Schnelltests
beteiligt. Die BioNTech Delivery Technologies
GmbH ist ein Tochterunternehmen des Mainzer
Impfstoffherstellers BioNTech.
Außerdem arbeiten wir in Sachsen-Anhalt
tatkräftig an der Gestaltung der Mobilitätsund
Energiewende mit. So plant die japanische
Horiba-Gruppe, ihren Standort in Barleben bei
Magdeburg zu einem globalen Kompetenzzen-
Dr. Reiner Haseloff
trum für Brennstoffzellen und Batterien auszubauen.
Zudem wollen wir Mitteldeutschland
zu einer Wasserstoff-Modellregion gestalten.
Nach wie vor gelingt es uns aber auch, in- und
ausländische Großunternehmen für eine Investition
in Sachsen-Anhalt zu gewinnen. So
hat die Progroup GmbH in Sandersdorf-Brehna
die weltweit modernste Papierfabrik
errichtet. In Bitterfeld-Wolfen will der global
führende Batteriehersteller Farasis Energy
eine Batterie-Fabrik bauen. In Leuna wird
eine Bioraffinerie des finnischen UPM-Konzerns
entstehen.
Für die Investoren ist Sachsen-Anhalt nicht
nur wegen seiner Flächenpotenziale und
Fördermöglichkeiten attraktiv. Sie nehmen
unser Land längst als Wirtschaftsstandort
mit hoher Technologiekompetenz wahr. Das
wird flankiert von großer Lebensqualität und
reichen Kulturangeboten.
Foto: XXX W+M
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 43
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Foto: XXX
44
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
„UNSERE
UNTERNEHMER
LASSEN SICH NICHT
UNTERKRIEGEN“
Von Michael Kretschmer (CDU),
Ministerpräsident des Freistaates Sachsen
DDie Coronapandemie hat rund um den Globus
große wirtschaftliche Verwerfungen hervorgerufen.
Auch bei uns sind die Auswirkungen
enorm. Blickt man über die Landesgrenzen
hinaus, ist dennoch klar: Deutschland ist
bislang vergleichsweise gut durch diese Krise
gekommen.
Zu tun hat das mit unserer wirtschaftlichen
Stärke. Mit einer Bevölkerung, die den Ernst
der Lage schnell erkannt hat und sich bis heute
mehrheitlich verantwortungsvoll verhält. Zu
tun hat das sicherlich auch mit einer entschlossenen
und umsichtigen Politik im Bund
und in den Ländern. Verantwortlichen, die auf
Michael Kretschmer
die Wissenschaft hören. Und die, wie wir dies
in Sachsen sehr intensiv tun, immer wieder
den Austausch suchen mit denen, die von den
einschränkenden Maßnahmen betroffen sind.
Wir werden die ökonomischen Auswirkungen
auch in Sachsen noch längere Zeit spüren. Es
gibt dennoch gute Gründe, zuversichtlich zu
bleiben. So hat der Bund ein gewaltiges Konjunkturprogramm
beschlossen, das nicht zuletzt
Unternehmen entlastet und stärkt. Darin
sind viele wichtige und sinnvolle Maßnahmen
enthalten. Richtig ist aber auch, dass es gilt,
Maß zu halten und uns immer bewusst zu sein,
dass der Staat mit solchen Programmen das
Geld der Bürger ausgibt.
Ergänzt wird das Bundesprogramm durch ein
milliardenschweres europäisches Wiederaufbauprogramm,
von dem auch Sachsen
profitiert. Helfen wird uns auch, dass wir
endlich eine solide Rechtsgrundlage und eine
Zukunftsperspektive für unsere Braunkohle-
Regionen haben. Auch hier fließen Milliarden.
Das eröffnet den Regionen einmalige Chancen
für eine neue Gründerzeit.
Optimistisch stimmt mich vor allem, dass
sich die Unternehmerinnen und Unternehmer
bei uns nicht unterkriegen lassen. Dass
sie Mut beweisen und gemeinsam mit ihren
Beschäftigten die Dinge anpacken. Sachsen
unterstützt und flankiert dies. Wir waren das
erste Bundesland mit einem Hilfsprogramm
für die Wirtschaft. Dieses haben wir mittlerweile
ausgeweitet: Mehr als eine Milliarde Euro
stehen für die Sicherung von Unternehmen
und Beschäftigung bereit. Schwerpunkt ist ein
Stabilisierungsfonds mit einem Volumen von
bis zu 400 Millionen Euro. Damit wollen wir
gerade den Mittelstand stärken. Wir greifen
zudem jungen Start-ups unter die Arme, damit
vielversprechende Projekte und Innovationen
trotz Corona gedeihen können.
Wir haben in Sachsen ganz bewusst Vorsorge
getroffen, um die Corona-Folgen abzumildern.
So sorgen wir – gemeinsam mit dem
Bund – auch dafür, dass unsere Kommunen
trotz zu erwartender Steuerausfälle finanziell
handlungsfähig bleiben. Denn nur so können
sie weiter investieren und Aufträge vergeben,
die gerade auch für die regionale Wirtschaft
wichtig sind. All das sorgt für Wachstumsimpulse
und Aufschwung.
Sachsen hat in den vergangenen Jahren
und Jahrzehnten große Herausforderungen
gemeistert – und sich seit seiner Wiedergründung
vor 30 Jahren wirtschaftlich unglaublich
erfolgreich entwickelt. Dabei war die Ausgangssituation
nach dem Mauerfall und der
deutschen Wiedervereinigung alles andere als
einfach. Auch deshalb bin ich voller Zuversicht,
dass es uns gemeinsam gelingt, die aktuelle
Bewährungsprobe zu bestehen.
Foto: XXX
Foto: Staatskanzlei Freistaat Sachsen
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 45
„BERLIN ALS DIGITALES
ZENTRUM UND INNOVA
TIONSMOTOR WIRD AUCH
WEITER ZUKUNFTS
IMPULSE SETZEN“
Von Michael Müller (SPD),
Regierender Bürgermeister von Berlin
Foto: XXX Laurence Chaperon
UUnser Land wird gestärkt aus der Coronakrise
hervorgehen, weil Berlin langfristig von
seinen Standortfaktoren profitiert – und weil
die letzten Monate gezeigt haben, dass wir
in schwierigen Phasen als Gemeinwesen zusammenstehen.
Die Berlinerinnen und Berliner
lassen sich nicht unterkriegen – auch wenn die
Herausforderungen enorm sind.
Corona hat die Berliner Wirtschaft in vollem
Lauf und in der ganzen Breite getroffen:
Die Dienstleistungsbranche mit den vielen
Selbstständigen, das Hotel- und Gaststättengewerbe
und die Kultur gehören überall zu
den besonders betroffenen Branchen – für
Berlin waren sie vor der Krise wichtige Säulen
der guten wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin
hat deshalb bereits zu Beginn der Krise einen
Schutzschirm gespannt und unbürokratische
Hilfe zur Überbrückung geleistet, früher als
andere Länder oder der Bund.
Mit unseren Soforthilfeprogrammen,
Zuschüssen und Liquiditätshilfen, insbesondere
für Soloselbstständige und kleine
bis mittelgroße Unternehmen, haben wir als
Bundesland einen wichtigen Beitrag zum
Erhalt unserer Wirtschaftsstruktur geleistet.
Allein die nicht rückzahlungspflichtigen
Soforthilfen wurden weit über 200.000 Mal
in Anspruch genommen. Mit den jüngeren
Unterstützungsprogrammen beschreiten
wir einen anderen Weg und fördern gezielt
nachhaltige Investitionen und Maßnahmen zu
Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Gesundheit,
Wissenschaft oder Mobilität.
Eines hilft uns dabei jetzt und für die Zukunft –
die Entwicklung Berlins in den letzten Jahren
war eine nachhaltige, die wichtigen Standortfaktoren
unserer Stadt haben Bestand: eine
vielfältige Wirtschaftsstruktur mit großen
Industrieunternehmen und innovativen Startups,
ein einzigartiges Umfeld aus Universitäten
und Forschungseinrichtungen, und auch
eine international sichtbare Kulturszene, die
Gäste aus aller Welt anzieht und zur enormen
Attraktivität Berlins als Arbeits-, Wohn- und
Lebensort beiträgt.
Es ist daher kein Zufall, dass in den letzten
sechs Jahren 270.000 Menschen nach Berlin
gekommen sind. Es ist kein Zufall, dass Berliner
Universitäten bei der Exzellenzinitiative
des Bundes führend sind und hier massiv
in Institute und Forschungseinrichtungen
investiert wird – beispielsweise in das Naturkundemuseum
(600 Millionen Euro) oder das
Deutsche Herzzentrum (400 Millionen Euro).
Und es ist kein Zufall, dass Unternehmen wie
Bayer, Siemens oder Tesla hohe dreistellige
Millionenbeträge in Berlin und die Region
Michael Müller
investieren. Dies alles passiert, weil mit Berlin
eine konkrete Zukunftsvision verbunden ist,
weil es hier optimale Rahmenbedingungen für
Innovationen gibt. Mit gezielter Schwerpunktsetzung
fördern wir diese Entwicklung seit
Langem; auch, indem wir die dafür passenden
Orte entwickeln – wie seit Jahren schon das
Technologiezentrum Adlershof, seit letztem
Jahr die Siemensstadt 2.0 oder in Zukunft die
Urban Tech Republic, die auf dem Gelände des
Flughafens Tegel entstehen wird.
Berlin als digitales Zentrum und Innovationsmotor
Deutschlands, Start-up-Hauptstadt
und internationaler Leuchtturm im Bereich
Wissenschaft und Forschung wird daher
auch weiter Zukunftsimpulse setzen – und
gemeinsam mit den anderen ostdeutschen
Ländern ein wichtiger Standort auf dem Weg
zur Industrie 2.0 werden.
46
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
„GEMEINSAM MIT NEUEN
STRATEGIEN IN DIE
ZUKUNFT. KOPF HOCH,
NICHT DIE HÄNDE!“
Von Bodo Ramelow (Die LINKE),
Ministerpräsident des Freistaates Thüringen
TThüringen wird gestärkt aus der Krise hervorgehen,
weil die Menschen hier aus dem (lehr-)
reichen Schatz der Transformationserfahrungen
der Nachwendezeit schöpfen können, um
auch die gegenwärtige Situation gemeinsam
zu meistern.
Thüringen ist seit Jahren ein Eldorado für
kleine, eigentümergeführte, mittelständische
Unternehmen, die sich durch eine immense
Innovationskraft und -freudigkeit auszeichnen.
Diese Fähigkeit, mutig auf grundstürzende
wirtschaftliche und gesellschaftliche
Wandlungen reagieren zu können, hat in
der Krise viele Firmen gerettet. Um nur ein
Beispiel unter vielen herauszugreifen: Das
Breckle Matratzenwerk Weida GmbH hat
sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten
einen Ruf als hochwertiger Matratzenproduzent
erarbeitet. Als COVID-19
im Februar zunächst nur in Ansätzen als
Menschheitsproblem am Horizont erschien,
hat das Unternehmen in rasantem Tempo
einen Teil seiner Produktion auf die Herstellung
von Mund-Nasen-Schutzbedeckungen
umgestellt – zunächst im rein händischen,
seit Kurzem auch im maschinellen Verfahren.
Über 600.000 FFP2- und fünf Millionen
OP-Masken sollen Monat für Monat das Werk
in Weida verlassen.
Dass solch ein Kraftakt gelingen kann, setzt
ein großes Vertrauen zwischen Belegschaft
und Geschäftsführung voraus. Dieses Band,
das seit jeher in kleinen Unternehmen besonders
eng ist, hat sich auch unter COVID- 19-
Bedingungen als belastbar erwiesen. Dabei
ereignet sich das aktuelle Geschehen in einer
besonders sensiblen Zeit für viele Thüringer
Unternehmen. Die Generation derjenigen, die
nach 1989 quasi über Nacht lernen mussten,
als Selbstständige zu agieren, verabschiedet
sich in den wohlverdienten Ruhestand. Sie
übergibt den Staffelstab an Nachfolgerinnen
und Nachfolger, die oft bereits als „Gesamtdeutsche“
aufgewachsen sind und für die
Digitalisierung oder „Wirtschaft 4.0“ wie selbstverständlich
zum Alltag gehören. In dieser
Situation des Überganges, in der sich die
Lebenserfahrungen der „Alten“ mit den Ideen
der „Jungen“ überlagern, hat sich COVID-19
in manch einem Fall als Durchlauferhitzer für
industrielle Innovation erwiesen.
Besonders hart hat die Pandemie Tourismus,
Gastronomie und die Veranstaltungswirtschaft
getroffen. Und doch: Auch hier haben
verschiedene Akteure alle Kräfte gebündelt
und sich gemeinsam neue Wege durch die
Krise gebahnt. Stellvertretend seien hier die
Veranstalter des Sonne-Mond-und- Sterne-
Festivals (SMS) an der Bleichlochtalsperre
genannt. Ihr SMS kann in 2020 aufgrund der
Hygieneschutzmaßregeln nicht stattfinden –
ökonomisch ein echter Super-Gau. Und was taten
sie? Das Festivalgelände in einen riesigen
Caravan-Platz mit Food-Trucks und Strand
umbauen. Ja, es ist nicht dasselbe – aber es
ist ein bewundernswerter und durchaus auch
lukrativer Versuch, wieder Boden unter die
Füße zu bekommen.
Breckle und das SMS stehen stellvertretend
für all diejenigen Gewerbetreibenden, die in
den vergangenen Monaten Hürden überwunden
haben, die in ihrer Höhe durchaus mit
denen der Nachwendezeit vergleichbar sind.
Sie alle sorgen dafür, dass Thüringen gestärkt
aus dem Tal namens COVID-19 hervorgehen
wird. Dabei können sie auf die Unterstützung
der Landesregierung bauen. Mein Motto: gemeinsam
mit neuen Strategien in die Zukunft.
Kopf hoch, nicht die Hände!
Bodo Ramelow
Foto: XXX W+M
Foto: XXX
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 47
48
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
„GESUNDHEIT SCHÜTZEN
UND IN DIE ZUKUNFT
INVESTIEREN“
Von Manuela Schwesig (SPD),
Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern
EEigentlich wollten wir in diesem Jahr Jubiläum
feiern: In den vergangenen 30 Jahren haben die
Menschen in Mecklenburg-Vorpommern eine
Diktatur überwunden, einen tief greifenden
Wandel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
verkraftet, Arbeitsplätze geschaffen,
das Land schöner und moderner gemacht –
mit besten Chancen für die Zukunft. Man kann
sagen: Wir können mit Krisen umgehen. Aber
das Coronavirus konnten und können wir so
wenig gebrauchen wie jede andere Region auf
der Welt. Corona hat den Alltag der Menschen
auf den Kopf gestellt. Viele Unternehmen
sehen ihre Existenz bedroht und wissen nicht,
wie lange die Krise noch dauern wird. Das Virus
kostet Wachstum und Arbeitsplätze. Und es
Manuela Schwesig
zwingt die Politik zu einem Spagat: Wir müssen
die Gesundheit schützen, der Wirtschaft durch
die Krise helfen und in die Zukunft investieren.
Mecklenburg-Vorpommern ist weniger vom
Coronavirus betroffen als andere Bundesländer.
Weniger Menschen haben sich angesteckt,
weniger sind gestorben. Das liegt auch
daran, dass alle mitgezogen haben. Bürgerinnen,
Bürger und Unternehmen haben strenge
Einschränkungen und Schutzmaßnahmen
akzeptiert. Für die Landesregierung ist es
wichtig, ihr Vorgehen mit den Unternehmen,
den Wirtschaftsverbänden, den Gewerkschaften
und den Kommunen zu beraten.
Früher als andere Bundesländer hat Mecklenburg-Vorpommern
zudem einen MV-Schutzfonds
aufgelegt, der Betrieben, aber auch
Kulturschaffenden und sozialen Einrichtungen
Überbrückungsmöglichkeiten für coronabedingte
Einnahmeausfälle bietet. In der Krise
ist das Land zusammengerückt.
Wir unterstützen große Unternehmen wie
die Werften ebenso wie die vielen kleinen und
mittelständischen Betriebe, die das Rückgrat
der Wirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns
bilden, ob im Tourismus, in der Lebensmittelproduktion
oder in der Gesundheitswirtschaft.
Wir wollen, dass alle Unternehmen und alle
Arbeitsplätze gut durch die Krise kommen.
Gleichzeitig halten wir an den Investitionen in
den nächsten Jahren fest: vom Breitbandausbau
über die beitragsfreie Kinderbetreuung
bis zur Verbesserung der Finanzausstattung
der Kommunen. Auch Zukunftstechnologien
wie die Wasserstoffwirtschaft können
mit Unterstützung des Landes rechnen. Der
MV-Schutzfonds und die dafür notwendige
Kreditaufnahme sind möglich, weil Mecklenburg-Vorpommern
viele Jahre lang solide
gewirtschaftet und seit 2006 keine neuen
Schulden mehr gemacht hat. In der Krise ernten
wir die Früchte guter Arbeit: Wir verbinden
Krisenhilfe mit Zukunftsinvestitionen.
Dies alles aber setzt eines voraus: Alle müssen
weiter vorsichtig sein. Mecklenburg-Vorpommern
hat die Hauptsaison im Tourismus und
den Start des neuen Schul- und Kitajahrs ohne
einen großen Anstieg der Infektionszahlen
bewältigt. Ende August können wir sagen: Wir
haben Corona im Griff. Aber das Virus mit all
seinen Gefahren ist immer noch da, und eine
weitere Zeit strenger Einschränkungen wäre
für den Alltag der Menschen schwer erträglich
und für die Wirtschaft fatal. Es hängt von uns
allen ab: Je besser wir uns im Alltag schützen,
desto weniger Infektionen wird es geben.
Desto normaler können wir leben, desto freier
können wir wirtschaften. Wenn wir weiter
aufeinander achten, die Regeln einhalten und
zusammenhalten, dann können wir gestärkt
aus der Coronakrise herauskommen.
Foto: XXX Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 49
„VERÄNDERUNGEN
SIND FÜR UNS
NICHTS NEUES“
Von Dr. Dietmar Woidke (SPD),
Ministerpräsident von Brandenburg
Foto: XXX W+M
VVor einigen Wochen habe ich in Strausberg
im Osten Brandenburgs einen Hersteller für
Mikroelektronik besucht. Ich habe mich durch
die Produktion führen lassen, habe mit der
Geschäftsführung und vielen Beschäftigten
gesprochen und natürlich gefragt, wie das
Unternehmen bisher durch die Coronakrise
gekommen ist. Die Antwort war ganz
einfach: „Gut.“ Nach einem anfänglichen Einbruch
der Umsatzzahlen hat das Unternehmen
darauf gesetzt, die Produktion schnell
auf Desinfektionsmittel zum Selbstkostenpreis
umzustellen.
Das hat funktioniert und wurde von den Kundinnen
und Kunden begeistert aufgenommen.
Der Umsatz stabilisierte sich, das Unternehmen
brauchte keine öffentlichen Hilfen und
mir wurde – nicht ohne Stolz – berichtet,
dass mittlerweile sogar ein neuer Mitarbeiter
eingestellt wurde.
Natürlich ist das nur ein Beispiel. Nicht jede
Firma kann so schnell und flexibel reagieren,
manche Wege sind steiniger. Aber dennoch:
Solche modernen, innovativen Firmen gibt es
viele bei uns. Und der Besuch hat mir gezeigt,
dass wir auch deshalb bisher gut durch
die Krise gekommen sind, weil wir schnell
handeln. Weil wir flexibel sind. Vielleicht
auch, weil Veränderungen für uns nichts
Neues sind.
Unsere Wirtschaftsstruktur mit vielen kleinen
und mittleren Unternehmen kommt uns dabei
zugute. Und wir ziehen besonders aus den
letzten 30 Jahren die Kraft, dass wir bisher
noch jede Krise gemeistert haben. Das gilt
auch für die Pandemie – die nicht zu Ende ist,
sondern die uns weiter begleiten wird. Wir haben
früh deutlich gemacht, dass wir um jeden
Arbeitsplatz kämpfen werden. Mit beispiellosen
Unterstützungsmaßnahmen für unsere
Wirtschaft und die Menschen.
Ohnehin stecken wir in einem Transformationsprozess,
der mit der Pandemie gar nichts
zu tun hat. Im Sommer hat der Bundestag
das Kohleausstiegs- und das Strukturstärkungsgesetz
beschlossen. Für uns bedeutet
das, dass wir die Lausitz als leistungsstarke
und lebenswerte Region, als Modellregion für
Klimaschutz und Wirtschaftswachstum gestalten
wollen. Die Gesetzgebung des Bundes
setzt dafür den wichtigen Rahmen.
Neben diesen beiden Punkten – unserer
Wirtschaftsstruktur, die Innovationen fördert,
und dem Wandel, den wir ohnehin gemeinsam
bewältigen – gibt es noch einen Faktor,
der uns hilft: Unternehmen, die erkennen,
dass es bei uns die Bedingungen gibt, unter
denen man ganz hervorragend etwas Neues
aufbauen kann. Der Autohersteller Tesla baut
bei uns die erste europäische Gigafactory. Und
Dr. Dietmar Woidke
die BASF baut in Schwarzheide eine hochmoderne
Batteriematerialproduktion auf. Diese
Schlüsselinvestitionen ziehen viele andere
nach sich und sorgen für sichere Arbeitsplätze
für die Zukunft.
Im 30. Jahr der deutschen Einheit gibt es also
nicht nur einen Grund, warum Brandenburg
auch aus der Coronakrise gestärkt hervorgehen
kann – es gibt viele. Trotz der weiterhin
aktuellen Gefahr durch die Pandemie können
wir mit Optimismus in die Zukunft sehen.
Das haben wir in diesem Jahr auch bei der
EinheitsEXPO im September und den Feiern
zum 30. Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober
in Potsdam gezeigt. Und wir haben uns
gefreut, dass wir viele Gäste bei uns begrüßen
konnten – unter anderen Bedingungen als
geplant, aber mit nicht geringerer Freude über
diesen Jahrestag!
50
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
INVESTITIONS-
BOOM ZWISCHEN
ROSTOCK UND ERFURT
Die neuen Bundesländer und Berlin
sind in den letzten Jahren mehr und
mehr in den Blick in- und ausländischer
Investoren geraten. Das liegt
vor allem auch an den guten Rahmenbedingungen
– vergleichsweise
günstige Grundstückspreise sowie
gut ausgebildete Fachkräfte – und
an der Förderpolitik der Länder, die
Investoren den roten Teppich ausrollen.
Während man in Berlin stolz
darauf ist, dass das Traditionsunternehmen
Siemens einen kompletten
Campus errichtet und die Hauptstadt
ihr Image als Start-up-Hochburg
ausbaut, haben die fünf Flächenländer
unterschiedlichste Investoren
angeworben.
VON KARSTEN HINTZMANN
Grünheide wird der Standort der neuen Tesla-Gigafactory.
Brandenburg
und die Chance auf weitere Ansiedlungen
Die Top-Ansiedlung des Jahres 2019: Der
von Zulieferunternehmen im Tesla-Umfeld
US-Konzern Tesla entschied sich für Grünheide verbunden. Die Ansiedlung katapultierte
(Landkreis Oder-Spree) als Standort für seine den Standort Brandenburg in die Champions
europäische Gigafactory. Mit dieser Ansiedlung
sind mehrere Tausend neue
League der Elektromobilität.
Arbeitsplätze
Foto: Blomst/pixabay.com, Grafik: dgim-studio/freepik.com, starline/freepik.com
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 51
Das japanische Ernährungswirtschaftsunternehmen
Fuji Oil errichtet in Golßen (Landkreis
Dahme-Spreewald) eine Produktionsanlage
für Nahrungsergänzungsmittel. Damit verbunden
sind ein Investitionsvolumen von 15 Millionen
Euro und bis zu 21 neue Arbeitsplätze.
Das britische Unternehmen Oxford PV Germany
errichtete in Brandenburg an der Havel
2017 eine Produktionsstätte für neuartige
Dünnschicht-Photovoltaik-Zellen mit 24 neuen
Arbeitsplätzen. 2019 erweiterte Oxford PV
den Standort bereits.
Oxford PV Germany produziert seit 2017 Dünnschicht-Photovoltaik-Zellen in Brandenburg an der Havel.
Großansiedlung in Ludwigsfelde (Landkreis
Fotos: minthu/pixabay.com, Oxford PV Germany, Tradebe, Karls
Teltow-Fläming): Die Deutsche Post DHL
Group investiert 92 Millionen in die Errichtung
eines zentralen Paketzentrums und schafft
damit 600 neue Arbeitsplätze.
Das japanische Unternehmen Yamaichi
Electronics baut in Frankfurt (Oder) eine neue
Betriebsstätte für die Fertigung elektromechanischer
Bauteile, Kabelkonfektionen
sowie Baugruppen. Damit verbunden sind ein
Investitionsvolumen von nahezu 13 Millionen
Euro und 137 Arbeitsplätze.
Die österreichische Firma Hamburger Rieger
errichtet in Spremberg (Landkreis Spree-Neiße)
eine zweite Papierfabrik. Damit verbunden
sind ein Investitionsvolumen von 370 Millionen
Euro und 200 Arbeitsplätze.
Papier wird nun auch in Spremberg
durch Hamburger Rieger hergestellt.
Das Schweizer Unternehmen Endress+Hauser
siedelt in Stahnsdorf (Landkreis Potsdam-Mittelmark)
150 Arbeitsplätze zur Herstellung von
Hightech-Systemen zur Druckmessung in der
Verfahrenstechnik an.
In Schwarzheide (Landkreis Oberspreewald-Lausitz)
siedelt sich das spanische
Umwelttechnik-Unternehmen Tradebe an, das
auf die Rückgewinnung von Lösungsmitteln
aus industriellen Produktionskreisläufen spe-
zialisiert ist. Damit verbunden sind zunächst
17 Arbeitsplätze und ein Investitionsvolumen
von gut 10 Millionen Euro.
Umwelttechnik-Unternehmen Tradebe
eröffnet einen Standort in Schwarzheide.
Mecklenburg-Vorpommern
Die weltweit agierende Ypsomed AG eröffnete
mit ihrer Tochtergesellschaft YpsoMed
Produktion GmbH 2019 einen Produktionsstandort
in Schwerin. Auf einer Fläche von
19.000 Quadratmetern entstehen Bauteile für
Pens, Autoinjektoren und Pumpensysteme.
