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DER SAND Ausgabe 2

Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt

Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt

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<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

unentgeltlich & unbezahlbar · www.die-wueste-lebt.org<br />

<strong>SAND</strong><br />

•<br />

•<br />

<strong>DER</strong><br />

2 0 0<br />

E N G E L S<br />

EXTRABLATT!<br />

J A H R E<br />

ZEITUNG FÜR OBERBARMEN/WICHLINGHAUSEN UND DEN REST <strong>DER</strong> STADT<br />

Wie in Afrika<br />

Seite 16<br />

Backfisch drucken<br />

Seite 30<br />

Liste der Sehnsucht<br />

Seite 8<br />

Vielleicht!<br />

maybe<br />

можда<br />

belki<br />

forse<br />

peut-être<br />

może quizás может быть<br />

μπορεί<br />

misschien<br />

talvez<br />

也 許<br />

poate


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> DIE SEITE ZWEI<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Editorial<br />

Liebe Bewohnerinnen und Bewohner der Wüste,<br />

seit Corona in unser Leben kam, sind wir herausgerissen aus<br />

unseren Gewohnheiten und machen Erfahrungen, die bis vor<br />

kurzem unvorstellbar waren. Ein Ausnahmezustand. Für die<br />

einen eine Möglichkeit innezuhalten, für die meisten eine Katastrophe.<br />

Wann hört das endlich auf? Ist das eine temporäre<br />

Krise? Eine Erdplattenverschiebung? Sind die fetten Jahre vorbei?<br />

Erleben wir das Ende einer Epoche? Wie auch immer, der<br />

Virus markiert einen Einschnitt.<br />

Alles scheint ungewiss, alles in der Schwebe. Ein Gefühl<br />

der Bodenlosigkeit. Wer noch steht, steht auf schwankendem<br />

Boden. Haben wir auf Sand gebaut? Zukunft unter Vorbehalt,<br />

alles ist „Vielleicht?“.<br />

Mit der zweiten <strong>Ausgabe</strong> von <strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> nähern wir uns<br />

diesem Schwebezustand und widmen uns dem Thema Wandel.<br />

Es geht um Veränderungen in unserer Wahrnehmung, in<br />

unserem Alltag, in der Arbeit, im Quartier. Es geht auch um<br />

Aufbrüche und Neuanfänge.<br />

Andreas, der Schausteller, erzählt uns, wie Corona seine<br />

Existenz bedroht und die seiner gesamten Branche. Adulrahman,<br />

ein junger Syrer, beschreibt Flucht, inneren Transit und<br />

Ankunft in Wuppertal. Daniela, eine junge Wuppertaler Abenteurerin,<br />

schildert ihren Ausbruchsversuch in ein Leben ohne<br />

Geld. Die Friedensarbeiterin Burcu stellt ihre Ideen vor, wie<br />

sie Frieden im Kleinen trainieren will. In der zweisprachigen<br />

Community-Kolumne wünscht sich Yagare aus Mali mehr<br />

Miteinander. Iris sehnt sich nach gesellschaftlicher und politischer<br />

Veränderung und formuliert ihre Wünsche und Forderungen<br />

für ein Leben in und nach der Pandemie.<br />

Das achtseitige Spezial ÜBER ARBEIT holt Friedrich<br />

Engels, den großen Sohn der Stadt, zur Feier seines 200. Geburtstages<br />

nach Oberbarmen. Menschen berichten wie sie<br />

leben, wohnen, arbeiten oder nicht arbeiten, und sagen, um<br />

was sich Engels heute kümmern sollte.<br />

Diese <strong>Ausgabe</strong> ist auch eine Reise, z.B. in Dieters Jugenderinnerungen<br />

an das pulsierende Oberbarmen von einst, das<br />

Tor zur großen Stadt. Oder in die Vergangenheit der Bünger­<br />

Textilfabrik und in die Zukunft Wichlinghausens, wo mit dem<br />

BOB Campus ein Vorzeigeobjekt der Stadtentwicklung entsteht.<br />

Unsere Zeitung entstand trotz Pandemie, soweit es möglich<br />

war, auf der Straße, auf Spaziergängen und in Aktionen<br />

mit dem Stadtschreiber und seinem Team. Immer wieder<br />

tauchten wir mit unserem Pop­Up­Fotostudio auf und führten<br />

dabei Interviews mit Menschen aus dem Quartier. In einer<br />

Schreibwerkstatt der Hauptschule Oberbarmen verfassten<br />

Schüler:innen ihre Sicht über das Erwachsenwerden und das<br />

Leben im Vielleicht.<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> hat doppelt so viele Seiten wie beim letzten Mal.<br />

Und doch gab es nicht genug Platz für alles. Du findest mehr<br />

Beiträge in unserem Online-Sandkasten https://die-wueste-lebt.<br />

org/category/dersand/.<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> ist offen für Menschen aus dem Viertel, die<br />

Lust haben, an diesem Experiment, unserer Zeitung, mitzuarbeiten.<br />

Wir freuen uns über Anregungen, Kommentare, Kritik.<br />

Schreib uns an: info@die-wueste-lebt.org.<br />

Wie geht es nun weiter? Mit Oberbarmen/Wichlinghausen,<br />

mit Wuppertal und dem Rest der Welt? Wird sich<br />

die Stadt mit dem neuen OB Uwe Schneidewind nachhaltig<br />

transformieren?<br />

Und wird Schneidewind das Potential des Ostens, das<br />

er in der ersten <strong>Ausgabe</strong> des Sandes, noch als Präsident des<br />

Wuppertal Institutes, feierte, zu heben wissen?<br />

Eins ist gewiss: Es geht weiter. Der Wandel ist unauf<br />

hörlich. Machen wir das Beste aus der Ungewissheit, diesem<br />

Schwebezustand, und sagen erstmal einfach: „Ja“ zum<br />

„Vielleicht!“<br />

Die Redaktion<br />

»<br />

Wie<br />

es ist,<br />

bleibt es<br />

nicht.<br />

«<br />

Heiner Müller<br />

Es gibt einen Soundtrack zu dieser <strong>Ausgabe</strong>.<br />

Wir haben auf Spotify eine Playlist für Euch zusammengestellt.<br />

Natürlich dreht sich dort alles um Wandel und Arbeit:<br />

Maybe <strong>DER</strong> <strong>SAND</strong>. Höre selbst!<br />

Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

IMPRESSUM<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> Zeitung für Oberbarmen, Wichlinghausen und den Rest der Stadt, März 2021<br />

HERAUSGEBER:INNEN Die Wüste lebt! Roland Brus, Uwe Peter (V.i.S.d.P.), Daniela Camilla Raimund<br />

REDAKTION Roland Brus, Hans-Joachim Neubauer, Uwe Peter, Daniela Camilla Raimund<br />

ANSCHRIFT VERLAG UND REDAKTION Der Sand – Ein Projekt von Die Wüste lebt!<br />

c/o Die Färberei e.V., Peter-Hansen-Platz 1, 42275 Wuppertal · info@die-wueste-lebt.de · www.die-wueste-lebt.org<br />

AUTOR:INNEN Abdulrahman Alasaad , Roland Brus, Iris Colsman, Burcu Eke-Schneider, Germán Parula Ferrando, Rainer Lucas, Hans-Joachim<br />

Neubauer, Uwe Peter, Daniela Camilla Raimund, Daniela Saleth, Wilma Schrader, Herman Schulz, Yagare Soucko, Hans-Dieter Westhoff<br />

ALLTAGSEXPERT:INNEN Alexandra, Alina, Andreas, Anke, Bernhard, Brigitte, Carola, Daniel, Gardijan, Georg, Elma, Ewelyn, Idi, Isabell,<br />

Hussein, Jürgen, Lathikka, Marwa, Mohamad, Nadine, Paul, Piro, Ralf, Rainer, Rick, Sandro, Sonja, Tarek, Timo, Valentina uva.<br />

FOTOGRAF:INNEN Mirela Hadžić, Max Höllwarth, Birgit Pardun, Daniela Camilla Raimund, Jonathan Ries, Uwe Schorn, Oskar Siebers,<br />

Wolf Sondermann, Lamine Soumah<br />

GESTALTUNG Robbers & Guns · www.robbers.eu<br />

DRUCK Rheinische DruckMedien GmbH, Zülpicher Straße 10, 40196 Düsseldorf · Aufl age 20.000<br />

DANK AN Roland Brokop, Achim Bünger, Iris Colsman (Färberei), Johanna Debik und Robert Ambree (BOB Campus), Carola Haberl, Uli Klan,<br />

