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„ Solange
etwas ist, ist es nicht das,
was es gewesen sein wird.
Wenn etwas vorbei ist, ist man
nicht mehr der, dem es passierte.
Allerdings ist man dem näher
als anderen.“
2
So zitierte mein Vater Martin Walser in seinem eigenen
Buch „Erinnerungen“. Wenn wir uns also erinnern,
dann ist das immer eine andere Wirklichkeit als man sie
erlebte, weil man selber ein anderer geworden ist. Jeder
kennt das, dass man in seinen Erinnerungen manches
schöner, vielleicht auch dramatischer macht als es wirklich
war. Und wenn man die Lebensumstände des Lebens
nicht kennt, kann man sich auch kaum vorstellen,
wie Menschen vor uns gelebt und empfunden haben. Es
gilt aber auch andersherum: Im Leben unserer Vorfahren
konkretisiert sich die Geschichte unseres Landes.
Die Spuren der Menschen verwischen sehr schnell:
Wir können uns noch an die Eltern erinnern, das
Leben der Großeltern ist uns in einigen Facetten noch
bewusst, vieles davon wissen wir aber nicht und vom
Leben der Urgroßeltern sind uns nur noch einige
Überlieferungen bekannt. Nur wenn es einen Familienstammbaum
gibt, dann kennen wir noch die Namen,
die Lebensdaten, vielleicht auch noch deren Berufe,
ansonsten ist aber deren Leben inzwischen fast völlig
vergessen. Und so ist es mit unserem Leben wie mit den
Spuren im Sand wenn wir auftreten klar in der Kontur,
unverwechselbar, schon bald aber noch nur in Umrissen
erkennbar und schon bald hat der Wind unsere Spuren
ganz eingeebnet.
Aber anders als bei den Spuren im Sand, bleibt von uns
immer etwas, wenn wir Kinder und Enkel und Urenkel
haben. Dann ist es eher wie das Wasser eines Baches,
das in einen Fluss fließt und dieser Fluss fließt wieder in
einen größeren und so weiter, bis dass der große Strom
in ein Meer mündet. Das Wasser des kleinen Baches ist
immer im Wasser der größeren Flüsse und später auch
noch im Meer. Wir
prägen mit unserem
Leben unsere Kinder
und Enkel und wir
sind geprägt vom
Leben unserer Eltern,
Großeltern und
Urgroßeltern. Wenn
man also etwas über
sich erfahren will,
verstehen will, warum
man so ist, dann
sollte man auch
seine Vorfahren und
ihr Leben studieren.
Deswegen habe ich dieses Büchlein zusammengestellt.
Vielleicht könnt ihr euch im Leben eurer Vorfahren wiedererkennen.
Ich konnte das Büchlein nur machen, weil
mein Vater und mein Onkel Nikolaus schon sehr viel an
Material über unsere Familie zusammengestellt hatten.
Auch die kleinen Büchlein von meinem Bruder Klaus
über Ina und Hans haben sehr geholfen. Wir stammen
immer von zwei Familien ab, der der Mutter und der des
Vaters. Und das verzweigt sich dann immer mehr. Ich
habe mich in meinem Buch nun darauf begrenzt, das
Leben meiner Großeltern und meiner Eltern zu dokumentieren.
Vielleicht wird es einmal einen zweiten Band
geben, in dem das Leben der Eltern und Großeltern von
Wallo beleuchtet wird, vielleicht auch noch einen Band
mit Wallos und meinem Leben.
Der Anlass für mein Vorhaben war der Tod meines Vaters.
Er wurde sehr alt und ich konnte mir irgendwann gar
nicht mehr vorstellen, dass es ein Leben ohne ihn gibt.
Nie war meine Beziehung zu ihm enger als in den letzten
Jahren vor seinem Tod. Und noch heute erwische ich
mich immer wieder, wenn ich auf das Telefon schaue,
um zu prüfen, ob er angerufen hat. In meinen Erinnerungen
ist er noch lebendig. Das ist ein schönes Gefühl
und es wäre schön, wenn es euch nach der Lektüre dieses
Büchleins ähnlich ergeht: Die Erinnerungen machen
die Eltern und Großeltern und Urgroßeltern wieder ein
wenig lebendig. Plötzlich wird das Gestern wieder zum
Heute, werden die Spuren wieder sichtbar. Und dann,
dann könnte man sagen, dass die Vorfahren weiterleben,
trotz ihres Todes. Dann verliert der Tod auch ein
wenig vom Schrecken der Unendlichkeit.
„Bopa, erzähl mal eine Geschichte von früher“, so meine
Enkel Bjarne und Linnea im gemeinsamen Sommerurlaub
in St. Peter Ording 2020, wenn wir den langen
Weg zum Strand machten. Das wurde dann der Titel des
Büchleins.
Angeregt zu diesem Buch hat mich unser Freund
Klaus Wolf, der auch ein Familienbuch für seine Enkel
gestaltet hat. Allen herzlichen Dank. Natürlich merkt
ihr an diesem Buch, dass ich es als Geschichtslehrer
zusammengestellt habe. Ich hoffe nun, dass es euch
gefällt und vielleicht spürt ihr manchmal das Rauschen
des Wassers eurer Vorfahren in euren Adern.
Bodo Philipsen im Winter 2020
3
Am 13. Juni 2020 ist euer Urgroßvater,
Großvater und mein Vater gestorben.
Er wurde fast 97 Jahr alt. Wenn jemand
stirbt, ist das sehr traurig, weil man ihn nie
wieder sehen wird.
Hans hat in seinem Leben Großes geleistet
und uns alle sehr geprägt. Ein wenig ist
unser Leben als Söhne auch immer der
Versuch, es ihm gleich zu tun.
4
Wir haben das Glück, dass wir die Familie meiner
Mutter bis ins 13.Jahrhundert und die meines Vaters
bis ins 17.Jahrhundert zurückverfolgen können. Dazu
hat auch mein Vater Hans beigetragen, denn er hat alle
alten Dokumente gesammelt und zusammengeführt.
In der Familie meiner Mutter Ina-Maria gab es fast nur
Verwaltungsbeamte und hohe Militärs – sogar mehrere
Bürgermeister von Berlin, in der Familie meines Vaters
dagegen gab es fast durchweg „nur“ Bauern.
Mein Großvater und mein Onkel väterlicherseits waren
allerdings auch Bürgermeister. Wer kann den Stammbaum
fortsetzen? Ihr müsst noch Waltraud und mich,
eure Eltern und euch selber eintragen. Und so geht das
immer weiter. Am Ende sind alle Menschen miteinander
verwandt.
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Ururgroßmutter
Urgroßmutter
Ururgroßvater
Großmutter
Ururgroßmutter
Urgroßvater
Ururgroßvater
Mutter
Ururgroßmutter
Urgroßmutter
Ururgroßvater
Kind
Großvater
Ururgroßmutter
Urgroßvater
Ururgroßvater
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Ururgroßmutter
Urgroßmutter
Großmutter
Ururgroßvater
Ururgroßmutter
Mit wem bin ich verwandt?
Wie hießen meine Vorfahren? Über
wie viele Generationen kann ich
meine Familiengeschichte zurückverfolgen?
Vater
Urgroßvater
Ururgroßvater
Solche und ähnliche Fragen beschäftigen
diejenigen, die sich
mit der Ahnenforschung und der
Erforschung der Familiengeschichte
beschäftigten. Der Fachbegriff
für diesen Forschungszweig lautet
übrigens Genealogie.
Urgroßmutter
Ururgroßmutter
Ururgroßvater
Die Suche nach Vorfahren ist ein
spannendes und interessantes
Hobby und mit diesem Stammbaum
zum selber ausfüllen wäre schon mal
ein Anfang gemacht.
Viel Spaß dabei.
Großvater
Ururgroßmutter
Urgroßvater
Ururgroßvater
7
Als mein Vater 1923 auf die Welt kam, hatte Deutschland
gerade den 1. Weltkrieg verloren und deswegen
kämpfte die erste Demokratie in Deutschland mit einer
Superinflation. Man hatte nämlich den Krieg mit vielen
Schulden bezahlt, die man nun nicht mehr zurückzahlen
konnte. Jetzt druckte man einfach Geld, ohne dass es
einen Gegenwert dazu gab. Bald war es also nichts mehr
wert und man musste am Ende mit einem Schubkarren
Geld ein Brot einkaufen gehen.
Da dachten viele, was nutzt es denn, wenn ich die
Regierung wählen kann, sie aber nichts gegen die
Siegermächte aus dem 1. Weltkrieg machen kann. In
dieser Zeit schrieb Adolf Hitler, der der schlimmste Deutsche
aller Zeiten werden sollte, sein Buch „Mein Kampf“,
in dem er beschrieb, wie er an die Macht kommen und
welche Verbrechen er dann begehen wollte. Noch saß er
aber selber im Gefängnis, weil er die gewählte Regierung
vergeblich versucht hatte mit Gewalt zu stürzen.
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Aussiedlerhof und alter Hof
Mein Opa Hans als Kind ...
... und als Vater von sechs Kinsern
Mein Opa hieß auch Hans, wie euer Opa und
Uropa. Das war damals früher häufig so: Man benannte
den Sohn mit dem Namen des Vaters und als zweiten
Namen führte man oft den des Großvaters.
Mein Opa wurde sehr streng erzogen. Als Kind durfte er
am Tisch nichts sagen, wenn er nicht gefragt wurde und
musste beim Essen stehen.
Wenn die Kinder nicht gehorchten,
wurden sie geschlagen. Er durfte auch
nicht den Beruf ergreifen, den er wollte,
nämlich Ingenieur, sondern
er musste Bauer werden, weil sein
Vater es so wollte.
Als Bauer hat er dann aber immer die neuesten Maschinen
auf dem Hof gehabt. Als der Hof im Dorf zu eng
wurde, beschloss er 1958 einen neuen Hof außerhalb
des Dorfes zu bauen. Ein ganz schönes Risiko.