Ziel ist es, am neuen Produktionsstandort
jährlich bis zu 10 Millionen Infusionssets herzustellen.
Diese verbinden die Insulinpumpe
mit dem Körper und fördern das Insulin. Mit
dem Injektionspens können sich Menschen mit
chronischen Erkrankungen flüssige Medikamente
subkutan verabreichen. Rund 150
neue Arbeitsplätze sollen in den kommenden
Jahren entstehen. Das Gesamtinvestitionsvolumen
des Vorhabens in Schwerin beträgt 81,1
Millionen Euro. Das Wirtschaftsministerium
unterstützt das Vorhaben mit einem Investitionszuschuss
in Höhe von 9,75 Millionen Euro.
Das Unternehmen AKKU SYS Akkumulator
und Batterietechnik hat am Pommerndreieck
(Gemeinde Süderholz, Landkreis Vorpommern-Rügen)
einen Produktions- und Logistikstandort
eröffnet. Der neue Standort des
Unternehmens umfasst neben dem Lager und
der Akku- und Batteriepack-Konfektionierung
auch die Produktion von Gabelstaplerbatterien.
Geplant sind 30 Arbeitsplätze am neuen
Standort. Die Gesamtinvestitionen des Unternehmens
für die Neuansiedlung betragen rund
3,7 Millionen Euro. Das Wirtschaftsministerium
unterstützt das Vorhaben mit rund 1,3
Millionen Euro.
Die Unternehmensgruppe „Karls“ hat ihren Sitz
vor den Rostocker Stadttoren in Rövershagen.
Kerngeschäft des Familienunternehmens ist
der Anbau von Erdbeeren auf heute rund 410
Hektar Land. Der anschließende Verkauf von
Erdbeeren erfolgt an rund 450 Verkaufsständen.
Jährlich werden nach Unternehmensangaben
bis zu 8.000 Tonnen geerntet und etwa
sechs Millionen Gläser Marmelade verkauft.
Zuletzt hat das Unternehmen in Koserow auf
Usedom investiert und ein weiteres Erlebnis-Dorf
eröffnet. Die Gesamtinvestitionen
des Vorhabens betrugen rund 8,1 Millionen
Euro. Das Wirtschaftsministerium flankierte
das Vorhaben aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ (GRW) in Höhe von rund
1,6 Millionen Euro.
Das neueste Karls-Erlebnisdorf in Koserow.
Das familiengeführte Unternehmen PALM-
BERG Büroeinrichtungen + Service GmbH aus
Schönberg (Landkreis Nordwestmecklenburg)
hat sich seit seiner Gründung zu einem
gefragten Anbieter in der Büromöbelindustrie
52
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
Moderne Büroeinrichtungen von PALMBERG Büroeinrichtungen + Service GmbH.
Das US-amerikanische Luft- und Raumfahrtunternehmen
Sierra Nevada Corporation
(SNC) und die 328 Support Services GmbH
(328SSG) haben im August 2019 ihre Pläne
zur Gründung eines neuen Flugzeugherstellers
am Flughafen Leipzig/Halle bekannt
gegeben. Die Tochtergesellschaft DRA GmbH
will am mitteldeutschen Airport die Endfertigung
des Regionalflugzeuges vom Typ
D328NEU ansiedeln. Rund 80 Millionen Euro
sollen in Infrastruktur, Produktionshallen,
Maschinen und den Aufbau der Endmontagelinie
investiert werden. Langfristig ist die
Schaffung von bis zu 250 direkten Arbeitsplätzen
vorgesehen.
Der US-amerikanische Genomik-Dienstleister
GENEWIZ wird in Leipzig ein Hightech-Labor
entwickelt. Das Unternehmen entwickelt und
produziert moderne Büromöbeleinrichtungen.
Nach Unternehmensangaben werden die
selbst produzierten Möbel in Deutschland, den
Niederlanden, Belgien, Österreich, Luxemburg
und in die Schweiz verkauft. PALMBERG hat
zur Erweiterung der Produktionskapazitäten
eine weitere Betriebsstätte in Rehna errichtet.
Im neuen Werk sollen akustisch wirksame
Elemente für die Bürowelt hergestellt werden.
Mit der 9-Millionen-Euro-Investition sollen 50
Arbeitsplätze entstehen.
Die als Spin-off der Rostocker Universität von
dem Neurologen Prof. Arndt Rolfs gegründete
und heute börsennotierte Centogene AG
ist eines der größten Biotech-Unternehmen
weltweit. Das Unternehmen wandelt globale
genetische Daten in medizinische Entscheidungen
um. Mehr als 400 Centogene-Mitarbeiter
erwirtschaften in den Bereichen
Genetik, Bioinformatik, IT, Proteomik und
Metabolomik inzwischen einen Umsatz
von mehr als 50 Millionen Euro. Neben dem
Hauptsitz in Rostock unterhält das Unternehmen
weitere Standorte in Berlin, Hamburg,
Frankfurt, Cambridge (USA), Dubai (Vereinigte
Arabische Emirate), Greater Noida (Indien) und
Wien (Österreich). In Rostock wurde zuletzt in
Forschung in Rostock.
den notwendigen Ausbau der Kapazitäten zur
Forschung und innovativen Entwicklung auf
dem Gebiet der Medizin investiert. Im Rahmen
der Erweiterung entstand ein neues Diagnostikzentrum.
Die Gesamtinvestitionen des
Unternehmens betrugen 11,9 Millionen Euro.
Das Wirtschaftsministerium unterstützt das
Vorhaben mit knapp drei Millionen Euro.
Sachsen
In Leipzig entsteht derzeit für den Automobilzulieferer
DRÄXLMAIER eine 25.000
Quadratmeter große Produktionsstätte. Die
Fertigstellung des Neubaus ist bis Ende 2020
vorgesehen. Die Firma wird dort ein leistungsstarkes
800-Volt-Gesamtbatteriesystem für
einen rein elektrisch betriebenen Sportwagen
aus dem Premiumsegment fertigen.
Die YELLOW TEC PLASTIC GmbH hatte
im April 2019 ihre Standortentscheidung
für Sachsen verkündet. In Görlitz will das
Medizintechnik-Unternehmen Kunststoffprodukte
für den medizinischen Bereich und
die Biotechnologie herstellen. Diese kommen
in Laboren, Kliniken und der Pharmabranche
zum Einsatz. Das Unternehmen schafft im
Görlitzer Werk 60 Arbeitsplätze.
Im September 2019 erhielt Leipzig den
Zuschlag für die Ansiedlung der Bundesagentur
für Sprunginnovationen. Im Wettbewerb
um den Standort hatte das Land Sachsen
Leipzig tatkräftig unterstützt. Laut Bundesforschungsministerium
wird die Agentur
zunächst für eine Laufzeit von zehn Jahren
geplant und mit insgesamt rund einer Milliarde
Euro finanziert.
mit modernsten Sequenzierungsplattformen
und Laborautomationstechnologien schaffen.
Das Unternehmen investiert rund fünf
Millionen Euro und schafft etwa 50 neue, hoch
qualifizierte Arbeitsplätze.
Die Aircraft Composites Sachsen GmbH
(Acosa), eine Tochter der Elbe Flugzeugwerke,
stellt in Kodersdorf künftig Frachtraumverkleidungen
und Bodenplatten für Airbus her. Die
Investition beläuft sich auf rund 40 Millionen
Euro und schafft rund 150 Arbeitsplätze.
Bodenplatten für Airbus werden
künftig in Kodersdorf gefertigt.
Mit der größten Einzelinvestition in der Geschichte
des Unternehmens errichtet Bosch
eine neue Chipfabrik in Dresden. Am Standort
sollen für die wachsenden Anwendungen in
der Mobilität und im Internet der Dinge Halbleiter
auf Basis der 300-Millimeter-Technologie
produziert werden. Insgesamt beläuft sich
das Investitionsvolumen für den Standort auf
rund eine Milliarde Euro.
In der nordsächsischen Stadt Torgau entsteht
die größte und modernste Speisepilzfarm
Europas. Das südkoreanische Unternehmen
Green Co. Ltd. ist in Europa Marktführer für
Foto: XXX PALMBERG Büroeinrichtungen + Service GmbH, jarmoluk/pixabay.com, Aircraft Composites Sachsen GmbH
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 53
die industrielle Pilzproduktion. Gemeinsam
mit seinem chinesischen Vertriebspartner
hatte sich der südkoreanische Investor zur
Mushroom Park GmbH zusammengeschlossen
und mit seinem Investment rund 100 neue
Arbeitsplätze geschaffen.
In Torgau werden Speisepilze gezüchtet.
Sachsen-Anhalt
Die Geschichte des Verkehrsflughafens Cochstedt
ist bislang keine glückliche gewesen. Über
Jahre fehlten dem Flughafen Entwicklungsperspektiven.
Im Zuge der Insolvenz des Flughafenbetreibers
gelang es dem Wirtschaftsministerium,
das Deutsche Zentrum für Luft- und
Raumfahrt (DLR) davon zu überzeugen, den
Verkehrsflughafen in den kommenden Jahren
zu einem Forschungsflughafen umzuwandeln.
Das Wirtschaftsministerium stellt dem DLR
hierfür eine Sonderfinanzierung über 15,8 Millionen
Euro bereit und wird den Standort künftig
auch mit institutioneller Forschungsförderung
unterstützen. Es entsteht ein Testzentrum
für unbemannte Flugobjekte, die heutzutage
interessant für zahlreiche Branchen sind. Es
ist davon auszugehen, dass sich im Umfeld des
Forschungsflughafens weitere Unternehmen
ansiedeln werden, zumal das DLR auch mit der
Uni Magdeburg kooperieren wird.
Die Automobilindustrie ist im Umbruch.
Sachsen-Anhalt ist bestrebt, die Chancen
zu nutzen, die sich aus dem Wandel hin zu
alternativen Antriebstechnologien ergeben.
Ein wichtiger Meilenstein hierbei ist die
Ansiedlung von Farasis in Bitterfeld-Wolfen.
Das Unternehmen wird für 600 Millionen
Euro eine Batteriefabrik bauen und 600 Arbeitsplätze
schaffen. Das Wirtschaftsministerium
geht davon aus, dass im Zuge der
Farasis-Ansiedlung weitere Ansiedlungen,
unter anderem von Zulieferern, folgen. So
beabsichtigt der niederländische Konzern
AMG, eine Lithium-Raffinerie in Sachsen-
Anhalt zu errichten.
Das Wirtschaftsministerium fördert die
Bildung einer Wasserstoff-Modellregion
Mitteldeutschland. In Leuna forschen die
Fraunhofer-Gesellschaft sowie große Konzerne
wie Total und Linde unter anderem an
der wirtschaftlichen Nutzung von grünem
Wasserstoff. Jüngst fand hier der Spatenstich
für die Wasserstoff-Elektrolysetestund
Versuchsplattform statt – die aktuellen
Aktivitäten fördert das Wirtschaftsministerium
mit acht Millionen Euro.
In Barleben bei Magdeburg steht ein Erweiterungs-Investment
der Horiba-Gruppe in.
Der japanische Konzern will hier sein weltweit
größtes Testzentrum für Batterie- und
Brennstoffzellen errichten.
Um Nachhaltigkeit geht es auch bei der
Ansiedlung des finnischen Großkonzerns
UPM in Leuna. UPM investiert 550 Millionen
Euro in eine industrielle Bioraffinerie, was
einen enormen wirtschaftlichen Schub für
den noch jungen Bereich der Biochemie in
Sachsen- Anhalt mit sich bringt. In der Bioraffinerie
sollen Biochemikalien auf Holzbasis
hergestellt werden, etwa 200 Arbeitsplätze
werden entstehen.
Thüringen
Im Herbst 2019 startete am „Erfurter Kreuz“
bei Arnstadt das größte Investitionsvorhaben
Thüringens – die Errichtung des neuen Batteriezellenwerks
der chinesischen Contemporary
Amperex Technology Co. Ltd. (CATL). Bis Anfang
2022 wird hier mit der „Contemporary Amperex
Technology Thuringia GmbH“ (CATT) die erste
Produktionsstätte von CATL außerhalb Chinas
entstehen. Insgesamt investiert das Unternehmen
mittelfristig 1,8 Milliarden Euro in seinen
Standort und schafft bis zu 2.000 Arbeitsplätze.
Lutz-Gruppe plant Standort am „Erfurter Kreuz“.
Der Möbelhändler XXXLutz will in sein
wachsendes Online-Geschäft investieren
und plant hierfür den Bau eines neuen
E-Commerce-Centers im Industriegebiet
„Erfurter Kreuz“. Geplant sind unter anderem
die Ansiedlung von Programmierern,
Callcenter-Mitarbeitern und Mitarbeitern in
der Auftragsabwicklung. Am neuen Standort
plant die Lutz-Gruppe Investitionen in Höhe
von 70 Millionen Euro und die Schaffung von
100 neuen Arbeitsplätzen. Bis 2022 soll die
Mitarbeiterzahl auf insgesamt 400 Beschäftigte
ansteigen.
Foto: Fotos: XXX peter-facebook/pixabay.com, cebbi/pixabay.com, XXXLutz
Volle Energie in Sachsen-Anhalt.
Um dem weiter anhaltenden Marktwachstum
gerecht zu werden, entsteht in Eisfeld
das insgesamt elfte Wellpappformatwerk
der Progroup AG. Durch den hochmodernen
Produktionsstandort der Unternehmenstochter
Prowell GmbH mit einer Jahreskapazität
von 140.000 Tonnen Wellpappformaten,
wird die Gesamtkapazität bei Progroup
auf 1,5 Millionen Tonnen gesteigert. Das
Investitionsvolumen des Projekts liegt bei
etwa 50 Millionen Euro. Im Vierschichtbetrieb
wird das Werk insgesamt 52 neue
Arbeitsplätze schaffen.
54
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
Das britische Solarunternehmen Oxford PV hat in Brandenburg an der Havel investiert.
WAS MACHT BRANDENBURG
ALS ANSIEDLUNGSSTANDORT
SO ERFOLGREICH?
Brandenburg hat sich 30 Jahre nach der deutschen
Einheit zu einem Qualitätsstandort und zu einem erfolgreichen
Ansiedlungsstandort entwickelt. Kompetenzen in
Branchen und Technologien, eine gut ausgebaute Infrastruktur,
qualifizierte Fachkräfte sowie Gewerbeflächen
in günstigen Lagen sind nur einige Beispiele für ansiedlungsrelevante
Standortfaktoren, mit denen Brandenburg
bei Investoren punktet. Auch die Lage der Bundeshauptstadt
Berlin im Herzen Brandenburgs unterstützt
die hohe Wahrnehmung der Region.
VON DR. STEFFEN KAMMRADT
GGerade der Mix der unterschiedlichen Stärken
von Metropole und Flächenland trägt zur
Attraktivität des Ansiedlungsstandortes
bei. Die europäischen Verkehrsachsen, die in
Brandenburg zusammentreffen, verbinden
die Region mit wichtigen Wirtschaftszentren
im Nachbarland Polen, mit Häfen an Nordund
Ostsee oder mit dem sächsischen Industrierevier.
Das zahlt sich aus: Brandenburg und
Berlin sind 2019 erstmals zur Nummer 1 aller
Logistikregionen in Deutschland aufgestiegen
und damit vorbeigezogen an etablierten
Standorten wie der Region um Frankfurt am
Main oder Hamburg.
Die Brandenburger Wirtschaftspolitik und
die Wirtschaftsförderung des Landes, die
WFBB, greifen diese Standortvorteile aktiv
auf und setzen sie konsequent in der Investorenansprache
ein. Ziel sind hochwertige
Ansiedlungen entlang der Wertschöpfungsketten
mit zukunftssicheren Arbeitsplätzen.
Prominentestes Beispiel ist die Ansiedlung
der Tesla-Gigafactory in Grünheide. Brandenburg
hat sich im Standortwettbewerb um diese
Großinvestition erfolgreich durchgesetzt.
Die starke Rolle der erneuerbaren Energien
Foto: Michael Jungblut/WFBB
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 55
in Brandenburg hat mit zu diesem Erfolg
beigetragen. Bezogen auf die Einwohnerzahl
nimmt Brandenburg beim Ausbaustand der
erneuerbaren Energien bundesweit Platz 1
ein. Die Ansiedlung von Tesla bringt nicht nur
mehrere Tausend neue Industriearbeitsplätze
in die Region, sondern zugleich eine Zukunftstechnologie,
die prägend sein wird für
die Mobilität der Zukunft.
Fotos: yannickmcosta/pixabay.com, David Marschalsky/WFBB
Energiewende und Mobilitätswende sind
Transformationsthemen, die neue und erweiterte
Wertschöpfungsketten mit sich bringen
und damit große Chancen für die weitere
wirtschaftliche Entwicklung bieten. Das ist
eine besondere Chance auch für die Lausitz,
die traditionsreiche länderübergreifende
Energie- und Industrieregion in Brandenburg
und Sachsen. Die Lausitz ist Schaufenster
der Energiewende und kann hochwertige
Investitionen verbuchen, so zum Beispiel die
Investition von BASF in Batteriekomponenten
in Schwarzheide. Auf dem Gelände der BASF
investiert auch das spanische Umwelttechnik-Unternehmen
Tradebe. Ebenfalls in der
Lausitz angesiedelt hat sich das japanische
Ernährungsunternehmen Fuji Oil. Allesamt
Investitionen mit Perspektive. Spannende
Perspektiven bieten auch Innovationen wie
im umweltfreundlichen Fliegen: Rolls-Royce
Deutschland arbeitet in Kooperation mit der
Brandenburgischen Technischen Universität
Cottbus-Senftenberg und der APUS-Aeronautical
Engineering GmbH in Strausberg
an einem Verbundprojekt „Hybrid-Elektrisches
Fliegen“ zur Entwicklung umweltschonender
Antriebstechnologien für die
Luftfahrt. Eine andere Facette der Mobilität
der Zukunft – das autonome Fahren – hat mit
dem Testzentrum der DEKRA einen starken
Anker in der Lausitz gesetzt.
Tesla soll schon bald ein Brandenburger Markenzeichen werden.
2019 war das Rekordjahr für die Brandenburger
Wirtschaftsförderung mit mehr als 4.300
Arbeitsplätzen – und darin ist Tesla noch
gar nicht eingerechnet. Und diese positive
Entwicklung dauert an – selbst in Corona-Zeiten
sind spannende Investitions- und
Innovationsprojekte in der Bearbeitung. In
Oberhavel erlebt Hennigsdorf mit dem Shared
Service Center von Francotyp-Postalia einen
schönen Ansiedlungserfolg. Im Havelland
baut das Schweizer Schienenverkehrstechnik-Unternehmen
Stadler einen Produktionsstandort
für Drehgestelle auf. Große
Projekte in Ludwigsfelde sind das DHL-Zentrum
und Chefs Culinar, die zusammen über
1.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Darüber
hinaus erweitern ansässige Unternehmen
ihre Standorte: Walter Schmidt investiert in
Vetschau, das britische Solarunternehmen
Oxford PV in Brandenburg an der Havel, die
österreichische Firma Klenk in Baruth oder
der japanische Elektronikspezialist Yamaichi
in Frankfurt (Oder).
Dr. Steffen Kammradt ist Sprecher der Geschäftsführung
der Wirtschaftsförderung Brandenburg
(WFBB). Nach Tätigkeiten in Verwaltung und
Privatwirtschaft ist er seit 2001 für das Land
Brandenburg tätig. Wirtschaftsförderung,
sagt der 54-Jährige, ist nicht nur ein Job,
sondern auch eine Leidenschaft. Glücklichster
Moment seines bisherigen Berufslebens
war der 12. November 2019 – als Elon
Musk die Ansiedlung der Tesla-Gigafactory in
Brandenburg verkündete.
Brandenburg ist ein Standort im Aufbruch.
Die Produktivität der Brandenburger
Industrie ist seit der deutschen Einheit mit
am stärksten gestiegen. Im Brandenburger
verarbeitenden Gewerbe legte die Bruttowertschöpfung
je Erwerbstätigen um nahezu
862 Prozent zu. Die steigende Produktivität
resultiert vor allem aus dem modernen
Anlagevermögen. Der Modernisierungsgrad
der Brandenburger Industrieanlagen ist sehr
hoch. Die Investitionen sind 4,5-mal höher
als der Umsatz. Das ist im bundesweiten
Vergleich ein Spitzenwert.
Das schlägt sich positiv in Wirtschaftsrankings
nieder. Die neue Studie des Instituts der
deutschen Wirtschaft (IW) weist gleich zwei
Brandenburger Regionen an der Spitze der
Aufsteigerregionen aus, die sich in den letzten
Jahren besonders gut entwickelt haben: Havelland-Fläming
im Westen und Prignitz-Oberhavel
im Nordwesten Brandenburgs. Beide Regionen
haben sich zum Vorbild gemausert. Zur
Region Havelland-Fläming sagt das IW wörtlich:
„Die Arbeitslosigkeit ist deutlich geringer als
noch vor einigen Jahren, die Kaufkraft höher, die
Bewohner im Schnitt jünger. Internetverbindungen
laufen schneller und Einwohner sowie
Kommunen sind geringer verschuldet. Damit
punktet die Region im bundesweiten Vergleich
der neuen IW-Studie am meisten.“
Last but not least: In Kürze eröffnet mit dem
BER ein leistungsfähiger internationaler
Flughafen in Brandenburg. Das bringt einen
weiteren Schub für die gesamte deutsche
Hauptstadtregion. Im kommenden Jahr
startet dann die Tesla-Gigafactory. Und damit
geht die Erfolgsgeschichte Brandenburgs als
Ansiedlungsstandort weiter.
56
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
MITTELDEUTSCHLAND
AUF DEM WEG ZUR
MODELLREGION FÜR
GRÜNEN WASSERSTOFF
VON THOMAS EINSFELDER, GESCHÄFTSFÜHRER DER
INVESTITIONS- UND MARKETINGGESELLSCHAFT
SACHSEN-ANHALT (IMG)
Thomas Einsfelder
IIn Leuna forscht die Fraunhofer-Gesellschaft
an der wirtschaftlichen Nutzung von grünem
Wasserstoff. Über Netzwerke an den Planungen
beteiligt sind Global Player wie Siemens,
Linde AG, VNG Gasspeicher GmbH, ONTRAS
Gastransport GmbH, Terrawatt Planungsgesellschaft
mbH, DBI Gastechnologisches
Institut gGmbH Freiberg, Uniper, 50Hertz
Transmission GmbH sowie das Fraunhofer
IMWS. Jüngst fand hier der Spatenstich für die
Wasserstoff-Elektrolysetest- und Versuchsplattform
(ELP) statt – die aktuellen Aktivitäten
fördert das Wirtschaftsministerium mit
acht Millionen Euro. Total und Linde würdigten
die Projekte in Leuna vor allem, weil sie bereits
umgesetzt werden. Weltweit gebe es zwar
viele Ideen, doch ein Großteil davon sei noch
weit von der Umsetzung entfernt. „Mit der
Versuchsplattform ELP und dem im Zuge des
Braunkohle-Strukturwandels geplanten neuen
Fraunhofer-Institut für Wasserstoff- und
Kohlenstoff-Prozesstechnik (IWKP) könnte
sich Sachsen-Anhalt als führender Standort
im Bereich der Wasserstofftechnologie
etablieren und als nationales Kompetenzzentrum
wahrgenommen werden“, erklärte auch
Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Prof.
Dr. Armin Willingmann, der seit Jahren offensiv
für eine Wasserstoff-Modellregion Mitteldeutschland
wirbt.
Auch ich bin nicht erst seit diesem Spatenstich
in Leuna überzeugt davon, dass Mitteldeutschland,
allen voran Sachsen-Anhalt,
das Zeug hat, europaweit zur Modellregion
für grünen Wasserstoff aufzusteigen, denn
hier existiert bereits die gesamte Wertschöpfungskette
für den Energieträger der
Zukunft. Innovative Ideen sind hier schon zu
Leuchttürmen gewachsen. In der Wasserstoffmodellregion
Mitteldeutschland entsteht
eine komplette Wertschöpfungskette, die
unter Verwendung erneuerbarer Energien
grünen Wasserstoff herstellt, ihn speichert
und transportiert. Als Wirtschaftsförderungsgesellschaft
für das Land Sachsen-Anhalt
nutzt die IMG dieses Alleinstellungsmerkmal
offensiv im Standortmarketing für den
Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort. In
unserer Ansiedlungsstrategie bildet der „grüne
Wasserstoff“ einen der wichtigsten Anker im
Kompetenzfeld „New Energy/New Mobility“.
Gemeinsam mit der Bioökonomie sehe ich hier
Möglichkeiten – gerade auch im Hinblick auf
Foto: IMG, Grafik: starline/freepik.com
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 57
den durch den Kohleausstieg notwendigen
Strukturwandel – Sachsen-Anhalt mittelfristig
als Land der Zukunftstechnologien zu positionieren.
Wir laden internationale Unternehmen
und Institutionen herzlich ein, Teil dieser
Erfolgsgeschichte zu werden. Hier stimmen
Know-how, Infrastruktur und Nutzungspotenzial.
Davon sind wir überzeugt, wissen um die
Bedeutung dieser Potenziale für den Standort.
Deshalb sieht sich die IMG als Teil der hier
entstandenen Netzwerke aus Wirtschaft und
Wissenschaft und unterstützt Interessenten
mit der gesamten Bandbreite unseres Serviceportfolios,
leidenschaftlich, professionell
und offen für nationale und internationale
Forschungs- und Technologiekooperationen,
um gemeinsam mit starken Partnern diese
Vision zu verwirklichen.
Einzigartige Kooperation über
Ländergrenzen hinweg
Und noch etwas finde ich bemerkenswert:
Gemeinsam streben die Länder Brandenburg,
Sachsen und Sachsen-Anhalt an, die
Region als Vorreiter der Energiewende und
der modernen Mobilität zu etablieren. Das
Eckpunktepapier der Länder zur Entwicklung
einer regionalen Wasserstoffwirtschaft ist
eine gemeinsame Willenserklärung zum Aufbau
einer grünen Wasserstoffwirtschaft. Eine
so breite Kooperation über Ländergrenzen
hinweg ist einzigartig. Den Ländern kommt es
entscheidend darauf an, schnell einen Markt
für erneuerbaren Wasserstoff aufzubauen.