Max Moll, Lamine Soumah (Danua e.V.), Heiko Schnickmann, Judith Steinhard (Stadtbibliothek Wuppertal), Uwe Schorn und Ute Weber-<br />

Kebekus (Hauptschule Oberbarmen), Rachid Zineddine (Ost/West Integrationszentrum), Quartiersbüro Vierzwozwo, Tim Schoger, Sophie<br />

Dzwonek, Christel Simon und herzlichen Dank an alle unsere Gesprächspartner:innen und Mitwirkenden<br />

WEITERE MITSCHREITER:INNEN UND DANKSAGUNGEN im IMPRESSUM vom SPEZIAL Über Arbeit - Extrablatt 200 Jahre Friedrich Engels<br />

Die Wüste lebt! ist ein Projekt von Die Färberei e.V. – Zentrum für Inklusion und Integration.<br />

Gefördert über das Modellprogramm „Utopolis – Soziokultur im Quartier“ im Rahmen der ressortübergreifenden Strategie Soziale Stadt „Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“ des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) und der Beauftragten für Kultur und Medien (BKM).<br />

Seite 2<br />

Titelfoto: Max Höllwarth


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

NAHAUFNAHME<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Alles geht im Westen los:<br />

ein alter neuer Blick auf Oberbarmen<br />

von Hans-Dieter Westhoff<br />

Der Blick der meisten Wuppertaler auf Oberbarmen ist nicht gerade<br />

schmeichelhaft. Das Eastend halt, mit rostigen Abstellgleisen,<br />

blättrigen Hausfassaden und einem übel beleumundeten Bahnhofsvorplatz.<br />

Und dann heißt die Hauptstraße nach Nordwesten<br />

auch noch Schwarzbach. Toll.<br />

Ich wohne seit 65 Jahren in Wuppertal und teile diesen<br />

Blick überhaupt nicht. Das liegt daran, dass ich Langerfelder<br />

bin, und für mich liegt Oberbarmen nicht im Osten, sondern<br />

im Westen. Da, wo die große Stadt richtig anfängt, wo man<br />

in die Schwebebahn steigt oder in einen richtigen Zug. Wenn<br />

man in Cronenberg, Ronsdorf oder eben in Alt-Langerfeld<br />

wohnt, dann lebt man nicht in einer Großstadt, sondern in einem<br />

Kaff wie Hückeswagen oder Wermelskirchen, nur ohne<br />

eigenen Bürgermeister und mit ein paar Busverbindungen<br />

mehr. Deshalb galt für mich seit Kindesbeinen: In Oberbarmen<br />

geht die Welt los.<br />

Zum Beispiel: Wer Schienen und Kabel für die Modelleisenbahn<br />

brauchte, der musste mit dem Tretroller nach<br />

Fleissner, Ecke Berliner- und Normannenstraße. Die erste<br />

Beatles-LP habe ich bei Kirschner gekauft – schräg gegenüber.<br />

Weihnachtsgeschenke für Mutter und Tante gab es bei „Püppkes<br />

Müller“ nebenan; das war ein kleines Kaufhaus mit einem<br />

Sortiment ähnlich Kodi, Tedi oder Woolworth. Neue Krimis<br />

und Western wurden im „Modernen Theater“ (heute Cinema)<br />

gezeigt, und die langen Monsterfilme wie Ben Hur liefen im<br />

Odin, Ecke Von-Eynern-Straße (steht nicht mehr).<br />

Langerfelder Oberschüler gingen – und gehen wohl<br />

auch heute noch – aufs Gymnasium in der piefigen Nachbarkreisstadt<br />

Schwelm, weil man da total schnell und einfach<br />

hinkommt. Aber die Rockpartys am CDG waren besser. Wer<br />

wöchentlich die Top-Twenty-Show auf dem Soldatensender<br />

BFBS hörte, brauchte natürlich auch die passende Wochenzeitung<br />

dazu, also den Melody Maker oder den New Musical<br />

Express aus England, und den gab es nur am Oberbarmer<br />

Bahnhofskiosk, und sonst nirgendwo. Natürlich haben wir uns<br />

auch auf Feten im Hinterland von Ennepetal und Gevelsberg<br />

getummelt, aber wenn wir später Free Jazz hören oder auf<br />

poli tischen Meetings diskutieren wollten, mussten wir ins Tal,<br />

und das fängt nun einmal am Berliner Platz an.<br />

Oberbarmen war auch in den 50er und 60er Jahren<br />

keineswegs eine schnuckelige Wohnlage. Vom „Rauentaler<br />

Knapp“ – dem unteren Teil der Langerfelder Straße – mussten<br />

die Langerfelder Jungs auf ihrem Weg über den rostige Fußgängersteg,<br />

passenderweise „Schwindsuchtsbrücke“ genannt,<br />

die Bahngleise kreuzen; heute steht dort die Fußgängerbrücke<br />

mit den Korkenzieher-Aufgängen. Dann vorbei an der grottigen<br />

Halbruine des Bahnhofsgebäudes, über den engen Vorplatz<br />

und die noch engere Brücke zwischen Schwebebahnhof<br />

und Wagenhalle, und schon war man an der Berliner Straße.<br />

Wem der Sinn nach Abenteuer stand, der machte einen Fahrrad-Ausflug<br />

zum Klingholzberg. Das war die wohl größte<br />

Notwohnungs- und Barackensiedlung im Tal, etwa zwischen<br />

Sonnenstraße, Hilgershöhe und dem Tunnel der Schwarzbachtrasse<br />

gelegen. Das war eine wirklich fremde Welt, wo es<br />

von der Küche direkt aufs unbefestigte Gelände draußen auf<br />

die Straße hinaus ging; dort spielte sich, wegen der Enge in den<br />

Hütten und Baracken, ein großer Teil des Lebens ab. Favelas<br />

mit Blick auf die Schwarzbach – sie wurden dann in den 70ern<br />

endlich abgerissen.<br />

Easy living war wohl noch nie Oberbarmer Kernkompetenz.<br />

Das ist wahr. Aber es ist keineswegs die Endstation.<br />

Sondern der Platz, wo alles losgeht. Von Osten aus betrachtet.<br />

Der Autor 1961:<br />

Wir trugen Jackett und Krawatte bis die Beatles kamen,<br />

dann war das weg und die Haare lang.<br />

(Foto: privat)<br />

„Zurückbleiben bitte!“ Hauptbahnhof Oberbarmen<br />

(Foto: Roland Hermes)<br />

Was sind deine Erinnerungen an’s Quartier?<br />

Schreib uns: info@die-wueste-lebt.org<br />

Seite 3


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> AUFBRUCH<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Ausbruch<br />

