Gewohnheitsrecht als rechtliche Grundlage für Unrecht? - CCFW
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22<br />
Die Familienmitglieder müssen auch den „Milchbaum“ detailliert kennen, da Inzest nach<br />
den Regeln des Kanun bis in die 15. Generation verboten ist 78 .<br />
Wurde eine Hausgemeinschaft zu umfangreich oder kam es zu unüberwindbaren<br />
Differenzen zwischen den Brüdern, wurde sie geteilt. Ein Teil der familja zog aus dem<br />
Stammhaus [in diesem Fall shtëpi] aus und bildete einen Ableger. Der neue Hausstand<br />
wurde neben dem Stammhaus gebaut, die Ländereien wurden weiterhin gemeinsam<br />
genutzt und bewirtschaftet. Das Stammhaus und sein(e) Ableger bildeten zusammen eine<br />
Bruderschaft vëllazëri, das Familienoberhaupt des Stammhauses stand der ganzen Bruderschaft<br />
vor. Die vëllazëri wohnten innerhalb desselben Weilers oder Dorfviertels mëhallë 79 .<br />
Diese Bruderschaften waren überschaubar und selbständig, sie traten <strong>als</strong> politische Einheit<br />
und <strong>als</strong> deutlich zusammengehörende Gruppe auf. Auf Grund der höheren Lebenserwartung<br />
und dem damit verbundenen Bevölkerungsanstieg in der modernen Zeit erfolgte<br />
ein Übergang von Zwei- zu Drei- und Viergenerationenhaushalten. Die Teilung der<br />
Haushalte wurde in den letzten Jahren immer häufiger 80 . Während der Zeit des Kommunismus<br />
wurden Haushalte auch zwangsweise geteilt, weil nach der Kollektivierung eine<br />
Familie nur noch 300 Quadratmeter Boden besitzen durfte und nur eine bestimmte Anzahl<br />
monatlicher Portionen an Kaffee, Zucker, Getreide, Oel, etc. erhielt. Umfangreiche<br />
Familien konnten daher kaum mehr existieren. Die Strukturen wurden aber nicht wirklich<br />
zerstört, Familienteilungen erfolgten teilweise „zum Schein“ 81 .<br />
3.1.2 Die Sippe<br />
Gemäss den Worten des Kanun schliessen sich die Bruderschaften zu Sippen zusammen 82 .<br />
Die Sippe ist daher die nächste Ebene in der nordalbanischen Pyramide. Wie aber<br />
schliessen sich diese Sippen zusammen? Geschieht dies auf Grund eines willentlichen<br />
Akts? In der Literatur wird der Begriff der Sippe unterschiedlich verwendet.<br />
In einer Pyramidendarstellung von Voell 83 wird die Ebene nach den Bruderschaften kembë<br />
genannt, was soviel wie „Bein“ oder „Pfosten“ bedeutet, dies im Zusammenhang mit der<br />
nächst höheren Ebene des Stammes. Vom Stamm aus gesehen, ist der kembë daher eine<br />
Untergruppe, welche sich aus verschiedenen Bruderschaften zusammensetzt. Kaser 84<br />
spricht von Abstammungsgruppen, welche aus verschiedenen Haushalten [Hausgemeinschaften]<br />
gemeinsamer Abstammung bestanden. Zusammen bildeten sie ein gesamtes Dorf<br />
oder Teile davon. An ihrer Spitze stand der vojvode oder glavar. Auf Grund der Aufteilung<br />
der Haushalte und der Bruderschaften entstand eine umfangreiche Abstammungsgruppe.<br />
Diese Sippen spielten gemäss Kaser in gewissen Stämmen eine entscheidende Rolle, sie<br />
waren wichtiger <strong>als</strong> der Stamm selbst. Auch die Solidarität war auf Grund der örtlichen<br />
und <strong>für</strong> albanische Verhältnisse immer noch engen verwandtschaftlichen Verbundenheit<br />
sehr hoch. In einem anderen Werk verwendet Kaser den Begriff Sippe <strong>als</strong> Synonym <strong>für</strong><br />
Stamm fis 85 . Schubert erklärt den Begriff Sippe ebenfalls mit dem Begriff Stamm und<br />
78<br />
Schwandner-Sievers (1995), S. 122ff.<br />
79<br />
Voell, S. 162<br />
80<br />
Kaser (1995b), S. 419ff.<br />
81<br />
Kaser (1995a), S. 138ff. mit Beispielen einzelner Familien<br />
82<br />
Elsie, S. 15 (Kanun, 2. Buch, 1. Kapitel, Paragraph 1)<br />
83<br />
Voell, S. 162<br />
84<br />
Kaser (1995b), S. 236f.<br />
85<br />
Kaser&Baxhaku, S. 209