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Global Investor

Nr. 01/2010 d. Inflation

Nr. 01/2010 d.
Inflation

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Man nennt es das verlorene Jahrzehnt: «ushinawareta jūnen». Ich weiss nicht,<br />

wann ich den Ausdruck zum ersten Mal gehört habe. Ich wurde 1952 in Osaka,<br />

Japan, geboren und wuchs dort auf. Später studierte ich Chemie in Kioto und<br />

in den USA. 1985 kehrte ich in meine Heimatstadt zurück, um an der Universität<br />

zu arbeiten. 1994 bot man mir eine Stelle an der Universität von Kioto an.<br />

Zu der Zeit herrschte in Japan bereits seit einigen Jahren Deflation.<br />

Wir wussten, dass das kommen würde. In den 1980er-Jahren erlebte Japan<br />

einen fantastischen Boom, vor allem bei Immobilien. Häufig wurde der Vergleich<br />

zitiert, dass der Kaiserpalast in Tokio mehr wert sei als ganz Kanada, Australien<br />

oder Kalifornien. Der Aktienindex Nikkei erreichte Ende 1989 seinen Spitzenwert,<br />

nachdem die Regierung die Zinsen erhöhte hatte, um die Konjunktur abzukühlen.<br />

Damit platzte die Immobilienblase, aber im August 1992 brach auch der Aktienmarkt<br />

ein. Ich bin Wissenschaftler und kein Anleger, sodass ich das Auf und Ab<br />

des Marktes nicht im Detail im Kopf habe wie ein Finanzexperte. Wie dem auch<br />

sei, danach begannen die Zinsen zu fallen. Ich erinnere mich, wie ich mir kopfschüttelnd<br />

meine Bankauszüge anschaute, denn der Zinssatz sank unerbittlich<br />

von zwei Prozent auf fast null. Einer meiner Freunde, der in einem Vorort von Kioto<br />

lebt, kaufte sein Haus auf der Höhe des Booms. Seine Hypothek wurde zum<br />

Verhängnis seines Lebens. Die Zinsen auf das Darlehen lagen bei fünf Prozent<br />

und blieben unverändert. Geld auszugeben machte keine Freude mehr. Zum<br />

Essen leistete er sich nur noch ein Bier.<br />

Die Immobilienpreise fielen natürlich auch. Man könnte den Rückgang der<br />

Immobilienpreise für eine gute Sache halten – allerdings nicht für Verkäufer. Als<br />

ich die Stelle in Kioto annahm, wollten meine Frau und ich unser Haus in Osaka<br />

verkaufen und umziehen. Es erwies sich jedoch als unmög lich, einen angemessenen<br />

Preis dafür zu erzielen. Die Leute boten die Hälfte von dem, was unser<br />

Haus wert war. Schliesslich gaben wir auf, weil wir den Verlust nicht verkraften<br />

konnten. Jetzt pendle ich jeden Tag zwischen Kioto und Osaka. Die beiden<br />

Städte sind benachbarte Präfekturen, aber man braucht etwa zwei Stunden für<br />

den Weg, was bedeutet, dass ich täglich vier Stunden in Bus und Bahn verbringe.<br />

Als mein Sohn klein war, ging das von der Zeit ab, in der ich mit ihm<br />

spielen konnte. Viele meiner Kollegen sind in derselben Situation. Dazu muss<br />

ich allerdings sagen, dass Menschen im Grossraum Tokio bereits vor der Deflation<br />

nicht selten zwei Stunden für ihren Arbeitsweg brauchten.<br />

Abgesehen von der Sache mit dem Haus – einem sehr grossen Problem –<br />

musste ich meinen Lebensstil nicht allzu sehr ändern. Da ich immer noch eine<br />

Hypothek abbezahlen muss, versuche ich, das so schnell wie möglich zu tun,

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