aus dem<br />

Hamsterrad<br />

Wie viel Geld braucht ein gutes Leben?<br />

von Daniela Saleth<br />

Vor einigen Jahren noch, da war es mir ganz<br />

klar: Arbeit, das heißt eine Tätigkeit ausüben,<br />

um Geld zu verdienen. Dabei hat man die Wahl<br />

zwischen einer Arbeit, die einen erfüllt, oder<br />

einer Arbeit, die lediglich dem Mammon dient;<br />

hinter der man also nicht steht, die einem aber<br />

die Existenz sichert. Diese beiden Formen der<br />

Arbeit sind darüber hinaus Mittel für gewisse<br />

Freiheiten: um zu reisen, um sich Dinge leisten<br />

zu können, um Sicherheiten zu haben.<br />

Ich fühlte mich in dieser „Um-zu“-Realität<br />

aber weder sicher noch frei. Selbst<br />

meine Wunschberufe Journalistin oder Lehrerin<br />

schienen mir bei näherer Betrachtung<br />

während des Studiums wenig mit meinen<br />

ursprünglichen Vorstellungen davon zu tun<br />

zu haben. Ich entschied mich also für ein Experiment<br />

und lebte für einige Jahre fast (die<br />

Krankenversicherung bezahlte ich weiter aus<br />

meinen Ersparnissen) ohne Geld. Und alles<br />

änderte sich.<br />

Für mich brachte ein Leben ohne<br />

Konsum vor allem eins: Produktivität.<br />

Und Besinnung. Denn ich begann zu<br />

gärtnern. Ich lernte ein Instrument.<br />

Ich machte Vereinsarbeit. Ich bewegte<br />

mich überdurchschnittlich viel – ging<br />

ständig zu Fuß. Im Winter passte ich<br />

meinen Rhythmus den kurzen Tagen<br />

an und hatte das erste Mal nicht<br />

mit Stimmungsschwankungen in der<br />

dunklen Jahreszeit zu kämpfen. Außerdem<br />

kommunizierte ich extrem<br />

viel. Denn ich konnte nun nicht mehr<br />

Geld gegen Güter tauschen.<br />

Statt eine Miete zu zahlen, setzte<br />

ich mich für den Ort ein, an dem ich<br />

gerade lebte, und nutzte dafür Internetplattformen<br />

wie workaway oder<br />

wwoofing. Ich half bei Feldarbeiten<br />

auf Höfen und bekam dafür Lebensmittel,<br />

sammelte Wildkräuter und<br />

wildes Obst, um den Speiseplan zu<br />

ergänzen. Ich organisierte aber auch<br />

Konzerte, arbeitete unentgeltlich für<br />

Menschen, deren Projekte ich gut<br />

fand, und baute ein Netzwerk für Lebensmittelrettung<br />

in Wuppertal auf.<br />

Als mein Laptop während dieser Zeit<br />

kaputtging und später in Frankreich<br />

einmal mein Handy gestohlen wurde,<br />

unternahm ich erstmal nichts. Ich<br />

wartete geduldig und sprach mit vielen<br />

Menschen; am Ende bekam ich gebrauchte<br />

Geräte geschenkt.<br />

Auf diesem Weg stand immer an<br />

erster Stelle das Warum. Ich wusste,<br />

warum ich diesen Weg eingeschlagen<br />

hatte. Das Wie und Wohin ergab sich<br />

dann im Prozess. In diesem Sinne reiste<br />

ich auch sehr viel. Meistens zu Fuß,<br />

sehr viel über Europas verschlungene<br />

Jakobswege, aber auch via Anhalter.<br />

Zuerst allein, dann zu zweit, am Ende<br />

gar zu dritt mit unserer kleinen Tochter<br />

Kosma. Sie war damals zwei und<br />

am Ende der Reise 3 ½. Wir schliefen<br />

in unserem kleinen Zelt in Gärten von<br />

Familien in Belgien, Frankreich und<br />

Spanien und wanderten meistens zu<br />

Fuß. Durch unsere Vereinsarbeit für<br />

Foodsharing wussten wir um das Problem<br />

der vollen Tonnen hinter europäischen<br />

Supermärkten und um das<br />

viele Brot vom Vortag in den Bäckereien.<br />

Wir sprachen also viel mit den<br />

Besitzern der Läden, um Aussortiertes<br />

zu bekommen. „Dumpstern“, so wird<br />

das Mülltauchen nach Lebensmitteln<br />

genannt, mussten wir nur selten.<br />

Es war unglaublich intensiv, aber<br />

auch teilweise sehr anstrengend, dieses<br />

geldfreie Leben. Anstrengend, da<br />

es einem oft an Rückzugsmöglichkeiten<br />

fehlte, auf Höfen und in Vereinshäusern,<br />

bei Menschen, die uns<br />

beherbergten, und natürlich in unserem<br />

Zelt. Auch, weil sich die Vorstellung,<br />

wer keiner Erwerbsarbeit nachgehe,<br />

der habe automatisch viel Zeit<br />

und wenig Stress, nicht immer als zutreffend<br />

herausstellte. Ich ließ meine<br />

Zeit jedoch „nur“ in andere Aufgaben<br />

fließen.<br />

Von einer Abhängigkeit also in die<br />

andere? Ja und nein. Das Entscheidende<br />

bei diesem Lebenswandel war<br />

das Gefühl. Es verschwand das Gefühl<br />

von Leerlauf, Sinnlosigkeit und<br />

Entfremdung. Es entstand das Gefühl<br />

von Selbstbestimmung, persönlichem<br />

Wachstum und Fülle. Ich war sozusagen<br />

der Hamster, der sein Rad verlassen<br />

und aus dem Käfig ausgebrochen<br />

war und sich nun selbst wieder auf<br />

Nahrungssuche befand – mit Verzicht<br />

auf viele Bequemlichkeiten.<br />

Während Kosmas ersten zwei Jahren<br />

ging es mit Ausnahmen noch sehr<br />

gut ohne Geld. Doch schon während<br />

dieser Zeit ging ich gedanklich wieder<br />

zurück zum Siedeln und zu Erwerbsarbeit.<br />

Auf der Reise haben wir dann<br />

Straßenkunst gemacht, um uns auch<br />

mal Bio-Haferflocken oder Mandelmus<br />

für unsere Tochter zu kaufen. In<br />

Andalusien nahmen wir dann kleine<br />

Jobs an.<br />

Zurück in Deutschland arbeite ich derzeit am<br />

Hof zur Hellen und gebe private Nachhilfe und<br />

Yoga-Unterricht. Ich habe weiterhin ein Wohnverhältnis,<br />

das ohne Geld funktioniert. Und<br />

ich fühle mich damit einfach wieder wohl. Mit<br />

dem festen Vorhaben, dass Geld nicht mehr<br />

Zeit von meinem Leben bekommt, als ich bereit<br />

bin herzugeben, mit dem Wissen, dass es<br />

nicht viel Geld ist, das man für ein gutes Leben<br />

und Rücklagen benötigt.<br />

Unterwegs: Mehr Freiheit ohne Geld?<br />

Foto: Jonathan Ries<br />

Seite 4


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

AUFBRUCH<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Normalerweise<br />