Die Chancen der Energiewende sollen mit dem
Strukturwandel durch den Kohleausstieg bis
2038 mit dem Markthochlauf einer grünen
Wasserstoffwirtschaft proaktiv genutzt
werden. Mit dem Anspruch, eine ganzheitliche
Wasserstoff-Modellregion zu werden, ist die
Abbildung der gesamten Wertschöpfungskette
verbunden. Dazu gehören Forschung,
Mobilität, Industrie, Brennstoffzellen, Elektrolyseure
und die Wärmeversorgung. Sektoren
werden in der Region aktiv gekoppelt und der
Transformationsprozess der Wirtschaft und
Industrie in eine CO 2 -neutrale Energieregion
gestärkt. Die Länder setzen sich dabei insbesondere
für eine Anpassung des regulatorischen
Rahmens ein, um die Produktion und
Nutzung von grünem Wasserstoff wettbewerbsfähig
zu gestalten.
Hier stimmen Know-how, Infrastruktur
und Nutzungspotenzial
Wenn also die Möglichkeiten von Forschung
und Entwicklung genutzt werden, zugeschnitten
auf den Bedarf der Unternehmen in
Mitteldeutschland, ist dies die Antwort sowohl
für das Erreichen klimapolitischer Ziele als
auch zur Bewältigung der Herausforderungen
für die energieintensiven Industrien, gerade
bei uns in Sachsen-Anhalt. Nachhaltigkeit
und Wirtschaftlichkeit könnten so verbunden
werden, einen intelligenten Umgang mit beschränkten
Ressourcen und die Wettbewerbsfähigkeit
von Unternehmen vereinen. Die europäischen
und nationalen Strukturwandelmittel
sollten hierfür zielgerichtet genutzt werden.
Dass die Region das kann, hat sie schon beim
Ausbau der erneuerbaren Energien bewiesen.
Mit über 56 % erneuerbarer Energien am
Stromverbrauch leistet Mitteldeutschland
einen wichtigen Beitrag zur Energiewende in
Deutschland. Insbesondere die hohe installierte
Leistung der erneuerbaren Energien ist
eine solide Basis zur Produktion von grünem
Wasserstoff. Und Sachsen-Anhalt hat Erfahrungen
in der großtechnischen Produktion und
Nutzung von Wasserstoff. In der Region gibt
es zudem ein großes Potenzial zur Nutzung
von Wasserstoff im Mobilitätsbereich oder
zur stofflichen Nutzung in der Stahl- und
Chemieindustrie, in Raffinerien und in energieintensiven
Industrien, wie etwa Zement, Glas,
Papier. Wenn ausreichend Wasserstoff zu
wettbewerbsfähigen Kosten regional hergestellt
wird, trägt dies zur Wettbewerbsfähigkeit
und Nachhaltigkeit der energieintensiven
Industrie vor Ort bei. Nun muss es also darauf
ankommen, dem aus überschüssigem Solarund
Windstrom erzeugten Wasserstoff auch
im industriellen Maßstab zum Durchbruch zu
verhelfen.
Foto: VNG AG
Die VNG Gasspeicher GmbH ist mit ihren unterirdischen Gasspeichern in Bad Lauchstädt HYPOS-Partner der ersten Stunde. Die oberirdischen Rohre
bieten den Zugang für Wartung und Reinigung der Pipeline.
58
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
WARUM OSTDEUTSCHLAND
SO INTERESSANT FÜR
INVESTOREN IST
Drei Fragen an die ostdeutschen Wirtschaftsminister Martin Dulig (Sachsen, SPD),
Harry Glawe (Mecklenburg-Vorpommern, CDU), Ramona Pop (Berlin, Grüne),
Prof. Dr. Jörg Steinbach (Brandenburg, SPD), Wolfgang Tiefensee (Thüringen, SPD)
und Prof. Dr. Armin Willingmann (Sachsen-Anhalt, SPD)
W+M: Was sind die wichtigsten Argumente,
mit denen Sie um Investoren werben?
Martin Dulig: Sachsen punktet mit seiner
Bildungs- und Wissenschaftslandschaft mit
hervorragend ausgebildeten Fachkräften,
mit einer modernen Infrastruktur sowie einer
exzellenten Vernetzung zwischen Hochschulen,
außeruniversitären Forschungseinrichtungen
und Unternehmen. Die zentrale
Lage in der Mitte Europas erweist sich für
den Freistaat als echter Standortvorteil.
Darüber hinaus bietet Sachsen mit seiner
Mischung aus eindrucksvollem historischen
Erbe, einer Vielzahl kultureller Attraktionen
Martin Dulig
(Sachsen, SPD)
und Naturschönheiten eine ausgezeichnete
Lebensqualität.
Harry Glawe: Es gibt vieles, was Mecklenburg-Vorpommern
als Investitionsstandort
attraktiv macht. Ein paar Beispiele: das
Land liegt zentral zwischen den Metropolen
Hamburg, Berlin, Kopenhagen und Stettin
sowie dem Baltikum und Skandinavien. Wir
haben eine moderne Infrastruktur, gute Anbindungen
über innerdeutsche Autobahnen,
effiziente Schienenlogistik nach West- und
Südeuropa, den Flughafen Rostock/Laage als
Personen- und Frachtflughafen und unsere
Ostseehäfen. Vor allem die Häfen gehören
zu den wachsenden Wirtschaftszentren des
Landes. Eine wesentliche Stärke unseres
Landes sind qualifizierte und motivierte
Fachkräfte. So gibt es beispielsweise jährlich
rund 3.500 Hochschulabsolventen in den
MINT-Studiengängen. In unseren Gesprächen
mit Investoren wird deutlich, dass weiche
Standortfaktoren wie Kindertagesstätten,
Schulen sowie ein attraktives Wohnumfeld
und Freizeitangebot immer bedeutender
werden. Auch damit kann Mecklenburg-Vorpommern
punkten. Zudem unterstützen
wir mit guten Rahmenbedingungen und
interessanten Fördermöglichkeiten neue
Investoren, ebenso beispielsweise bestehende
Unternehmen, Gründer, Nachfolger sowie
Forscher. Was mich besonders freut, ist die
Rückmeldung unserer Unternehmer, dass
es in Mecklenburg-Vorpommern unkompliziert
zugeht – kurzfristige Termine, schnelle
Entscheidungswege und zuverlässige
Gesprächspartner sind unser Merkmal. Das
wollen wir auf jeden Fall weiter beibehalten.
Ramona Pop: Berlin ist Kreativmetropole,
Start-up-Hub, innovativer Technologie- und
Wissenschaftsstandort. Wir sind eine der dynamischsten
Wirtschaftsregionen Deutschlands,
bieten einmalige Chancen und präsentieren
uns für Unternehmer*innen als eine der
lebenswertesten Städte Europas. Mit unserer
Wirtschafts- und Technologieförderung
für Unternehmen, Investoren und Wissenschaftseinrichtungen
unterstützen wir diese
Entwicklung Berlins zur Innovationsstadt.
Berlin ist eine Stadt des ständigen Wandels.
In vielen Branchen spielt die Digitalisierung
aller gesellschaftlichen Bereiche heute eine
ganz zentrale Rolle. Veränderungen sind für
viele junge, dynamische Menschen spannend.
Die Wandelbarkeit von Berlin hat die Stadt
schon immer für viele Zuzügler interessant
gemacht. Berlin zählt mittlerweile zu den
Foto: W+M
MUT ZUM VORSPRUNG WIRTSCHAFT+MARKT 59
Foto Ramona Pop: Wolf Lux, W+M
attraktivsten Standorten für Fachkräfte der
Digitalwirtschaft. Mehr als 70.000 Menschen
arbeiten heute bereits in der Berliner Digitalwirtschaft,
bis 2030 könnte sich diese Zahl
sogar verdreifachen. Wir haben also das Potenzial
an Talenten und Fachkräften, und die
Unternehmen wissen, dass sie hier in Berlin
qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
insbesondere für die digitale Arbeitswelt,
finden. Daher bin ich überzeugt, dass das
offene und tolerante Berlin auch weiterhin
ein außerordentlich attraktiver Standort für
qualifizierte Menschen aus der ganzen Welt –
und somit auch für Investoren – bleibt.
Ramona Pop
(Berlin, Grüne)
Jörg Steinbach: Die deutsche Hauptstadtregion
hat sich seit der Wende zu einem
modernen Wirtschaftsstandort entwickelt,
der sich zunehmend mit den etablierten
Metropolregionen Deutschlands messen
kann. Unser größtes Pfund, mit dem wir
wuchern können, ist unsere Industriefreundlichkeit
in der Fläche. Neue Industrieparks
wie in Schwedt oder auch in Cottbus – das
sind berlinnahe Standorte in der „Greater
Berlin“-Region. Und die heißt Brandenburg.
Brandenburg ist geprägt von einer leistungsfähigen
Industrie sowie einem wachsenden
Mittelstand und punktet zudem mit hoher
Lebens- und Freizeitqualität. Das Land
Brandenburg hat diese Entwicklung mit
seiner Förderpolitik – mit der Fokussierung
auf innovative, wachstumsstarke Cluster
wie beispielsweise die Energietechnik, die
Ernährungsindustrie oder die Logistik sowie
auf regionale Wachstumskerne – maßgeblich
unterstützt. Konkret besticht der
Wirtschaftsstandort Brandenburg durch
seine vielfältigen Serviceleistungen für die
angesiedelten Unternehmen, die exzellente
Symbiose von Forschung und Wirtschaft, ins-
besondere für Start-ups, und über die breite
Palette maßgeschneiderter Gewerbe- und
Industriestandorte. Und: Brandenburg liegt
an den zentralen europäischen Verkehrsachsen,
was sich immer mehr zu einem strategischen
Wettbewerbsvorteil entwickelt hat.
Vor allem aber verfügt das Land über gut
ausgebildete und hoch motivierte Fachkräfte.
So nehmen in Brandenburg deutlich mehr
Beschäftigte an beruflichen Weiterbildungen
teil, als dies in Deutschland insgesamt üblich
ist. Die Landesregierung engagiert sich im
Schulterschluss mit den Sozialpartnern dafür,
Brandenburg zu einem Land der guten Arbeit
zu machen. Das heißt: Wir werben nicht nur
mit gut ausgebildeten Fachkräften, wir erwarten
auch, dass Unternehmen, die sich bei
uns ansiedeln, attraktive Arbeitsbedingungen
bieten – um Menschen für Brandenburg zu
gewinnen und sie hier zu halten.
Wolfgang Tiefensee: Die zentrale Lage in
Deutschland und Europa, mitten in einem der
wirtschaftsstärksten Märkte der Welt – im
Umkreis von 800 km finden sich 280 Millionen
potentielle Kunden, werden 70 Prozent der
europäischen Wirtschaftsleistung generiert,
finden 80 Prozent der europäischen Forschung
und Entwicklung statt. Damit Investoren diese
Vorteile nutzen können, verfügt Thüringen
über eine exzellente Verkehrsinfrastruktur,
verfügt mit Erfurt über den zentralen
ICE-Knotenpunkt, bietet schnelle und direkte
Anbindungen an die Flughäfen in Frankfurt
Wolfgang Tiefensee
(Thüringen, SPD)
und Leipzig und letztlich in alle deutschen
Großstädte. Und es gibt natürlich weitere
Argumente für den Standort: qualifizierte
Fachkräfte – 80 Prozent der Beschäftigten
verfügen über einen Facharbeiter- oder
Meisterabschluss, 14 Prozent haben ein
Studium absolviert; die gute Hochschul- und
Forschungslandschaft – mit allein zehn staatlichen
Universitäten und Fachhochschulen;
eine leistungsfähige Wirtschaftsförderung mit
innovativen Unterstützungsangeboten für Unternehmen;
und last but not least mit der Landesentwicklungsgesellschaft
eine One-stop-
Agentur, die potenziellen Investoren einen
umfassenden Service aus einer Hand bietet.
Die breite Branchenstruktur der Thüringer
Wirtschaft und die Vielzahl von ausländischen
Investitionsprojekten zeigen, dass Thüringen
als Investitionsstandort gefragt ist.
60
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
Armin Willingmann: Sachsen-Anhalt hat
sich in den vergangenen vier Jahren verstärkt
zu einem Land der Zukunftstechnologien
entwickelt – und das nicht rein zufällig: Wir
haben die Wirtschaft mit unserer hervorragenden
Wissenschaftslandschaft enger vernetzt,
gezielt in Forschung investiert und die
Wirtschaftsförderung passgenau umstrukturiert.
Die Zeiten, in denen Sachsen-Anhalt
einfach nur mit Fläche und niedrigen Löhnen
geworben hat, sind glücklicherweise längst
vorbei. Heute können wir bei Investoren mit
sehr triftigen und zeitgemäßen Argumenten
punkten: Wer zu uns kommt, hat dank unserer
hervorragenden Hochschulen und Forschungseinrichtungen
Zugriff auf Fachkräfte
und kann gemeinsame Forschungs- und
Entwicklungsprojekte vorantreiben. Freilich
stellen wir auch eine attraktive Investitionsförderung
und viele weitere Dinge in Aussicht,
doch ich habe den Eindruck, dass wir bei den
jüngsten Ansiedlungen vor allem mit unserer
Wissenschaftslandschaft punkten konnten.
Zudem verfolgen wir das Prinzip ‚Stärken
stärken‘. Für Unternehmen wie Farasis
oder UPM ist es attraktiv, sich an einem Ort
anzusiedeln, der beispielsweise über eine
große Tradition und erhebliche Kompetenz im
Bereich Chemie verfügt.
Prof. Dr. Armin Willingmann
(Sachsen-Anhalt, SPD)
W+M: Gibt es eine Investition oder Ansiedlung
aus der jüngsten Vergangenheit, auf die
Sie besonders stolz sind?
Martin Dulig: Mit Bosch investiert ein
global tätiges Unternehmen in Sachsen und
tätigt hier die größte Einzelinvestition seiner
Unternehmensgeschichte. Diese Investition
ist höchst erfreulich. Das neue Werk
bereichert das Netzwerk „Silicon Saxony“
und stärkt das gesamte Umfeld aus Zulieferern
und Dienstleistern am schon jetzt
bedeutendsten europäischen Standort für
Mikroelektronik. Die Standortentscheidung
von Bosch ist ähnlich bedeutsam wie die Entscheidung
von Siemens Ende 1993 für eine
Halbleiterfertigung in Dresden.
Harry Glawe
(Mecklenburg-Vorpommern, CDU)
Harry Glawe: Stolz ist das falsche Wort.
Ich bin sehr dankbar für jeden einzelnen
Unternehmer, der mutig und engagiert sein
Geschäft betreibt, gesellschaftlich verantwortungsvoll
handelt und so Arbeitsplätze
bei uns im Land sichert und schafft.
Ramona Pop: Dass wir uns gegen die internationale
Konkurrenz durchgesetzt haben
und Siemens 600 Millionen Euro in den elften
Berliner Zukunftsort Siemensstadt investiert,
macht mich natürlich stolz. Wir haben
erfolgreich die Voraussetzungen geschaffen,
dass Siemens in den Wirtschaftsstandort
Berlin investiert. Unsere Stadt ist mit der
boomenden Digitalwirtschaft, den internationalen
Talenten und der modernen Industrie
der passende Standort für den neuen Innovations-Campus.
Siemensstadt 2.0 sichert
nicht nur Arbeitsplätze, sondern schafft auch
neue. Gemeinsam mit Siemens stärken wir
international die Wettbewerbsfähigkeit des
Wirtschaftsstandortes Berlin und Deutschland.
Und selbst in der Coronakrise dürfen wir
uns über zahlreiche Ansiedlungsprojekte mit
neu geschaffenen Arbeitsplätzen freuen.
Jörg Steinbach: Die prominenteste Ansiedlung
in jüngster Zeit ist zweifelsohne
die erfolgreiche Anwerbung des Elektroautoherstellers
Tesla, der seine europäische
Gigafactory in Grünheide errichtet. Das ist
sogar das größte Ansiedlungsvorhaben in der
Geschichte Brandenburgs – und ein Meisterstück
unserer Wirtschaftsförderung. Die
Tesla-Ansiedlung ist nicht nur eine Chance
für Grünheide, sondern für ganz Brandenburg
und darüber hinaus – eine Ansiedlung, die
eine Sogwirkung erzeugen wird und vielfältige
Impulse in unserer gesamten Wirtschaft
setzen wird. Firmen, die vorher noch nicht mal
wussten, wo Brandenburg liegt, haben uns
nun auf der Landkarte entdeckt – als ideale
Region für Innovation und Zukunftstechnologien
– und wollen sich hier auch ansiedeln.
Wolfgang Tiefensee: Sicherlich die neue
Batteriezellenfabrik von CATL am Erfurter
Kreuz – eine der bedeutendsten Industrieansiedlungen
der letzten Jahrzehnte, um die wir
seit Anfang 2017 intensiv geworben haben.
Das ist eine Ansiedlung der Superlative, mit
der Thüringen zum wichtigsten europäischen
Standort für die Produktion von Batteriezellen
werden und damit einen ganz wesentlichen
Beitrag zur Mobilitätswende leisten
kann.
Armin Willingmann: Ich freue mich sehr,
dass es uns nach langen Verhandlungen
gelungen ist, das Deutsche Zentrum für
Luft- und Raumfahrt nach Sachsen-Anhalt
zu holen. Dort werden zwar nicht gleich
von heute auf morgen Hunderte oder gar
Foto Prof. Dr. Armin Willingmann: Andreas Lander (1), W+M (1)
MUT ZUM VORSPRUNG
Foto Prof. Dr. Jörg Steinbach: Till Budde
Tausende Arbeitsplätze entstehen. Doch mit
dem Testzentrum entwickelt sich ein einst
perspektivloser Verkehrsflughafen zu einem
Zukunftsort, der attraktiv für weitere Unternehmen
und Start-ups aus den Bereichen
Luft- und Raumfahrt sowie Logistik ist. Auch
hier wird unser Erfolgsrezept, Wirtschaft mit
Wissenschaft zu verknüpfen, in den kommenden
Jahren seine Wirkung entfalten, zumal
auch die Otto-von-Guericke-Universität
Magdeburg mit dem DLR kooperieren wird.
W+M: Wird es zeitnah weitere nennenswerte
Ansiedlungen geben? Wenn ja, in
welchen Branchen?
Martin Dulig: Ich möchte potenziellen Investoren
nicht vorweggreifen. Die Investoren
erwarten grundsätzlich eine vertrauliche
Behandlung ihrer Investitionsabsichten und
entscheiden in der Regel selbst über den
jeweiligen Zeitpunkt der Bekanntgabe.
Harry Glawe: Die Nachfrage ist da, die
Coronapandemie macht der Wirtschaft vielerorts
zu schaffen. Wir führen Gespräche mit
Vertretern verschiedener Branchen. In jüngster
Zeit stammten die ansiedlungsinteressierten
Unternehmen beispielsweise aus den
Branchen Tourismus, Logistik, Lebensmittelindustrie
und Medizintechnik. Die Gespräche
sind vertraulich. Wir informieren gern, wenn
alles in trockenen Tüchern ist.
Ramona Pop: Berlin bleibt ein attraktiver
Wirtschaftsstandort und wir tun alles dafür,
weiterhin die richtigen Rahmenbedingungen
zu setzen – auch in der Krise. Aus meinen
zahlreichen Gesprächen mit Unternehmen
weiß ich, dass viele an ihren geplanten Investitionen
festhalten wollen. Auch die Anträge
auf Förderung gewerblicher Investitionen, die
sogenannten GRW-Mittel von Bund und Land,
lassen für das erste Halbjahr keinen signifikanten
Rückgang erkennen. Bedenken muss
man auch: Viele Effekte von Corona treten
erst mit Verzögerung ein, sodass sich unser
Blick auf das zweite Halbjahr richtet.
Prof. Dr. Jörg Steinbach
(Brandenburg, SPD)
Jörg Steinbach: Das Investitionsgeschäft
läuft trotz Corona gut. Unsere Wirtschaftsförderung
begleitet eine Reihe von vielversprechenden
Projekten insbesondere in der
Industrie und der Logistik. Gerade erst haben
wir das Richtfest des US-Batterieproduzenten
Microvast für seine Europazentrale
in Ludwigsfelde gefeiert. Das Schienenverkehrstechnik-Unternehmen
Stadler investiert
im Havelland. Die DHL stellt ihr neues
Mega-Paketzentrum fertig. Die BASF hat vor
wenigen Wochen den Aufbau einer Kathodenproduktion
für die Batteriefertigung in
Schwarzheide bekannt gegeben. In der Lausitz
arbeiten wir mit Hochdruck an weiteren
Ansiedlungen. Die WFBB hat gemeinsam mit
der Wirtschaftsförderung Sachsen und mit
Unterstützung des Bundes eine Investitionsoffensive
für die Lausitz gestartet. Davon
sind weitere spannende Projekte internationaler
Investoren zu erwarten. In wenigen
Wochen werden wir mit dem BER über einen
leistungsfähigen Airport von internationalem
Format in Brandenburg verfügen. Das Flughafenumfeld
ist eine attraktive Ansiedlungsregion.
Kurzum: Es ist einiges in der Pipeline.
Wolfgang Tiefensee: Das Land steht derzeit
trotz Coronakrise mit 275 Investoren in
Kontakt, die sich neu in Thüringen ansiedeln
oder bestehende Standorte erweitern wollen,
vor allem aus Branchen wie dem Maschinenbau,
der Batterie- und Speichertechnologie,
der Automobilindustrie, Elektrotechnik, Optik,
Medizintechnik oder unternehmensnahen
Dienstleistungen wie z. B. der Logistik. Dabei
geht es um Investitionen von rund 5,4 Milliarden
Euro. Bemerkenswert ist dabei die große
Zahl ausländischer Investitionsvorhaben,
insgesamt 117 – ein Spitzenwert auch im
Vergleich mit den letzten Jahren. Das heißt:
Ja, es wird weitere Ansiedlungen geben. Aber
man muss natürlich realistisch sein: Nicht alle
Projekte werden am Ende auch umgesetzt,
und so viele ganz „große Fische“ schwimmen
auch nicht mehr vorbei. Wir sind natürlich
auch darauf vorbereitet, etwa mit unserer
Großflächeninitiative – aber das Hauptaugenmerk
gilt dem organischen Wachstum aus
dem Bestand unserer überwiegend mittelständischen
Unternehmen heraus.
Armin Willingmann: Ich gehe stark davon
aus, insbesondere in den Bereichen Chemie
und Automotive. Der niederländische Konzern
AMG hat beispielsweise Anfang des Jahres
bekannt gegeben, eine Lithium-Raffinerie im
Süden Sachsen-Anhalts errichten zu wollen,
die Gespräche hierzu sind weit vorangeschritten.
Lithium wird etwa bei der Fertigung
von Batterien für Elektroautos benötigt. Auch
das Solar Valley erlebt möglicherweise eine
Renaissance. So hatte der Schweizer Maschinenbauer
Meyer Burger jüngst angekündigt,
eine neue Fertigung von Solarzellen in
Thalheim aufbauen zu wollen. Darüber hinaus
investiert Hanwha Q-Cells 125 Millionen Euro
in den Ausbau seines Forschungs- und Entwicklungszentrums
im Solar Valley. Es macht
durchaus Sinn, diese Investitionen in einem
größeren Kontext zu betrachten: Überall dort,
wo Wandel stattfindet – Automobilindustrie,
Energiewirtschaft – wird auch investiert. Und
Sachsen-Anhalt hat sich in den letzten vier
Jahren zu einem hoch attraktiven Investitionsstandort
entwickelt, übrigens auch
für internationale Investoren, wie jüngste
Ansiedlungen zeigen.
Interviews: Karsten Hintzmann
62
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
SILICON EASTSIDE
SCHLÄGT ERSTE WELLEN:
VIER GRÜNDER IM
REVOLUTIONSMODUS
Inzwischen wissen wir: Fahrzeuge
werden zunehmend durch Software
bestimmt. Damit verliert die analoge
Autotechnologie-Führerschaft
immer mehr an Gewicht. Tesla & Co.
„überholen ohne einzuholen“ – man
kennt das Motto hierzulande noch
gut. Parallel dazu sind einige junge
ostdeutsche Unternehmen bereits im
Zukunftsmodus gestartet. Bleiben sie
auf Erfolgskurs, könnten sie einige
Branchen ziemlich durcheinanderwirbeln.
Entsteht ein Silicon Eastside?
VON THOMAS STROBEL
Bleiben wir zunächst beim Auto als dem
Erfolgsindikator der deutschen Wirtschaft
schlechthin. Schon vor Corona raste die gesamte
Branche dank „Schummel-Software“
ungebremst in eine Abgasskandal-Nadelkurve.
Jetzt schließt sich eine Corona-Schussfahrt
an und drängt große Hersteller infolge
langjähriger Zukunftsignoranz ein weiteres
Mal an den Fahrbahnrand. Sie kommen
– um im Bild zu bleiben – damit von der
Zukunfts-Autobahn ab und landen auf dem
holprigen Feldweg nebenan.
Noch während der Pandemie bestätigen
Negativnachrichten für Wolfsburger oder
Stuttgarter Marken im Wochentakt: Die
Corona-Folgen stellen Geschäftsmodelle
und Geschäfte ohne robuste mittelfristige
Zukunftsperspektive jetzt früher infrage
als in wirtschaftlichen Schönwetterzei-
ten: Karstadt-Kaufhof, Schlachtbetriebe,
Lufthansa, Thyssen-Krupp oder die Deutsche
Bahn sind weitere Beispiele …
Umsteuern: mehr denn je Herausforderung
und Chance zugleich
„Neue Chancen jetzt nutzen!“. Die Umsetzung
dieser vier Worte ist für alle vorausdenkenden,
aktiven, kreativen, gestaltenden – ergo
„hand“-elnden – Akteure in Wirtschaft und
Politik unerlässlich für eine erfolgreiche
Zukunftsgestaltung – nicht zuletzt im Sog
von Corona.
Vor welchen Fragen stehen insbesondere
ostdeutsche Wirtschaftspraktiker aus Sicht
eines prozessbegleitenden Zukunftslotsen,
der moderierte Zukunftsarbeit für Regionen,
Branchen oder Firmen betreibt?