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So lernte ich Radfahren
Mit dem Traktor gefahren
Auf diesem Hof habe ich in meiner Kindheit sehr
oft meine Sommerferien verbracht. Dort habe ich mit
ca. sechs Jahren Radfahren gelernt – auf einem
Erwachsenenrad. Svensteen, der Weg am Hof vorbei,
verlief über hunderte Meter immer geradeaus: Ideal zum
Lernen.
Dort habe ich gelernt, Kühe zum Melken in den Stall zu
treiben, den Schweinen die Reste unseren Essens auf
die Koppel zu bringen. Habe gesehen, wie die ganz kleinen
Ferkel Infrarotlicht bekamen, damit sie nicht froren
und leider auch, wie die kleinen, die nicht überlebensfähig
waren, getötet wurden.
Wie geschlachteten Hühnern
die Federn gerupft wurden
(die hüpften noch weg
ohne Kopf) und wie der
frische Fisch, den wir vom
Fischmann lebendig auf dem Hof gekauft hatten, auf
dem Herd, der mit Feuer beheizt wurde, gebraten wurden.
Auch sie hüpften noch in der Bratpfanne.
10
Mähdrescher
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Weil meine Großmutter sechs Kinder gebar, wurde
sie vom „Führer“ Adolf Hitler mit dem Ehrenkreuz
ausgezeichnet. Er dachte, wenn Frauen viele Kinder
bekommen, dann wird die „arische Rasse“ gestärkt,
denn der Kern seiner verbrecherischen Gedanken war,
dass nicht alle Menschen gleich viel Wert sind,
sondern dass es Menschen gibt, die sehr wertvoll sind
bis hin zu Menschen, die man ausrotten müsse.
Das führte dazu, dass sein Regime später Millionen Menschen
umgebracht hat. Außerdem waren viele Kinder
gut, weil man dann viele zukünftige Soldaten hatte.
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Ankunft nach der
anstrengenden Autofahrt
Fahrkarte
Mein dreieinhalb Jahre älterer Bruder Klaus und ich
fuhren auch allein mit dem Zug nach Munkbrarup. Da
waren wir fast 12 Stunden unterwegs. In Hamburg half
uns unsere Tante Elke im Bahnhof Altona in den Zug
nach Flensburg umzusteigen. Ich war damals vielleicht
sechs Jahre alt.
Einmal fuhr eine Familie Pausch aus Heidenheim mit.
In ihre kleine Tochter Annette habe ich mich damals
verliebt. Das war die erste Liebe meines Lebens.
“Jahr für Jahr fuhren wir in den Sommerferien nach
Munkbrarup. Abfahrt pünktlich um vier Uhr nachts.
Halb oder völlig schlafende Kinder torkelten in den
bereitstehenden VW. Der Vater am Steuer, Ina auf dem
Beifahrersitz, von wo sie den gesamten Verein mit
Radiomusik versorgte (sehr zum Leidwesen der Kinder),
aber auch mit gestrichenen Broten, harten Eiern und
dem obligaten Traubenzucker. Leider rauchte die Dame
auch und wenn sie Kippen zum Fenster rausschmiss,
landeten sie dank unergründlichen Turbulenzen zuweilen
auf dem Schoß der Kinder auf dem Rücksitz. So eine
Reise dauerte damals 16 Stunden, reduzierte sich über
die Jahre bis wir schließlich dank neuer Autobahnen
und Brücken in neun Stunden es schafften.“
(aus Klaus Erinnerungen)
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14
Mein Opa als Bürgermeister
Mein Opa wurde nach dem 2. Weltkrieg von den
Engländern zum Bürgermeister gemacht. Sie holten ihn
vom Feld und befahlen ihm das einfach. Sie konnten
das, weil Deutschland und sein Führer Hitler den entsetzlichen
2. Weltkrieg begonnen hatten und am Ende
gegen fast die ganze andere Welt verloren hatten.
Deutschland war von den Russen, den Franzosen, den
Engländern und den Amerikanern besetzt. Sie teilten
Deutschland in vier Teile auf und jeder befahl in seinem
Teil, was zu tun war.
Mein Opa war immer gegen die Nationalsozialisten,
deren Führer Hitler war, denn sie ließen den Menschen
überhaupt keine Freiheiten mehr. Damals musste man
den Arm gerade nach vorne strecken und „Heil Hitler“
rufen, wenn man sich begrüßte. Opa wollte das nicht.
Damals sollten alle Jugendlichen zur Hitlerjugend gehen.
Opa wollte aber nicht, dass mein Vater dahin ging.
Damals sollte man ständig das Hakenkreuz, die Fahne
der Nazis, aufhängen, mein Opa tat das aber nicht. Das
fanden die Engländer cool und deswegen beschlossen
sie, dass er Bürgermeister werden sollte.
Die Siegermächte haben den Deutschen auch befohlen,
dass sie wieder eine Demokratie einführen sollten.
So wurden 1945 verschiedene Parteien gegründet und
1946 ließen die Siegermächte die ersten Wahlen in
Deutschland zu. Sie hofften, dass die Deutschen ihre
Lehren aus den verbrecherischen Jahren der Nazis
gezogen hatten.
1946 wurde mein Opa zum ersten Mal zum Bürgermeister
gewählt und weil er sie mit seiner Politik überzeugte,
wurde er immer wieder gewählt: 30 Jahre lang. Auch in
den Kreistag wurde er von 1946 bis 1970 gewählt.
Er wurde schon sehr früh Gründungsmitglied der neuen
CDU, der damals größten Partei in Deutschland.
Obwohl er als Bauer viel zu tun hatte, wollte er daran
mitwirken, wie seine Heimat Angeln sich entwickelte.
Das durfte man in keinem Fall wieder einem verbrecherischen
„Führer“
überlassen. Auch in
der Feuerwehr hatte
er eine Leitungsaufgabe.
Wer politisch aktiv
ist, kann viel mehr
mitgestalten als die,
die „nur“ wählen gehen.
Aber man läuft
auch immer Gefahr,
eben nicht mehr
gewählt zu werden.
Das muss man genauso
aushalten können
wie Kritik, die man
natürlich immer auch
bekommt, wenn man
Entscheidungen
trifft.
Meine Großmutter verstarb früh mit 71 Jahren, weil
sie schwer an Parkinson erkrankt war. Ich habe sie nur
als liebe Frau in Erinnerung, die immer fürchterlich
zitterte. Mein Großvater kümmerte sich liebevoll um
sie bis zu ihrem Tod 1972.
Sie muss früher die Seele auf dem Hof gewesen sein,
die sich um alle kümmerte. Nach dem Krieg nahm
sie zahlreiche Flüchtlinge auf dem Hof auf. Sie brachte
auch die musikalische Seite in die Familie ein.
Sie spielte Klavier und hatte auch Gesangsunterricht
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Mein Vater Hans war der älteste von 6 Kindern und
durfte auf das Gymnasium nach Flensburg, was allen
anderen Geschwistern verwehrt blieb. Mit dem Rad fuhr
er jeden Tag die mehr als zehn Kilometer in die Schule.
Hin und zurück.
Wenn seine Eltern mal nach Flensburg zum Einkaufen
aufbrachen, dann ging das immer mit der Pferdekutsche.
Er war 16 Jahre alt, als die Nazis 1939 in Polen einmarschierten
und den 2. Weltkrieg begannen. Er konnte
noch eine Art „Notabitur“ 1942 ablegen.
Die Schule hieß Adolf-Hitler-Gymnasium und Lehrer
konnten nur noch die werden, die nichts gegen die
Nazis sagten. Alle anderen wurden als Lehrer entlassen,
viele auch eingesperrt.
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Schon in der Schule wurden die Schüler damals auf
den Krieg vorbereitet. In der Hitlerjugend lernten sie
zu gehorchen, in Zeltlagern wurden sie körperlich fit
gemacht.
Niemand durfte mehr eine eigene Meinung äußern
oder gar den „Führer“ kritisieren. Kinder, deren Eltern
Juden waren, durften schon bald nicht mehr auf die
Schule gehen, durften nicht in die Hitlerjugend.
Ihren Eltern wurden die Wohnungen weggenommen
und später wurden die Familien „weggebracht“.
Viele wussten nicht so genau wohin. Erst später erfuhr
man, dass fast alle in sogenannten Vernichtungslagern
getötet wurden.
Hans im Krieg
Bereits im November 1942 wurde mein Vater zur
Luftwaffe nach Oschatz in Sachsen einberufen und
musste dann 1943 nach Frankreich. (Beauvais, Blois,
Perpignan). Vom Dezember 1943 bis zum März 1944
musste er wegen einer schlimmen Nierenentzündung
ins Lazarett.
Im Juli 1944
wurde er in
die Flugzeugführerschule
nach Neudorf in
Oberschlesien
verlegt und hatte
kurz vor Kriegsende
noch einen
Kampfeinsatz
im Raum Honnef
durchzuführen,
bevor er dann
die Flucht nach
Hause gesucht
hat.
Anders als die meisten seiner Altersgenossen konnte
er so den fürchterlichen 2. Weltkrieg überleben.
Er hatte Glück, aber war auch nicht so dumm, sich freiwillig
für Fronteinsätze im Eroberungskrieg der Nazis
zu melden.
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Meine Mutter Ina in Kolberg
Meine Mutter war vier Jahre jünger als mein Vater.
Sie war Tochter meines Großvaters Ernst-Moritz,
Jakobus, Franz, Max, Fritz, Guido von Kaisenberg
und meiner Großmutter Christa, Ina, Fanny,
Gabriele von Rathenow. Sie hatte noch einen
Bruder Nikolaus und eine Schwester Desi.
Geboren ist sie in Potsdam, der Wiege Preußens.
Später lebte die Familie in Kolberg an der
Ostsee. Meine Mutter schwärmte immer
von dem wunderbar weichen, weißen
Sand am Strand. Sie spielte Tennis und die Familie
hatte einen kleinen Dackel.
