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Man nennt es das verlorene Jahrzehnt: «ushinawareta jūnen». Ich weiss nicht,<br />
wann ich den Ausdruck zum ersten Mal gehört habe. Ich wurde 1952 in Osaka,<br />
Japan, geboren und wuchs dort auf. Später studierte ich Chemie in Kioto und<br />
in den USA. 1985 kehrte ich in meine Heimatstadt zurück, um an der Universität<br />
zu arbeiten. 1994 bot man mir eine Stelle an der Universität von Kioto an.<br />
Zu der Zeit herrschte in Japan bereits seit einigen Jahren Deflation.<br />
Wir wussten, dass das kommen würde. In den 1980er-Jahren erlebte Japan<br />
einen fantastischen Boom, vor allem bei Immobilien. Häufig wurde der Vergleich<br />
zitiert, dass der Kaiserpalast in Tokio mehr wert sei als ganz Kanada, Australien<br />
oder Kalifornien. Der Aktienindex Nikkei erreichte Ende 1989 seinen Spitzenwert,<br />
nachdem die Regierung die Zinsen erhöhte hatte, um die Konjunktur abzukühlen.<br />
Damit platzte die Immobilienblase, aber im August 1992 brach auch der Aktienmarkt<br />
ein. Ich bin Wissenschaftler und kein Anleger, sodass ich das Auf und Ab<br />
des Marktes nicht im Detail im Kopf habe wie ein Finanzexperte. Wie dem auch<br />
sei, danach begannen die Zinsen zu fallen. Ich erinnere mich, wie ich mir kopfschüttelnd<br />
meine Bankauszüge anschaute, denn der Zinssatz sank unerbittlich<br />
von zwei Prozent auf fast null. Einer meiner Freunde, der in einem Vorort von Kioto<br />
lebt, kaufte sein Haus auf der Höhe des Booms. Seine Hypothek wurde zum<br />
Verhängnis seines Lebens. Die Zinsen auf das Darlehen lagen bei fünf Prozent<br />
und blieben unverändert. Geld auszugeben machte keine Freude mehr. Zum<br />
Essen leistete er sich nur noch ein Bier.<br />
Die Immobilienpreise fielen natürlich auch. Man könnte den Rückgang der<br />
Immobilienpreise für eine gute Sache halten – allerdings nicht für Verkäufer. Als<br />
ich die Stelle in Kioto annahm, wollten meine Frau und ich unser Haus in Osaka<br />
verkaufen und umziehen. Es erwies sich jedoch als unmög lich, einen angemessenen<br />
Preis dafür zu erzielen. Die Leute boten die Hälfte von dem, was unser<br />
Haus wert war. Schliesslich gaben wir auf, weil wir den Verlust nicht verkraften<br />
konnten. Jetzt pendle ich jeden Tag zwischen Kioto und Osaka. Die beiden<br />
Städte sind benachbarte Präfekturen, aber man braucht etwa zwei Stunden für<br />
den Weg, was bedeutet, dass ich täglich vier Stunden in Bus und Bahn verbringe.<br />
Als mein Sohn klein war, ging das von der Zeit ab, in der ich mit ihm<br />
spielen konnte. Viele meiner Kollegen sind in derselben Situation. Dazu muss<br />
ich allerdings sagen, dass Menschen im Grossraum Tokio bereits vor der Deflation<br />
nicht selten zwei Stunden für ihren Arbeitsweg brauchten.<br />
Abgesehen von der Sache mit dem Haus – einem sehr grossen Problem –<br />
musste ich meinen Lebensstil nicht allzu sehr ändern. Da ich immer noch eine<br />
Hypothek abbezahlen muss, versuche ich, das so schnell wie möglich zu tun,