Grafik: pch.vector/freepik.com, Foto: room
MUT ZUM VORSPRUNG
WIRTSCHAFT+MARKT 63
Welche neuen Geschäftsmodelle rund um
virtuelle und zugleich softwarebasierte
Unternehmen sind für die hiesigen Besonderheiten
erfolgversprechend?
Wie sollen neuartige Geschäftsstrukturen
wie interdisziplinäre Erfolgscluster, mit der
Wissenschaft vernetzte Verbünde oder
virtuelle Projekte für die künftige Wertschöpfung
genutzt werden?
Welche Prioritäten für Unternehmen und
Führungskräfte bieten die Grundlage für
Nachhaltigkeit, Resilienz und Achtsamkeit,
um aus der Krise heraus die Weichen für
die Zukunft zu stellen?
Aus welchen traditionellen Problemen
können heute Grundlagen für den Vorsprung
von morgen entstehen? Beispiele
sind hier die intelligente Nutzung auslaufender
Kohletagebau-Flächen oder die
Etablierung vollkommen neuer Strukturen
wie dem DLR-Erprobungszentrum für
Drohnen in Cochstedt/Sachsen-Anhalt,
der Etablierung des Umwelt- und
Naturschutzdatenzentrums Deutschland
im Mitteldeutschen Revier oder dem Bau
eines Eisenbahn-Testzentrums in der
Oberlausitz.
Start-ups mit Mut zum Vorsprung
Hat der Osten Champions von morgen, deren
konzeptioneller Vorsprung gegenüber dem
Stand der Technik in ihren jeweiligen Branchen
eher mit dem Metermaß als mit dem Lineal
zu messen ist? Ja unbedingt, wenn diese
auch nicht dutzendfach vertreten sind. Vier
Visionäre zwischen Rostock und Dresden, die
unternehmerisch mit bereits beachtlichen
Zwischenerfolgen unterwegs sind, seien kurz
vorgestellt:
Der 3D-Weltenerschaffer aus Jena: Gründer
Hans Elstner hat mit seiner DIY-Plattform
rooom ein intuitiv zu bedienendes Online-Baukastensystem
für 3D, Virtual Reality (VR)
und Augmented Reality (AR) geschaffen. Das
ohne Vorkenntnisse zu öffnende Einfallstor
für eigene 3D-Räume/Welten begeistert
Business-Anwender wie Privatnutzer gleichermaßen.
Der Clou: Gegen einen geringen
Beitrag lassen sich per Scanner der rooom AG
von beliebigen Objekten eigene 3D-Modelle
erstellen.
rooom als erste Do-it-yourself-Plattform für
Inhalte in 3D, AR & VR: Das Start-up arbeitet
mit sehr kleinen Datenmengen und ermöglicht
dadurch ausgezeichnete Ladezeiten.
Foto: XXX
64
WIRTSCHAFT+MARKT
TITEL
digitalen Umkleidekabinen ausstatten: Wer
sie betritt, wird von Kopf bis Fuß abgescannt
und kann mittels eines „Wunder“-spiegels
Wunsch-Kleidung auf seinen Körper projizieren.
Anprobe, ohne sich zigmal umzuziehen;
die Nutzer fühlen sich in die Zukunft katapultiert.
Der Gründer und CEO der jungen
Unternehmensgruppe ADCADA mit inzwischen
einem Dutzend Firmen, will in zahlreiche Richtungen
expandieren.
UG-Mitgründerin Laura Gertenbach: „Wir lieben
Fleisch, aber die heutigen Produktionslinien
Programmieren mittels Sensorjacke oder TracePen:
Wandelbots aus Dresden sorgt für mehr
digitale Flexibilität im Mittelstand.
sind nicht mehr zeitgemäß. Forscher haben gezeigt,
dass es anders funktioniert, also machen
wir es.“
Der „Elon Musk“ aus Dresden: Auch wenn
der „Focus“ mit diesem Namensvergleich
zu 90 Prozent schiefliegen sollte, wären
die verbleibenden 10 Prozent Musk, die der
IT-Profi Christian Piechnick mit seiner Firma
Wandelbots verkörpert, dennoch folgenreich.
Nach dem Motto „No Codes Robotics“ leitet
das Start-up eine neue Robotik-Ära mit dem
Unterschied ein, dass jetzt auch Laien per TracePen
Industrieroboter ganz ohne Programmierkenntnisse
teachen können.
Der Mittelstandskonzernchef aus Rostock:
Seine Lösungen u. a. für die Bereiche Handel,
Fashion, Healthcare, Immobilien und Gastro
verblüffen. Bereits mit 15 hatte Benjamin
Kühn folgende digital-innovative „Spiegel“-Idee
im Kopf; jetzt ist er fast 24 und will
seine zwei ersten Fashion.Zone-Shops mit
Anziehen ohne umziehen dank eines genialen
Brückenschlags zwischen Offline-und Onlineshopping:
Der Fashion.Zone-Mirror aus Rostock
macht's möglich.
Die Zellfleisch-Produzentin aus Mecklenburg:
Innocent Meat will den Fleischmarkt der Zukunft
nachhaltig verändern. Das zellbasierte Kunst-
Fleisch mit identischem Geschmack, Nährwert
und Aroma wie aus tierischer Produktion,
wächst vergleichsweise schnell in Bioreaktoren
heran. Dem naturnahen Herstellprozess
liegen gentechnikfreie Tierzellen und pflanzliche
Nährstoffe zugrunde. Die neue Fleischproduktion
benötigt im Vergleich zu herkömmlichen
Methoden 99 Prozent weniger Landfläche, 95
Prozent weniger Frischwasser und verursacht
80 Prozent weniger CO 2 . Mitbegründerin und
CEO ist Laura Gertenbach. (Foto 5)
Ich bin davon überzeugt, dass Start-ups und
Jungfirmen, die noch zu Pandemiezeiten ihre
zukunftsorientierten Konzepte in Angriff nehmen,
jetzt womöglich ein Momentum nutzen
können, das so schnell nicht wiederkommt: Die
sonst gefährlichen, etablierten Wettbewerber
oder „Platzhirsche“ haben zumeist gerade
Besseres zu tun, als sich den Wadenbeißern
zu erwehren: Sie sind massiv auf ihr eigenes
Überleben in der Krise fokussiert und können
darum Quereinsteigern und Innovatoren weniger
Aufmerksamkeit widmen.
Grafik: pch.vector/freepik.com, Fotos: Wandelbots, Adcada, Innocent Meat, Wirtschaft+Markt
MUT ZUM VORSPRUNG
WIRTSCHAFT+MARKT 65
„Nach-Corona“ aus Sicht eines
Zukunftslotsen
Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum von
Wirtschaft und Markt wollte sich mit mittelfristigen
Zukunftsperspektiven für die
neuen Bundesländer in gewohntem Umfeld
befassen, nun hat allerdings das Virus für alle
Gestalter dieser Prozesse neue, unverrückbare
Prämissen geschaffen. Noch immer hofft alle
Welt auf das baldige Ende der Pandemie und
stellt sich mehr oder weniger besorgte Fragen
zum „Danach“. Was lehrt uns Corona, welche
Anstöße hat der Lockdown gegeben, an welchen
Stellen müssen wir uns von Gewohntem
verabschieden? Dem Zukunftslotsen sind dazu
folgende Gedanken wichtig:
„Nach Corona“ wird es so nicht geben, denn wir
werden weiter mit dem Risiko von Pandemien
leben müssen. SARS-CoV-2 ist eine Zäsur,
weil damit eine Zeit massiver Veränderungen
raumgreifend begonnen hat. Zwei wesentliche
Kennzeichen dafür sind:
Eine gedankenlos konsumierende Überflussgesellschaft
wurde durch das Virus
auf eine normale Wohlstandsgesellschaft
zurückgebremst – das Nachhaltigkeitsbewusstsein
wächst. Erreichtes wie die
Digitalisierung des Schulbetriebs, Videokonferenzen
statt Geschäftsreisen oder
mehr Fahrräder in den Innenstädten, wird
sich kaum mehr zurückdrängen lassen.
Durch Corona werden die Menschen erstmals
spürbar auf die Folgen der „Massenmenschhaltung“
aufmerksam, sie erleben
jetzt insbesondere in den Metropolen und
Großstädten hautnah die Konsequenzen,
die von Unternehmern, Politik und Verbrauchern
in der Massentierhaltung seit
Jahren negiert wurden.
Wirtschaftspolitische Folgen
Corona hat Entscheidungen erzwungen, die
Politiker über Jahrzehnte für nicht umsetzbar
gehalten hatten. Deshalb sollte der anstehende
Neustart als Aufbruch in die Zukunft
verstanden und als Chance gestaltet werden.
Förderung für Unternehmen und Branchen
sind nur dann angebracht, wenn damit Beiträge
zu Nachhaltigkeit, Ressourceneinsparungen
und Einhaltung der Klimaziele geleistet werden.
Auch sollte es bei staatlichen Konjunkturpaketen
und Hilfestellungen eine Unterscheidung
zwischen „echten Corona-Opfern“ und
„Untätigkeitsopfern bei Zukunftsstrategien
und Transformation“ geben. Letztere sind
durch das Virus lediglich früher als erwartet
auf die Realitätsfolgen der eigenen Trägheit
gestoßen worden.
So wie vor Corona alle gleich sind, darf dieser
Gleichbehandlungsgrundsatz nicht durch Auffanghilfen
zugunsten der „Lauten“ verfälscht
werden. Nicht weniger systemrelevant und
damit gesellschaftskritisch ist die Masse
derjenigen, die „leise“ leiden. Daraus ergibt sich
zwangsläufig die Fragestellung: Gleichbehandlungsgrundsatz
und soziale Marktwirtschaft –
wie passt das heute und morgen zusammen?
Vielleicht kommen wir im Kontext Corona und
Zukunftsgestaltung zu neuen Ansatzpunkten
mit auf Systemrelevanz bezogenen Gehaltsstrukturen
und Steuerreformen, die Mitgestalter
des gewünschten „Zukunftssystems“
belohnen.
Unternehmerische Folgen
Achtsamkeit ist in diesen Tagen ein ähnliches
Modewort wie es Innovation noch vor Jahren
war. Die Folgen von Corona zwingen uns zum
Richtungswechsel, damit wir nicht in die alten
Problemfelder von Globalisierung, Ressourcenbedarf
und Klimawandel zurückfallen. Der
Einstieg in eine nachhaltigere Lebensweise
und Wirtschaft bietet sich jetzt an, wird
sicher auch bei einem kleinen Prozentsatz der
mündigen Verbraucher zu einem veränderten
Kauf- und Konsumverhalten führen und kann
von langfristig erfolgreichen Unternehmen als
Chance genutzt werden: In einer ressourcenfressenden
Wegwerf-Welt haben Zukunfts-Innovatoren,
die Nachhaltigkeit in den Fokus
nehmen, mindestens einen wahrnehmbaren
Wettbewerbsvorteil sicher.
Etliche global tätige Unternehmen planen
bereits ein Redesign der aktuellen Liefer- und
Wertschöpfungsketten, um für Pandemien
oder andere denkbare Unterbrechungsszenarien
die Robustheit ihrer Prozesse zu
verbessern und die Eigenversorgung mit
strategischen Gütern, wozu nicht nur Masken
und Schutzanzüge gehören, zu gewährleisten.
Dazu müsste gleichzeitig die regionale,
nationale und europäische Unabhängigkeit
gesteigert oder zumindest kurzfristig nutzbare
Alternativlösungen vorgehalten werden. Das
Gestaltungsmotiv geplanter Robustheit und
Zuverlässigkeit muss dabei aber Vorfahrt
haben gegenüber pauschalen Rückwärtsbewegungen
wie spontane Renationalisierung.
Trotz des wirtschaftlichen Corona-Desasters
sind jene Unternehmen im Vorteil, die die Krise
als Zukunftschance angehen. Es sind oft die,
die im Rahmen ihrer Unternehmensplanung
schon länger mit Zukunftsbildern und Szenarien
unterschiedliche Handlungsalternativen
untersucht und strategisch vorausschauend
durchdacht haben. Sie können ihre bisherigen
Maßnahmenpläne und Roadmaps jetzt an
neue Randbedingungen anpassen und mit
aktualisierten Prioritäten die Umsetzung
verfolgen.
Der Münchner Thomas Strobel ist Geschäftsführer der FENWIS GmbH. Der
57-jährige Dipl.-Ing. für Maschinenwesen mit Berufserfahrung in branchenübergreifenden
Strategie- und Planungsteams sowie im Innovationsmanagement
gilt als besonders industrienah. Als Zukunftslotse
ist er methodisch und inhaltlich darauf spezialisiert, für mittelständische
Unternehmen und Industrieverbände aus Zukunftstrends
erfolgversprechende Geschäftsstrategien, neue Geschäftsmodelle
und Umsetzungspläne systematisch abzuleiten.
66
WIRTSCHAFT+MARKT
ZUKUNFTSMOBILITÄT
AUTOMOBILINDUSTRIE OST
AUF DER ÜBERHOLSPUR IN
SACHEN ZUKUNFTSMOBILITÄT
Die Automobilwirtschaft in den neuen Bundesländern
hat sich speziell in den letzten zehn Jahren dynamisch
entwickelt. Nahezu jeder ostdeutsche Ministerpräsident
oder Wirtschaftsminister behauptet daher voller Stolz,
dass ohne Fahrzeugteile aus seinem Bundesland kein
deutsches Auto fahren würde. Widerlegt hat diese steile
These noch niemand. In der Tat haben sich die unzähligen
hoch spezialisierten Mittelständler auf diesem Gebiet
unverzichtbar gemacht. Sie beliefern längst nicht mehr
nur den heimischen Markt, Fahrzeugteile „made in Eastgermany“
sind weltweit gefragt.
Doch das absehbare Ende der Verbrennungsmotoren
zwingt die Branche zum Umdenken. Die Produktion muss
kurz- und mittelfristig an die Bedürfnisse der Elektromobilität
angepasst werden. Speziell die im Osten beheimateten
Autoschmieden haben sich auf den neuen Trend
bereits eingestellt und sind dabei, sich auf die Überholspur
in Sachen Zukunftsmobilität zu begeben.
Die hier abgebildeten Zahlen und Fakten vermitteln einen
Eindruck von der Stärke und Leistungskraft der Automobilwirtschaft
zwischen Mecklenburg-Vorpommern
und Thüringen.
WIRTSCHAFT+MARKT 67
9 %
aller Beschäftigten
der ostdeutschen
Industrie arbeiten
in der Automobilindustrie
13 % aller in Deutschland
produzierten Pkw wurden in
Ostdeutschland hergestellt.
Hinzu kommen viele Beschäftigte in
anderen Wirtschaftszweigen, die ihren
Arbeitsplatz dem Automobil verdanken
596.500
PKW
wurden 2019 in
Ostdeutschland
produziert
10,8
MRD. EURO
EXPORT
(2019)
12 %
des Umsatzes der ostdeutschen
Industrie
werden in der
Automobilwirtschaft
erwirtschaftet.
14 % der Exporte der ostdeutschen
Industrie entfielen im Jahr 2019
auf die Automobilindustrie.
946 MIO.
EURO INVES
TITIONEN
(2018)
Damit legten die Investitionen gegenüber
2017 um ein Fünftel (+21 %) zu.
68
WIRTSCHAFT+MARKT
AUTOMOBILINDUSTRIE –
EINE BRANCHE IM WANDEL
Wie für das gesamte Land spielt die Automobilindustrie auch für die ostdeutschen
Bundesländer eine besondere Rolle – sie ist eine der zentralen Säulen
der Industrie. Neun Prozent aller Beschäftigten in der ostdeutschen Industrie
arbeiten in der Automobilindustrie. 73.000 Menschen verdienen ihr Geld in
dieser Branche, die derzeit zwei Herausforderungen gleichzeitig meistern
muss – die Coronakrise und den Strukturwandel in Richtung Elektromobilität.
VON KARSTEN HINTZMANN
Die Zahlen aus den letzten Jahren waren
beeindruckend: In den neuen Bundesländern
wurden pro Jahr knapp 600.000 Pkw
gefertigt, rund 13 Prozent aller in Deutschland
hergestellten Autos. Der Gesamtumsatz der
Branche lag im Osten Deutschlands bei über
25 Milliarden Euro, die Investitionen betrugen
mehr als 940 Millionen Euro. Nach zehn Jahren
des Wachstums, der Internationalisierung und
einem stetigen Aufwuchs der Erträge und der
Beschäftigung steht die deutsche Automobilindustrie
vor einem längerfristigen Strukturwandel.
Die Trends der Elektrifizierung der
Antriebe sowie die zunehmende Etablierung
automatisierter Fahrfunktionen und neuer
Mobilitätsdienstleistungen werden die Wertschöpfungsnetzwerke
und die Produktion von
Zulieferern und Automobilherstellern zum Teil
tiefgreifend verändern. Die damit verbundenen
Auswirkungen beeinflussen schon jetzt maßgeblich
den Industriestandort Deutschland
und somit auch Ostdeutschland.
Nicht zuletzt auch deshalb, weil Corona das
Autogeschäft massiv verhagelt hat. Aufgrund
der Folgewirkungen der Coronapandemie
kam es nach Angaben des Verbandes der
Automobilindustrie (VDA) im ersten Halbjahr
2020 zu starken Absatzrückgängen auf den
internationalen Pkw-Märkten. Der durch das
Coronavirus bedingte parallele Einbruch der
meisten Märkte ist historisch beispiellos: In
den großen Absatzregionen China, USA und
Europa wurden in Summe 7,5 Millionen Pkw
weniger verkauft als im Vorjahreszeitraum.
Das entspricht einem Absatzrückgang von
28 Prozent. In Japan reduzierte sich die Nachfrage
um ein Fünftel. In Russland und Brasilien
ist der Absatz ebenfalls massiv eingebrochen.
Den europäischen Markt trifft es in der
Coronakrise am härtesten: In Europa wurden
im ersten Halbjahr 5,1 Millionen Pkw neu
zugelassen – 39 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.
Die fünf größten europäischen
Absatzmärkte lagen allesamt zweistellig im
Minus.
Halbjahr 2020 haben sich die Anmeldungen
damit trotz der Coronakrise auf 93.682 Elektroautos
nahezu verdoppelt (+96 Prozent).
Treiber der dynamischen Entwicklung waren
auch im Juni die Plug-in-Hybride. Sie verzeichneten
einen Anstieg um 274 Prozent auf
den neuen Rekordwert von 10.749 Einheiten.
Ihr Anteil an den Elektro-Neuzulassungen
erreichte damit 57 Prozent. Das Marktvolumen
rein batterieelektrischer Fahrzeuge stieg
auf 8.119 Einheiten, das entsprach
einem Zuwachs um 41 Prozent.
Die deutsche Automobilindustrie
konnte ihren
Marktanteil bei Elektroautos
im Juni auf 67 Prozent
(Vorjahresmonat: 46 Prozent)
ausbauen. Die Modelloffensive ist in
vollem Gange – deutsche Konzernmarken,
mit ihren für die Elektromobilität wichtigen
ostdeutschen Standorten, bieten inzwischen
rund 70 verschiedene Modelle an. Bis Ende
2023 sollen es dann mehr als 150 sein.
ERSTE POSITIVE NACHRICHTEN
Allerdings gibt es inzwischen auch wieder
erste gute Nachrichten von der Autofront,
speziell aus dem Zukunftssektor Elektromobilität.
Im Juni nahmen die Neuzulassungen von
Elektro-Pkw laut Kraftfahrt-Bundesamt mit
einem Zuwachs um 118 Prozent auf 18.897
Fahrzeuge wieder Fahrt auf. Der Anteil am
Gesamtmarkt stieg auf 8,6 Prozent. Im ersten
Im Vergleich zu gewerblichen Käufern verhalten
sich aktuell private Käufer jedoch nach wie
vor zurückhaltend. Im Juni lag ihr Anteil an den
Elektroneuzulassungen bei 28 Prozent. „Die
ab 1. Juli 2020 für sechs Monate abgesenkte
Mehrwertsteuer in Kombination mit dem
deutlich erhöhten Umweltbonus sollte in den
nächsten Monaten zu einer Auflösung des
Nachfragestaus bei privaten Käufern führen.
Grafiken: macrovector/freepik.com
ZUKUNFTSMOBILITÄT WIRTSCHAFT+MARKT 69
Für Hersteller, Handel und Kunden besteht nun Klarheit über die Förderung
beim Kauf von Elektroautos. Beide Maßnahmen sind wichtige
Instrumente, um die Erneuerung der Fahrzeugflotte durch klima- und
umweltfreundliche Elektrofahrzeuge zu unterstützen“, lautet die
Einschätzung von Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der
Automobilindustrie.
ACOD TREIBT ZUKUNFTSTHEMEN
In den neuen Bundesländern hat sich bereits vor 16 Jahren
ein Netzwerk etabliert, das sich inzwischen zum Treiber der
automobilspezifischen Zukunftsthemen gemausert hat – das
Automotive Cluster Ostdeutschland (ACOD). Es verzahnt Automobilhersteller,
Zulieferer, Dienstleister, Forschungsinstitute,
Verbände und Institutionen, um gemeinsam die Leitthemen
Digitalisierung, Elektromobilität und Flexibilisierung voranzubringen.
Dabei liegen ACOD die Produkte und Produktionstechnologien
der ostdeutschen Automobilwerke von VW,
Opel, Daimler, Porsche und BMW besonders am Herzen.
Grafiken: microone/freepik.com
Die Clusterverantwortlichen sehen es als ihre Aufgabe,
regionale Aktivitäten zu bündeln und dadurch Synergien
innerhalb der Branche für ganz Ostdeutschland zu
erzeugen. Kleine und mittelständische Unternehmen
werden bei der Vernetzung untereinander und mit
Hochschulen unterstützt, damit sie Leistungen für
Fahrzeughersteller oder deren Direktlieferanten erbringen
können. Auf diese Weise soll die ostdeutsche
Automobilindustrie nachhaltig wachsen und Schritt
für Schritt leistungsfähiger werden.
Erklärtes Ziel von ACOD ist es, dazu beizutragen,
dass sich die neuen Bundesländer zu einem europäischen
Zentrum für Hightech-Produkte der
Automobilindustrie entwickeln.
70
WIRTSCHAFT+MARKT
GESELLSCHAFT
AUTOMOBILINDUSTRIE UND
OSTDEUTSCHLAND SIND
EINE ERFOLGSGESCHICHTE –
MIT FORTSETZUNG
Von Hildegard Müller, Präsidentin des
Verbandes der Automobilindustrie (VDA)
Ostdeutschland ist Autoland – mit einer
Tradition, die bis zu den Anfängen des Automobilbaus
zurückreicht. Und in dem heute in
Werken mit höchster Effizienz modernste,
nachhaltigste Fahrzeuge und Technologien
produziert werden: Hightech-Elektronik, Verbundstoffe
und Elektrofahrzeuge der neuesten
Generation. In Zwickau oder Leipzig laufen
Elektro-Autos vom Band, die international
Maßstäbe setzen. In Leipzig werden außerdem
wegweisende Carbon-Karossieren gefertigt,
in Kamenz Batterien für die neue Generation
der Stromer – um nur einige Beispiele dieser
Erfolgsgeschichte zu nennen.
In den fünf ostdeutschen Bundesländern wird
die Zukunft produziert, sie sind ein starker
Automobilstandort. Aber natürlich leidet auch
der unter den Auswirkungen der tiefsten
Rezession der Nachkriegsgeschichte
infolge der Coronapandemie.
Die Maßnahmen zur Stabilisierung,
die die Politik ergriffen
hat, müssen nun auch
an die Situation in den
ostdeutschen Ländern
angepasst werden.
Zu Beginn des zweiten
Halbjahres hat sich der weltweite
Pkw-Absatz nach dem beispiellosen
Einbruch in den ersten sechs Monaten zwar
etwas stabilisiert. Aber wir sollten uns nicht
täuschen lassen. Die Coronakrise ist nicht ausgestanden.
Die Zahl der Ansteckungen steigt
weltweit, und dies wird nicht ohne Auswirkungen
auf Wirtschaft, Produktion und Nachfrage
bleiben. COVID-19 und die Folgen der Pandemie
in den Griff zu bekommen, ist kein Sprint,
kein Dauerlauf – das wird ein Ultramarathon
für Politik und Wirtschaft. Für uns alle.
Umso wichtiger ist es daher, mehr als Notfallmanagement
zu betreiben und diese Krise
dafür zu nutzen, Reformen in Wirtschaft und
Politik voranzutreiben. Nötig ist ein Stabilisierungs-
und Wiederaufbauprogramm, das
in eine zukunftsgerichtete Industriepolitik auf
nationaler wie europäischer Ebene eingebettet
ist. Eine solche aktive Industriepolitik,
die natürlich dem Klimaschutz
verpflichtet ist, muss die
Bedürfnisse der jeweiligen
Regionen berücksichtigen
und eng abgestimmt sein
zwischen der EU und
den Mitgliedsländern.
Denn 27 Einzelkämpfer,
die jeweils für sich agieren,
werden es nicht schaffen,
den Standort Europa nach Corona fit für die
Zukunft zu machen – auch mit Blick auf die
Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber
China und den USA. Gelingt ein solches Reform-
und Zukunftsprogramm, kann unsere
Volkswirtschaft und damit die deutsche
Automobilindustrie am Ende sogar gestärkt
aus dieser Krise hervorgehen.
Für die deutschen Automobilhersteller und
Zulieferer in Ost und West ist es entscheidend,
sich möglichst rasch zu erholen und zu alter
Stärke zurückzufinden. Denn die Unternehmen
stehen vor den größten Herausforderungen
seit Bestehen dieser Industrie. Die Klimaschutzziele,
zu denen sich die Automobilindustrie
ausdrücklich bekennt, erfordern einen
schnellen Umstieg auf alternative Antriebe
und eine Weiterentwicklung moderner Verbrenner.
Der Weg zur CO 2 -freien Mobilität, den
unsere Hersteller und Zulieferer mit hohem
Engagement und enormen Investitionen eingeschlagen
haben, fordert diese Industrie an
sich schon auf das Äußerste.