holt mich jemand ab<br />

Bange Momente: von Syrien nach Wuppertal<br />

von Abdulrahman Alasaad<br />

m barmherzigsten Schoß kam ich auf<br />

eine griechische Insel. Dieses Mal gehörte<br />

der Schoß keinem Menschen, sondern einem<br />

Boot. Verwirrt stieg ich aus dem Boot aus. Zu<br />

diesem Zeitpunkt glaubte ich, dass sich auf<br />

diese Insel noch keines Menschen Fuß verirrt<br />

hat. Man konnte nur das Wellenrauschen hö-<br />

ren. Auf dieser Insel fühlte sich alles gewöh-<br />

nungsbedürftig an.<br />

Es dauerte nicht lange, bis ich anfing<br />

mich umzugucken. Ich wünschte mir irgend-<br />

jemanden, der mich nach der erschöpfenden<br />

Reise bzw. Flucht empfangen wollte. Weit und<br />

breit sah ich keinen, außer den Frauen, Män-<br />

nern, Kindern, die mit mir im Boot gewesen<br />

waren, die ich aber auch nicht kannte. Nor-<br />

malerweise holt mich jemand ab, wenn ich<br />

irgendwohin gehe. Als ich niemanden sah,<br />

der mich beim Ankommen begrüßte, wur-<br />

de ich gewahr, dass ich ab jetzt als Fremder<br />

bezeichnet werden würde. Nach zwei Stunden<br />

intensiven Suchens auf der Insel fanden<br />

wir griechische Soldaten, die uns nach einer<br />

Körperkontrolle in eigentlich unbewohnbare,<br />

umzäunte Steinhütten brachten. Trotz des<br />

schlechten Platzes, auf dem wir uns befanden,<br />

fühlten wir uns ein wenig erleichtert, weil das<br />

Meer uns nicht geschluckt hatte. Im Meer sahen<br />

wir manche Leute, deren Boot zerstört<br />

wurde. Sie baten uns um Hilfe, aber wir konnten<br />

nichts machen. Es gab keinen Platz in unserem<br />

Boot. Seitdem hasse ich diesen Satz „Es<br />

gibt keinen Platz“.<br />

Die Tage in Griechenland verronnen<br />

quälend langsam. Die zweite Station war auch<br />

eine kleine Insel. Wir wurden für vier bis fünf<br />

Tage in ein Camp gesperrt. Wir durften das<br />

Camp nicht verlassen. Sie gaben uns Armbänder,<br />

die wir an unserer Hand tragen mussten,<br />

damit sie uns Essen geben und wissen konnten,<br />

dass wir „legal“ in das Camp gekommen<br />

waren. Trotzdem mussten wir stundenlang in<br />

einer Schlange stehen, um Essen zu bekommen.<br />

In Griechenland hatte ich sechs Stationen.<br />

In der letzten Station, die ungefähr drei<br />

Monate dauerte, konnte ich wie die anderen<br />

Menschen auf der Straße laufen, ohne um Erlaubnis<br />

bitten zu müssen.<br />

Nach ungefähr einem Lebensjahr kam<br />

das Licht am Ende des Tunnels. Ich konnte<br />

über ein Relocation-Programm nach Deutschland<br />

kommen. Am Flughafen gaben sie mir<br />

ein Ticket und sagten mir, dass ich legal nach<br />

Deutschland fliegen dürfe. Damals wusste ich<br />

nicht, dass ich illegal nach Griechenland gefahren<br />

war. Ist es illegal, wenn man seine Seele<br />

schützen möchte? Alles, was ich damals wusste,<br />

war, dass ich nicht zur brutalen syrischen<br />

Armee gehen und mir ein friedliches Leben<br />

verschaffen wollte. Das war aber laut den Gesetzen<br />

illegal. Man lernt ja nie aus.<br />

n Deutschland kamen wir auf einem<br />

Militärflughafen an. Im Flugzeug hatte ich ein<br />

Gefühl in meiner Brust, als wären die Rippen<br />

lose geworden, damit sie dem Herzen das Abhauen<br />

ermöglichen könnten, falls das Flug-<br />

zeug doch in Syrien gelandet wäre. Ich glaub-<br />

te in der Tat nicht, dass ich nach Deutschland<br />

flog, bis ich eine fremde Sprache hörte und<br />

europäisch aussehende Menschen sah. Wer<br />

den Kriegt erlebt hat, den kann man nicht ein-<br />

fach davon überzeugen, dass das Leben in an-<br />

deren Ländern in Ordnung ist und dass alles<br />

gut wird. Das Wort „Vertrauen“ wird für eine<br />

Weile aus deinem Wörterbuch gestrichen.<br />

Doch die deutschen Soldaten waren so<br />

nett zu uns, dass ich einem Freund ins Ohr<br />

flüsterte: „Kneif mich! Ist das echt oder bin ich<br />

in einem Traum?“ Stell dir vor, du bekommst<br />

eine kohlschwarze Flüssigkeit, und es wird<br />

dir gesagt „Das ist Milch ohne Zusatzstoffe<br />

und Farbe.“ Für mich war es genau so; nie<br />

hatte ich gute Soldaten gesehen. Im Vergleich<br />

zu den Tagen in Griechenland vergingen die<br />

Tage in Deutschland rasant. In Deutschland<br />

musste ich nicht sehr lang von den anderen<br />

Menschen ausgeschlossen leben. Hier hatte<br />

ich die Chance, Leute kennenzulernen und an<br />

Sprachkursen teilzunehmen. Ich lernte nicht<br />

nur etwas von der Geschichte dieses Landes,<br />

sondern ich erzählte auch von der Geschichte<br />

meiner ersten Heimat, weil sich die Leute hier<br />

dafür interessierten. Das Vertrauen wächst<br />

wieder, nachdem es im Krieg fast erstickt war.<br />

Eine neue Zugehörigkeit und ein neues Ich zu<br />

haben ist im wahrsten Sinne des Wortes ein<br />

unbeschreibliches Gefühl. Vielleicht habe ich<br />

die richtige Entscheidung für mein Leben getroffen.<br />

Vielleicht wäre ich jetzt tot, wenn ich<br />

nicht geflüchtet wäre.<br />

Ich habe eine Universität in meiner neuen<br />

Heimat kennengelernt. Die erste Begegnung<br />

war so fantastisch, dass ich mich auf den<br />

ersten Blick verliebt habe. Als ich aus dem Bus<br />

ausstieg und den Boden dieser Universität mit<br />

meinem Schuh berührte, erlebte ich eine Art<br />

Hoffnung­Liebe­Heimat­Schock. Diese erste<br />

Berührung hat mich geheilt; alles hat sich geändert.<br />

Die Erde hat mir ihr Herz geöffnet. Ein<br />

Gefühl des Fremdseins besucht mich nur noch<br />

gelegentlich. Es verschwindet nach und nach.<br />

Angekommen: Es dauerte ein Jahr, bis<br />

Abdulrahman Alasaad wieder Hoffnung schöpfte<br />

Foto: Roland Brokop<br />

Seite 5


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> MADE IN WICHLINGHAUSEN<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

„Malerei ist ein Prozess ständiger Veränderung. Man kann in meinen Bildern wandern, immer neue Wege entdecken und gehen.“<br />

„Without rain“ von Frank Lederhose, Öl auf Leinwand 160 x 120 cm<br />

Frank Lederhose ist Maler und seit 2019 Lehrer im Ruhestand. Er hat sein Atelier in den Königsberger Höfen in Wichlinghausen. www.frank-lederhose.de<br />

Seite 6


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

MADE IN WICHLINGHAUSEN<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Kultursalon<br />