Bis zum Krieg hatte sie ein schönes Leben. Als Adlige
lebte sie in einem großen Haus und hatte viele Verwandte,
die sogar Schlösser besaßen.
Der Kronprinz Oskar von Preußen, der fünfte Sohn
des letzten Kaisers Wilhelm II, war ihr Patenonkel.
Ein Schmuckstück zeugt noch heute davon.
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von Heister
von Kaisenberg
von Rathenow
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Meinen Großvater habe ich nie kennengelernt.
Er war am 4.11.1945, ein halbes Jahr nach Kriegsende,
verhaftet und vom Militärtribunal des Landes Sachsen
am 13.Juli 1946 zum Tode durch Erschießen verurteilt
worden. Das Urteil wurde am 20.September vollstreckt.
Das erfuhren wir aber erst im Jahre 2007. Wo das war
und wo er beerdigt ist, wissen wir bis heute nicht.
Opa Ernst-Moritz
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Er erhielt den Auftrag in Belgien einen Stab aufzubauen
für den Einsatz in der Hauptstadt. 1941 bekommt er den
Befehl, die von Deutschen schwer bombardierte Stadt
Belgrad wieder aufzubauen. Dort werden an der Oper
seine selbst komponierten Lieder aufgeführt. Was er
dort noch gemacht hat, können wir nur vermuten.
Im April 1942 übernimmt er die Feldkommandantur
in einem Frontabschnitt mit Russland, in Gomel. Am
31.5.1943 geht er erneut in Pension. Im März 1945 wird
Kolberg bombardiert. Meine Großeltern versuchen mit
einem Schiff zu fliehen.
In seinem Tagebuch schreibt er:
“ So viel Großes hat Adolf Hitler geschaffen.
Aber seine Hilfen Himmler, Goebbels, Streicher,
Ley und ähnliche haben ihm sein Werk verdorben.
Der Kampf gegen den Bolschewismus geht nun
trotz des Todes von Hitler weiter.“
Mein Großvater hatte in der kaiserlichen Armee
gedient, war dann in den Ruhestand gegangen.
Zeit seines Lebens sehnte er sich nach dem Kaiserreich
zurück. Die Weimarer Demokratie in den 20er Jahren
lehnte er ab.
Als er verhaftet wird, versucht er sich vergeblich mit
einer Giftpille umzubringen. Meine Großmutter besucht
ihn im Krankenhaus in Naumburg und spricht ihn zum
letzten Mal am 22.11.1945. Einen Tag später ist er wohl
in ein Sammellager in Torgau abtransportiert worden.
1939 wird er reaktiviert und übernimmt als Oberstleutnant
mit 57 Jahren die Leitung einer Kraftfahrzeugkommission.
Ab 1940 ist er Kommandant eines Regiments
einer Division im „Polnischen Korridor“, wird dann zum
Oberst befördert.
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„Meine Mutter nahm mich immer wieder im
Sommer bis Herbst aus der Schule und wir reisten
nach Tirol, in den Harz oder in den Schwarzwald,
an den Bodensee, nach Wittdün an der Nordsee
oder nach Wien.“
1908 brach sie mit ihrer Großmutter zu einer Reise
nach Norwegen und Dänemark auf. 1911, kurz vor dem
1. Weltkrieg, fuhr sie mit ihrem Vater mit dem Riviera-
Express, einem Zug ausschließlich mit 1. Klasse, nach
Monte Carlo, Genua, Neapel und auf die Insel Capri.
Auf der Rückfahrt standen Rom, Florenz, Venedig, Bozen,
Meran und München auf ihrer Reiseroute.
Das alles ist sehr besonders, weil damals nur ganz
wenige Menschen es sich leisten konnten zu reisen:
sie hatten keinen Urlaub und kein Geld dafür.
Als sie sieben Jahre alt war, wurde eine nur Französisch
sprechende Schweizerin als Erzieherin für sie eingestellt.
Als sie 13 wurde, beschlossen ihr Vater und Großvater,
dass sie sich nun selbstständig machen müsse.
Sie tat Dienst in einer Pension. 1910 verschenkte ihre
Großmutter jedem Kind 100 000.-Reichsmark.
Meine Großmutter „Apa“
Apa, so nannten wir meine Großmutter, hat als
Einzelkind, bis sie heiratete, den Haushalt ihres Vaters
geführt.
Sie berichtet in ihren Erinnerungen, dass sie 1895 nach
Potsdam gezogen seien, weil ihr Vater als Leibgendarm
zum Kaiser befohlen wurde. Ihr Vater sei damals sehr
viel mit dem Kaiser gereist und ihre Eltern hätten immer
wieder an Hoffesten am Berliner Schloss teilgenommen.
Es muss eine sehr glückliche Kindheit gewesen sein.
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Deutschland wurde erst 1871 zu einem Land geeint.
Vorher war es ein Flickenteppich aus vielen Fürstentümern
und kleinen Königreichen. Dann wurde der
preußische König Kaiser der Deutschen. Auch wenn die
Deutschen einen Reichstag wählen konnten, so konnten
sie doch ihre Regierung nicht bestimmen.
Überall war das Militär das Vorbild: auch in der Schule.
Die Schüler mussten morgens zum Appell antreten, der
Lehrer befahl und die Schüler mussten gehorchen. Alle
meine Vorfahren meiner Mutter dienten beim Militär,
nicht als einfache Soldaten, sondern in der Führung.
So konnten sie sich mehr leisten als andere und profitierten
von dem schnellen wirtschaftlichen Aufstieg des
„neuen“ Landes Deutschland.
Leichtfertig ermöglichten die Deutschen den 1. Weltkrieg
1914, in dem sie am Ende gegen England, Frankreich,
Russland, Amerika und viele andere Länder,
verbündet nur mit Österreich, vergeblich kämpften
und 1918 verloren.
Der Kaiser musste fliehen. Kommunisten, Sozialdemokraten
und Liberale erkämpften in einer Revolution
die Demokratie. Die adlige Familie meiner Mutter,
die von Kaisenbergs, waren davon gar nicht begeistert
und mein Großvater ließ sich vom Militär pensionieren.
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Berchtesgaden / Schneewinkel-Lehen
Im Jahr 1945 flieht meine Großmutter, nachdem ihr
Mann von den Russen verschleppt worden war, nach
Berchtesgaden, genauer nach Schneewinkel-Lehen.
Dieses bäuerliche Anwesen hatte einer Familie Berliner
gehört, die, weil sie Juden waren, ihren Besitz den Nazis
überlassen mussten. Himmler, Reichsführer der SS und
zuständig für die Konzentrationslager, machte das sehr
schöne Anwesen zu seiner Sommerresidenz.
Nach der Niederlage mussten die Nazis das Anwesen
wieder zurückgeben und eine Familie Bever zog ein,
die Apa im Alter von 57 im Juni 1948 aufnahm. Meine
Eltern hatten anfangs wenig Geld und so verbrachten
wir unsere Urlaube immer bei den Groß eltern: In Munkbrarup
oder in Berchtesgaden, dem nördlichsten Teil
Deutschlands und dem süd lichsten.
Ich erinnere mich daran, dass wir in Schneewinkel-
Lehen dem Bauer beim Heuen halfen, dass ich mit
Frau Bever und ihrem Schäferhund Gyp lange Spaziergänge
unternahm oder dass Klaus und ich auf dem
Holzgeländer von Apas Balkon unsere Wiking-Autos
fahren ließen. Ich malte unzählige Bilder vom Watzmann
(zweithöchster Berg in Deutschland) und seinen
sieben Kindern, auf den wir von der Wohnung bei gutem
Wetter sehen konnten. Es sind vor allem die Gerüche des
trocknen Grases, des Strohs, der Kühe und Schweine,
an den feinen Geruch des ersten Schnees oder den Duft
des Nadelholzwaldes bei Regen, die bis heute dafür
sorgen, dass diese Zeit bei mir immer wieder wach wird
und sich bis heute in mir eingebrannt hat.
Ich denke gerne
zurück. Apa kochte
manchmal tagelang
hintereinander
„Makkaroni mit
Schinken“, weil
Klaus das so mochte.
Bei Apa fühlten wir
uns gut aufgehoben
und geborgen.
28
und beschlossen 1950 zu heiraten. Als sich die beiden
in Munkbrarup am 15.4.1950 in der Kirche ihr „Ja-Wort“
gaben, schlummerte in ihrem Bauch bereits Klaus, mein
ältester Bruder.
Hochzeit Ina und Hans
Von Inas Familie
konnte damals
niemand an der
Trauung teilnehmen.
Ina
Ihr Bruder Nikolaus hatte nach dem Krieg den Auftrag
erhalten, die Stadt Flensburg mit Holz zu versorgen,
ihre Schwester Desi besuchte ihren Verlobten, den
Marinesoldaten Harald Diest dort. Also beschloss auch
meine Mutter, Richtung Flensburg zu fliehen: Allein
aus der Familie, mit nur 18 Jahren, zunächst mit Pferd
und Wagen, dann zu Fuß, nur mit einem Rucksack, quer
durch Deutschland von Ost nach West. Akkurate Tagebuchaufzeichnungen
zeugen davon.
Millionen
Menschen
waren damals
auf der Flucht.
Osteuropäische
ehemalige
Zwangsarbeiter
aus der Nazizeit
flohen wieder in ihre Heimat und viele Deutsche, die
ihre Heimat durch die Kriegsniederlage in Schlesien,
Ostpreußen und anderswo verloren hatten, mussten
sich eine neue Heimat im Westen Deutschlands suchen.
Armut, Hunger und Elend begleiteten sie.
Sie geriet auch in die Hände sowjetischer Soldaten,
die sie als „Spionin“ beschuldigten und ihr ständig
mit Vergewaltigung drohten. Am Ende kam sie unbescholten
auf den Hof der Philipsens und lernte meinen
Vater Hans kennen.