Hinzu kommen die Entwicklung digitaler Technologien,
Services und Geschäftsmodelle sowie
die Vernetzung und Automatisierung des
Automobils und Fahrens. Das sich wandelnde
Mobilitätsverhalten der Menschen und die
Foto: Grafiken: XXX microone/freepik.com, vectorpocket/freepik.com
ZUKUNFTSMOBILITÄT WIRTSCHAFT+MARKT 71
Hildegard Müller
Foto: XXX VDA
Debatten in Metropolen, welchem Verkehrsträger
wie viel Platz in den Citys eingeräumt
werden soll, sind weitere Herausforderungen.
Diese Debatten polarisieren leider auch und
werden oft nicht mit Blick darauf geführt, dass
die Menschen ganz unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse
haben.
Eine jüngst vom Verband der Automobilindustrie
durchgeführte Umfrage unter seinen
Mitgliedern im Bereich der Zulieferer hat
ergeben, dass aufgrund der tief greifenden
Veränderungen ein knappes Drittel bereits vor
der Coronakrise Personalabbau in Deutschland
geplant hat. Dafür ausschlaggebend
waren bei mehr als zwei Dritteln der betroffenen
Unternehmen die allgemein schwache
Konjunktur und die hohen Kosten am Standort
Deutschland. Wir brauchen daher zusätzlich zu
den Maßnahmen gegen Corona eine Senkung
der steuerlichen Belastung von Unternehmen,
bezahlbare Energie, weniger Bürokratie und
vor allem keine weiteren Belastungen.
Nur so können wir dauerhaft Produktion
und Beschäftigung im Land halten. Und
das ist gerade zur Sicherung des erreichten
Wohlstands in Ostdeutschland wichtig. Die
Automobilindustrie ist dort seit der Wiedervereinigung
die treibende Kraft des Aufschwungs,
der aus einer klugen Förderpolitik, exzellent
ausgebildeten und motivierten Fachkräften
sowie einer guten Kostenstruktur resultiert.
In den knapp 300 Betrieben mit mehr als 20
Mitarbeitern der fünf östlichen Bundesländer
arbeiten 73.000 Beschäftigte. 596.000 Pkw
wurden 2019 in Ostdeutschland produziert.
Dieser Erfolgsgeschichte soll fortgeschrieben
werden.
Dafür brauchen wir in Deutschland und Europa
die richtigen politischen Rahmenbedingungen.
Aus den vielen im Konjunkturpaket formulierten
Absichten muss schnell konkretes
Handeln folgen. Erfolgreiche Digitalisierung
etwa gelingt nur, wenn die bis 2025 geplanten
flächendeckenden 5G-Netze dann auch
tatsächlich existieren. Gerade in Ostdeutschland
ist es entscheidend, dass modernste
Infrastruktur entsteht, damit die Region für
Arbeitskräfte, Investoren und Unternehmen
attraktiv bleibt. Dazu gehören auch ein gutes
Bildungsangebot und der weitere Ausbau der
Verkehrsinfrastruktur.
Zuletzt brauchen wir eine Debatte darüber,
wie wir die Mobilität der Zukunft gestalten
wollen und dabei den Bedürfnissen der Menschen
ihrer jeweiligen Lebenssituation gerecht
werden. In ländlichen und dünner besiedelten
Regionen wie in vielen Gegenden Ostdeutschlands
beispielsweise wird für längere Distanzen
über Land, in abgelegenen Regionen
und in kleinen Gemeinden das Auto absolut
unverzichtbare Grundlage individueller Mobilität
bleiben. Und wir müssen im Auge behalten,
dass individuelle Mobilität weiterhin bezahlbar
ist. Aber auch das gilt für alle Menschen – egal
wo sie wohnen und arbeiten.
72
WIRTSCHAFT+MARKT
AUTOMOBILWIRTSCHAFT
LEIDET WELTWEIT UNTER
DEN FOLGEN DER
CORONAKRISE
Die deutschen Automobilhersteller und -zulieferer sind stark von Exporten
abhängig. Doch die Handelsmöglichkeiten haben sich in diesem Jahr auf vielen
Märkten verschlechtert. WIRTSCHAFT+MARKT bat die Gesellschaft für Außenwirtschaft
und Standortmarketing GTAI um eine internationale Marktanalyse.
VON KARSTEN HINTZMANN
USA
Für die Autobranche
ist das Coronavirus
ein sehr harter
Einschnitt. Wegen des
stark eingeschränkten
Luftverkehrs stehen zahlreiche Flugzeuge der
Airlines still. Mancherorts dürfen Fabriken,
Geschäfte und Restaurants wieder unter Auflagen
öffnen. Kaum wiedereröffnet, musste
Ford die Produktion in zwei Montagewerken
indes erneut anhalten, nachdem Mitarbeiter
positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Neben der Gefahr eines Virusausbruchs muss
die US-Autoindustrie auch auf Unterbrechungen
in der Teileversorgung, insbesondere aus
Mexiko, gefasst sein. So musste unter anderem
Daimler bereits in der zweiten Maihälfte
wegen Lieferengpässen die Arbeit in seinem
US-Montagewerk in Tuscaloosa, Alabama,
wieder stoppen.
Im Gegensatz zu früheren Krisen
wurden diesmal alle drei Weltmärkte
– in rascher Folge erst China,
dann Europa und die USA – stark
erschüttert. Die Autokonzerne
versuchen in dieser Situation, mehr
Fahrzeuge per Direktvertrieb über das Internet
zu verkaufen. Mit Auto-Konfiguratoren auf
den Internetseiten der Hersteller lassen sich
Wunschausstattungen bereits heute individuell
zusammenstellen, sodass nur ein Zahlungsweg
und ein Verfahren zur kontaktlosen
Auslieferung gefunden werden muss.
CHINA
Nach einem katastrophalen 1. Quartal 2020
mit einem Minus von 42,4 Prozent beim
Kfz-Absatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum
und mit 56,4 Prozent weniger verkauften
Elektroautos im Zeitraum Januar bis April
2020 gibt es für die chinesische Kfz-Industrie
erste Lichtblicke. Nach Angaben der China
Association of Automobile Manufacturers
(CAAM) wurden im April 2020 bereits 4,4
Prozent mehr Kfz und nur noch 2,6 Prozent
weniger Pkw verkauft als im Vorjahresmonat.
Automobilbauer sehen eine Sonderkonjunktur
durch bislang aufgeschobene und nun nachgeholte
Autokäufe, Herstellerrabatte und
die neue Attraktivität des Fahrens
im eigenen Auto voraus. Ob diese
Entwicklung nachhaltig ist, muss
sich zeigen. Dabei verlängert der
Staat auch Subventionen wie den
Erlass der Kaufsteuer für Elektroautos bis
Ende 2022.
Das besser laufende Premiumsegment, das
von deutschen Automobilbauern dominiert
wird, visiert für 2020 jedoch eine schwarze
Null bis hin zu einem leichten Plus an. Schwer
tut sich trotz Verlängerung von Subventionen
und Steuerbefreiung der Elektromobilitätssektor.
In den ersten fünf Monaten 2020
wurden 38,7 Prozent weniger Autos mit
alternativem Antrieb verkauft als im Vorjahreszeitraum.
Die COVID-19-Pandemie hat
dem Elektromobilitätssektor herbe Verluste
beschert. In den ersten vier Monaten 2020
brach die Produktion um 44,8 Prozent im Vergleich
zur Vorjahres periode ein. Der
Absatz ging um 43,4 Prozent
deutlich zurück.
BRASILIEN
Brasiliens Kfz-Industrie
steht vor einer
Umstrukturierung. Nach
einem drastischen Einbruch
im Zuge der Coronakrise werden sich Verkauf
und Produktion nur langsam erholen. Das
Verbrauchervertrauen fehlt. Im Kfz-Verleih,
Foto: Grafiken: XXX freepik/freepik.com
ZUKUNFTSMOBILITÄT
WIRTSCHAFT+MARKT 73
Foto: Grafiken: XXX Gelindrang/thenounproject.com, mehmetbuma/freepik.com
Pkw und leichte Nutzfahrzeuge produzieren
wird. Das wäre ein Minus von 850.000 Einheiten
gegenüber 2019. Für die Teilefertigung
prognostiziert der Branchenverband für 2020
einen Einbruch um 28 Prozent auf einen Wert
von 70,9 Milliarden US-Dollar. Für 2021 wird
vieles darauf ankommen, wie schnell sich die
Nachfrage in den USA wieder erholt.
FRANKREICH
Nach einem starken Einbruch während des
strikten achtwöchigen Lockdowns hat sich der
Absatz von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen
seit der schrittweisen Lockerung ab Mitte
Mai 2020 wieder deutlich erholt. Im Juni und
Juli lagen die Verkäufe leicht höher als in den
Vorjahresmonaten, obwohl der Juli 2020 einen
Werktag weniger zählte als 2019.
Die Krise hat vor allem den Not leidenden
Autobauer Renault hart getroffen. Anfang Juni
hat die Regierung eine Kreditgarantie für fünf
Milliarden Euro gewährt. Im Gegenzug
garantiert das Unternehmen den
Fortbestand einiger Standorte.
Drei Fabriken sollen schließen und
ein großes Montagewerk in Flins
für andere Aktivitäten umgewidder
wichtigsten Abnehmerbranche, fiel der
Umsatz um 90 Prozent. Auch der Export geht
zurück. Der Sektor konnte keine Hilfskredite
mit der Entwicklungsbank BNDES aushandeln.
Ohne diese droht vielen lokalen Zulieferern
und Händlern die Insolvenz. Zudem verteuert
der Wechselkurs die importierten Komponenten.
Erste Werke nahmen den Betrieb im April
wieder auf, einige zögerten
den Wiederbeginn bis
Ende Juni heraus. Alle
Investitionen liegen
auf Eis.
MEXIKO
Die Aussichten für Mexikos
Kfz-Industrie sind düster. Wie schnell sich die
Branche erholt, hängt von der Entwicklung auf
dem US-amerikanischen Markt ab. Mexikos
Kfz-Industrie darf seit dem 18. Mai wieder
produzieren. Damit endete für Fahrzeughersteller
und Zulieferer eine siebenwöchige
Durststrecke, während der jegliche
Fertigung untersagt war. Die
Absatzaussichten bleiben aber
eingetrübt: Die Analysefirma
IHS Markit geht davon aus, dass
Mexiko 2020 rund 2,9 Millionen
met werden. Renault und PSA zahlen in einen
Fonds zur Stützung der Zulieferindustrie ein.
Weitere 350 Millionen Euro kommen der Modernisierung
von Fabriken und der Forschung
zugute. Die Industrie hat zugesagt, ab 2025
eine Million elektrische und Hybrid-Autos im
Land herzustellen. Der französische Staat hat
Kauf- und Verschrottungsprämien erhöht, um
hohe Lagerbestände infolge der Corona krise
abzubauen.
ITALIEN
Im April 2020 wurden
im ganzen Land nur
4.279 Fahrzeuge zugelassen.
In den ersten
Monaten dieses Jahres waren
es nur halb so viele wie im vergleichbaren
Vorjahreszeitraum. Im Gesamtjahr könnten
bis zu 500.000 Kfz weniger verkauft werden
als im Vorjahr. Es wird immer wahrscheinlicher,
dass die Regierung starke Kaufanreize
gewähren wird. Sinnvoll wäre angesichts des
durchschnittlichen Flottenalters von 12 Jahren
eine Abwrackprämie. Der Automobilverband
Anfia fordert zudem, den Ökobonus auf Fahrzeuge
auszuweiten.
74
WIRTSCHAFT+MARKT
RUSSLAND
Die schwache Nachfrage, Lieferausfälle
und angeordnete Werksferien setzen der
russischen Fahrzeugbranche
zu. Die Produktion
kann 2020 nicht an die
Werte der Vorjahre
anknüpfen. Die Fahrzeugproduktion
leidet
erheblich unter der Coronapandemie.
Im April
2020 mussten die meisten
Fabriken ihre Fließbänder anhalten. Neben den
Zwangsferien wirken sich Engpässe bei der
Teileversorgung negativ aus. Aufgrund der sinkenden
Pkw-Nachfrage gingen viele Hersteller
im Mai und Juni zu Vier-Tage-Wochen und
reduzierter Schichtenanzahl über.
Deshalb ist für 2020 mit einem
Rückgang der Pkw-Produktion
(2019: 1,53 Millionen) zu rechnen;
in den ersten vier Monaten
2020 ist diese um 33,5 Prozent
eingebrochen. Dennoch laufen in
der Branche viele Investitionsprojekte
im Rahmen der Sonderinvestitionsverträge
weiter, unter anderem bei AwtoWAS, Volkswagen,
Toyota und GAZ. Zwölf Autobauer mit
Werken in Russland wurden als „systemrelevant“
eingestuft, darunter Volkswagen.
Von Januar bis April 2020 ging der Automobilverkauf
um insgesamt 19,1 Prozent auf
415.102 Stück zurück. Ausgangsbeschränkungen
und Betriebsschließungen haben viele
Autohäuser in Existenznot gebracht. Experten
der Investmentbank VTB Capital erwarten,
dass der Markt für Pkw und leichte
Nutzfahrzeuge im Jahr 2020 um ein
Fünftel auf 1,4 Millionen Einheiten
schrumpft. Das Hilfspaket des
Staates von 25 Milliarden Rubel
zielt vor allem auf Nutzfahrzeuge:
Verschiedene Ministerien wollen in
diesem Jahr 25.000 Kleintransporter
und zusätzliche Krankenwagen aus russischer
Produktion kaufen. Außerdem stellt die Regierung
Gelder für vergünstigte Autokredite und
Leasingraten bereit.
SPANIEN
Spanien ist der zweitgrößte europäische
Fahrzeugproduzent. Der
Absatz leidet unter der Schwäche
des Binnenmarktes und wichtiger
Auslandsmärkte. Nach vier bis fünf Wochen
Stillstand nahmen Ende April und Anfang
Mai 2020 die meisten der 17 Automobilfabriken
ihre Arbeit wieder auf. Die Unternehmen
produzieren mit gesundheitlichen Schutzmaßnahmen
und reduzierter Stückzahl. Da die
Branche zu 80 Prozent von Exporten abhängig
ist, richtet sich der Blick auf die Auslandsnachfrage.
Viele Abnehmerländer kämpfen aber
ebenfalls mit den Folgen der Coronakrise. Im
Mai kursierten erste Schätzungen, laut denen
die Fertigung 2020 um etwa 25 Prozent unter
der Stückzahl von 2019 liegen könnte.
GROSSBRITANNIEN
Die Schließungsanordnung für
Autohäuser im Zuge der Ausgangsbeschränkungen
haben
die Registrierungszahlen aller
Kfz-Typen im April um zweistellige
Raten fallen lassen. Die diesjährigen
Aussichten für den Absatz aller Kfz-Typen
bleiben schlecht, weil die Unsicherheit über die
wirtschaftliche Erholung bei den Abnehmern
bleibt. Der Automobilverband SMMT erwartet
für 2020 rund 1,7 Millionen Pkw-Neuregistrierungen,
der niedrigste Wert seit 1992.
Mittelfristig gute Aussichten bestehen für den
Absatz von Linienbussen, da die Regierung
laut Ankündigung im Februar den Ausbau des
öffentlichen Personennahverkehrs
mit fünf Milliarden Pfund stärken
will. Auch könnten E-Scooter
bald die Städte erreichen.
UNGARN
Nach überaus erfolgreichen
Vorjahren 2018 und 2019 rutschte die
Foto: Grafiken: XXX freepik/freepik.com
ZUKUNFTSMOBILITÄT WIRTSCHAFT+MARKT 75
Automobilindustrie im 1. Quartal 2020 in die
Krise. Alle Automobilwerke des Landes waren
im März und April 2020 aufgrund ausbleibender
Nachfrage und aus Sicherheitsgründen
von mehrwöchigen Produktionsstopps
betroffen. Auch große Automobilzulieferer,
wie Bosch, Continental oder Denso, arbeiteten
wochenlang mit deutlich reduzierter
Kapazitätsauslastung. Die Krise bremst die
Realisierung großer Investitionsprojekte, wie
etwa den Bau des neuen BMW-Werkes in
Debrecen, zwar aus. An den Plänen soll aber
mit zeitlicher Verzögerung
festgehalten werden.
INDIEN
In Indiens Kfz- und
Zulieferindustrie
laufen seit Mitte Mai
nach fast zwei Monaten
wieder die Bänder. Aufgrund
von Störungen in der Lieferkette geschieht
dies allerdings nur mit Kapazitäten von
höchstens 15 Prozent. Wegen der schon vor
der Coronakrise hohen Lagerbestände bei den
Original Equipment Manufacturers (OEM) und
den Teileherstellern sowie der für 2020/21
erwarteten schwachen Nachfrage nach Pkw
und Nutzfahrzeugen dürften viele Autobauer
ihre Investitionspläne zurückstellen. Vor allem
die Zulieferindustrie hofft, von einer stärkeren
Diversifizierung der globalen Supply-Chain bei
den OEM profitieren zu können. Die Regierung
will Kfz-Unternehmen mit Investitionsvergünstigungen
nach Indien locken.
JAPAN
Japans Automobilbranche
gibt 2020 keine Prognose ab.
Insgesamt dürfte die weltweite
Produktion der japanischen Automobilhersteller
um ein Drittel geringer
ausfallen als im Vorjahr, schätzen Marktbeobachter.
Lieferkettenunterbrechung und Nachfragerückgang
im In- und Ausland zogen Produktionsstopps
nach sich. Kapazitätsausbau
ist kaum gefragt, jedoch die Umrüstung auf
striktere Standards für Kraftstoffeffizienz, die
in Japan und im Ausland verlangt werden. Um
diese zu erreichen, müssen die Kfz-Hersteller
verstärkt auf Modelle mit neuen Antrieben,
wie Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeuge,
umstellen.
SÜDKOREA
Steuervergünstigungen beim Kauf bewirken
auf Südkoreas Kfz-Markt eine deutliche
Zunahme der Zulassungszahlen.
Deutsche Anbieter profitieren
überdurchschnittlich. Die Zahl
der in Südkorea produzierten
Kfz fiel 2019 unter vier Millionen
Einheiten. In den ersten vier Monaten 2020
sank sie um 17,3 Prozent im Vergleich zum
Vorjahreszeitraum. Hauptgrund ist die eingebrochene
Autonachfrage im Ausland
aufgrund von Lock- und Shutdowns.
Dementsprechend ist GM Korea,
das viele Fahrzeuge exportiert,
trotz steigenden Absatzes in
Südkorea mit einem Minus von circa
29 Prozent stark betroffen. Lediglich
bei SsangYong war der Rückgang noch
höher. Hyundai und Kia treiben die Themen
Elektroautos, autonomes Fahren und Brennstoffzellen
voran.
Der Kfz-Absatz sank 2019 bei einem zunehmenden
SUV-Anteil insgesamt um 1,8 Prozent
auf 1,8 Millionen Einheiten. Entgegen dem
Trend der Vorjahre waren Importeure stärker
betroffen als nationale Anbieter. Auch dank
einer bis Ende Juni 2020 befristeten Reduzierung
der Erwerbssteuern beim Autokauf
fiel in den ersten vier Monaten von 2020 der
Absatz trotz des Coronavirus nur um 2,3
Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
Die Importeure verzeichneten ein Plus
von 9,5 Prozent. Deutsche Marken
schnitten noch besser ab. Tesla
verkaufte von Januar bis April.
FAZIT
Dr. Jürgen Friedrich, GTAI-Geschäftsführer und Sprecher der Geschäftsführung, sagt:
„Die Coronapandemie hat die Pkw-Märkte dieses Jahr weltweit hart getroffen. Auch in China fiel
das erste Quartal katastrophal aus. Bereits seit Mai werden jedoch dank Nachholeffekten und
günstiger Rabatte pro Monat wieder mehr Pkw mit Verbrennungsmotor verkauft als im jeweiligen
Vorjahresmonat. Bei Elektroautos hielten sich die Kunden bislang hingegen zurück; erst im
Juli gelang es, den Absatz des Vorjahresmonats zu übertreffen. Ob die Trendwende nachhaltig
ist, muss man sehen.“
Foto: Grafiken: XXX Gelindrang/thenounproject.com, mehmetbuma/freepik.com
76
WIRTSCHAFT+MARKT
ZUKUNFTSMOBILITÄT
AUSLANDS MÄRKTE
BLEIBEN FÜR OST
DEUTSCHLAND
WICHTIG
Interview mit Michael Kotzbauer, Vorsitzender des Vorstands des
Ostdeutschen Bankenverbandes, zu den Folgen von Corona für die ostdeutsche
Exportwirtschaft und den Umbau der Automobilindustrie
W+M: Die deutsche Exportwirtschaft hat in
der Coronapandemie einen starken Einbruch
erlebt. Wie lange wird der Weg zu einer Erholung
der Märkte dauern?
Michael Kotzbauer: Diese Frage kann derzeit
niemand seriös beantworten. Auch wenn
wir uns auf einem guten Weg der Besserung
befinden, ist es gegenwärtig noch nicht absehbar,
wann das Vor-Krisen-Niveau erreicht
sein wird. Erfreulich ist deshalb schon jetzt,
dass etwa in den Umfragen des Ifo-Instituts
die Exporterwartungen wieder ansteigen und
sich ein vorsichtiger Optimismus verbreitet.
Dennoch bleibt die Situation vage. Es wird
stark darauf ankommen, wie lange die Pandemie
noch andauert, ob es eine spürbare zweite
Welle und einen erneuten Lockdown gibt. Auch
ist entscheidend, wie sich die Situation bei
den wichtigen Handelspartnern entwickelt,
allen voran in China und den USA – Stichwort
Präsidentschaftswahlen.
W+M: Wie sehr hat die Coronakrise die
ostdeutsche Exportwirtschaft getroffen?
Michael Kotzbauer: Die Folgen der Pandemie
haben starke Auswirkungen auf das
gesamte Exportgeschäft. Das betrifft Ost wie
West. In den Schlüsselbranchen wurden deutliche
Exportrückgänge verzeichnet. Für den
ostdeutschen Maschinenbau etwa gingen die
Auslandsaufträge um 20 Prozent zurück. Die
Automobilindustrie in Sachsen erlitt ein Minus
von 38 Prozent. Jedoch zeichnet sich bereits
eine leichte Erholung ab.
W+M: Der Automobilbau und seine Zuliefererindustrie
befanden sich schon vor Corona in
einem starken Wandel. Wie sieht die Situation
jetzt aus?
Michael Kotzbauer: Der Auftragsrückgang
in der Zuliefererindustrie in den ostdeutschen
Bundesländern hat den sich bereits vor Corona
abzeichnenden Anpassungsbedarf in der Autobranche
verschärft. Die Branche wird aber
für Ostdeutschland bedeutsam bleiben.
W+M: Bietet der Umbau der Branche in Ostdeutschland
auch Chancen?
Michael Kotzbauer: So ist es. Die Automobilindustrie
bleibt sicherlich eine Schlüsselindustrie.
Allein in Sachsen und Mitteldeutschland
arbeiten über 185.000 Beschäftigte in
diesem Bereich, darunter viele, die sich bereits
mit Transformationsthemen befassen. Wichtig
ist, dass der Umbau der Branche gelingt, Forschung
und Entwicklung und Innovation in den
Bereichen Elektromobilität und autonomes
Fahren vorangetrieben werden. Ist man hier
erfolgreich, kann sich Ostdeutschland ganz
vorn in diesen Bereichen positionieren.
W+M: Inwieweit müssen die Export-Unternehmen
ihre Geschäftsmodelle in Folge der
gegenwärtigen Situation neu ausrichten?
Michael Kotzbauer: Unternehmen, die
stark von der Unterbrechung der Lieferketten
betroffen waren, werden darüber nachdenken,
inwieweit ihr Geschäftsmodell umstrukturiert
werden muss. Dies beinhaltet zum Beispiel, ob
man weiter auf Just-in-time-Produktion setzt
oder doch höhere Lagerhaltungskosten in Kauf
nimmt und dafür mehr Planungssicherheit erlangt.
Wichtig bleibt aber, dem Auslandsmarkt
nicht den Rücken zu kehren.
W+M: Welche Maßnahmen sollte die Politik
nun zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts
Ostdeutschland einleiten?
Michael Kotzbauer: Sie sollten vor allem darauf
abzielen, die Innovationskraft, Leistungsund
Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen
Unternehmen zu stärken. Die Konjunkturpakete
der Bundesregierung und Länder zielen
in Teilen schon darauf ab, und gerade die
Wasserstoffstrategie birgt große Chancen für
den Standort. Wichtig ist aber auch die aktive
Unterstützung und Anwerbung von Start-ups.
Für die Exportwirtschaft sollten bestehende
Instrumente der Exportfinanzierung gestärkt
und angepasst werden. Wir begrüßen, dass
die Hermes-Deckung der Bundesregierung
auch auf marktfähige Risiken erweitert
wurde. Wichtig ist auch eine Ausformulierung
beziehungsweise die Anpassung konkreter
Außenwirtschaftsstrategien der ostdeutschen
Bundesländer.
W+M: Wie können die ostdeutschen Banken
die exportierenden Unternehmen dabei
unterstützen?
Michael Kotzbauer: Unsere Mitglieder, die
privaten Banken, stehen als Finanzierungspartner
des Mittelstandes an der Seite der
Unternehmen und beraten sie in Möglichkeiten
der Exportfinanzierung. Insbesondere
jetzt können wir sie bei der Absicherung von
Exportgeschäften unterstützen und durch
unser Fachwissen und weltweites Netzwerk
sachkundige Risikobewertungen für die Auslandsmärkte
anbieten.
Interview: Matthias Salm
Grafiken: Ayub Irawan/thenounproject.com, freepik/freepik.com, Commerzbank AG
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
WIRTSCHAFT+MARKT 77
HIER WERDEN
NACHHALTIGKEIT UND
ENERGIEWENDE GELEBT
Die neuen Bundesländer
gehören
im deutschlandweiten
Vergleich
zweifellos zu den
Vorreitern bei der
Umsetzung der
Energiewende, mit
der dem Klimawandel
wirksam
begegnet werden
soll. In den vergangenen
Jahren
sind auf dem weiten Land und
in der vorgelagerten Ostsee zahlreiche
Windparks entstanden. Auch
Photovoltaikanlagen und Biomassekraftwerke
gibt es vielerorts. Etliche
Studien gehen davon aus, dass
Ostdeutschland bereits heute den
eigenen Energiebedarf komplett aus
selbst produzierter erneuerbarer
Energie decken könnte.