Weil sein darf, was sein kann – ein offenes Haus für Kultur und Debatte<br />

von Hermann Schulz<br />

Muss man Wichlinghausen kennen? Ich kannte es nicht,<br />

und beinahe wäre mir etwas entgangen. Wie überall machen<br />

auch hier die Menschen, die dort leben, einen Stadtteil<br />

zu dem, was er ist. Das habe ich durch persönliche Begegnungen<br />

erfahren.<br />

Vor einigen Jahren begegneten mir Felicitas Miller<br />

und Dr. Herbert Gerstberger; sie hatten Karl Otto Mühl<br />

und mich zu Lesungen im Rahmen ihres Programms „Die<br />

Straße liest“, einer Aktion in den Häusern und Höfen der<br />

Nornenstraße, eingeladen. Es war der Beginn einer intensiven<br />

Freundschaft.<br />

Als theoretischer Physiker arbeitete Herbert Gerstberger<br />

auf seinem Lehrstuhl an der Pädagogischen Hochschule<br />

Weingarten an der Verbindung von Physik und<br />

Ästhetik. Seine Aktivitäten im Amateurtheater und in der<br />

Theaterpädagogik verbanden ihn mit Felicitas Miller, die<br />

nach Lehrtätigkeiten in Irland und Ägypten am Bergischen<br />

Kolleg den theaterpädagogischen Bereich dauerhaft im<br />

Schulprofilverankerte.<br />

Durch die beiden lernte ich einen mir völlig unbekannten<br />

Stadtteil kennen und schätzen. Sie leben in Wichlinghausen<br />

in einer echten Spielstraße, eine der ersten und von<br />

der Europäischen Union geförderten verkehrsberuhigten<br />

Straßen. Dass die Nornen- und Jungstraße zu einer kleinen<br />

Oase im Häusermeer des Quartiers werden konnte, verdankt<br />

sie einer Initiative u. a. aus der Nornenstraße 10, die<br />

dafür auch ihren Vorgarten der öffentlichen Nutzung überließ.<br />

Bis heute setzen sich Anwohner und Anwohnerinnen<br />

für die Gestaltung und Pflege der darin befindlichen Beete<br />

ein und tragen so dazu bei, die Lebensqualität im Quartier<br />

zu erhalten und zu verbessern. Herbert und Felicitas hatten<br />

außerdem schon seit einigen Jahren in lockerer Folge<br />

Lesungen in ihrer Straße, Filmabende und Theateraufführungen<br />

sowie Diskussionen in kleinem Kreis in ihrer großen<br />

Küche veranstaltet. 2019 gaben sie unter dem Namen<br />

No10 kultursalon ihren bisherigen Aktivitäten in Küche,<br />

Haus und Straße einen Namen und ein Format und erweiterten<br />

ihr Engagement spürbar:<br />

Mit unserer Initiative möchten wir auf privatem Terrain<br />

ein Forum für eingeladene und eigene kulturelle Angebote bieten.<br />

Wir wollen in Zeiten, in denen vielfach Werte und Errungenschaften<br />

eines aufgeklärten und freien Diskurses bedroht<br />

erscheinen, lustvolle Beschäftigung mit Gedanken, mit ästhetischen<br />

Fragen und gesellschaftlichen Problemen kultivieren.<br />

Damit möchten wir im Rahmen unserer Möglichkeiten ein<br />

Gegengewicht zu Tendenzen von Hetze, Verrohung und Vereinzelung<br />

in unserer Gesellschaft schaffen,“ erzählen Felicitas<br />

Miller und Herbert Gerstberger: „Wir wollen erst gar nicht<br />

versuchen, den Begriff Kultur zu definieren. Es könnte vielmehr<br />

ein Thema für einen Salonabend sein. Unser Ansatz ist<br />

offen, frei nach Christian Morgenstern: ,… weil sein darf, was<br />

sein kann …‘<br />

Bevor die Corona­Pandemie eine Zwangspause verordnete,<br />

fanden Vorträge zu unterschiedlichen Themen<br />

mit anschließender Diskussion statt: eine Reihe „Widerstand<br />

im NS­Regime“, die regelmäßige Runde „Zeit zu denken“<br />

mit dem Wuppertaler Philosophen Andreas Steffens,<br />

aktuelle Buchvorstellungen – darunter „Arbeiten am Widerspruch.<br />

Friedrich Engels zum 200. Geburtstag“ oder<br />

Hans Werner Ottos „Rotter Blüte“ – und mehrere Theateraufführungen<br />

der Eigenproduktion von Kafkas „Bericht<br />

für eine Akademie“.<br />

Die Reihe „Zeitzeugen berichten zum 75. Jahrestag des<br />

Kriegsendes am 8. Mai“ konnte aufgrund der Pandemiebestimmungen<br />

nur virtuell stattfinden. Außerdem gab es regelmäßig<br />

das Physikseminar „Quanten und andere Rätsel“.<br />

Ich hätte nie gedacht, dass mich solche Geheimnisse der<br />

Wissenschaft interessieren könnten, verstand auch höchstens<br />

die Hälfte von Herberts Vorträgen. Meist finden die<br />

Veranstaltungen in der Küche des gastfreundlichen Ehepaares<br />

statt, da passen gut und gern dreißig Personen rein.<br />

Dr. h.c. Hermann Schulz, geb. 1938, war von 1969 bis 2001<br />

Leiter des Peter Hammer Verlages als Nachfolger von<br />

Johannes Rau. Seit 1998 ver öffentlichte er mehr als zwanzig<br />

Romane, Geschichten und Kinderbücher (Carlsen-Verlag,<br />

Aladin-Verlag, Chr. Links Verlag, dtv/hanser u. a.).<br />

Als nächster Titel wird der Roman „Das Mädchen, das mit<br />

Krokodilen spielte“ voraussichtlich 2021 erscheinen.<br />

Felicitas und Herbert vor ihrer kleinen Oase<br />

Foto: privat<br />

Welchen besonderen Ort kennst Du im Quartier?<br />

Schreib uns: info@die-wueste-lebt.org<br />

Seite 7


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> IM FOKUS – WANDEL IN ZEITEN VON CORONA<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Liste der Sehnsucht<br />

Ich möchte etwas über meine Sehnsucht sagen. Sie treibt mein politisches Bewusstsein an und wird<br />

in dieser besonderen Zeit stärker als zuvor. Was ich ersehne, wird an der einen oder anderen Stelle<br />

zu einem Wunsch oder zu einem Plan oder auch – wenn ich selbst nicht direkt tätig werden kann – zu<br />

einer Forderung an andere. Ich mache mir innerlich eine Liste und verschiebe die Punkte täglich, so<br />

dass sie eine Momentaufnahme von heute sind:<br />

Eine politische Momentaufnahme<br />

von Iris Colsman, Geschäftsführerin<br />

der Färberei<br />

Holt die Flüchtlinge aus den Lagern in Griechenland und bringt sie<br />

an sichere Orte!<br />

Das ist kein Wunsch, sondern eine Forderung.<br />

Macht euch klar, was die Corona-Maßnahmen in den ärmeren<br />

Ländern für Auswirkungen haben, und bezieht dieses Wissen in<br />

eure Entscheidungen mit ein!<br />

Dazu lest Arundhati Roy: „Wir können uns entscheiden hindurchzugehen (durch die Krise;<br />

Anm. d. Zitierenden) und dabei die Kadaver unserer Vorurteile und unseres Hasses hinter uns<br />

herzuschleppen, unsere Habgier, unsere Datenbanken und toten Ideen, unsere toten Flüsse<br />

und verqualmten Himmel. Oder wir können leichten Schrittes hindurchgehen, mit wenig<br />

Gepäck, bereit dazu, uns eine andere Welt vorzustellen. Und bereit für die zu kämpfen.“ (am<br />

4. April 2020 auch in der Financial Times erschienen).<br />

Das ist eine Auf-Forderung.<br />

Bitte handelt europäisch!<br />

Wir brauchen Gemeinschaft, keine Trennung nach Nationen! Davon profitieren immer nur<br />

wenige.<br />

Ist das ein frommer Wunsch? Ich finde, er ist bedeutungsvoll.<br />

Eine europäische Lösung für ein Bedingungsloses Grundeinkommen<br />

wäre fantastisch und hätte schon jetzt (auch als nationale Lösung)<br />

viel geholfen.<br />

Das müsste nicht heißen, dass das Grundeinkommen in allen Ländern gleich ausfällt.<br />

Nein – aber es ist eine Lösung vor allem für die Wiedererstarkung einer Wirtschaft, die<br />

das Gemeinwohl im Auge hat. Ein Grundeinkommen ließe allen Menschen die Möglichkeit,<br />

ihre Interessen und Berufungen so zu leben, dass sie (auch) Geld damit verdienen können<br />

(von mir aus auch viel).<br />

Dies ist eine Forderung von mir, die über die momentane Petition im Bundestag hinaus geht;<br />

ein Grundeinkommen für ein halbes Jahr wäre nicht bedingungslos.<br />

Das medizinische System muss wieder in die öffentliche Hand zurück:<br />

Krankenhäuser müssen entprivatisiert und die privaten Krankenkassen<br />

abgeschafft werden!<br />

Pflegekräfte und auch andere systemrelevante Berufe sollten nicht (nur) jetzt eine Bonuszahlung<br />

bekommen und danach wieder ihre alten Gehälter, sondern sie müssen jetzt eine<br />

relevante Lohnerhöhung bekommen, dauerhaft.<br />

Das ist kein Wunsch, keine Forderung, sondern ich finde – nach allem, was im Netz und in der<br />

Presse zu lesen war –, das ist eine Selbstverständlichkeit.<br />

Umwelt und Klima: Wir müssen mit der gleichen Stringenz und<br />

Durchsetzungskraft wie jetzt bei der Bewältigung der Corona Krise<br />

handeln!<br />

Habt ihr euch auch gewundert, wie ungeheuerlich schnell einzelne Auswirkungen des shut<br />

downs in der Umwelt zu bemerken waren? In den letzten Jahren habe ich oft gedacht: Es wird<br />

Jahre dauern, bis die Gewässer wieder sauberer sind, der Himmel blau wie in meiner Kindheit.<br />

Jetzt sieht man Auswirkungen nach kurzer Zeit. Es geht um unsere Gesundheit und die<br />

Gesundheit der Menschen mit Vorerkrankungen, die häufig durch Umweltbelastungen noch<br />

stärker betroffen sind.<br />

Wieso um Himmels Willen können wir der Bedrohung des Klimawandels nicht mit genau so<br />

viel Einsicht und daraus folgenden Handlungen – und genau so schnell – begegnen? Ich finde,<br />

wir müssen!<br />

Fliegen einschränken – ebenfalls ein Umweltthema.<br />

„Schau mal, ein Flugzeug!“ ist ein Satz aus meiner Kindheit. Jetzt nimmt man einzelne Flugzeuge<br />

wieder wahr, sieht die Sterne am Himmel und in Indien den Himalaya am Horizont.<br />

Gefordert werden muss: Kerosin besteuern, Billigairlines bzw. Billigflüge verbieten, den ÖPNV<br />

verbessern und Züge für den „Businessverkehr“ so attraktiv gestalten, dass Inlandsflüge stark<br />

beschränkt werden können.<br />

Kunst und Kultur müssen adäquat geschätzt und bezahlt werden!<br />

Wir brauchen sie wie unser täglich Brot. Künstler:innen sind auch jetzt ungeheuer kreativ, um<br />

uns mit ihren Werken „zu versorgen“. Aber wollen wir alles nur gestreamt haben, jedes Format<br />

im gleichen rechteckigen Format gefangen? Nein! Wir brauchen Kunst von Schlager bis<br />

Wagner auf der Bühne und auf der Straße, von und mit Menschen und in Freiheit.<br />

Dafür müssen wir zahlen, dauerhaft – mein Herzensanliegen.<br />

Zuletzt die Arbeitszeit: eine 30-Stunden-Woche. Für alle!<br />

Viele lernen gerade, dass man einen guten Teil seiner Arbeit auch zu Hause erledigen kann.<br />

Wenn dies nach der Krise Bestand hätte, würde ein großer Teil des Pendlerverkehrs obsolet<br />

werden. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass viele nun weniger Zeit für dieselben Arbeiten<br />

benötigen. Woran das liegt, bleibt zu untersuchen.<br />

Es gibt Berufe, in denen dadurch mehr Menschen arbeiten müssten, z. B. in der Pflege. (Und<br />

wenn gut genug bezahlt würde, ließen sich auch mehr qualifizierte Kräfte finden.)<br />