Der hatte eigentlich eine Hildegard und Ina hatte sich
in den Nachkriegswirren eigentlich mit einem Jobst
verlobt. Und dennoch machten sie sich schöne Augen
Lebensmittelkarte
29
Hans hatte schon 1946 im Wintersemester sein Studium
des Maschinenbaus in Stuttgart aufgenommen,
nachdem er seine Neigung zum Maschinenbau bereits
als Praktikant in der Molkereimaschinenfabrik Klaus
in Flensburg im November 1945 absolviert hatte. Sein
Onkel Niko aus Japan hatte ihn in seinem Wunsch wohl
sehr unterstützt.
Von 1951 bis 1953 erhielt er eine Anstellung bei der
Maschinenfabrik und Backofenfabrik Werner und
Pfleiderer in Feuerbach. Das junge Paar musste mit
einer zwangszugewiesenen Dachkammer als Wohnung
in der Linzerstraße 70 vorliebnehmen. Die Vermieterin
hieß Gomringer und fühlte sich immer gestört. (damals
mussten viele Westdeutsche Flüchtlinge in ihren Häusern
und Wohnungen aufnehmen).
Allerdings kam ich am 1.5.1954 im Krankenhaus in
Cannstatt auf die Welt und man munkelt, dass Ina hochschwanger
noch unbedingt mit einem anderen Mann
ins Kino wollte und deswegen dort im Osten Stuttgarts
gebären musste. Am 1.Juni zogen meine Eltern dann in
die Neufferstraße zu einer Familie Wagenhals um.
Ich
Ich war damals wohl ein großer Schreihals, was
meiner Mutter dann oft zu viel wurde und sie stellte
mich einfach in den Garten. „Frische Luft hat noch
niemanden geschadet“. Als mein Bruder mich dann
noch mit Keuchhusten ansteckte, war es um mich
fast geschehen gewesen.
Klaus kam sehr geschwächt zu einer Kur in ein Kinderheim
nach Bad Reichenhall.
Ina machte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin in
Stetten im Remstal, die sie aber abbrach, weil Klaus
1950 geboren wurde.
30
31
Galgenberg
Nachdem mein Vater noch bei Apparatebau Rothemühle
über Olpe und bei Gebrüder Wagner, einer Dampfkesselfabrik
in Stuttgart Bad-Cannstatt, gearbeitet
hatte, erhielt er im Januar 1955 ein Einstellungsangebot
bei Voith in Heidenheim. Ein Jahr lang durfte er in allen
Abteilungen schnuppern, ohne wirklich arbeiten zu
müssen.
Dieses Angebot war so attraktiv, dass meine Eltern trotz
wenig Begeisterung meiner Mutter, nach „Schwäbisch
Sibirien“, wie man die Ostalb damals nannte, umzogen.
Wir zogen auf den Galgenberg in die Sebastian-Kneipp-
Straße in eines der ersten Häuser im Wohngebiet. Die
Vermieter waren Rumäniendeutsche namens Rill, die
als Flüchtlinge hier ihre neue Heimat nach dem Krieg
gefunden hatten. Nicht nur Heidenheim wuchs damals
als Ort in rasender Geschwindigkeit, weil überall die
„Vertriebenen“ aus ehemaligen deutschen Gebieten im
Westen untergebracht werden mussten.
Die Winter waren hart, der Kohleofen schaffte es nicht
das Eis von den Wänden zu bekommen, Straßen gab
es noch nicht. Ina musste immer mit dem Fahrrad den
Berg hinunter in die Stadt
fahren, um einzukaufen.
Ich erinnere mich vor
allem an die immerwährende
Baustelle und
wieder an einen Geruch,
den der frisch aufgeworfenen
Erde. Die Freude am
Bauen sollte mir nie mehr
abhanden kommen.
32
Dirk wuchs völlig anders
auf als Klaus und ich
und wir nannten ihn
deswegen immer „Opas
Liebling“ und meinten
eigentlich, der Liebling
der Eltern. Er musste
kaum noch etwas ausfechten
und durfte von
Anfang an deutlich mehr
als wir.
Erchenstraße
Aber natürlich musste
er sich auch von seinen
älteren Geschwistern
einiges ertragen.
1957 konnten wir dann eine Voith-Firmenwohnung in
der Erchenstraße 34 beziehen. Jetzt hatten wir einen
großen Garten und eine große Wohnung. Mein Vater
konnte zu Fuß in acht Minuten zu seinem Arbeitsplatz
laufen und Ina konnte schnell in die Hauptstraße zum
Einkaufen, der Tennisplatz lag nur wenige Minuten
entfernt auf dem Schlossberg und auch unsere Schulen
waren mit dem Rad gut zu erreichen.
Wir kauften die erste Waschmaschine für die Wäsche,
einen Fernseher allerdings erst Ende der 60er Jahre und
eine Spülmaschine für das Geschirr gab es noch
gar nicht.
1959 bekam meine Mutter dann den dritten Sohn Dirk.
Eigentlich sollte ja schon ich eine Tochter werden und
Dirk sowieso. Ich erinnere mich, dass meine Eltern ihn
dann einmal zu Fasching tatsächlich als Mädchen gehen
ließen und er hat sich das gefallen lassen.
Taufe von Dirk
33
Das Telefon klingelte und Papi war dran. Auf dem
Rückweg von einer Skandinavien-Reise (er war damals
zuständig für Skandinavien im Wasserturbinenbereich)
war er in Munkbrarup und sein Vater machte
ihm den Vorschlag: „Kauf einen Käfer, denn ich habe
einen zu viel.“ Das hing irgendwie mit den sehr langen
Bestellzeiten damals zusammen. Jedenfalls machte
Papi meiner Mutter den Vorschlag, einen auf Raten
zu kaufen. Mutti war damals unsere „Finanzministerin“
im Hause und hielt von Schulden gar nichts. Sie
hielt ihren Mann für verrückt, damals ein Auto, unser
erstes, für 4500 Mark zu kaufen. Hans bekam nur ein
Taschengeld.
Haushaltsbuch meiner Mutter
Wir Kinder freuten uns natürlich auf den Übergang ins
automobile Zeitalter. Gefahren wurde sowieso nur sonntags
und getankt wurde immer bei Aral Ebert. Schonbezüge
gehörten damals zur Grundausstattung ebenso
wie Schutzlappen an den Hinterrädern. Es gab auch
noch keine Blinker, sondern Winker, die beim Abbiegen
zwischen den Seitenfenstern ausgeklappt wurden.
Als Voithianer kämpfte Papi erfolgreich um die Nummer
HDH-V-91. Vor unserem Haus gab es eine lange
Sammelgarage, in der auch Herr Vorbruck seinen Ford-
Taunus stehen hatte, den er mehrmals in der Woche
mit einem Staublappen säuberte.
Unvergessen die Fahrten nach Stuttgart zu alten Studienfreunden,
die immer spät abends mit der Heimfahrt
endeten, meist mit viel Alkohol im Blut, aber immer
fühlte ich mich sehr geborgen in unserem Gefährt.
(nach Klaus Erinnerungen)
34
Hans war schon früh ein Vielflieger. Als er Prokura
bekam, war er zuständig für den Wasserturbinenbau auf
der ganzen Welt. Er war zunächst zuständig für Skandinavien,
dann aber auch für Österreich, die Schweiz,
später kam das USA-Geschäft, Afrika und Asien dazu.
Der Fahrer von Voith fuhr bei uns vor, packte seine
Koffer in den Mercedes und hielt ihm die Tür hinten
rechts auf. Immer träumte ich davon, dass ich auch
einmal so weit käme, dass ich von einem Fahrer im
Mercedes abgeholt werde. Er chauffierte ihn dann nach
Echterdingen zum Flughafen. Deswegen bekamen wir
Kinder nur selten den Flughafen zu sehen.
Der war damals sehr überschaubar: Nur ein Terminal,
rein in die Eingangshalle, die Treppe runter in die doppelgeschossige
Haupthalle. Man konnte noch auf das
Flugfeld laufen und die Passagiere beobachten, wie sie
in die silbrigen Propellermaschinen einstiegen.
Eine Zeitlang zog es Hans vor, hinten zu sitzen.
Als ehemaliger Flieger wusste er, dass bei einer Bruchlandung
häufig das Heck als erstes wegbricht und die
Passagiere hinten überleben, weil hinten kein Kerosin
ist. Später flog er dann nur noch 1. Klasse und die war
immer vorne.
35
Ja, auch meine Grundschule wurde nach der Firma
benannt, die baulich und wirtschaftlich die ganze Stadt
bestimmte. Nie hat mich meine Mutter in die Schule
gebracht. Ich bin jeden Tag mit meinem Roller, mitten
durch das Firmengelände in der Alexanderstraße, etwa
drei Kilometer zu meiner Schule gefahren.
Vor den Werkstoren standen riesige Wellblech Rad-
Abstellanlagen, weil Tausende von Arbeitern damals
mit dem Rad zur Arbeit kamen. Die Firma Voith wuchs
zum Weltführer bei Wasserturbinen und Papiermaschinen.
Das „Wirtschaftswunder“ kam auch auf der Ostalb
an. Bereits 15 Jahre nach der völligen Niederlage im
Krieg und der totalen Zerstörungen vieler Städte mit
Massenarbeitslosigkeit und Hunger hatten alle Deutschen
wieder Arbeit und eine Wohnung, konnten sich
neue Möbel, ein Auto und eine Urlaubsreise gönnen.
Friedrich-Voith-Schule
In meiner ersten Klasse waren 48 Kinder, die aber von
der Klassenlehrerin Schmauß mit viel Einfühlungsvermögen
gebändigt wurden. Wer seine Aufgaben schnell
gerechnet hatte, durfte an die Wand stehen, bis alle
anderen nacheinander im Raum auch fertig wurden.
Wer nicht gehorchte, bekam auch schon einmal Schläge.
Kinder mit Migrationshintergrund gab es noch nicht.