Der nahe Ausstieg aus der Kohle
und die in diesem Zusammenhang
bereitgestellten Hilfen für
den Strukturwandel werden dafür
sorgen, dass beispielsweise aus
dem heutigen Kohlezentrum Lausitz
in den kommenden Jahrzehnten ein
Referenzzentrum für erneuerbare
Energien wird.
Viele Bundesländer haben jüngst
begonnen, sich auf das Zukunftsthema
Wasserstoff zu fokussieren.
An der Verfeinerung vorhandener
Wasserstofftechnologien – speziell
für schwere Nutzfahrzeuge – wird
gearbeitet, erste Produktionsanlagen
stehen bereits.
Auch in Fragen der
Zukunftsmobilität
gehören in den neuen
Ländern angesiedelte
Automobilwerke und
Zulieferbetriebe inzwischen
zu den Taktgebern.
Die Metropole
Berlin schmiedet Pläne,
Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren
mittelfristig
komplett aus der
City zu verbannen. Am
Stadtrand hält sie mit dem
CleanTech Business Park eine von der
Infrastruktur her ideal angebundene
Industrieansiedlungsfläche bereit,
die exklusiv Unternehmen vorbehalten
ist, die auf Nachhaltigkeit und
Klimafreundlichkeit setzen.
Längst ist die „grüne“ Industrie in
Ostdeutschland ein bedeutsamer
Wirtschaftszweig und wichtiger
Arbeitgeber.
78
WIRTSCHAFT+MARKT
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
AMBITIONIERTER KLIMA
SCHUTZ ZAHLT SICH AUS
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK)
untersucht wissenschaftlich und gesellschaftlich relevante
Fragestellungen in den Bereichen Globaler Wandel,
Klimawirkung und Nachhaltige Entwicklung. Es genießt
national wie international einen exzellenten Ruf. Naturund
Sozialwissenschaftler erarbeiten interdisziplinäre
Einsichten, welche wiederum eine Grundlage für Entscheidungen
in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft
darstellen. Das auf dem Potsdamer Telegrafenberg
beheimatete PIK wurde 1992 gegründet und hat heute
etwa 300 Mitarbeiter.
Grafiken: inspiring/ozzichka/freepik.com
WIRTSCHAFT+MARKT 79
Erstmalig war das PIK in diesem Jahr auf dem
Ostdeutschen Wirtschaftsforum (OWF) in
Bad Saarow vertreten. Anders Levermann,
Professor für die Dynamik des Klimasystems
am PIK, referierte zum Thema „Klimawandel
und die Folgen für die Wirtschaft“.
Mit dieser Thematik befasst sich das PIK in
weltweiter Dimension. Erst jüngst präsentierte
ein internationales Wissenschaftlerteam
unter der Leitung des Potsdam-Instituts für
Klimafolgenforschung die Ergebnisse einer
komplexen Untersuchung anhand von speziellen
Computersimulationen. Sie kamen zu dem
Schluss, dass die Begrenzung der Erderwärmung
auf unter zwei Grad ein wirtschaftlich
optimales Gleichgewicht zwischen künftigen
Klimaschäden und den heutigen Kosten für
den Klimaschutz herstellt. Das würde einen
CO 2
-Preis von mehr als 100 US-Dollar pro
Tonne erfordern.
Jener Tag, an dem der Weltklimarat im Auftrag
der UNO seinen sogenannten 1,5-Grad-Bericht
veröffentlichte, war auch der Tag, an dem der
amerikanische Forscher William Nordhaus den
Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften „für
die Integration des Klimawandels in die langfristige
makroökonomische Analyse“ erhielt.
Konkret gelang ihm das mittels einer Computersimulation,
seinem Dynamic Integrated
Climate-Economy (DICE)-Modell. Im Pariser
Abkommen der UNO (Dezember 2015) wurde
vereinbart, die globale Erwärmung auf deutlich
unter zwei Grad zu begrenzen, um Klimarisiken
einzudämmen. Nordhaus' Zahlen deuten auf
3,5 Grad als eine gleichsam wirtschaftlich
optimale Erwärmung bis zum Jahr 2100 hin.
Die vor Kurzem in der wissenschaftlichen
Zeitschrift „Nature Climate Change“ veröffentlichte
Studie bietet eine Aktualisierung
des DICE-Modells, welche helfen kann, die
Perspek tiven in Einklang zu bringen, so heißt
es beim PIK.
„Im Wesentlichen haben wir das Nordhaus-
Modell aufgeschnürt, gründlich überprüft und
einige wichtige Aktualisierungen vorgenommen,
die auf den neuesten Erkenntnissen der
Klimawissenschaft und Wirtschaftsanalyse
basieren“, erklärt Martin Hänsel, Hauptautor
der Studie und Forscher im PIK. „Wir haben
festgestellt, dass die Ergebnisse der aktualisierten
Version tatsächlich in guter Übereinstimmung
mit der Pariser 2-Grad-Grenze für
die globale Erwärmung stehen.“
KÜNFTIGE GENERATIONEN IM BLICK
Die Aktualisierungen umfassen ein akkurateres
Kohlenstoffkreislaufmodell, eine neue
Gewichtung des Temperaturmodells, eine
angepasste Schadensfunktion und neue
Erkenntnisse über die normativen Annahmen
des Modells. Diese zeigen sich konkret bei
der Frage, wie eine gerechte Verteilung von
Wohlstand zwischen heutigen und zukünftigen
Generationen gestaltet werden sollte, die den
Klimawandel berücksichtigt – ausgedrückt
in der sogenannten sozialen Diskontrate.
Deren Aktualisierung basiert nun auf einer
breiten Palette von Expertenempfehlungen
zur Generationengerechtigkeit. Ergänzt wird
dies durch angepasste Annahmen in Bezug auf
die Emissionen von anderen Treibhausgasen
zusätzlich zum CO 2
, Technologien zu negativen
Emissionen (also dem Herausholen von Kohlendioxid
aus der Atmosphäre) und wie zügig
eine Abkehr von einer kohlenstoffbasierten
Wirtschaft erreicht werden kann.
WIE SCHLIMM WIRD ES?
Die Schadensfunktion beurteilt, wie stark
sich künftige Klimaveränderungen auf die
Weltwirtschaft auswirken werden. Co-Autor
Thomas Sterner, Professor an der Universität
Göteborg, erklärt: „Die standardmäßige Schadensfunktion
im DICE-Modell hat eine Reihe
von methodischen Mängeln. Unsere Analyse
baut auf einer kürzlich durchgeführten Meta-
Analyse auf, in der wir diese Mängel beheben.
Infolgedessen finden wir höhere Schäden als
im Standard-DICE-Modell. Allein nach dem,
was wir in den letzten zehn Jahren gesehen
haben, ist die Annahme hoher klimabedingter
wirtschaftlicher Schäden leider realistisch.“
Darüber hinaus schaut die Studie auch auf das,
was manchmal als die normative „Black Box“
wahrgenommen wird: Wie oft in der Wirtschaftswissenschaft
enthält das, was wie eine
nüchterne mathematische Funktion aussieht,
eine Reihe normativer Annahmen. Die sogenannte
„soziale Diskontrate“ ist ein solcher
Fall. Sie gibt an, wie wir das zukünftige Wohlergehen
unserer Kinder und Enkelkinder bewerten
– eine grundlegend moralische Frage.
„Die Klimaauswirkungen unserer Emissionen
reichen weit in zukünftige Generationen hinein.
Um diese langfristigen Folgen angemessen
bewerten zu können, müssen wir unterschiedliche
Ansichten darüber berücksichtigen, wie
wir einen Ausgleich zwischen den Interessen
heutiger und zukünftiger Generationen schaffen
können“, erläutert Moritz Drupp, Co-Autor
und Professor am Exzellenzcluster Klima,
Klimawandel und Gesellschaft der Universität
Hamburg. Erstmals enthält die Studie eine
repräsentative Auswahl von Empfehlungen
von mehr als 170 Experten zu den normativen
Annahmen der sozialen Diskontrate. „Unser
aktualisiertes Modell zeigt, dass das 2-Grad-
Ziel nach den von der Mehrheit der Experten
vorgeschlagenen sozialen Diskontraten ökonomisch
optimal ist.“
DER RICHTIGE PREIS FÜR KOHLEN-
DIOXID
Die Änderungen am Modell, insbesondere
die Neubewertung der sozialen Diskontrate
zugunsten des Wohlergehens künftiger
Generationen, haben weitere Auswirkungen:
Sie führen zu einem höheren Preis für CO 2
.
Während das Standard-DICE-Modell von
Nordhaus knapp 40 US-Dollar pro Tonne CO 2
im Jahr 2020 ergibt, errechnet das aktualisierte
DICE-Modell einen CO 2
-Preis von über
100 Dollar. Die CO 2
-Preise, die sich aus der
Mehrheit der Expertenmeinungen zur sozialen
Diskontierung ergeben, sind mit wenigen
Ausnahmen höher als das, was in den meisten
Sektoren, selbst in den ehrgeizigsten Regionen
der Welt, umgesetzt wird. „Das ist ein weiterer
Beleg dafür, welch ein entscheidendes politisches
Instrument eine intelligente CO 2
-Preisgestaltung
ist“, so die Schlussfolgerung
von Co-Autor Ben Groom, Professor an der
Universität Exeter und Mitglied des Grantham
Research Institute on Climate Change an der
London School of Economics. „Unsere Studie
bedeutet damit auch, dass eine ehrgeizigere
Klimapolitik nötig ist, um zu vermeiden, dass
wir unseren Kindern eine ungerechtfertigt hohe
Last der Klimaauswirkungen hinterlassen.“
Der Beitrag basiert auf einem Pressetext des
Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).
80
WIRTSCHAFT+MARKT
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
EINE KREISLAUFFÄHIGE
UND GESUNDE ZUKUNFT
Weniger Verkehr auf den Straßen, spürbar bessere Luft in Ballungszentren und glasklares Wasser in den Häfen
Venedigs: Die Coronapandemie brachte kurzzeitig nicht nur die Weltwirtschaft zum Erliegen, sondern auch Umweltbelastungen
durch Industrie, Mobilität und Konsum. Doch klar ist: Dieser Ausnahmezustand ist nicht zukunftsfähig,
weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich. Der Circular-Economy-Ansatz, also eine konsequente Kreislaufwirtschaft,
hingegen liefert langfristige Lösungen für eine umwelt- und menschenfreundliche Zukunft. Diese Denkweise liegt
auch dem Cradle-to-Cradle-Designprinzip (C2C) zugrunde, bei dem Produkte, Prozesse und Gebäude so gestaltet
werden, dass sie gesund für den Menschen und sicher für die Umwelt sind.
VON TOBIAS FISCHER
Dipl.-Ing. Tobias Fischer ist Senior Consultant bei Drees & Sommer am Standort Berlin. Seit mehr
als zehn Jahren beschäftigt er sich mit Themen rund um das nachhaltige Bauen und der Circular
Economy. Kernthemen sind dabei die Gebäudezertifizierung und Cradle-to-Cradle-Beratung.
Insbesondere die Aspekte des kreislauffähigen Gebäudedesigns und die materialökologische
Begleitung von Bauvorhaben nehmen in seinem beruflichen Alltag einen hohen Stellenwert
ein. Seinen universitären Abschluss erlangte er an der Universität Karlsruhe im Fachbereich der
Architektur und absolvierte 2010 seine Ausbildung zum DGNB Auditor. Vor seiner Zeit bei Drees
& Sommer war er als Architekt im In- und Ausland sowie als Senior Consultant im Bereich der
Nachhaltigkeit in einem Karlsruher Ingenieurbüro tätig.
Im Pariser Abkommen von 2015 konnte eine
globale Einigung zur Bekämpfung des Klimawandels
gefunden werden. Hierfür beläuft
sich das gesetzte Klimaziel auf eine Erderwärmung
von ungefähr 1,5 Grad. Um dieses
Ziel zu erreichen, müssen bis zum Jahr 2030
40 Prozent weniger Emissionen ausgestoßen
werden als noch 1990. Vor allem Unternehmen
stehen dabei im Fokus und tragen durch
ihr weitreichendes, wirtschaftliches Handeln
Verantwortung gegenüber Gesellschaft und
Umwelt. Durch die Vermeidung von Downcycling,
Rohstoffverbrauch und Abfall liefert
das Cradle-to-Cradle®-Designprinzip einen
Lösungsansatz, um den ökologischen Fußabdruck
nicht nur zu verringern, sondern sogar
positiv zu gestalten. Das C2C-Prinzip stellt
somit die Weichen für eine neue industrielle
Revolution: die Circular Economy.
CIRCULAR ECONOMY FÜR POSITIVEN
ÖKOLOGISCHEN FUSSABDRUCK
Die Revolution 5.0 setzt einen ganzheitlichen
Paradigmenwechsel voraus, denn sie steht
für eine Wirtschaft mit positivem Einfluss auf
Mensch und Umwelt. Das lineare Take-make-waste-System,
bei dem Rohstoffe zu
Produkten verarbeitet werden, die später als
Abfall zur Umweltlast werden, gehört somit
der Vergangenheit an. Die Circular Economy als
Nachfolger des Digitalisierungszeitalters lebt
von einer veränderten Denkweise, die nicht nur
Produkte, sondern auch Prozesse, Gebäude
und ganze Städte nachhaltig verändert. Um
das zu erreichen, muss der Lebenszyklus von
Produkten und Dienstleistungen neu gedacht
werden. Anstatt eines linearen Systems wird
in Kreisläufen gedacht, in denen Rohstoffe
zirkulieren und für verschiedenste Zwecke in
gleicher Qualität wiederverwendet werden.
Downcycling wird also zu Upcycling.
Zentral ist es dabei, Wirtschaftlichkeit, soziale
Gerechtigkeit und Ökologie nicht als Gegenspieler,
sondern als drei einander fördernde
Dimensionen zu sehen und zu vereinen. Das
schafft Platz für neue Ideen und Innovationen,
ganz im Interesse von Gesellschaft und Natur.
Foto: Drees & Sommer
WIRTSCHAFT+MARKT 81
DIE NATUR ALS VORBILD
Das vom deutschen Chemiker Michael Braungart
und vom amerikanischen Archi tekten
William McDonough entwickelte Cradle to-
Cradle-Prinzip fußt auf drei fundamentalen
Paradigmen: Nährstoffe bleiben Nährstoffe,
erneuerbare Energien werden konsequent
genutzt und gesellschaftliche sowie biologische
Diversität werden stets gefördert. Die
Natur ist dabei ständiges Vorbild und somit
Wegweiser in allen wichtigen Entscheidungen.
Besonders beim Grundsatz der Nährstoffe
geht es um die Circular Economy, in der unsere
Wirtschaft in zwei kontinuierlichen Kreisläufen
zu sehen ist. Im biologischen Kreislauf
zirkulieren Verbrauchsgüter wie Kleidung,
Verpackungen oder Reinigungsmittel, die nach
ihrem Verbrauch direkt in die Umwelt zurückgeführt
werden, beispielsweise als Kompost,
und keine weiteren Belastungen darstellen.
Anders verhält es sich bei den Gebrauchsgütern:
Im technischen Kreislauf befinden sich
zum Beispiel elektronische Artikel oder Möbel.
Diese werden schon in der Herstellung für
die nächste Nutzungsphase gestaltet und
optimiert, und Qualitätsverluste werden durch
diese Herangehensweise vermieden. Später
können die Materialien problemlos und ohne
Abfall wiederverwendet werden.
FAST JEDE INDUSTRIE PROFITIERT
VON C2C
Das Potenzial der Circular Economy ist enorm,
denn sie findet in fast jeder Industriebranche
Anwendung und verbessert deren Prozesse,
Denkweisen und somit Umwelteinflüsse.
So kann das C2C-Prinzip in der Herstellung
von Textilien, Verpackungen und Kosmetika
gewinnbringend integriert werden. In der
Modeindustrie ist beispielsweise Wolford
Vorreiter und produziert C2C-zertifizierte
Kleidung, deren Inhaltsstoffe sicher, gesund
und sowohl für die Biosphäre als auch die
Technosphäre optimiert sind.
Auch in der Bau- und Immobilienbranche
gewinnt Cradle to Cradle an Bedeutung. Immer
mehr Hersteller setzen auf kreislauffähige und
gesundheitlich unbedenkliche Materialien und
lassen ihre Bauprodukte mit dem Cradle to-
Cradle®-Zertifikat auszeichnen. Unter den
zertifizierten Produkten sind inzwischen
System- und Glastrennwände, Bodenbeläge,
Isolierungsprofile und Deckensysteme.
Diese Entwicklung ist nicht nur willkommen,
sondern durchaus notwendig, da der Bau
und das Betreiben von Gebäuden eine starke
Belastung für die Umwelt darstellen. Allein
der Bausektor verbraucht in Europa fast 50
Prozent der Rohstoffe und verursacht 60
Prozent des gesamten Abfalls. Mit einem
ganzheitlichen C2C-Ansatz können Gebäude
von der Planung über den Bau bis hin zum
Betrieb ressourcen- und energieeffizient
entwickelt werden. Dabei werden die in den
Gebäuden gebundenen Rohstoffe so verbaut,
dass sie am Ende der Nutzung wieder als
Ausgangsstoff für neue Projekte dienen. Dies
wird vor allem dadurch möglich, dass die nach
Cradle to Cradle optimierten und zertifizierten
Produkte schadstofffrei, sortenrein trennbar
und vollständig rezyklierbar sind. So werden
alle verwendeten Bauteile und Materialien
Teile eines geschlossenen Kreislaufes und die
Gebäude zu Rohstoffdepots. Für Bauherren
und Projektentwickler lässt sich dadurch nicht
nur ein ökologischer, sondern auch ein ökonomischer
Zusatznutzen erzeugen.
Foto: EPEA – Part of Drees & Sommer Source Braungart McDonough
82
WIRTSCHAFT+MARKT
THE CRADLE – EIN HOLZHYBRID-
GEBÄUDE NACH C2C
Zu den Vorreitern, wenn es um von Cradle
to Cradle inspirierte Immobilien geht, gehört
das Holzhybrid-Bürogebäude „The Cradle“ in
Düsseldorf. Es stammt aus der Feder der HHP
Architekten und wird von INTERBODEN Innovative
Gewerbewelten® realisiert. Wie der Name
bereits vermuten lässt, wird das Gebäude in
Anlehnung an das Cradle-to-Cradle®-Designprinzip
umgesetzt. Konkret bedeutet das: Alle
dort eingesetzten Produkte werden auf ihren
ökologischen Fußabdruck, Materialgesundheit,
Recyclingfähigkeit und Trennbarkeit geprüft.
Zum Einsatz kommen nur chemisch unbedenkliche
und kreislauffähige Materialien. Nach dem
späteren Gebäudeabriss gehen sie in den technischen
oder den biologischen Kreislauf zurück
– ganz ohne Qualitätsverluste und Abfälle.
Eine weitere Besonderheit beim The Cradle
ist, dass bei diesem Projekt Cradle to Cradle
erstmalig mit der digitalen Planungsmethode
Building Information Modeling (BIM) verknüpft
wird. Alle verfügbaren Informationen
zu unterschiedlichen Bauteilen des Gebäudes
werden dabei in einem sogenannten Building
Circularity Passport, also Gebäude-Materialpass,
hinterlegt. Dieser funktioniert wie
ein klassischer Bauteilkatalog, der zusätzlich
Cradle-to-Cradle-Kriterien beinhaltet, und gibt
Auskunft über die verwendeten Materialien
sowie deren chemische Beschaffenheit und
ökologische Auswirkung. Diese Verknüpfung
von BIM und C2C ist bisher einmalig.
Das anspruchsvolle Projekt soll in rund zwei
Jahren fertiggestellt werden.
CRADLE TO CRADLE BEI BESTANDS-
BAUTEN
Um die Kriterien eines kreislauffähigen Gebäudes
zu erfüllen, muss nicht zwingenderweise
neu gebaut werden.
Auch Bestandsbauten können so umgestaltet,
saniert und renoviert werden, dass sie dem
C2C-Konzept gerecht werden. Bei Bestandssanierungen
ist zu berücksichtigen, dass auch
hier Rohstoffe und Materialien verbaut werden,
die potenziell unendlich lang zirkulieren
und wiederverwendet werden können. Das
weltweit erste Projekt dieser Art ist das C2C
Lab in Berlin, das 2019 seine Pforten öffnete.
Eine sanierungsbedürftige Gewerbeeinheit
wurde mithilfe unterschiedlicher Partner der
C2C NGO in ein Reallabor verwandelt, in dem
nachhaltige Innovationen erleb- und greifbar
gemacht werden. In diesem Showroom sitzt
nun auch die neue Geschäftsstelle der Cradle
to Cradle NGO. Die Experten der EPEA GmbH
und der Drees & Sommer SE haben bei der
Umsetzung des C2C Labs aktiv mitgewirkt
und begleiten aktuell auch The Cradle mit
C2C-Beratung.
Neben diesen beiden Projekten gibt es noch
viele weitere Bauprojekte, bei denen sich das
Cradle to Cradle-Prinzip durch seinen wertvollen
Einfluss auf Mensch und Umwelt bewährt
hat. Beispiele sind das Rathaus im niederländischen
Venlo oder der RAG-Neubau auf dem
Zeche Zollverein in Essen. Für eine enkelfähige
Zukunft ist es aber notwendig, dass das
C2C-Prinzip branchenübergreifend zum Einsatz
kommt und flächendeckend umgesetzt
wird. Nur so ist es möglich, die Zukunft unserer
Erde nachhaltig und positiv zu verändern.
Fotos: INTERBODEN bloomimage, C2C LAB
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT WIRTSCHAFT+MARKT 83
„DAS THEMA WASSERSTOFF
WIRD DIE ENERGIEWENDE
DEUTLICH VORANBRINGEN“
VON CHRISTIAN PEGEL, MINISTER FÜR ENERGIE,
INFRASTRUKTUR UND DIGITALISIERUNG IN
MECKLENBURG- VORPOMMERN
Christian Pegel (SPD)
Grafiken: Freepik/starline/freepik.com, Foto: EM Gohlke
MMecklenburg-Vorpommern zählt bundesweit
zu den Vorreitern in Sachen Energiewende.
Das liegt vor allem daran, dass wir in unserem
Flächenland und auf der Ostsee davor hervorragende
Bedingungen für das Erzeugen
von Windenergie haben. So hat sich M-V, wie
wir den langen Namen unseres Bundeslands
abkürzen, zu einem „Windland“ entwickelt. Inklusive
einer neuen Branche, die viele Tausend
hoch qualifizierte Arbeitsplätze gebracht und
zum Aufschwung unserer Häfen und Werften
beigetragen hat.
Hinzu kommt, dass unsere Landwirte und auch
Industriebetriebe frühzeitig begonnen haben,
die Potenziale von Biomasse und Solarenergie
auszuloten. Dies alles hat dazu geführt, dass
wir bereits seit 2013 rein rechnerisch mehr erneuerbaren
Strom erzeugen als wir überhaupt
an Strom verbrauchen.
Genau hier knüpfen unsere Pläne für die
Zukunft an: Wir wollen die saubere Energie,
die wir bei uns im Land produzieren, auch
vollständig nutzen und dies möglichst gleich
dort, wo sie entsteht. Wir wollen diese Energie
für andere Bereiche einsetzbar machen – für
die Mobilität, für die Wärmeversorgung, für
die Industrie.
Ein großes Thema ist bei uns nicht erst seit
heute die klimafreundliche Herstellung von
Wasserstoff und ähnlichen aus sauberem
Strom gewonnenen Energielieferanten: Wir
haben die Windanlagen, die diesen liefern. In
einem Flächenland wie unserem ist es sehr
sinnvoll, ihn gleich vor Ort dezentral zu nutzen.
Und wir haben eine lebhafte Szene, die sich
schon seit Jahren mit
diesem Thema befasst und
auch schon Erfolge vorzuweisen
hat. Um nur vier Beispiele
zu nennen:
Die Hochschule Stralsund hat schon seit 2009
ein Institut für regenerative Energiesysteme
und zum Beispiel die kohlendioxidfreie
Methanolproduktion optimiert. Das in M-V
ansässige Unternehmen Apex hat kürzlich
Europas größte netzgekoppelte Wasserstoffanlage
in Betrieb genommen und versorgt das
gesamte Unternehmen und eine öffentliche
Wasserstofftankstelle mit emissionsfreier
Energie. Zwei weitere Projekte treiben die Idee
von Wasserstoff-Lkw und CO 2
-freiem Ammoniak
voran, der in der Landwirtschaft und als
Schiffstreibstoff eingesetzt werden könnte.
Auch Landwirtschaft und Schiffe haben wir in
Mecklenburg-Vorpommern mit unseren
vielen Seen, Flüssen und der
Ostsee ja reichlich.
Um es kurz zu machen:
Mecklenburg-Vorpommern
will auch Wasserstoffland
werden. Wir
haben längst erkannt,
welche Chancen das
Thema Wasserstoff
birgt. Es hat das
Potenzial, einen
neuen Wirtschaftszweig
bei uns im Land zu begründen,
der die Wertschöpfungskette
von der Erzeugung bis
zum Verbrauch abbildet und dabei
Arbeitsplätze schafft. Und: Ich bin überzeugt,
wenn wir den bei uns im Land erzeugten
Strom auch bei uns im Land nutzbar machen,
steigert dies auch die Akzeptanz für unsere
Windenergieanlagen.
Das Thema Wasserstoff wird die
Energiewende deutlich voranbringen
– und wir in
Mecklenburg-Vorpommern
wollen
ganz vorn mit
dabei sein.
84
WIRTSCHAFT+MARKT
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
VERÄNDERUNGNG IST
DAS NEUE NORMAL
Wie werden wir in Zukunft arbeiten?
Arbeitswelten neu gedacht
VON SEBASTIAN SAATWEBER
Zu Hause, im Café, 9 to 5 oder 24/7? Moderne Büroarbeiter nutzen flexibel
Raum, Zeit und Strukturen, um ihre Aufgaben auszuführen. Der ehemals
feste Rahmen wird mehr und mehr einer Flexibilisierung in der Arbeitsorganisation
weichen. Das bedeutet nicht nur, dass es möglich sein sollte, jeden
Tag den Arbeitsort neu zu wählen, sondern auch Arbeitsumgebungen zu
schaffen, die, mit entsprechender Technologie ausgestattet, die Möglichkeit
bieten, mit anderen Teammitgliedern in Kontakt zu bleiben.