Ein Plädoyer mit Nachdruck!<br />

Dieser Text ist im ersten Lockdown am 11.4.2020 entstanden.<br />

Nachtrag, Januar 2021:<br />

Nun liegt mir für die zweite <strong>Ausgabe</strong> des <strong>SAND</strong> die „Liste der Sehnsucht“<br />

wieder vor, die ich im ersten Lockdown geschrieben habe.<br />

Ich staune, dass sich meine Position im Laufe der Krise kaum verändert<br />

hat. Also gibt es nicht viel hinzuzufügen außer, dass Umfairteilen<br />

zur Bewältigung der wirtschaftlichen Frage essentiell ist.<br />

So sollten wir im September wählen!<br />

Zum Begriff Systemrelevanz: Er wurde in den letzten Monaten<br />

inflationär behandelt und häufig nur, um finanzielle Ansprüche<br />

zu untermauern. Unsere Gesellschaft ist ein System aus lebenden,<br />

beseelten Wesen, und eigentlich sollten wir sie einen Organismus<br />

nennen. In einem Organismus ist alles mit allem verknüpft. Da<br />

trifft das Bild des Netzes: Wenn an einer Seite gezogen wird, wirkt<br />

sich das auf alles aus.<br />

Wir gehören zusammen – alle!<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

Seite 8


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

IM FOKUS – WANDEL IN ZEITEN VON CORONA<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Bist du noch du?<br />

Der maskierte Mensch<br />

Im April und Mai 2020 lud das Team der<br />

Mobilen Oase zusammen mit Mirela Hadžić<br />

und Max Höllwarth (Foto grafie) Passanten<br />

zum Shooting in ihr Pop-up-Fotostudio ein.<br />

Der Stadtschreiber fragte die Mitwirkenden:<br />

Was verändert die Maske für dich?<br />

Wen schützt du? Wer schützt dich?<br />

Bist du mit Maske noch du?<br />

Seite 9


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> IM FOKUS – WANDEL IN ZEITEN VON CORONA<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Die Welt nach Covid – eine Chance, uns zu entwickeln<br />

Eine Vision von Germán Parula Ferrando. Er ist Designer, Aktivist, Schriftsteller und Großvater<br />

aus Montevideo, Uruguay.<br />

Gib nicht auf<br />

|<br />

Gib nicht auf, denn das ist das Leben,<br />

weiter zu reisen,<br />

deinen Träumen nachzujagen,<br />

die Zeit zu durchbrechen,<br />

die Trümmer wegzuschieben<br />

und den Himmel freizumachen.<br />

|<br />

Weil es den Wein gibt und die Liebe,<br />

das ist gewiss,<br />

weil die Zeit alle Wunden heilt,<br />

die Türen öffnen,<br />

die Schlösser entfernen,<br />

die Mauern verlassen, die dich schützten.<br />

|<br />

Gib nicht auf, gib bitte nicht nach,<br />

auch wenn die Kälte brennt,<br />

auch wenn die Angst beißt,<br />

auch wenn die Sonne untergeht<br />

und der Wind schweigt,<br />

da ist noch Feuer in deiner Seele,<br />

da ist noch Leben in deinen Träumen.<br />

Auszüge aus „No te rindas – Gib nicht auf“<br />

von Mario Benedetti, Dichter aus Uruguay 1920 — 2009.<br />

Seite 10


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

ESSAY<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Wir brauchen neue<br />