36
Als Kinder waren wir nicht immer begeistert von
der Idee eines Sonntagspaziergangs. Nach dem Frühstück,
wenn meine Mutter in der Küche verschwand,
um erst das Frühstücksgeschirr abzuwaschen und
dann den Sonntagsbraten vorzubereiten, holte mein
Vater den Wagen aus der Garage, nahm die Wanderkarte
und entschied, wo heute der Spaziergang hingehen
sollte.
Die Ziele waren begrenzt und wir kannten uns bald
schon recht gut in unserer Heimat aus: das Wental,
die Hochebene und die Wälder bei Zang, das Seitental
der Brenz bei Königsbronn, der Itzelberger See,
das Steinheimer Becken mit dem Segelfluggelände,
Gussenstadt und Aufhausen, Gnannenweiler und
Sontheim, Bolheim und das Eselsburger Tal oder das
Ugental.
Wir folgten manchmal den Markierungen des Schwäbischen
Albvereines und diskutierten, als wir älter
wurden, die Tagespolitik und die Weltlage. Nur wenn
wir mindestens eine Stunde gewandert waren, war
der Vater zufrieden. Pünktlich mussten wir um 13 Uhr
wieder zu Hause sein, weil sonst der Sonntagsbraten
von meiner Mutter trocken wurde, was Hans gar nicht
passte.
Als wir nun ein Auto hatten, konnten wir sonntags
auch zum Schlittenfahren etwas aus der Stadt herausfahren.
Damals lag in Heidenheim immer recht viel
und lange Schnee, insbesondere, wenn wir etwas auf
die Zanger Hochfläche fuhren.
Häufig waren die Straßen nur wenig geräumt und es
war jedes Mal ein Abenteuer, ob wir den nächsten
Berg mit dem Auto schaffen würden. Nachdem wir
Schneeballzielwurf auf ein Verkehrsschild oder einen
Baumstamm gemacht hatten, ging es mit dem Rodeln
los. Mein Vater hinten auf dem Schlitten, ich vorne.
Eine gewagte Fahrt zeichnete sich dadurch aus, dass
Vater den Hut verlor. Des Vaters weit ausgestreckte
Beine, zwecks Lenkung mal links, mal rechts in den
Schnee gesteckt, stäubten uns Vornesitzer genügend
mit Schnee ein, um jeder Abfahrt das Gefühl von
Geschwindigkeit zu geben.
(Erinnerungen nach Klaus)
Zum Skifahren gingen wir später allein auf die Mergelstetter
Reute. Bis wir am Buckel waren, mussten wir
sicherlich erst einmal 2-3 Kilometer hin marschieren,
mit den Skiern auf den Schultern.
Meist fuhren wir ohne Kurven direkt den Berg hinunter
um unten in einem Bach zu landen. Weil das unangenehm
waren, brachten wir uns dann schnell bei, eine
Kurve zu machen. Links herum konnte ich. Das waren
dann auch schon meine Skierfahrungen.
37
Was der Opernball für Wien ist, war der VDI
Ball für Heidenheim: der kulturelle Höhepunkt
des Jahres, ein Stelldichein der Haute Volée und
in einer Stadt, die vom Maschinenbau geprägt
ist, hieß das eben: Ingenieure und nochmals
Ingenieure.
Für meine Mutter war der Ball eine Gelegenheit,
sich chic zu machen, auszugehen, Leute zu
sehen und vor allem zu tanzen. Aus Papis Sicht
schien das ganz anders zu sein. „Müssen wir da
wirklich hin? Muss ich wirklich meinen Smoking
anziehen?“, so ging es in einem fort, bis meine
Mutter sauer wurde und meinte: “Das ist einmal
im Jahr. Du weißt doch, dass ich da gerne hingehe,
musst du da immer so ein Gefrett machen?“
Am Ende sind die beiden immer geschniegelt
und attraktiv losgezogen, Hans konnte gut
tanzen, obwohl er eigentlich vorgab unmusikalisch
zu sein. Die beiden kamen immer weiter
nach Mitternacht wieder heim, als die Kapelle
schon eingepackt hatte. Am nächsten Morgen
fand Hans den Ball wieder blöd und im nächsten
Jahr vollzog sich erneut das gleiche Schauspiel.
Irgendwann sind die beiden dann tatsächlich auf
den Wiener Opernball eingeladen worden.
Damals hatte man einen Garten nicht nur zur Zier, sondern
er sollte aus der Kriegserinnerung ein kleines Stück
der Selbstversorgung sein: Erbsen, Karotten, Bohnen,
Petersilie, Erdbeeren. Wir teilten den Garten mit Waldraffs,
den Mitbewohnern unseres Hauses in der Erchenstraße.
Da gab es viel Rasen, etliche Apfelbäume, einen großen
Birnenbaum, zwei Reineclaudenbäume und ein Zwetschgenbaum.
Im Herbst sammelten wir die Äpfel und brachten
sie zum Mosten. Der Saft half uns über den Winter. Und
dann war da ein Nutzgarten, fein säuberlich getrennt. Der
wurde von meinem Vater im Herbst umgegraben mit dem
Spaten, tief eingestochen, angehoben, gedreht, Reihe um
Reihe. Im Frühling folgte dann das Aussäen. Dafür wurde
die gesamte Fläche in Beete eingeteilt mittesl Schnur
und Stöckchen. Jedes Beet war durch einen Trampelpfad,
genau zwei väterliche Schuhbreiten breit, vom nächsten
getrennt. Reif wurden das Gemüse meist, wenn wir in den
Urlaub fuhren.
Als größere Kinder schlugen wir immer vergeblich vor, dass
wir das Grundstück doch auch betonieren könnten, denn
das Mähen, das Harken und vor allem das Aufsammeln des
Obstes machte uns wenig Freude. Der Garten war immer die
Aufgabe von Hans. Ina lag lieber auf der Sonnenliege.
(Erinnerungen nach Klaus)
Der VDI-Ball
38
Brunnenmühle und Bolheim, über das
Ugental wieder zurück in die Erchenstraße.
Nie vergessen werde ich den Nachmittag,
als ich meinen Roller packen wollte, um
zum Nachmittagsunterricht in die Schule
zu fahren, aber an der Haustür versteinert
stehenblieb, weil mit einem gewaltigen Getöse,
zentimeterdicke Eisplatten vom Dach
auf meinen Roller herabfielen.
Von ihm blieb nur ein Schrotthaufen und ich
will mir nicht ausmalen, was von mir einige
Sekunden später übriggeblieben wäre.
Fips
Sommerferien 1968. Ich erfand die Zeitschrift Fips,
die ich dann mehrere Jahre selber gestaltet und
geschrieben habe. Immer eine Ausgabe, die in einer
Leserschaft von ca. 20 Personen herumgereicht wurde.
Ich hatte Freude am Schreiben und am Gestalten (beides
bis heute) und freute mich auf die, auch kritischen
Rückmeldungen der meist erwachsenen Leser.
Was machten wir als Kinder sonst so?
Eigentlich waren wir immer draußen
und spielten mit den Kindern der
Nachbarschaft.
Wir hatten einen großen Garten zu
einem Fußballplatz mit Toren umgestaltet,
der Garagenvorplatz diente als
Hockeyfeld oder Eisbahn, wir fuhren
Tour de France vom Haus aus zur
39
Kalter Krieg: 1963 wurde der amerikanische Präsident
John F.Kennedy erschossen. Ich weiß noch wie heute,
wie meine Eltern gebannt am Radio hingen und die
neuesten Nachrichten verfolgten.
Die Welt war nach dem 2.Weltkrieg in zwei Lager gespalten:
in das kommunistische von der Sowjetunion
gesteuerte und in das kapitalistische von den USA beeinflusste.
Immer mehr wurde auf beiden Seiten aufgerüstet
bis zu einem Punkt, an dem man mit den Waffen
die Welt mehrfach hätte umbringen können.
1961 bauten die Russen mit den Ostdeutschen zusammen
mitten durch Berlin eine Mauer mit Stacheldraht
und Selbstschussanlagen. Nachdem sich 1949 die beiden
deutschen Staaten DDR und BRD gegründet hatten,
konnten sich nun die Bürger nicht mal mehr besuchen.
Wer über die Mauer, die bald an der gesamten Grenze
verlief, fliehen wollte, wurde erschossen.
Silvester mit Kaisenbergs
Meine Eltern waren sehr festfreudig. Geburtstage,
Weihnachten oder Silvester wurden deswegen
immer ausgiebig und mit vielen Freunden und Verwandten
gefeiert.
Lange Zeit feierten wir mit der Familie des Bruders
von Ina, mit den Kaisenbergs, die auch drei Jungen
hatten, gemeinsam Silvester. Das Ritual war immer
gleich: Erst spielten wir irgendwelche Spiele, dann
machten wir Bleigießen und aßen einen norddeutschen
Kartoffelsalat mit Saitenwürsten.
Wenn es Mitternacht wurde, erhielt Hans die
Aufgabe Raketen in den Himmel zu feuern. Er fand
das eigentlich blöd, aber Ina legte großen Wert
darauf.
Oben am Balkon stand der Mitbewohner Hans
Waldraff, hielt einen Lampion und kommentierte
trocken „Schwäbisches Feuerwerk“.
In der Schule mussten wir grüne Kerzen „für unsere
Brüder und Schwestern in der Ostzone“ kaufen, mit
deren Erlös Güter des täglichen Lebens in die „Ostzone“
geschickt wurden. Und als Kennedy erschossen wurde,
fürchteten wir alle, dass wieder ein Krieg beginnen könne.
Kennedy war das Idol von vielen und ich sammelte
damals alle Illustrierten, in denen fotographisch von
der Ermordung berichtet wurde.
Bei uns zu Hause wurde viel politisch diskutiert –
eigentlich zu jeder Mahlzeit. Mein Vater hat wohl viele
Jahre die CDU gewählt, vielleicht auch ab und zu die
FDP. Das war allerdings bis zum Schluss ein Familiengeheimnis.