Die Entwicklung hin zum orts- und zeitunabhängigen Arbeiten ist keineswegs
neu, doch erfährt sie im Zuge der Pandemie eine neue Richtung, mit der wesentliche
Fragen verbunden sind, z. B.: Was können Unternehmen von den aktuellen
Herausforderungen lernen? Und kann das Büro als primärer Arbeitsort Schritt
halten oder wird es langfristig von der Bildfläche verschwinden?
Arbeit und ihre Methoden haben sich im letzten Jahrzehnt rasant verändert.
Arbeits umgebungen mit ihren Gepflogenheiten hinken den Entwicklungen jedoch
immer etwas hinterher. Lange, dunkle Büroflure mit Einzelbüros, in denen die
Mitarbeiter unter den Augen der Führungskräfte in Präsenzarbeitszeit sitzen, sind
nicht mehr auf heutige und zukünftige Anforderungen ausgerichtet. Aber: Arbeitsumgebungen
lassen sich verändern. Schon vor der Pandemie war der Wille nach Veränderung
groß. „Agilität“, eine „neue Unternehmens- und Führungskultur“ sowie „flexible,
effiziente und intelligente Bürolandschaften“ werden gern im Zuge des Wettbewerbs um
qualifizierte Mitarbeiter unter dem Themenfeld „New Work“ zusammengefasst. Arbeitswelten,
damit sie langfristig funktionieren, müssen entsprechend der jeweiligen Unternehmensanforderungen
und unter gleichwertiger Betrachtung von Raum, Technologie
und Kultur entwickelt werden. Erst wenn wir verstehen, wie eine Organisation funktioniert,
können wir bedarfsgerechte und auf individuelle Anforderungen ausgerichtete Arbeitsumgebungen
ableiten. Flächeneffizienz und flexible Möblierungskonzepte sind ein hoch aufgehängtes
Thema. Es zu betrachten kann jedoch nur mit einer gleichzeitigen Steigerung des
Wohlbefindens der Nutzer und einer entsprechend gelebten Führungskultur einhergehen.
Jeder Eingriff in die Arbeitsorganisation bringt auch Veränderung für alle Beteiligten mit sich.
Das ist mühsam. Doch alte Systeme aufrechtzuhalten, kostet immer mehr Zeit, Energie und
Ressourcen. Je länger man sich den Themen verschließt, desto aufwendiger wird der Wandel.
Unternehmen, die das früh erkannt haben, konnten relativ schnell auf einen Lockdown reagieren
und ihre Mitarbeiter zu fast 100 Prozent ins „Home Office“ schicken. Die Erfahrungen zeigen:
Arbeit von zu Hause aus funktioniert. Mit dieser Entkopplung der Arbeit vom Ort gehen Ängste
und Bedenken der Beschäftigten einher: durch flexible Konzepte seinen persönlich zugewiesenen
Arbeitsplatz zu verlieren, die Kolleg*innen in offenen, lauten und chaotischen Flächen nicht
Foto: Pexels/pixabay.com
WIRTSCHAFT+MARKT 85
aufzufinden oder den eigenen Status nicht weiter durch die Größe des Büros zu
definieren. Auch die Befürchtung, ständig und überall erreichbar zu sein und nicht
mehr zwischen Beruf und Privatleben trennen zu können, gehört dazu. Dies alles sind
gerechtfertigte Einwände, die aber im Kontext tatsächlich gelebter „neuer Arbeit“
fast immer ausklingen. Wichtig ist die frühzeitige und enge Einbindung der Mitarbeitenden
und Führungskräfte in den Veränderungsprozess.
Auch wenn dieses Szenario zurzeit gern geäußert wird: Einen Großteil der Mitarbeitenden
jetzt pauschal mobil arbeiten zu lassen und Büroflächen abzumieten,
ist auf jeden Fall viel zu kurz gedacht.
Grafik: Arbeitswelten ganzheitlich Betrachten | Kinnarps Next Office Concept®
Das Büro der Zukunft wird ein Arbeitsort von vielen sein, in dem Mitarbeitende
für unterschiedlichste Tätigkeiten zusammenkommen, ein Ort des persönlichen
Austauschs, in dem neue Ideen entwickelt werden. Räume für konzentriertes
Arbeiten werden bereitgestellt. Mitarbeiterführung und Unternehmenskultur
werden wesentliche Erfolgsfaktoren. Einen Weg zurück in die „alte Welt“, in
der wir neu erlernte Arbeitsmethoden in festgefügte Räume „pressen“ und
Unternehmen an ausgedienten Strukturen festhalten, wird es hoffentlich
nicht geben. Ein Umdenken auf vielen Ebenen ist gefordert: die Betrachtung
neuer Arbeitszeit-, Schutz- und Gesundheitsmodelle und entsprechende
Gesetzgebungen. Die Einbindung neuer Technologien oder KI
gehören ebenso dazu wie neue Mobilitäts-, Stadtentwicklungs- und
Klimaschutzkonzepte. Denken wir Arbeit und ihre Räume neu. Fordern
wir, dass wir uns alle mehr öffnen. Trauen wir uns, öfter „einfach mal
zu machen“.
Es bleibt abzuwarten, welche neuen, uns bisher unbekannten, digitalen
und analogen Arbeitsorte entstehen. Wir werden sehen, welche
gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Nebeneffekte
daraus erwachsen. Eines ist klar: Die uns bekannte Arbeitswelt
wird auf den Kopf gestellt und das Büro muss sich im Zuge der
Entwicklungen neu erfinden.
Geben wir dem Büro eine Chance! Wir werden es auch in Zukunft
noch brauchen – wie auch immer es dann aussehen wird.
Sebastian Saatweber, Strategie-Berater bei
der Kinnarps GmbH im komplexen Themenfeld
„New Work“. Der Vater von drei Kindern
wohnt in Hamburg und begleitet erfolgreich
natio nale und internationale Unternehmen
und Organisationen auf dem abenteuerlichen
Weg in zukunftsfähige Arbeitswelten.
86
WIRTSCHAFT+MARKT
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
ERNEUERBARE ENERGIEN
SIND EINE CHANCE FÜR
OSTDEUTSCHLAND!
Die 50Hertz Transmission GmbH, Übertragungsnetzbetreiber für
Ostdeutschland, Berlin und Hamburg, will bis zum Jahr 2032 in ihrem
Versorgungsgebiet 100 Prozent der Stromnachfrage aus erneuerbaren
Energien decken. Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung
von 50Hertz, äußert sich im W+M-Interview über die klima- und
industriepolitische Initiative seines Unternehmens und den Stand der
Energiewende in Ostdeutschland.
VON FRANK NEHRING UND MATTHIAS SALM
Stefan Kapferer, Vorsitzender der
Geschäftsführung von 50Hertz
W+M: Herr Kapferer, der Klimaschutz steht
derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung im
Schatten der Coronapandemie. Wie beurteilen
Sie vor diesem Hintergrund den aktuellen
Stand der Energiewende?
Stefan Kapferer: Die Herausforderungen
des Klimawandels sind auch in der Coronakrise
keinesfalls kleiner geworden. Lange Zeit
wurde ja vor allem über die Ziele der Energiewende
diskutiert. Mittlerweile sind diese
klar definiert: Europa soll im Jahr 2050 ein
klimaneutraler Kontinent sein. Wir diskutieren
jetzt nicht mehr über die Ziele, sondern über
geeignete Technologien zu deren Erreichung.
Für Unternehmen wie 50Hertz, die für solche
Fragen die nötige Expertise besitzen, bietet
das viele Chancen, sich in den Prozess einzubringen.
W+M: Gegenwärtig werden in der Politik
auch Stimmen laut, die einer wirtschaftlichen
Erholung nach der Coronapandemie Vorrang
vor einem nachhaltigen Umbau der Wirtschaft
geben wollen. Teilen Sie diese Auffassung?
Stefan Kapferer: Den Prozess der Transformation
jetzt zurückzustellen, wäre eine
falsche Entscheidung. Wirtschaftliches
Wachstum wird ja u. a. aus dem Umbau des
Energiesystems entstehen. Das wissen auch
die Unternehmen: Die energieintensiven
Branchen in Ostdeutschland – ob Stahlhersteller,
Automobilproduzenten oder die
Chemieindustrie – haben sich allesamt dem
Ziel verschrieben, klimaneutral zu wachsen.
Eine andere Frage ist, welche Förderung die
Wirtschaft in der gegenwärtigen Situation
benötigt, um diese Transformation leisten zu
können. Da sind beispielsweise das Wasserstoffprogramm
der Bundesregierung oder
die Fördermittel für den Aufbau der Ladeinfrastruktur
sicherlich wichtige und richtige
Maßnahmen.
Fotos: 50Hertz, Grafiken: rawpixel.com/macrovector/freepik.com
WIRTSCHAFT+MARKT 87
W+M: Trotzdem beklagen Kritiker, die
Energiewende komme nicht schnell genug
voran. Was sind Ihrer Ansicht nach die größten
Hemmnisse?
Stefan Kapferer: Das größte Problem
bleibt weiter die Bezahlbarkeit und die Frage,
wie teuer der Strom am Ende sein wird.
Aber: Mittlerweile gibt es auch Betreiber von
Erneuerbare- Energien-Anlagen, die keine Subventionen
unter Einschluss der EEG-Umlage
benötigen. Das ist ein sehr guter Trend.
W+M: Zur Energiewende zählt auch der
umstrittene Kohlekompromiss. Sie waren
Mitglied der Kohlekommission. Wie bewerten
Sie deren Entscheidung heute?
Stefan Kapferer: Ich halte den Kohlekompromiss
nach wie vor für ein gutes Ergebnis.
Die Kritik – etwa an den hohen Kosten des
Kohleausstiegs – teile ich so nicht. Der größte
Teil der veranschlagten Mittel fließt in den
Strukturwandel in den Kohlerevieren. Es ist
sinnvoll investiertes Geld, denn vor allem die
Lausitz braucht Entwicklungsperspektiven.
Diese Investitionen wären auch notwendig
geworden, hätten wir einen anderen Fahrplan
zum Kohleausstieg beschlossen.
W+M: Ostdeutsche Länder wie Brandenburg
und Mecklenburg-Vorpommern galten
lange Zeit als Vorreiter der Energiewende.
Haben Sie diese Position eigentlich mittlerweile
eingebüßt?
Stefan Kapferer: In Brandenburg kann ich
eine solche Entwicklung nicht erkennen. Alleine
die Nachfrage nach Solarpark-Projekten
in Brandenburg ist so groß, dass sie gar nicht
alle verwirklicht werden können. Mecklenburg-Vorpommern
als vergleichsweise dünn
besiedeltes Land liegt hingegen bei der Nutzung
der Onshore-Windkraft im bundesweiten
Vergleich nur im Mittelfeld. Hier gibt es in der
Tat noch Luft nach oben.
W+M: Welche Chancen und Risiken ergeben
sich denn aus der Energiewende für den Wirtschaftsstandort
Ostdeutschland?
Stefan Kapferer: Die Energiewende bietet
für Ostdeutschland vor allem Chancen. Wer
hätte etwa vor fünf Jahren die Prognose
gewagt, dass sich ein Konzern wie Tesla für
Brandenburg als Standort entscheidet? Für
Ostdeutschland sprechen viele gute Gründe:
Es existiert eine exzellente klassische Infrastruktur,
Unternehmen finden hier hoch
qualifizierte Arbeitskräfte und in Städten
wie Berlin, Jena oder Dresden hat sich eine
sehr vitale Start-up-Szene entwickelt. Dazu
haben wir im Versorgungsgebiet von 50Hertz
einen der höchsten Anteile an erneuerbaren
Energien in ganz Europa. Und der wird
weiter wachsen: durch die Anbindung der
Offshore-Windkraft in der Ostsee und die
Flächenverfügbarkeit für zusätzliche Solarund
Windkraftanlagen. Das verschafft Ostdeutschland
Wettbewerbsvorteile gegenüber
anderen Regionen Deutschlands.
W+M: Wie wird Ostdeutschland von diesen
Vorteilen profitieren?
Stefan Kapferer: Es war sicher etwas zu
kurz gesprungen, dass früher ein Stück weit
der Eindruck erweckt wurde, die Energiewende
schaffe ausschließlich unmittelbar
direkte Arbeitsplätze. Das tut sie natürlich
auch. Noch wichtiger aber sind die mittelbaren
Effekte. Die Möglichkeit, den Strombedarf
zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien
zu decken, steigert die Attraktivität eines
Wirtschaftsstandorts für viele energieintensive
Unternehmen. Das ist die Zukunft. Mit
unserer Initiative „Von 60 auf 100 bis 2032“
möchten wir als Netzbetreiber unseren Anteil
zu dieser Entwicklung leisten.
W+M: Welches Ziel verfolgen Sie konkret
mit dieser Initiative?
Stefan Kapferer: Wir wollen bis zum Jahr
2032 den Strombedarf zu 100 Prozent aus
erneuerbaren Energien decken und dieses
volatile Stromangebot vollständig in das System
integrieren. Dazu gehört beispielsweise,
dass wir neue Ansätze in der Systemführung
entwickeln, um das Netz auch bei steigenden
Mengen erneuerbaren Stroms weiterhin sicher
zu fahren. Dabei spielt die Digitalisierung eine
wichtige Rolle, freie Übertragungskapazitäten
im Netz zu erkennen und dann auch zu nutzen.
W+M: An wen richten Sie sich mit dieser
Initiative?
Stefan Kapferer: Da gibt es verschiedene
Zielgruppen. Zunächst einmal soll unsere
Initiative eine Wirkung nach innen entfalten.
Wir wollen europaweit federführend sein bei
Technologien zur Netz- und Systemstabilität.
Wir wollen aber auch nach außen eine aktive
Rolle einnehmen. So planen wir beispielsweise
eine Studie, um herauszufinden, wo in unserem
Netzgebiet noch freie Kapazitäten für die
Einbindung erneuerbarer Energien vorhanden
sind. Diese Daten wollen wir Investoren
transparent zugänglich machen, um ihnen
Investitionsentscheidungen zu erleichtern. Darüber
hinaus wollen wir Politik und Investoren
unsere Erfahrungen in der Kommunikation mit
der Öffentlichkeit weitergeben. Wir wissen,
je früher und transparenter man Energieprojekte
kommuniziert, desto eher lässt sich eine
Zustimmung der Bevölkerung gewinnen.
Lesen Sie
das ausführliche
Interview online
88
WIRTSCHAFT+MARKT
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
„EINIGKEIT IN VIELFALT“ –
FAKTOR FÜR EINE ERFOLG-
REICHE ENERGIEWENDE IN
OSTDEUTSCHLAND
VON BODO RODESTOCK, VORSTAND FÜR FINANZEN/IT/PERSONAL DER VNG AG
Region haben – und diese auch als Chance
nutzen sollten. Als ostdeutsche Region haben
wir Zugang zu allen Energieträgern – perspektivisch
auch zu Wasserstoff als Zukunftstechnologie.
Insbesondere groß angelegte
Kooperationen und Projekte – wie exemplarisch
das Engagement rund um Wasserstoff
verdeutlicht – werden regional sowohl in
Politik als auch Wissenschaft und Wirtschaft
bereits stark vorangetrieben. Doch könnten
solche Kooperationen ein noch größeres
Wertschöpfungspotenzial entfalten, wenn sie
zukünftig auch länderübergreifend gedacht
VNG ist seit mehr als 60 Jahren in Ostdeutschland
fest verankert. Als Energieunternehmen
mit der Kernkompetenz Erdgas begleiten wir
die Energiewende mit spezifischem Blick auf
die neuen Bundesländer und sehen zwei wesentliche
Ziele für ein nachhaltiges Wirtschaften
in Zeiten des Klimawandels: zum einen das
Erreichen der nationalen und europäischen
Klimaziele – mit dem übergeordneten Ziel der
Klimaneutralität bis 2050. Mit Blick auf unsere
unternehmerische Ausrichtung und unserem
Antrieb, erfolgreich die Transformation von
Gas zu vollziehen, legen wir mit unserer unlängst
aktualisierten Strategie VNG 2030+ den
Fokus hierbei noch stärker auf die Entwicklung
dekarbonisierter Geschäftsfelder mit grünen
Gasen und digitaler Infrastruktur.
Das zweite Ziel für eine erfolgreiche Energiewende
in Ostdeutschland sehen wir im Erhalt
und dem Schaffen von regionaler Wertschöpfung
– eine Herausforderung, die aufgrund
der demografischen und wirtschaftsstrukturellen
Gegebenheiten der Region nach einer
besonderen Betrachtung verlangt: Sei es
die vielfältige Betriebsgrößenstruktur, die
die ostdeutsche Unternehmenslandschaft
kennzeichnet, der offene und erfindungsreiche
Umgang mit Veränderungs- und Transformationsprozessen,
eine mannigfaltig ausgeprägte
Forschungskultur sowie eine sich breit entwickelnde
Start-up-Szene – die ostdeutschen
Bundesländer verfügen grundsätzlich genau
über jene Akteure und Charakteristika, die es
braucht, um den hiesigen Wirtschaftsstandort
sukzessive zu stärken.
Es ist eben diese Vielfalt, die in ihrem Zusammenspiel
aus unterschiedlichen Akteuren
der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die
ostdeutsche Energielandschaft maßgeblich
prägt und gemeinsam den Wandel zu einer
klimaneutralen Wirtschaft aktiv begleiten will.
Im wörtlichen Sinne also eine „Einigkeit in Vielfalt“,
die die ökonomischen, ökologischen und
sozialen Besonderheiten in Ostdeutschland
formt und so zu einem erfolgreichen Gelingen
der Energiewende in dieser Region beitragen
will und kann.
Wir müssen uns nur noch stärker bewusst
machen, dass wir diese Potenziale hier in der
und umgesetzt würden.
Im Kern liegt der Schlüssel zum Erfolg im
Verzahnen von Energieträgern, Akteuren
und Kompetenzen – nicht nur, aber auch in
Ostdeutschland. Genau hier bietet das ostdeutsche
Wirtschaftsforum als Netzwerk die
Gelegenheit, nimmt die besonderen Anforderungen
und Fragestellungen der ostdeutschen
Bundesländer in den Blick und vermag,
wirtschaftliche und strukturelle Chancen
abzuleiten – für eine erfolgreiche Energiewelt
von morgen.
Bodo Rodestock
Fotos: VGN/Jeibmann Photographik, Torsten Pross, Grafik: Vectorium/freepik.com
WIRTSCHAFT+MARKT 89
DAS THEMA NACHHALTIGKEIT
IST IN DER FINANZ WIRTSCHAFT
ANGEKOMMEN
Der Klimaschutz stellt auch die Finanzwirtschaft vor eine
wichtige Zukunftsaufgabe. Welche Rolle die Banken bei
der Transformation der Wirtschaft übernehmen können,
erklären im Interview mit W+M Achim Oelgarth, geschäftsführendes
Vorstandsmitglied des Ostdeutschen
Bankenverbands, Dr. Bernd Rolinck, Leiter des Expertenteams
Zukunftsbranchen bei der Deutsche Bank AG und
Kristian Kreyes, Bereichsleiter Wirtschaft bei der Investitionsbank
des Landes Brandenburg.
VON MATTHIAS SALM
Grafiken: rawpixel.com/artistdesign13/freepik.com
W+M: Der Klimaschutz war bis zum Ausbruch
der Coronapandemie das beherrschende
wirtschaftspolitische Thema. Gerät es nun in
den Hintergrund oder ist es gerade jetzt die
richtige Zeit für mehr Nachhaltigkeit?
Achim Oelgarth: Nach einer Phase der
akuten Krisenbewältigung rücken auch in
Coronazeiten die „normalen“ Herausforderungen
für die Wirtschaft wieder in den Fokus.
Besonders drängend bleibt ein effektiver
Klima- und Umweltschutz – einerseits, um die
Lebensgrundlagen der Gesellschaft zu erhalten,
andererseits gilt es, die Zukunft der Wirtschaft
zu sichern. Zugleich gewinnt auch die
Berücksichtigung etwa von sozialen Faktoren
an Bedeutung. Insofern ist es richtig, wenn
von dem Re-Start auch ein starkes Aufbruchssignal
unter grünem Vorzeichen ausgeht. Klar
ist aber auch: Umfang, Geschwindigkeit und
konkrete Maßnahmen müssen betriebswirtschaftlich
und ökologisch machbar bleiben.
Dr. Bernd Rolinck: Die Coronakrise hat
gezeigt, wie anfällig Gesundheits-, Gesellschafts-
und Wirtschaftssysteme selbst in
den Industrieländern sind. Künftig ist daher
noch stärker auf deren Anpassungs- und
Widerstandsfähigkeit zu setzen. Wenn wir
als reiche Volkswirtschaften Geld in die Hand
nehmen, um die Schäden der akuten Krise zu
mildern und die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft
durch gezielte Investitionen zu fördern,
dann sollten diese die Widerstandsfähigkeit
gegen künftige Krisen zum Ziel haben. Und das
meint Nachhaltigkeit.
Kristian Kreyes: Trotz der Coronapandemie
ist jetzt genau die richtige Zeit für Investitionen
in eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft.
Wann, wenn nicht jetzt? Wir sehen
uns mit einem rasch steigenden globalen
Bevölkerungswachstum und zunehmendem
Energieverbrauch konfrontiert. Gleichzeitig
sind wir in vielen Bereichen noch auf endliche
Ressourcen angewiesen. Daher hat die
90
WIRTSCHAFT+MARKT
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
EU-Kommission Ende 2019 den European
Green Deal vorgestellt, in dessen Rahmen die
Europäische Investitionsbank zur „Klimabank“
umgebaut werden soll. Der EU-Rat hat dazu
den mehrjährigen Finanzrahmen sowie das
europäische Konjunktur- und Investitionsprogramm
gegen die Folgen der Coronakrise in
Höhe von insgesamt rund 1,8 Billionen Euro
beschlossen. Das ist der größte Haushalt in
der Geschichte der EU, und er soll nachhaltig
investiert werden. Gerade öffentlichen Mitteln
kommt hier eine besondere Verpflichtung zu.
W+M: Welcher Zeithorizont verbleibt für
eine Transformation unserer Wirtschaft?
Achim Oelgarth: Die deutliche Mehrheitsmeinung
unter den Wissenschaftlern ist hier
relativ klar: Es ist notwendig, schnell und
gezielt unsere bisherige Lebens- und Wirtschaftsweise
umzusteuern.
Dr. Bernd Rolinck: Die Transformation zu
einer emissionsarmen Gesellschaft und Wirtschaft
und der Erhalt der natürlichen Ökosysteme
sind sicher die vordringlichsten Themen.
Die Veränderungen werden Wachstum sowie
Verteilung von Wertschöpfung und Wohlstand
weltweit und zwischen Industrien betreffen.
Die Weichen für die Zukunft
einzelner Wirtschaftsstandorte
und
Unternehmen
werden jetzt gestellt – wenn nicht durch
die Wirtschaft selbst, dann durch politische
Regulierung.
Kristian Kreyes: Der Weltklimarat hat klar
dargelegt, in welchem Ziel- und Zeitrahmen
gehandelt werden muss, um die Erderwärmung
auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das von der
Bundesregierung verabschiedete Klimaschutzgesetz
kommt da genau richtig. Es
verpflichtet Deutschland, bis zum Jahr 2030
die CO 2
-Emissionen um 55 Prozent zu reduzieren,
im Vergleich zu 1990. Bis 2050 sollen
Deutschland und Europa dann CO 2
-neutral
sein. Wenn das gelingt, sind wir auf einem
guten Weg.
W+M: Welche Rolle spielt die Finanzwirtschaft
bei der Transformation?
Achim Oelgarth: Auf dem Weg zu mehr
Nachhaltigkeit ergeben sich für die Wirtschaft
eine Reihe von Herausforderungen. Hierfür
sind neben Innovationen auch erhebliche
Investitionen notwendig. So ging die EU-Kommission
bei Auflage des Green Deals davon
aus, dass bis 2030 zusätzlich 260 Milliarden
Euro jährlich nötig sind, um die Klimaziele
zu erreichen. Die Finanzwirtschaft kann
dabei durch eine entsprechende Lenkung der
Finanzströme den Umbau in den Unternehmen
aktiv begleiten. Dies stärkt die Wettbewerbsfähigkeit
der finanzierten Unternehmen
und reduziert Nachhaltigkeitsrisiken in den
Bankbilanzen. Wichtig ist dabei, dass eine
Bewertung eines Vorhabens
als „grün“ nicht das alles entscheidende
Kriterium für eine Kreditvergabe sein kann.
Hier bleibt ebenso der Blick auf die Bonität,
das Ausfallrisiko und die Werthaltigkeit der
Investition entscheidend.
Dr. Bernd Rolinck: Die Transformation
unserer Wirtschaftssysteme wird auch die
Struktur des weltweiten Kapitalstocks betreffen.
Kapital wird sich in Bewegung setzen,
und Mittel aus einzelnen Industrien werden
in andere fließen. Dieser Prozess sollte von
professionellen Finanzmarktakteuren mitgestaltet
werden, um Effizienz im Umbau zu
gewährleisten. Diese wissen am ehesten um
das Management von Risiken ebenso wie um
die Realisierung von Chancen und sollten sich
frühzeitig mit den Umbrüchen beschäftigen.
Kristian Kreyes: Unser Beitrag als
Förder bank besteht darin, nachhaltige
Landesförder programme zu managen und
neue, zusätzliche Geldquellen für die Transformation
zu erschließen. Wir fördern beispielsweise
mit eigenen Programmen die nachhaltige
Entwicklung in Brandenburg. So haben wir
dieses Jahr erstmalig einen sogenannten
Social Bond emittiert und damit Investoren die
Chance gegeben, in die Bildungsinfrastruktur
und in den sozialen Wohnungsbau in Brandenburg
zu investieren. Der Bond war innerhalb
weniger Stunden mehrfach überzeichnet. Die
Nachfrage nach nachhaltigen Finanzprodukten
ist in den vergangenen
Jahren erfreulicherweise
merklich
gestiegen.