Formen des Dialogs!<br />

Ein friedlicher, gerechter und nachhaltiger Wandel ist möglich.<br />

Ein Essay von Burcu Eke-Schneider<br />

Was wir auf Grund der<br />

Corona-Pandemie derzeit<br />

in dieser Welt erleben:<br />

Wir sind nicht in der<br />

Lage, von Angesicht zu<br />

Angesicht zu sprechen,<br />

auf Augenhöhe zu kommunizieren,<br />

uns gegenseitig<br />

zu berühren. Alle Arten<br />

von Dialogfähigkeiten,<br />

die wir als Menschen gelernt<br />

haben, sind bedroht,<br />

dabei kann der Dialog die<br />

Überwindung von Krisen<br />

erleichtern.<br />

Während meiner Ausbildung zur Friedensarbeiterin habe ich<br />

gelernt, wie man den Dialog als integrative Methode einsetzt.<br />

Das beinhaltet nicht nur zu reden, sondern auch zu lernen.<br />

Während meines intensiven, persönlichen Transformationsprozesses<br />

begann ich im Wald zu arbeiten. Mir wurde klar,<br />

dass wir nicht wirklich verstehen, welche weitreichende Bedeutung<br />

unser Verhältnis zur Natur hat, welche Chancen darin<br />

liegen. Das brachte mich dazu, mit mehreren Akteuren das<br />

Praxis-Projekt „Friedensgärten im urbanen Raum“ zu initiieren.<br />

Ziel ist es, einen „naturbasierten Ansatz“ als „Dialog-<br />

Methode“ für eine nachhaltige Zukunft zu nutzen. Der Friedensgarten,<br />

der mit internationalen Friedensdenkern im Garten<br />

der alevitischen Gemeinde entstand, war die Plattform, auf<br />

der wir miteinander arbeiteten, kulturelles Wissen austauschten<br />

und voneinander lernten, während biologisch angebaute<br />

Gemüse und Kräuter wuchsen.<br />

In den städtischen Räumen sollte es mehr solcher Projekte<br />

geben – Menschen, die ihre eigenen Bio-Produkte mit ihren<br />

Freunden oder Nachbarn anbauen, besonders weil nachhaltig<br />

angebaute Bio-Lebensmittel nicht überall einfach erhältlich<br />

sind. So hat zum Beispiel Oberbarmen keinen Biomarkt.<br />

Viele Migrant:innen kaufen in Lebensmittelmärkten aus<br />

ihrer Community ein, die zumeist nicht bio-orientiert sind.<br />

Eine Frau sagte: „Bioläden sehen alle gleich aus und wirken oft<br />

so steril. Das führt dazu, dass wir Einwanderer uns noch unwohler<br />

fühlen als sonst. Zudem kommt mir mein Kopftuch wie<br />

eine weitere Barriere vor. Also baue ich lieber eigene Produkte<br />

in meinem Garten an, wenn die Saison beginnt.“ Ich denke,<br />

——————<br />

dass nicht Sterilität das Problem ist. Bioläden in Deutschland<br />

sind ein Beispiel dafür, dass nicht über den Tellerrand geschaut<br />

wird. Es werden keine kulturtypischen Produkte verkauft, die<br />

als halal oder koscher gekennzeichnet sind, und es fehlen klare<br />

Signale, dass Menschen mit wenig Geld oder interkulturellem<br />

Hintergrund willkommen sind.<br />

Das Beispiel Bioläden zeigt, dass insgesamt ein gesamtgesellschaftlicher<br />

Dialog eröffnet werden müsste, an dem Regierende,<br />

Wissenschaftler:innen, Künstler:innen, Stadtexpert:innen,<br />

Zivilgesellschaft und Menschen aus dem privaten Sektor<br />

und weitere beteiligt sind. Dafür wäre es wichtig, dass die<br />

Medien von den Erfolgen der Dialogmethode berichten, ohne<br />

die Probleme zu verschweigen, die die Communities betreffen.<br />

So entsteht ein Raum, in dem wir die „Natur des Dialogs“<br />

erkunden können und ein gemeinsames Verständnis für den<br />

Begriff „Nachhaltigkeit“ schaffen.<br />

Auch wenn wir uns jetzt nicht treffen können, können<br />

wir doch nachdenken und beim Spazierengehen kreativ sein.<br />

Meine neueste Idee ist, zwei Menschen mit unterschiedlichem<br />

sozialem, kulturellem und wirtschaftlichem Hintergrund,<br />

wie z.B. einen bekannten Künstler und einen Taxifahrer, zu<br />

einem gemeinsamen Spaziergang mit anfangs moderiertem<br />

Gespräch einzuladen. Dabei werden die Unterschiede in den<br />

Kulturen erkundet, um den Prozess der Vertrauensbildung,<br />

Heilung, Inklusion und Anerkennung in Gang zu setzen. Jeder<br />

Spaziergang wird auch eine auf Nachhaltigkeit fokussierte<br />

Frage haben. Dabei ist das ultimative Ziel beider Parteien, eine<br />

Plattform für Zuhören, gegenseitiges Vertrauen und Respekt<br />

zu schaffen, auf der unterschiedliche Ansichten und Ansätze<br />

in einem mediativen Rahmen diskutiert werden können. Am<br />

Ende des Gesprächs soll nicht versucht werden, in allen Punkten<br />

übereinzustimmen, sondern auf kultursensibler Grund lage<br />

ein Verständnis für den anderen zu entwickeln und Empathie<br />

herzustellen.<br />

Während meiner Testspaziergänge mit Menschen unterschiedlicher<br />

Nationen waren gewaltsame Konflikte häufig<br />

Thema. Sie erzählten von tiefen Traumata: z. B. von der Konfrontation<br />

mit Gewalt in ihrer Kindheit durch Genitalverstümmelung.<br />

Oder: von dem Leben allein in einem neuen Land und<br />

davon, wie es ist, alles hinter sich gelassen und soziale Diskriminierung<br />

erfahren zu haben. Der Dialog wird über Nacht<br />

nichts heilen. Aber er kann helfen, Spannungen abzubauen,<br />

eine Reihe von sozialen Reformoptionen zu entwickeln und<br />

der Politik Hinweise für einen Notfallplan zu liefern, um Heilung<br />

zu erreichen und der Utopie einer friedlichen Gemeinschaft<br />

näherzukommen. Ich habe vor, über diese Spaziergänge<br />

jeden Monat einen Artikel in einer Zeitung zu schreiben.<br />

Ich habe den Eindruck, dass bei den üblichen Methoden<br />

der Transformation oft zu wenig Selbstkritik geübt wird. Viele<br />

Projekte schaffen keine emotionale Verbindung zu den Communities,<br />

mit denen sie zu tun haben. Die Leute machen einfach<br />

nur ihren Job. Darüber hinaus behindern oft Traditionen,<br />

Tabus oder die gelebte Realität, dass gefährdete oder marginalisierte<br />

Menschen direkt in Dialogprozesse einbezogen werden.<br />

Dennoch glaube ich – und bin selbst der Beweis dafür<br />

– dass Veränderung möglich ist. Im Dialog können wir Werte<br />

schaffen, um Menschen für friedliche, gerechte und nachhaltige<br />

Gesellschaften zu gewinnen.<br />

Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

Burcu Eke-Schneider ist Friedensarbeiterin. Derzeit<br />

promoviert sie zum Thema „Inklusive Transformation<br />

der internationalen Gemein schaft – Partizipation von<br />

Frauen mit ihrem kulturellen kollektiven Wissen in nachhaltigen<br />

und gerechten Stadtentwicklungsprozessen“.<br />

In ihrer akademischen und praktischen Arbeit verbindet<br />

sie Friedens förderung und Nachhaltigkeit zu einem<br />

neuen Ansatz für inklusive Transformation. Sie arbeitet<br />

an Veränderungen auf der Mikroebene für neue gesellschaftliche<br />

Strukturen. Sie ist UrbanA-Fellow und „Tag<br />

des Guten Lebens“-Beiratsmitglied in Wuppertal.<br />

Seite 11


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> FUTUR 3<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

VIELLEICHT WIRD DIE WELT UNTERG<br />

VIELLEICHT WERDE ICH IM LEBEN G<br />

VIELLEICHT VERSAMMELN SICH FAM<br />

VIELLEICHT WERDE ICH EINE FAMILI<br />

VIELLEICHT WERDE ICH MEINEN TRA<br />

VIELLEICHT GEHT DAS CORONA-VIR<br />

VIELLEICHT KRIEGT JE<strong>DER</strong> SEINEN BE<br />

VIELLEICHT MACHE ICH EINEN GUTE<br />

Vielleicht Gedanken der Klasse 9b<br />

VIELLEICHT GEHEN ALLE HOFFNUNGE<br />

Ewelyn<br />

Vielleicht wird die Welt untergehen.<br />

Vielleicht werde ich im Leben glücklich.<br />

Vielleicht versammeln sich Familienmitglieder wieder.<br />

Vielleicht werde ich eine Familie gründen.<br />

Vielleicht werde ich meinen Traumpartner finden.<br />

Vielleicht geht das Corona­Virus weg.<br />

Vielleicht kriegt jeder seinen Berufswunsch.<br />

VIELLEICHT BLEIBT MAN FÜR IMMER<br />

Vielleicht mache ich einen guten Abschluss.<br />

Vielleicht gehen alle Hoffnungen in Erfüllung.<br />

Vielleicht bleibt man für immer gesund.<br />

Vielleicht werde ich mich verlieben.<br />

Vielleicht werde ich den Führerschein machen.<br />

Vielleicht wird es keinen Rassismus mehr im Leben gehen.<br />

Vielleicht fliege ich in mein Heimatland zurück.<br />

VIELLEICHT WERDE ICH MICH VERLI<br />

Vielleicht kommt ein Weltwunder.<br />

VIELLEICHT WERDE ICH DEN FÜHRER<br />

VIELLEICHT WIRD ES KEINEN RASSIS<br />

Elma<br />

VIELLEICHT FLIEGE ICH IN MEIN HEIM<br />

VIELLEICHT KOMMT EIN WELTWUND<br />

Valentina<br />

Hussein<br />

Seite 12


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

FUTUR 3<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

TERGEHEN.<br />

N GLÜCKLICH.<br />

FAMILIENMITGLIE<strong>DER</strong> WIE<strong>DER</strong>.<br />

MILIE GRÜNDEN.<br />

Gardijan<br />

TRAUMPARTNER FINDEN.<br />

Lathikka<br />

-VIRUS WEG.<br />

N BERUFSWUNSCH.<br />

UTEN ABSCHLUSS.<br />

UNGEN IN ERFÜLLUNG.<br />

Diese Zeitungsseiten erstellten Schüler:innen der<br />

Klasse 9b der Hauptschule Oberbarmen in Kooperation<br />

mit <strong>DER</strong> <strong>SAND</strong>.<br />

In einer Schreib-Werkstatt im Herbst 2020 fassten<br />

acht Jugendliche eigenständig ihre persönlichen Gedanken<br />

und Erlebnisse in Texte, exklusiv für unsere Zeitung.<br />

Die Themen: „Leben im Vielleicht“ und „Wandel<br />

und Erwachsenwerden“.<br />

Begleitet wurden die 15- bis 17-Jährigen von ihrer<br />

Lehrerin Ute Weber-Kebekus und Uwe Schorn<br />

(Schulsozialarbeiter). Über ihre konkrete Vorstellung<br />

von Gestaltung und Umsetzung in das Format<br />

Zeitung tauschten sich die Schüler:innen bei einem<br />

Treffen mit der <strong>SAND</strong>-Redaktion aus. Entstanden<br />

ist eine Wandzeitung mit weiteren Arbeiten, die Ihr<br />

komplett in voller Größe in der Online-<strong>Ausgabe</strong><br />

vom <strong>SAND</strong> fi ndet: www.die-wueste-lebt.org/der-sand/<br />

MER GESUND.<br />

ERLIEBEN.<br />

Marwa<br />

RERSCHEIN MACHEN.<br />

Alexandra<br />

SSISMUS MEHR IM LEBEN GEHEN.<br />

HEIMATLAND ZURÜCK.<br />

UN<strong>DER</strong>.<br />

Alle Fotos: Uwe Schorn<br />

Seite 13


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> ORTSBELICHTUNG — WANDEL<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

AUF<br />

GESCHICHTE UND<br />

Die Textilfabrik und die Familie Bünger Zwischen den 50er und 70er Jahren erlebte das Unternehmen,<br />

ZUKUNFT EINES<br />

ausgelöst durch den Bauboom in Deutschland, einen beispiellosen<br />

Aufschwung, so dass der Neubau von Produktions hallen<br />

GROSSEN NAMENS<br />

Das August Bünger-Haus, in dem wir mit Dr. Achim Bünger,<br />

dem Firmenchef in vierter Generation, verabredet sind, ist an der Max-Planck-Straße nötig wurde. Achim Bünger erzählt:<br />

„1980 wurde ich dann von meinem Vater gebeten, in<br />

AUS OBERBARMEN<br />

kaum als ehemaliges Bürogebäude zu erkennen. Wer nicht<br />

weiß, dass hier Wuppertaler Textilgeschichte geschrieben wurde,<br />

fährt weiter und vermutet Wohnungen hinter der Fassade. ging es uns noch sehr gut. Wir waren bestens in den Stadtteil<br />

das Unter nehmen einzutreten. Bis zum Anfang des Jahrzehnts<br />

Das Begrüßungsritual fällt knapp aus. „Wer sind Sie, Herr integriert. Wichlinghausen und Oberbarmen florierten. Unsere<br />

Bünger?“ – „Tja, wer bin ich?“, grübelt der Manager überrascht.<br />

„Ich bin die vierte Generation, die das Familienunter-<br />

kamen Mutter und Vater in Wechselschicht zur Arbeit, so dass<br />

Mitarbeiter wohnten in der direkten Umgebung. Zum Teil<br />

WILMA SCHRA<strong>DER</strong><br />

DEN<br />

nehmen in den achtziger Jahren übernommen hat.“ Er legt ein ein Kindergarten überflüssig war. Eine sehr enge Verbindung<br />