Über das Wahlkreuz und das Gehalt wurde nie gesprochen.
Von 1949 bis 1969 hatte immer die CDU die Kanz-
40
Die Ermordung von Präsident John F. Kennedy
ler gestellt und da es immer wirtschaftlich aufwärts
ging, waren meine Eltern mit ihr zufrieden.
1969 wurde dann erstmals mit Willy Brandt ein Sozialdemokrat
Kanzler. Hintergrund war, dass er mit einer
Politik der Aussöhnung die „Mauer“ zwischen den
Menschen im Osten und denen im Westen einreißen
wollte. Als erster Kanzler entschuldigte er sich bei den
Russen und Polen für die Verbrechen der Nazis in diesen
Ländern, obwohl er selbst im Widerstand gegen die
Nazis mitgekämpft hatte.
Wir Kinder waren begeistert und Ina wählte damals
wahrscheinlich zum ersten Mal anders als Hans. Ich
unterstützte den Wahlkampf der Sozialdemokraten und
beklebte Plakate „Das moderne Deutschland wählen“
und vor allem „Willy wählen“.
Während mein Vater immer höher in der Karriereleiter
bei Voith aufstieg, bekämpften wir Söhne den Kapitalismus
als ausbeuterisches System.
Diese Zeit muss damals
für meine Eltern sehr
anstrengend gewesen
sein.
Ostpolitik
41
1969 verliebte ich mich zum ersten mal so richtig
in ein Mädchen, das ich auf dem Tennisplatz kennengelernt
hatte. Sie hatte so tolle lange Haare, ein
ganz kurzes Röckchen und wollte tatsächlich was
von mir.
An einem kalten Tag gaben wir uns im Heidenheimer
Schloss den ersten Kuss und wurden dabei
umschlossen vom blauen Licht der Voith-Firmenreklame,
die bis hoch zum Schloss durch das
Fenster leuchtete.
42
43
Am 18.12.1973 war es soweit: Wir zogen in unser neues
Haus am Mittelrain. Ja, richtig, kurz vor Weihnachten
und es gelang meiner Mutter tatsächlich, alles einzuräumen,
bis das Fest begann.
Eigentlich hielt sie auch diesen Kauf für viel zu riskant.
Wie sollen wir das je bezahlen? Und Apa befand, als wir
das Grundstück begutachteten: „Was in diese Steinwüste
wollt ihr ziehen?“ Am Ende aber hatte der Architekt
Wolf ein sehr solides, schönes Haus auf einem der
ruhigsten Grundstücke der Stadt erstellt.
Aus dem einst von Hans angedachten Achteckhaus wurde
nichts, dafür entstand aber eine Bocciabahn direkt vor
dem Haus als Attraktion für die gesamte Nachbarschaft.
Vor der Einliegerwohnung war noch viel Platz für eine
Tischtennisplatte, auf der wir heiße Kämpfe ausfochten.
Hans war immer dabei, Ina hatte weniger Freude daran.
Später fuhren wir gerne mit den Kindern mindestens
einmal im Monat nach Heidenheim und verbrachten das
Wochenende in der Paul-Klee-Straße. Wir genossen den
großen Garten und die absolute Ruhe.
Heftiges Vogelzwitschern aus dem naheliegenden
Wäldchen weckten uns morgens aus dem Schlaf. Das
Frühstück hinten in der Nord-West-Ecke des Gartens
war besonders schön. Sonntagsbraten mit „Omisauce“
ist bis heute legendär. Mittags hielten Hans und Ina
bis in den Herbst auf dem großen Balkon immer ihren
Mittagsschlaf.
Das tägliche Totenglockenläuten bei Beerdigungen auf
dem naheliegenden Waldfriedhof mahnten uns immer
an unser Ende zu denken. Bis dahin genossen aber Hans
und Ina ihr Leben in vollen Zügen.
Umzug in die Paul-Klee-Straße
Als sie mal wieder sehr lange und sehr viel Bowle mit
den Nachbarn Hitzler getrunken hatten, beschlossen sie
den Rest der Bowle feierlich zu beerdigen und die vier
Erwachsenen machten sich weit nach Mitternacht in
einem feierlichen Aufzug auf zum Komposthaufen, den
Rest der Bowle als Urne würdig vor sich hertragend, um
sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten.
Vorher hatte man mit Charly Hitzler sicherlich wieder
heftig diskutiert (er war ein Erzkonservativer), geraucht
und als Voithianer Informationen ausgetauscht,
vielleicht auch den BMW meiner Eltern an den Nachbarn
verkauft (was häufiger vorkam).
44
Inas Wohnhaus in Potsdam
Hans‘ Geburtshaus
Schloss Stabelwitz von Rathenows
Bau Svensteen
Apas Wohnung in Berchtesgaden
Hans Arbeitsplatz in der Paul-Klee-Straße
45
1973 hatte meine Großmutter eine Brustoperation gut
überstanden, brach sich dann aber in ihrer Wohnung in
Berchtesgaden bei einem Sturz den Oberschenkelhals.
Meine Eltern boten ihr dann an, zu uns in unsere untere
Wohnung zu ziehen. Sie hatten sich vorgestellt, dass sie
dort nochmals ein eigenes Leben beginnen würde, was
ihr aber nicht mehr möglich war.
1977 zog sie ein, wurde aber immer weniger und wurde
deswegen von einer Pflegerin, Sylvia, versorgt. Ina tat ein
Übriges. Hans hat viel auf seine Schwiegermutter gegeben
und zögerte keinen Moment, als Ina beschloss, ihre
Mutter bei sich zu Hause aufzunehmen und zu pflegen.
Apa
In den frühen Morgenstunden des 28.März 1979 verstarb
sie im 88.Lebensjahr. Sie hatte in ihr Notizbuch
zahlreiche Sprüche aufgeschrieben, die ihr Leben
begleiteten:
„Nur die Sache ist verloren, die man aufgibt“, „Kann
ich nicht, ist schon längst auf dem Friedhof begraben“,
„Hat man den Wind gegen sich, ist das nur ein Grund,
umso stärker auszuschreiten“, Das Geheimnis der Ehe
ist, dass einer den anderen wirklich sein Leben lässt“
oder „Nichts kann den Menschen mehr stärken als das
Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“
Apa war und ist für mich eine herzensgute Frau, die mir
sehr viel gegeben hat. Bei ihrem Tod habe ich den ersten
Menschen verloren, der mir sehr viel bedeutet hat. Wallo
hat sie immer „Hummelchen“ genannt. Auch die beiden
mochten sich sehr.
46
Ina
Meine Mutter hielt nie viel vom Backen, Stricken oder
Nähen. Auch der Haushalt musste möglichst effektiv
erledigt werden, was ihr hervorragend gelang. Sie stand
mit meinem Vater früh morgens auf, frühstückte mit ihm
und entließ uns in die Schule. Dann ging sie wieder ins
Bett, las Zeitung und döste nochmals.
Nach ein wenig Putzen und Waschen fuhr sie meist mit
dem Auto in die Stadt, um die Besorgungen für das
Mittagessen zu machen. Die damit verbundenen Sozialkontakte
suchte sie jeden Tag. Um halb Eins stand ein
leckeres Mittagessen auf dem Tisch und meist aßen wir
alle zusammen. Hans legte sich dann mit ihr zu einem
kurzen Mittagsschlaf auf den Balkon, um nach etwa
20 Minuten wieder in das Geschäft zu gehen. Von der
Erchenstraße ging er zu Fuß, später vom Mittelrain mit
dem Auto.
Und Ina legte sich wieder ins Bett, um den Mittagsschlaf
noch etwas auszudehnen. Gegen 4 Uhr ging sie dann auf
den Tennisplatz, um heiße Matches zu spielen. Vor allem
Mixed liebte sie. Rechtzeitig vor dem Abendessen kam
sie zurück und wir aßen wieder zusammen.
Wir hatten bis dahin selbstständig unsere Hausaufgaben
erledigt und uns beschäftigt. Ich kann mich nicht
erinnern, dass sie mal mit uns gespielt hätte. Abends
kamen dann häufig noch Gäste, oft auch Voithkunden,
die Hans betreuen musste. Es gab dann kleine Schnittchen,
Weißbrot, Pumpernickel mit etwas Wurst oder
Käse drauf. Nie hatte sie überlegt, selber nochmals
berufstätig zu werden.
Warum auch bei diesem Leben. Das Einkommen meines
Vaters reichte gut für den gesamten Haushalt und
meine Mutter konnte auch rechnen.
Lange Zeit schrieb sie alle Ausgaben
genau auf, mein Vater erhielt nur ein
Taschengeld. Später gingen wir dann
oft Essen, zu Freia Bozenhardt nach
Mergelstetten in den Hirsch und
aßen Schinkenpfannkuchen. Das
bezahlte dann mein Vater von seinem
Taschengeld.
Das Spannende an dieser Kneipe war,
dass dort auch immer meine Lehrer
ihren Stammtisch hatten.
Meine Mutter setzte sich für uns als
Elternbeirätin an den Schulen ein und kandidierte sogar
einmal für den Gemeinderat der Stadt Heidenheim.
Allerdings vergeblich, weil das eigentlich nicht ihr Ding
war. Später betreute sie dann meine Großmutter im
Hause. Aus heutiger Sicht würde man sagen, sie sei ja
gar nicht emanzipiert gewesen, es hätte keine Gleichstellung
von ihr und meinem Vater gegeben.
Sicher richtig. In den 50er und 60er Jahren galt in
Deutschland noch, dass der Mann der Haushaltsvorstand
war und Frauen nur im Einvernehmen mit dem
Mann berufstätig sein konnten. Nur etwa ein Drittel der
Frauen war berufstätig. Der große Vorteil war, dass sich
beide nie darum stritten, wer putzen, wer einkaufen
oder wer für das Einkommen zuständig war. Das war von
vorneherein geklärt.