Grafiken: rawpixel.com/freepik/artistdesign13/freepik.com, Fotos: OBV, Deutsche Bank AG, ILB
WIRTSCHAFT+MARKT 91
W+M: Bringt Nachhaltigkeit auch
geschäftspolitische Chancen mit sich?
Achim Oelgarth: Das Thema ist unter mehreren
Aspekten für die Kreditinstitute relevant.
Die Kunden werden zunehmend anspruchsvoller
in Bezug auf Nachhaltigkeit und haben
entsprechende Ansprüche an ihre Bank. Nachhaltigkeit
ist damit – zumindest heute noch –
ein Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb.
Gleichzeitig steigt etwa im Anlagegeschäft die
Nachfrage nach entsprechenden Investments.
Und nicht zuletzt befasst sich eine Vielzahl von
Unternehmen mit der Transformation ihrer
Geschäftsmodelle. Dies ermöglicht auch den
finanzierenden Banken, sich neue Geschäftsfelder
zu erschließen.
Dr. Bernd Rolinck: Selbstverständlich
bringt Nachhaltigkeit auch geschäftspolitische
Chancen mit sich! Viele Unternehmen werden
ihre Geschäftspartner künftig stark unter
Nachhaltigkeitsaspekten auswählen. Wer sich
hier früh nachhaltig ausgerichtet hat, wird
dabei gewinnen. Speziell die Finanzwirtschaft
wird davon profitieren, finanzielle Mittel und
Lösungen für dediziert nachhaltige Projekte
oder Unternehmen bereitzustellen bzw. für
nachhaltig motivierte Investoren geeignete
Anlagen zu strukturieren.
Kristian Kreyes: Natürlich, schließlich
entstehen völlig neue Branchen, Produkte
und Dienstleistungen. Zudem werden sich
bestehende Unternehmen und Infrastrukturen
an geänderte Rahmenbedingungen anpassen
müssen. Denken Sie beispielsweise an die
Kohleregion Lausitz, die gerade im Begriff ist,
sich neu zu erfinden. Aber auch im Kleinen gibt
es vielfältige Chancen für neue Geschäftsideen.
So stellt z. B. das von uns finanzierte
Start-up ME Energy autarke Ladesäulen für
Elektroautos her, die den Strom aus klimaneutralem
Bio-Methanol erzeugen. Aus meiner
Sicht ist es entscheidend, dass Wirtschaft und
Wissenschaft Hand in Hand arbeiten, damit
aus neuen Erkenntnissen innovative, nachhaltige
Geschäftsmodelle werden können.
W+M: Wie werden Nachhaltigkeitsparameter
in den geschäftspolitischen Strategien
berücksichtigt?
Achim Oelgarth: Klimaschutz und Nachhaltigkeit
sind auch für Banken eine wichtige
Handlungsmaxime. Sie werden integraler
Bestandteil der Geschäftsstrategie. Zugleich
spielen Nachhaltigkeitsaspekte bei der Risikobewertung
eine zunehmend wichtigere Rolle –
von den Auswirkungen des Klimawandels bis
hin zu politischen Entscheidungen, etwa weil
emissionsstarke Industrieunternehmen hohe
CO 2
-Preise zahlen müssen. Um die Geschäftspolitik
und das Risikomanagement entsprechend
steuern zu können, müssen die Risiken
und Chancen auch erkannt und bewertet
werden können. Hierfür haben die einzelnen
Institute jeweils Standards entwickelt.
Dr. Bernd Rolinck: Die Europäische Zentralbank
weist immer wieder darauf hin, dass die
europäischen Banken nach ihrer Ansicht die
Risiken aus dem Klimawandel – um nur ein
Beispiel zu nennen – noch nicht ausreichend
in ihrem Risiko-Management berücksichtigen.
Über ein Konsultationsverfahren entwickelt
sie eigene Empfehlungen zum Umgang mit
Klima- und Umweltrisiken im Banksektor. Eine
Reihe von Banken in Deutschland – auch die
Deutsche Bank – haben eine gemeinsame
Vereinbarung geschlossen, um die Kredit- bzw.
Investmentportfolien im Einklang mit den Zielen
des Pariser Klimaabkommens auszurichten
und durch die Finanzierung der Transformation
hin zu einer emissionsarmen und klimaresilienten
Wirtschaft und Gesellschaft, die
Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu
begrenzen und das 1,5-Grad-Ziel anzustreben.
Kristian Kreyes: Seit 2019 steht Nachhaltigkeit
auch im Fokus der Aufsicht. So hat die
Bundesanstalt für Finanzaufsicht (BaFin) im
Mai 2019 die BaFin-Perspektiven zu Nachhaltigkeit
veröffentlicht und im Dezember
ihr Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken.
Dieses Jahr hat die BaFin zudem
angekündigt, dass sie die Nachhaltigkeit des
Geschäftsmodells in Zeiten der Niedrigzinsen
prüfen wird. Außerdem wird Sie auch darauf
achten, dass Umwelt-, Sozial- und Governance-
Risiken in Banken berücksichtigt werden. Sie
sehen, Nachhaltigkeit ist in der Finanzwirtschaft
angekommen.
Achim Oelgarth,
geschäftsführendes Vorstandsmitglied
des Ostdeutschen
Bankenverbands
Dr. Bernd Rolinck,
Leiter des Expertenteams
Zukunftsbranchen bei der
Deutsche Bank AG
Kristian Kreyes,
Bereichsleiter Wirtschaft
bei der Investitionsbank des
Landes Brandenburg
92
WIRTSCHAFT+MARKT
KLIMAWANDEL & WIRTSCHAFT
UMFRAGE TRENDOST
POSITIVER AUSBLICK
FÜR DEN WIRTSCHAFTS-
STANDORT
DDie Coronapandemie hat gezeigt, wie abrupt
Unternehmen und der Wirtschaftsstandort
vor neue Herausforderungen gestellt werden
können. Vieles hat sich grundlegend verändert,
die kommenden Monate bleiben wohl
außergewöhnlich. Auch für die Unternehmen
und den Wirtschaftsstandort gilt es, sich auf
eine neue Realität einzustellen. Was heißt
dies bezogen auf Ostdeutschland?
Der Ostdeutsche Bankenverband hat gemeinsam
mit „Wirtschaft+Markt“ die Umfrage
TrendOst durchgeführt. Im August wurden
hierzu Führungskräfte und Experten aus
Banken, Unternehmen, Verbänden/Kammern
sowie Politik zu ihren Einschätzungen des
Liquidität
Nachfrage
Investitionen
Lieferketten
Produktion
Wirtschaftsstandorts und den Herausforderungen
sowie Reaktionen der Unternehmen
befragt. Geantwortet haben 225 Teilnehmer/-innen,
primär aus Ostdeutschland.
WIRTSCHAFTSSTANDORT BEHAUP-
TET SICH AUCH UNTER CORONA-
BEDINGUNGEN
Das konjunkturelle Fahrwasser ist stürmischer
geworden. Umso wichtiger ist es, dass
die Standortfaktoren die hiesige Unternehmenslandschaft
wirkungsvoll unterstützen.
Bei einer Gesamtbewertung erhält der
Wirtschaftsstandort auf der Schulnotenskala
eine 3+, bewegt sich also im Mittelfeld.
Durchwachsen bleibt die Wahrnehmung der
Welche Auswirkungen hat die Coronakrise nach Ihren Erfahrungen auf
ostdeutsche Unternehmen?
negativ neutral positiv
einzelnen Rahmenbedingungen. Zufrieden ist
man weitgehend mit Förderung und Flächenangebot
(2- bis 3+). Problemfelder bleiben
Breitband, Fachkräfteverfügbarkeit und
Verwaltungshandeln (Tendenz 3 bis 4). Ein
Lob erhalten dagegen Politik und Behörden
bei den Corona-Hilfen (bester Wert mit 2-).
Dass die Hilfen auch dringend notwendig
waren bzw. sind, zeigt die Frage nach den
Auswirkungen der Pandemie auf die Unternehmen.
Nicht überraschend wurden bei
Liquiditätssituation und Lieferketten deutlich
negative Folgen attestiert. Als Unterstützungsmaßnahmen
misst man vor allem den
Zuschüssen von Bund oder Land sowie der
Corona-Überbrückungshilfe eine hohe Relevanz
zu. Ebenfalls sind die KfW-Kreditprogramme
sowie die erweiterten Bürgschaften
für einen größeren Teil von Bedeutung. Als
wirksamstes Instrument wird das Kurzarbeitergeld
beschrieben, fast 70 Prozent
bewerten dieses mit „sehr relevant“.
STÄRKERE INTERNATIONALISIE-
RUNG PROGNOSTIZIERT
Die Auswirkungen der Pandemie haben vor
allem Unternehmen mit internationalen
Beziehungen schnell und deutlich gespürt. In
Folge davon wird eine weitere Diversifizierung
der Lieferketten und Absatzkanäle, aber auch
eine stärkere regionale Vernetzung prognostiziert.
Dazu passt, dass auch die Rückholung
von Kompetenzen an deutsche Standorte
erwartet wird.
Personal
0 % 50 % 100 %
Ostdeutscher Bankenverband e. V. (Quelle: Eigene Umfrage über Lamapoll, August 2020;
207 Antworten, Mehrfachauswahl möglich)
Insgesamt ist die direkte Einbindung grenzüberschreitender
Wertschöpfungsketten im
Osten noch immer vergleichsweise gering.
Mit der hiesigen Außenhandelsperformance
sind 50 Prozent der Befragten nur
Grafiken: OBV
WIRTSCHAFT+MARKT 93
Welche grundlegenden Änderungen in der Struktur der Wertschöpfungskette
wird es für Unternehmen durch die Coronapandemie geben?
stimme überhaupt nicht zu
stimme vollkommen zu
Lieferketten werden diversifiziert
Steigende regionale Vernetzung
Absatzkanäle werden diversifiziert
Rückverlagerung von Kernkompetenzen nach D
Fertigungstiefe steigt
Geplante Auslandsinitiativen werden ausgesetzt
Beschaffungskooperationen mit anderen
Fokussierung auf den EU-Binnenmarkt
Keine Änderung
Stärkere Internationalisierung
0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 %
Ostdeutscher Bankenverband e. V. (Quelle: Eigene Umfrage über Lamapoll, August 2020; 206 Antworten, Mehrfachauswahl möglich)
teils zufrieden. Für die nächsten zehn Jahre
wird aber eine spürbare Veränderung der
Exportaktivitäten erwartet, wenn auch sehr
branchenindividuell. Einen Schub in der Internationalisierung
sollten primär die Unternehmen
aus Chemie/Pharmazie, Biotech und
Informationstechnik erfahren. Die – stark
exportorientierte – Automobilindustrie wird
dagegen auf dem Rückzug gesehen.
NACHHALTIGKEIT UND KLIMA-
SCHUTZ BLEIBEN AUF DER AGENDA
Dem Thema „Nachhaltigkeit“, insbesondere
mit Blick auf dem Klimaschutz, bescheinigt
gut die Hälfte der Befragten bereits jetzt
eine hohe Relevanz, in zehn Jahren ist dies
für fast 90 Prozent der Fall. Als stärkste
Treiber werden dabei vor allem die Anforderungen
der Kunden und der Gesellschaft
im Allgemeinen sowie das Motiv der
Ressourceneinsparung und die Erfüllung
der gesetzlichen Vorgaben erlebt. Auch
Banken und Finanzierungspartner fragen
zwar inzwischen stärker bei Unternehmen
nach entsprechenden Anstrengungen nach,
werden in dieser Rolle aber noch nicht von
allen wahrgenommen.
Zugleich gibt es einen positiven Aspekt
aus der Coronapandemie zu verzeichnen.
Sechs von zehn Antwortenden meinen,
dass hierdurch das Thema Nachhaltigkeit
an Bedeutung gewinnt. Hinsichtlich von
Konjunktur- und Unterstützungsmaßnahmen
besteht zwar eine hohe Präferenz, den
Unternehmen zunächst wieder auf die Beine
zu helfen (zwei Drittel). Dennoch sollte die
Mittelverwendung durchaus auch Klima-/
Umweltschutz und soziale Belange in den
Unternehmen unterstützen.
Wie verändert sich aus Ihrer Sicht das Exportgeschäft in den nächsten zehn
Jahren für die folgenden Branchen?
Biotech-Industrie
Chemie und Pharmazie
IT/Telekommunikation
Maritime Wirtschaft
Automobilindustrie
Ostdeutscher Bankenverband e. V. (Quelle: Eigene Umfrage über Lamapoll, August 2020;
201 Antworten, Mehrfachauswahl möglich/Branchenauswahl)
2 %
2 %
6 %
41 %
59 %
83 %
65 %
58 %
10 %
14 %
sinkt
steigt
Fazit
Trotz Corona bleibt der Blick verhalten
optimistisch: Der Großteil
der Antwortenden rechnet damit,
dass sich im Verlauf des nächsten
Jahres die wirtschaftliche Situation
weitgehend normalisiert. Der
Wirtschaftsstandort ist durchaus
attraktiv, kann in den einzelnen
Ausprägungen aber noch besser
werden. Vor allem die Frage nach
dem Platz innerhalb der internationalen
Wertschöpfung und die
Transformation hin zu nachhaltigen
Geschäftsmodellen wird die Unternehmen
in den nächsten Jahren
intensiv beschäftigen. Dabei
sollten nicht nur Risiken, sondern
auch die Chancen gezielt in den
Blick genommen werden. Erst
im Juli gelang es, den Absatz des
Vorjahresmonats zu übertreffen.
Ob die Trendwende nachhaltig ist,
muss man sehen.
94
WIRTSCHAFT+MARKT
GESELLSCHAFT
Franziska Giffey, Steffen Mau,
Adriana Lettrari und Thomas Brockmeier
„DAVOS DES OSTENS“ TROTZT
CORONA UND FOKUSSIERT
SICH AUF ZUKUNFTSTHEMEN
Drei Tage lang erörterten führende Vertreter aus Wirtschaft,
Wissenschaft und Politik auf dem 5. Ostdeutschen
Wirtschaftsforum (OWF) die Folgen der Coronakrise
und Zukunftsperspektiven des Wirtschaftsstandortes
Ostdeutschland. Unter dem Motto „Mut zum Vorsprung –
wie wir gemeinsam die Krise meistern“ wurde jedoch
nicht nur über die aktuelle Situation der ostdeutschen
Wirtschaft diskutiert, sondern wurden in vielfältiger
Weise Zukunftsthemen beleuchtet – Digitalisierung,
Energie- und Mobilitätswende, Nachhaltigkeit, „grüne“
Geschäftsmodelle und Ostdeutschland als attraktiver
Investitionsstandort.
VON KARSTEN HINTZMANN
DDas „Davos des Ostens“, wie das Ostdeutsche
Wirtschaftsforum seit der ersten Veranstaltung
im Jahr 2016 inoffiziell genannt wird,
entfaltete ungeachtet der coronabedingten
Veranstaltungsbeschränkungen – pro Veranstaltungstag
durften nur rund 120 Teilnehmer
in Bad Saarow vor Ort sein – auch in diesem
Jahr eine besondere politische Zugkraft. Für
den Eröffnungsabend hatte sich Bundesfamilienministerin
Franziska Giffey (SPD) angesagt.
Sie sprach sich für eine weitere Angleichung
der Lebensverhältnisse zwischen West und
Ost sowie für mehr Führungskräfte mit
ostdeutschen Biografien in Spitzenpositionen
aus. Giffey sagte: „Die Ostdeutschen haben
allen Grund, stolz zu sein auf das Erreichte
und die positive Entwicklung, darauf, dass
sie viele Veränderungen gut gemeistert
haben. Und, dass sie in einigen Bereichen
und Regionen inzwischen eine Vorreiterrolle
haben. Was in herausfordernden Jahrzehnten
geleistet wurde, das verdient Wertschätzung.
Die noch vorhandenen Ungleichheiten müssen
aber weniger werden, bestenfalls ganz
verschwinden. Dazu gehört, aktiv gegen die
Strukturschwäche im Osten und die Unterrepräsentanz
von ostdeutscher Lebenserfahrung
in wichtigen Ämtern zu wirken. Unterschiede
bei den Löhnen, dem Vermögen oder
auch bei der Besetzung von Führungspositionen
– das ändert sich nicht von allein, wie viele
vielleicht gehofft hatten.“ Die junge Generation
solle, so Giffey, selbstbewusst sein und weiter
aktiv an Verbesserungen arbeiten.
Franziska Giffey mit Gästen. Ankunft von Peter Altmaier in Bad Saarow. Marco Wanderitz im Interview.
OSTDEUTSCHES WIRTSCHAFTSFORUM 2020 WIRTSCHAFT+MARKT 95
Olaf Scholz
Frank Nehring, Martin Dulig, Jörg Steinbach, Wolfgang Tiefensee
Rommy Arndt
Frank Nehring
Am zweiten Konferenztag gaben sich Spitzenpolitiker
quasi die Klinke in die Hand. Zum Auftakt
sprach Vizekanzler und Bundesfinanzminister
Olaf Scholz (SPD) zu den ostdeutschen
Unternehmern. Auch der Ostbeauftragte der
Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU),
und die ostdeutschen Wirtschaftsminister
Martin Dulig (Sachsen), Prof. Dr. Jörg Steinbach
(Brandenburg), Wolfgang Tiefensee (Thüringen)
und Prof. Dr. Armin Willingmann (Sachsen-
Anhalt) diskutierten mit den OWF-Gästen.
Am Abschlusstag referierte Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU) über
„Die Krise als Motor des Strukturwandels“.
Er zeigte sich optimistisch, dass die vorrangig
mittelständisch geprägte Wirtschaft in
den neuen Bundesländern gestärkt aus der
Coronakrise hervorgehen werde. Altmaier
sagte: „Corona ist derzeit eine der größten
Herausforderungen. Wir stehen weiter fest an
der Seite der Unternehmen, damit niemand
sein Geschäft nur aufgrund der Krise aufgeben
muss. Wie wir überall sehen können, bringt die
Krise aber auch neue Ideen und Geschäftsmöglichkeiten
hervor. Deswegen bin ich überzeugt,
dass die ostdeutsche Wirtschaft künftig
besser dastehen wird als vor der Krise.“ Eine
besondere Wirkung werde, so Bundesminister
Altmaier, das Kohleausstiegsgesetz entfalten.
Altmaier: „Mit den getroffenen Vereinbarungen
mit den Ländern sorgen wir rechtzeitig
und umfassend dafür, dass sich das Lausitzer
und das Mitteldeutsche Revier in moderne und
zukunftsweisende industrielle Regionen mit
attraktiven Arbeitsplätzen wandeln können.“
Peter Altmaier
Fotos: W+M/Ralf Succo
Bodo Rodestock
Stefan Kapferer
Matthias Platzeck
96
WIRTSCHAFT+MARKT
GESELLSCHAFT
Achim Oelgarth
Friedrich Merz war live zugeschaltet.
Joachim Ragnitz
Mit Blick auf den wirtschaftlichen Aufholprozess
der neuen Bundesländer würdigte der
Bundeswirtschaftsminister die Innovationsbereitschaft
des hiesigen Mittelstands: „Der
Mittelstand ist das Rückgrat der ostdeutschen
Wirtschaft. Zusammen mit ihren Beschäftigten
haben die Unternehmen mit viel Mut und
neuen Ideen die wirtschaftliche Erneuerung in
den vergangenen 30 Jahren möglich gemacht.
Dieser Leistung drücke ich meinen vollen
Respekt aus.“
Friedrich Merz, einer der Bewerber um den
CDU-Bundesvorsitz, regte die Bildung von
Sonderwirtschaftszonen in Ostdeutschland
an. In einer Liveschaltung zum Ostdeutschen
Wirtschaftsforum sagte Merz: „Ich könnte mir
Sonderwirtschaftszonen in Grenznähe zu Polen
vorstellen“. Konkret nannte Merz die Regionen
Frankfurt (Oder), Stettin und Görlitz. Auf diese
Weise könnten die neuen Länder in die Lage
versetzt werden, sich einen Vorsprung im
gesamtdeutschen Vergleich zu erarbeiten,
so Merz. Der CDU-Politiker appellierte an die
in Ostdeutschland verantwortlichen Wirtschaftslenker
und Politiker, sich noch stärker
für die Schaffung eines Klimas zu engagieren,
das Unternehmensgründungen befördert.
Merz: „Wir brauchen in Ostdeutschland ein
Klima, in dem junge Menschen Mut fassen,
selbst Unternehmen zu gründen oder auch
bestehende Unternehmen zu übernehmen.“
Franziska Giffey Steffen Kammradt Anna Herrhausen
OSTDEUTSCHES WIRTSCHAFTSFORUM 2020 WIRTSCHAFT+MARKT 97
Christian Ehler
Armin Willingmann
Christian Pegel
Anders Levermann
Erstmalig wurden im Rahmen des Ostdeutschen
Wirtschaftsforums erfolgreiche und innovative
Unternehmen ausgezeichnet, die sich
zu regionalen Leuchttürmen entwickelt haben.
Sie erhielten den Wirtschaftspreis des OWF,
der den Titel „Vorsprung“ trägt. Die Preisträger
waren von einer namhaft besetzten Jury unter
Leitung des langjährigen brandenburgischen
Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD)
ausgewählt worden.
Am Ende der dreitägigen Veranstaltung in Bad
Saarow zog Veranstalter und Initiator Frank
Nehring ein durchweg positives Fazit: „Wir sind
froh und dankbar, dass wir das Ostdeutsche
Wirtschaftsforum trotz erschwerter Rahmenbedingungen
in hoher Qualität durchführen
konnten. In Bad Saarow sind viele gute Ideen
zusammengetragen worden, die darauf abzielen,
die Wirtschaft in den neuen Ländern auch
nach Überwindung der Coronakrise zukunftsfähig
zu machen.“
Frank Nehring und Olaf Scholz
Peter Altmaier im Interview
Fotos: W+M/Ralf Succo
Christoph Meinel
Robert Hermann
GESELLSCHAFT
WIRTSCHAFT+MARKT 98
DIE TEILNEHMER DES 5. OSTDEUTSCHEN
WIRTSCHAFTS FORUMS IN BAD SAAROW
Foto: W+M/Ralf Succo
A
Iroda Abdumalikova
Peter Altmaier
Rommy Arndt
Wolfram Axthelm
B
Tino Barth
Dr. Jan Bellgardt
Dr. Ute Bergner
Harald Bergner
Jens Bergner
Andreas Bilfinger
Prof. Dr. Thomas Brockmeier
Sarah Burggraf-Sperlich
C
Michael Carl
D
Stefan Di Bitonto
Sandro Dietze
Klaus Dornbusch
Martin Dulig
E
Norbert Eder
Dr. Christian Ehler
Katja Einecke
Annika Einhorn (Beg. AM)
Jens-Uwe Eras
F
Dr. Nathalie Fiechtner
Tobias Fischer
Claudia Flick
Daniela Freimann
Björn Friedrich
G
Alexander Gallrein
Dave Gebauer
Dr. Franziska Giffey
Matthias Gille
Jan Hinrich Glahr
Rainer Gläß
Dr. Andreas Golbs
Andrea Gottschalk
Markus Graebig
Niklas Graf von Bernstorff
Christian Gräff
Reinhard Grimm
Tobias Grohmann
Enrico Großer
Klaus-Peter Gust
Volker Gustedt
H
Frank Haacker
Dr. Claudia Hanisch
Arnd Heidemüller
Stephan Hemmerich
Philipp Hentschel
Dr. Robert Hermann
Dr. Anna Herrhausen
Christian Herschel
Hans-Peter Hiepe
Karsten Hintzmann
Andreas Hopmann
Thomas Horn
Axel Hylla
I
Anke Illing
J
Annette Jaecker
Brigita Jeroncic
Andrea Joras
K
Dr. Steffen Kammradt
Stefan Kapferer
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Silvia Kohlmann
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Denes Kovats
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Carsten Krause
Thoralf Krause
Kristian Kreyes
Norbert Kunz
L
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Dr. Katrin Leonhardt
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Prof. Anders Levermann
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Hendrik Luttmer
M
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Dr. Maik Mattheis
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Márk Mautner
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Dr. Alexander Montebaur
Eckhard Moschcau
N
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Frank Nehring
Helga Nehring
Dr. Robert Nehring
Marco Nix
Christopher Nüßlein
O
Sabine Oberlein
Achim Oelgarth
Marc Oelker
Volker Otto
P
Christian Pegel
Armin Pempe
Matthias Platzeck
Jens Pommerenke
Silke Poppe
R
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Carla Rechling-Kurz
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Dr. Bernd Rolinck
Andreas Roth
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S
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Jürgen Sperlich
Annegret Spillner
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T
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V
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W
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Wie verträgt sich Nachhaltigkeit
mit erfolgreichem Banking?
Ganz ausgezeichnet.
Nachhaltig handeln und erfolgreich wirtschaften
ist kein Widerspruch mehr. Bei der LBBW setzen
wir auf einen ressourcenschonenden Bankbetrieb,
genauso wie auf nachhaltige Investitionen
und Finanzierungen. Insgesamt investieren wir
23 Mrd. EUR in nachhaltige Anlageprodukte – über
alle Kundengruppen hinweg. Wir haben Erfolg mit
Nachhaltigkeit. Und das im gesamten Geschäftsbereich,
wie die vielen themen über greifenden
Auszeichnungen unterstreichen. Das beweist:
Nachhaltig wirtschaften zahlt sich aus. Mehr Informationen
unter www.LBBW.de/nachhaltigkeit
ISS ESG, die LBBW erhält
die Einstufung »Prime«
2019.
Sustainalytics, Platz 2
aller deutschen Finanzinstitute
2019.
Imug, Platz 1 unter 27
bewerteten Instituten
in Deutschland 2019.
Imug, Rang 7 von 159 im
europaweiten Vergleich
2019.
MSCI, Platz 3 in
Deutsch land 2018.
Fair Finance Guide,
beste Geschäftsbank
unter den getesteten
Instituten 2019.
Nachhaltig
verwaltetes
Vermögen 2019
Green Bond
Portfolio
2019
Nachhaltige
Projektfinanzierungen
2019
22,5 Mrd. EUR
+ 13 % Steigerung
seit 2017
5,9 Mrd. EUR
+ 20 % Steigerung
seit 2018
2,5 Mrd. EUR
48 % aller Projektfinanzierungen
Bereit für Neues