Ina war eine starke Partnerin, die mein Vater selbst bei
Voiththemen einweihte und um Rat bat. Gefürchtet
waren ihre Urteile über andere Personen, weil sie diese
auch immer offen und ehrlich verkündete, was ihrer
Beliebtheit aber keinen Abbruch tat.
47
Eltern haben manchmal ein schweres Leben, nicht
nur wenn die Kinder klein sind und nicht schlafen
wollen. Das geht dann weiter in der Schule, wenn die
Kinder nicht so gut sind, wie sich die Eltern oder
Lehrer das vorstellen.
Klaus bestand einmal das Klassenziel nicht, Dirk
zweimal und musste sogar das Gymnasium verlassen
und ich kam das eine und andere Mal nur so gerade
durch. Opponiert haben wir alle und so beschwerten
sich die Schulen sicherlich mehrfach über uns. Unsere
Mutter stand aber stets wehrhaft hinter uns, auch
als Elternbeirätin.
Zudem führte der Jüngste von uns ein sehr unternehmungslustiges
Leben als Jugendlicher, vor allem nachts,
mit Rauchen, Trinken und Frauen. Wie oft konnte
unsere Mutter nicht einschlafen, weil der jüngste Spross
noch nicht daheim war. In dieser Zeit befreundete er
sich sehr eng mit Wolfram, der seitdem quasi der vierte
Sohn von Hans und Ina wurde. Er heiratete später
Gabriele und lebt mit ihr bis heute in Berlin.
Von dem vielen Liebeskummer, den die ganze Familie
immer ertragen musste, gar nicht zu reden. Auch als
alle studiert und einen Beruf gefunden hatten (Zum
Leidwesen von Hans wurde keiner Ingenieur), endeten
die Sorgen nicht. Klaus Frau Inge verstarb bei der Geburt
der Zwillinge und Klaus musste von jetzt auf gleich
alleine drei Kinder versorgen, was nur unter tätiger
Mithilfe der Eltern ging.
Ich wurde nach meinem Studium zunächst arbeitslos.
Klaus und Dirk wanderten in die USA aus und damit
waren drei Enkel plötzlich von der Bildfläche verschwunden.
Dann ließ sich Dirk in den USA von seiner
Frau scheiden und musste wie Klaus, der sich in den
USA mit Nayna verheiratete, das Leben
einer Patchworkfamilie organisieren.
Zahllose Besuche in den USA durch die
Eltern erleichterten beiden ihr Schicksal.
Leichter wurde es, als Dirk Whesley
heiratete. Mit den neuen Ehen gab es
plötzlich 12 Enkel und 12 Urenkel, die
alle bedacht werden wollten.
Bis zu ihrem Tode spielten meine
Eltern eine große Rolle für alle Enkel
und hielten Kontakt zu allen.
48
49
Hans und Ina haben alle runden Geburtstage groß
gefeiert, aber auch sonst kaum eine Gelegenheit ausgelassen,
die Familie zu Festen zusammenzuführen.
Unvergesslich ist die diamantene Hochzeit in Huntingfield/USA,
der 85.Geburtstag von Hans in seiner alten
Heimat Flensburg oder der 95.Geburtstag von ihm auf
der Weitenburg.
Wenn die beiden einluden, kamen fast alle aus der
ganzen Welt. Es gab immer sehr leckeres Essen in vornehmen
Restaurants, dazu besten Wein und immer
getragene Reden über das Leben und die Welt.
So blieben wir alle in Kontakt und Familie war nicht
nur ein Wort. Ina und Hans kümmerten sich aber auch
um unseren krebserkrankten Onkel Nikolaus, um die
Zwillinge, die Hans Bruder Klaus in Stuttgart noch sehr
spät bekam, um Wolfram, einen sehr engen Freund von
Dirk oder um Hans Schwester Malle, als ihr Mann Konrad
Selbstmord beging. Sie setzten ihr Geld, ihre Erfahrung
und ihre Kraft für die Familie ein.
Familienfeste
50
Auch Weihnachten wurde immer gefeiert. Lange Jahre
bei Hans und Ina und als sie dann in Stuttgart waren bei
uns. Immer gab es Rehrücken mit Kartoffeln, „Omisauce“,
Rotkraut und zum Nachtisch Obstsalat.
Wer dieses Essen allerdings genießen wollte, musste
mittags immer Kartoffelbrei mit Petersilie und Milch
essen. Der Baum, der für Ina nie groß genug sein konnte
und meist eine Kiefer vom Pommerenke war, kam erst
am 24.12. ins Zimmer und wurde nachmittags von Hans
geschmückt.
Wir Kinder durften solange das Zimmer nicht betreten.
Als Kinder mussten wir um 17 Uhr in die Lichtleskirche,
um das „heilige Licht“ vom Baum in der Kirche in einem
Lampion nach Hause zu tragen. Bei viel Schnee und
Glatteis fielen wir aber immer hin und das Licht erlosch
dann, was wir aber nie zugaben.
Als Waldraffs noch
lebten, kamen sie
immer gegen 23 Uhr
zu uns und wir feierten
noch bis spät
nach Mitternacht
gemeinsam.
51
Hans machte eine erstaunliche Karriere beim Voith.
Vom einfachen Informanten, gelernten Diplom Ingenieur,
über den Oberingenieur, dann mit Prokura, zum
Geschäftsführer für den Bereich Wasserturbinenbau und
am Ende zum Sprecher der Geschäftsführung für den
gesamten Konzern mit damals mehr als 10 000 Beschäftigten
und einem Umsatz von fast 4 Mrd. DM.
Da Hans recht viel am Esstisch mit Ina über das Geschäft
sprach, bekamen wir Kinder auch einiges mit. Die große
Eminenz war beim Voith der Vorsitzende des BDI Hugo
Rupf. Mit ihm und Hanns Voith hatte er viel zu tun, später
schon im Ruhestand mit dem neuen Geschäftsführer
und BDI-Präsidenten Rugowski.
Unvergesslich die 100-Jahr-Feier von Voith im Konzerthaus
mit viel Prominenz bis hin zum Bundeskanzler.
Wir Kinder bestaunten die großen schwarzen
Limousinen auf dem Parkplatz, deren Fahrer
dafür sorgten, dass niemand den Fahrzeugen
zu nahekam.
Hans Aufstieg zum Sprecher des Vorstands
Viele Jahre wurden Hans und Ina zu den
Baden-Badener Unternehmergesprächen
eingeladen, was für die beiden auch immer
eine tolle Gelegenheit war, von uns Kindern
in irgendwelchen luxuriösen Hotels Urlaub
zu machen. Wir wurden dann von Schwester
Anke oder Frau Schütte betreut.
Geschäftsführung von Voith
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Zwei Kinder wandern in die USA aus – 27 Flüge in die USA
Hans reiste in den 60er Jahren sehr viel geschäftlich
in die USA und kam immer begeistert zurück: die sind
da so freundlich, so zupackend, die haben Hemden,
die man nicht bügeln muss (Nylonhemden) und Schuhe,
die man in der Waschmaschine waschen kann und die
essen ein dickes Steak und Salat statt Kartoffeln.
Irgendwie hat das meine beiden Brüder infiziert und aus
unterschiedlichen Gründen sind dann beide 1986
in die USA ausgewandert. Zwar flogen Hans und Ina
mehr als 27mal zu Besuch der Familie in die USA, aber
sie bedauerten doch sehr, dass die Familie nun so auseinandergerissen
war.
Mit großer Energie trug Hans Daten der Familiengeschichten
von Kaisenberg, Rathenow, Heister, Philipsen und
Nissen zusammen. Außerdem schrieb er eine kleine Autobiografie
seines Lebens bis zur Einberufung zum Militär.
Eigentlich wollten wir ihn immer zu einem zweiten Band
seiner Biographie überreden, was uns leider aber nicht
gelang.
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Vorruhestand
Als Hans die oberste Sprosse seiner Karriereleiter
erklommen hatte, da spürte er, dass ihm diese große
Verantwortung doch sehr viel Kraft kostete und er nahm
das Angebot seiner Firma an, 1986 mit 63 Jahren in den
Vorruhestand zu gehen.
Ein wenig wirkte er noch als Mitglied des Landesbeirats
der Deutschen Bank, als Vorsitzender des Aufsichtsrates
von Voith in St.Pölten und als Member of the board
von Voith USA, was er aber auch bald einstellte. Golfen,
Kegeln, Garten, Reisen und essen waren ihm dann doch
wichtiger.
31 Jahre arbeitete er bei Voith, 33 Jahre mussten sie
ihm Rente zahlen.
54
Ina und Hans waren Familienmenschen und sie wollten
unbedingt, dass die Brüder, ihre Kinder und Kindeskinder
miteinander Kontakt pflegen. Bei den Brüdern hat
das nur bedingt geklappt.
Die Enkel aber diesseits und jenseits des Atlantiks gingen
immer wieder mit den Großeltern eine Woche
gemeinsam in den Urlaub. Walle und ich durften mit.
So ging es nach Berchtesgaden, nach Fischen im
Allgäu, nach Schrunz in Österreich oder nach Bibione
und Limone in Italien. Alle haben diese Woche immer
sehr genossen, denn wir waren auch immer in besten
Hotels untergebracht und die Großeltern zahlten alles.
Bis heute sind die Enkel über das Internet dauernd
in Kontakt.
Gemeinsame Urlaube
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Wir haben relativ spät ein Auto gekauft.(s.o.) Dann
aber alle 4-5 Jahre: VW-Käfer in schwarz, VW 1500S und
VW 1600 in blau und grün, Audi 80, Ro 80, 3 Generationen
BMW 5er und 7er, einen Mercedes E-Klasse dazwischen,
als Zweitwagen einen Golf, einen Audi A2, dann
später einen Audi Q3 und einen BMW X2.
Autos – vom VW-Käfer bis zum BMW
Den kaufte ich Hans, als er bereits 94 Jahre alt war. Er
hatte ihn aber auch nur noch ein halbes Jahr, bevor
wir ihn wiederverkauften. Ein Autokauf war immer ein
Großereignis in der Familie.
Entschieden hat Hans, auch die Farben. Meist Silber,
nur das Blau war Inas einziger erfüllte Wunsch. Das
erste Auto, das ich mit meinem Führerschein fuhr, war
der Ro 80, ein Wankelmotor mit Halbautomatik.
Der erste Käfer kostete 1964 4500 DM also etwa 2200
EUR, das entsprach 7-8 Monatslöhnen. Heute muss man
nur noch etwa 6 Monatslöhne für einen Golf hinlegen,
der aber natürlich viel mehr Komfort bietet. Der Käfer
verbrauchte zwischen 8 und 9 Liter auf 100km, ein Liter
Benzin kostete damals etwa 60 Pfennig, also 30 Cent.
56
Boccia und Tischtennis
Die Bocciabahn war bis zum Auszug aus der
Paul-Klee-Straße das Highlight für alle. Ob Enkel,
Söhne oder Nachbarn, alle waren begeistert dabei.
Hans sorgte immer mit einem Schneeschieber dafür,
dass die Sandbahn eben war und pflückte pedantisch
jedes kleine Unkrautpflänzchen heraus. Die Punkte
wurden auf einer kleinen Schultafel vermerkt. Schon
allein wegen des Geschreis beim Spiel mussten die
Nachbarn mit eingeladen werden.
Tischtennis war mehr die Passion der Söhne, zunächst
drinnen im „Hobbyraum“, bis Wolfram die große Scheibe
zum Flur zum Einsturz brachte, dann draußen.
Hans bemühte sich immer mitzuhalten.
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Essen gehen – Die italienischen Wirte Heidenheims auf einem Gemälde
Hans und Ina legten sehr viel Wert auf gutes Essen.
Im Alter noch mehr. Und sie genossen es, in ihren
Stammkneipen persönlich begrüßt und bedient zu
werden.
Als das Geld nicht mehr knapp war, ging man mehrfach
in der Woche essen: Anfangs in den Hirsch in Mergelstetten
oder in den Raben, später in den Löwen in Zang,
ins Lamm in der Hinteren Gasse, in den Schwarzen
Ochsen zur Marie, in den Pfauen, zum Luici in Schnaitheim,
zum Niko nach Nattheim, zum Jonio beim Waldbad,
in Stuttgart in die Weinstube oder zum Da Noi Due.
Italiener liebten die beiden besonders.
Wenn es einen ganzen Fisch gab, schwärmte Hans. Auf
seinen vielen Reisen in die Welt hat er immer alles probiert
und meist das fremde Essen genossen – sagte er.
Ina war da konservativer und aß gerne lieber Tomatensuppe
oder Linsen. Dazu gab es immer einen Wein und
hinterher einen Espresso.
Als Ina bereits vieles nicht mehr richtig mitbekam und
das Rauchen längst in den Kneipen verboten war, kommentierte
sie immer unseren Hinweis auf das Rauchverbot:
“Diese Kneipe habt ihr extra herausgesucht, damit
ich nicht rauchen kann.“
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Ja in Heidenheim gab es wirklich noch richtig Schnee.
Noch Anfang des Jahrtausends musste man ständig die
Wege vor dem Haus frei schippen und es entstanden
gewaltige Schneehaufen, hinter denen die parkenden
Autos kaum zu sehen waren.
Schnee
Man konnte ein so großes Iglu bauen, dass man sich
darin verstecken konnte. Wenn es ganz schlimm kam,
dann hatte man auch manchmal gar keinen Platz mehr
um den Schnee hinzuschippen.
Natürlich hatte der Nachbar Charly immer schon alles
sauber geschippt, wenn Hans um halb neun oder später
erst begann zu schippen.
Hans begann spät mit dem Langlauf, anfangs mit Ina,
später zu ihrem Leidwesen immer allein in den Weiten
der Ostalb-Wälder. Noch im hohen Alter hatte er eine
erstaunliche Kondition. Wenn wir ihn einmal begleiteten,
mussten wir schwer um Anschluss kämpfen.
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Nachdem die Betreuung von Ina immer schwieriger
wurde, kam der Gedanke bei Hans auf, in ein Seniorenheim
zu ziehen. Dirk hat dann wohl die letzten Bedenken
beseitigt.
Umzug nach Stuttgart ins Augustinum
Allzu schnell wurde das Haus an die neue Personalchefin
bei Voith für einen Spottpreis verhökert. Hans wollte
schnell eine Zäsur und kaufte begeistert mit mir neue,
sehr moderne Möbel für die Wohnung im Augustinum,
die mehr zum Bauhausstil des Seniorenheims passen
sollten. Die alten wurden zum Teil in Containern in die
USA verfrachtet.
Unseren Auszug aus der Paul-Klee-Straße und den Einzug
in das ganz neue Augustinum in Stuttgart-Killesberg
filmte das ZDF für die Sendung Mona Lisa. In zahlreichen
Befragungen wollten sie wissen, wie schwer es
Menschen im Alter fällt, ihr altes Domizil zu verlassen.
Von Anfang an haben Hans und Ina im Augustinum
gleich viele neue Freunde kenngelernt.
Jeden Mittag aßen sie mit anderen am Tisch
und spürten bald, dass es viele interessante
Menschen im Seniorenheim gab: Brändles,
Bernds, Zublers, Frau Klauß, Frau Rotte, Frau
Peters, Wagners, Kramers, Schneiders, Otts,
Jörg Homberg, Herr Thom und viele andere.
War es nicht das, was Hans in Heidenheim
immer etwas vermisste?
Ina machte gute Miene zum bösen Spiel, denn sie hätte
diesem Umzug niemals zugestimmt. Ganz lange meinte
sie „Wann gehen wir denn aus diesem Hotel endlich
wieder nach Hause.“ Hans aber gewöhnte sich schnell
an die neue Situation, in der man nicht mehr kochen
musste und viele neue Freunde fand.
Auch Stuttgart als Stadt fand er viel anregender als Heidenheim.
Jahrelang ging er in die Liederhalle für klassische Konzerte und
der Ausflug zum Einkaufen in die Königsstraße oder in die Markthalle
gehörte lange zu seinem Wochenprogramm.
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Nach 64 Jahren Ehe seinen Partner zu verlieren, muss
eine schlimme Zäsur im Leben sein, dann nochmals mit
91 Jahren sein Leben neu „einzujustieren“, wie Hans
immer sagte, eine unglaubliche Leistung.
Inas Tod
Nachdem meine Mutter einen erneuten Schlaganfall bekam,
schlecht versorgt wurde und dann in eine Art Koma
versank, mussten Hans, Klaus und ich abwägen, ob wir
lebensverlängernde Maßnahmen einleiten sollten. Gut,
dass wir uns dagegen entschieden haben und Ina nochmals
ins Augustinum zum Sterben bringen ließen.
So konnten Hans, Wallo und ich sowie die Familie von Leonie
gemeinsam Abschied von Omi, Mami und Biene nehmen.
Weiterleben
Hans hat den Tod seiner Frau überwunden, war weiter
interessiert an so vielem, ging weiter in die Liederhalle
und in die Kulturveranstaltungen am Augustinum. Trotz
einiger kleiner Krankenhausaufenthalte und einer sehr
schmerzhaften Schulter konnte er dem Leben noch viele
schöne Seiten abgewinnen.
Dies wurde vor allem an seinem 95.Geburtstag und
der anschließenden Reise mit Wallo und mir in seine
alte Heimat Flensburg deutlich, wo er nochmals
von der Landschaft, seinem Bruder, einer Tante und
Körtes Abschied nehmen konnte.
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Am Ende wurde das Lebenslichtlein von Hans immer
kleiner. Corona und die damit verbundenen Beeinträchtigungen
schmälerten seinen Lebenswillen weiter.
Ganz am Schluss fiel ihm sogar das selber Essen immer
schwerer, er konnte das Telefon nicht mehr halten und
war in Pflegestufe 4.
Wieviel selbstständiger war er da noch ein Jahr zuvor.
Er spürte, dass das nicht mehr sein Leben war, was er
über 95 Jahre lang gelebt hatte. Seine letzten Wochen
wurden ihm noch durch eine neue Nachbarin, Frau
Conzmann, versüßt. Sie kam jeden Nachmittag zu ihm,
trank mit ihm Tee und machte ihm sein Abendbrot:
Milchreis mit Apfelmuss und Sirup.
Sie war dann auch in seiner letzten Stunde bei ihm,
während Wallo und ich nur kurz eine Pause machten.
Leonie und Björn unterstützen uns, als er schwer atmend
nur noch hilfesuchend und verzweifelt uns
anstarrte.
Er wollte nicht mehr leben, aber er hatte doch auch
Angst vor der Endgültigkeit des Sterbens. Am Ende hat
er alle unsere Vorfahren mit seinem Lebensalter übertrumpft.
Nur meine Uroma war genauso alt, als sie starb.
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Im Schnitt wurden meine Vorfahren väterlicherseits
in den letzten drei Generationen 78 Jahre alt, mütterlicherseits
mit 78,2 etwas älter.
Bedenken muss man allerdings, dass die Männer zum
Teil im Krieg ihr Leben lassen mussten. Von den Kaisenbergs
gibt es kein Familiengrab mehr, dagegen steht in
Munkbrarup ein Familiengrab der Philipsens, das auch
nicht aufgelassen wird, weil Opa so lange Bürgermeister
der Gemeinde war.
Aber es sind weniger die Steine, die uns weiterleben
lassen, sondern die Erinnerungen. Ich hoffe, dass ich
mit diesem kleinen Büchlein ein wenig dazu beitragen
kann, dass wir alle Ina und Hans nicht vergessen werden.
Wir haben ihnen viel, sehr viel zu verdanken.
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Raum für eigene Notizen oder Bilder