ERZÄHLT, WIE<br />

paar gedruckte Zeugnisse aus der fast 150-Jährigen Vergangenheit<br />

des Unternehmens auf den Tisch.<br />

die wollten wir auch unbedingt beibehalten. Wir haben sogar<br />

AUS EINER LEGENzu<br />

unserer multikulturellen Belegschaft war uns wichtig und<br />

Begonnen hat alles in Essen. Dort gründete der am Hahnerberg<br />

aufgewachsene August Bünger 1867 einen Großhandel triegebiete auf die grüne Wiese zu verlagern, in den Stadtteil<br />

DÄREN TEXTILFABRIK<br />

gegen den allgemeinen Trend in der Stadtentwicklung, Indus-<br />

mit Schnürsenkeln. 1874 heiratete Bünger die Tochter seines investiert.“<br />

Lieferanten Wandhoff in Wuppertal. Die Stadt übte damals Doch Ende der 70er­Jahre begannen die ersten Probleme.<br />

EIN VORZEIGEals<br />

pulsierendes Zentrum der Textilindustrie einen enormen Die deutsche Band- und Flechtindustrie bekam weltweit Konkurrenz,<br />

so dass durch Währungs­Dumping die Preise ein­<br />

PROJEKT <strong>DER</strong> STADT-<br />

Sog auf die Menschen aus und erlebte einen Boom an Firmengründungen.<br />

Auch Familie Bünger zog es ins Tal zu den brachen und die BOB Textilwerke erste Mitarbeiter entlassen<br />

Schwiegereltern, die in einem Kotten am Norrenberg Barmer musste. 1987 dann die Wende: „Mit dem „Russen­Look“ bei<br />

ENTWICKLUNG<br />

Artikel und Senkel produzierten: „Dort war das so wie fast Mützen und Schuhen und dem von meinem Vater entwickelten<br />

überall in Wuppertal. Vorne stand das Wohnhaus, hinten ein Persianer­Imitat gelang ein spektakuläres Comeback,“ erzählt<br />

WURDE<br />

kleines Fabrikationsgebäude, in dem unsere Ururgroßeltern Bünger. „Wahrscheinlich war die Popularität Gorbat schows<br />

Schnürsenkel geflochten und Bänder gewebt haben“, erzählt für den Modetrend verantwortlich.“ Mit der Öffnung der<br />

SPUREN<br />

Achim Bünger. Doch bald wurden größere Fabrikationsgebäude<br />

bezogen. Das Unternehmen wuchs. 1913 schlossen sich die Gardinenzubehör in der noch existierenden DDR aufbauen<br />

Mauer konnte das Unternehmen zusätzlich einen Vertrieb für<br />

Söhne von Firmengründer August Bünger – Paul und Max – und damit die kurzfristige Erholung stabilisieren. Doch durch<br />

mit Carl August Vorsteher sen. und Paul Vorsteher zusammen. immer mehr billige Asien­Importe brach die sächsische Textilindustrie<br />

zusammen. Als dann 1995 auch der Bauboom im<br />

Die ‚Vereinigten Schnürriemenwerke Vorsteher & Bünger‘<br />

entstanden und entwickelten sich zum Marktführer in der Osten auslief, war mit Gardinen kein Geld mehr zu verdienen.<br />

Herstellung von Schuhzubehör, Gardinen und Kunstleder. Bünger: „Ab da dominierten SB-Märkte wie Ikea den deutschen<br />

Markt.“<br />

Als sichtbares Zeugnis für den Erfolg des Unternehmens wird<br />

1925 das prächtige Verwaltungsgebäude an der Wichlinghauser<br />

Straße eingeweiht. Es erhält den Namen des Firmengründers<br />

und heißt bis heute August-Bünger-Haus.<br />

»Ich kann es nicht ertragen,<br />

——————————————————————————————<br />

wenn Ressourcen brach liegen.«<br />

—————————————————————————————— ——————————————————————————————<br />

Die Schnürriemen-Senkel-Nestel<br />

mit den unzerstörbaren Spitzen<br />

2008 schließlich stand das ehemals weltweit agierende Unter-<br />

——————————————————————————————<br />

nehmen, das zeitweise bis zu 1000 Mitarbeiter beschäftigte,<br />

wegen einer weiteren Verlagerung der Schuhindustrie in Billig­<br />

Wegen der Autarkiebestrebungen Deutschlands zwischen<br />

lohnländer vor seiner ersten Insolvenz. Die konnte noch ein-<br />

den Weltkriegen florierten besonders Unternehmen, die sich<br />

mal abgewendet werden. 2010 beschäftigte das Unternehmen<br />

auf die Verarbeitung von Ersatzstoffen verstanden. Unter der<br />

nach seiner wechselvollen Geschichte immerhin noch bis zu<br />

Marke CAPAMA wurde zunächst Zelluloid von Vorsteher<br />

99 Mitarbeiter. Doch 2012 kam dann das endgültige Aus.<br />

und Bünger erfolgreich eingesetzt. Die Vornamen der drei Achim Bünger glaubt dennoch an eine Zukunft für das<br />

Geschäftsführer CArl, PAul und MAx waren der Namens­<br />

Unternehmen und die Stadt: „Für mich hat Wuppertal so viel<br />

geber für das Material, das zur Herstellung der Schnürriemen-<br />

Potential – und das meiste liegt brach. Das will ich ändern,<br />

Spitzen eingesetzt wurde. Die ‚Schnürriemen­Senkel­Nestel‘<br />

denn ich kann es nicht ertragen, wenn Ressourcen brach lie-<br />

mit den ‚unzerstörbaren Spitzen‘ – wie es in der Werbung<br />

gen“, sagt der Unternehmer. „Meine Idee ist, Jugendlichen<br />

damals hieß – entwickelten sich zum Verkaufsschlager. Be­<br />

die spannende Geschichte Wuppertals lebendig zu erzählen<br />

schichtete Stoffe für Rollos auf Basis eines grundlegenden<br />

und sie damit bei ihrer Identitätsfindung zu unterstützen. Sie<br />

Verfahrenspatentes zur Vliesstoffherstellung ergänzten das<br />

sollen stolz auf ihre Herkunft sein. Das ist einer meiner Gründe,<br />

Sortiment und befeuerten den Erfolg des Unternehmens zu-<br />

warum wir begonnen haben das Gelände des ehemaligen BOB<br />

sätzlich. Doch der 2. Weltkrieg beendete die Zusammenarbeit<br />

Textilwerks neu zu denken“, begeistert sich Achim Bünger.<br />

des erfolgreichen Unternehmertrios abrupt.<br />

„Die fünfte Generation, verkörpert durch meine Tochter Anne,<br />

wird das Unternehmen transformieren. Ein erster Ansatz<br />

——————————————————————————————<br />

dafür ist der Verein BOB KULTURWERK e.V., der zum Bei­<br />

»Wir haben gegen den Trend<br />

spiel das erste Nachbarschaftsfest bei uns auf dem Gelände<br />

in den Stadtteil investiert.«<br />

durchgeführt hat. Außerdem hat Anne damals den Kontakt<br />

——————————————————————————————<br />

zu Montag Stiftung aufgenommen, die nun in Wuppertal den<br />

BOB CAMPUS baut.“ In dieser Kooperation sieht Bünger gute<br />

1947 tritt die dritte Generation Bünger mit Carl, Waldemar<br />

Chancen, seine Idee einer ökologischen und nachbarschaft­<br />

und Juliane als Gesellschafter in die Firma ein. Sie gründen<br />

lichen Weiterentwicklung des Stadtteils auf dem Firmenge-<br />

die ‚August Bünger Bob-Textilwerk K.G.‘. Marktführer wird<br />

lände umzusetzen. „Wir haben immer schon in die Ausbildung<br />

das Unternehmen mit der Eigenentwicklung eines Bleibandes<br />

unserer Mitarbeiter investiert, jetzt sind es die Menschen in<br />

für Gardinen. Während andere Firmen Kügelchen in einem<br />

der Nachbarschaft“, betont er. Tatsächlich ist das Kürzel BOB<br />

Flechtschlauch vertrieben, presste Bünger einen Bleifaden auf<br />

längst zu einem Synonym für Vorzeigeprojekte der Stadtent­<br />

einen Faden, der sehr viel kostengünstiger umflochten werden<br />

wicklung in Wuppertal­Ost geworden. Alles deutet darauf hin,<br />

konnte. Damit setzte sich die August Bünger Bob-Textilwerk<br />

dass der Name Bünger auch in der Zukunft mit der Geschichte<br />

K.G durch und wurde Weltmarktführer in der Herstellung von<br />

Wuppertals verbunden bleibt.<br />

Gardinenbeschwerungen.<br />

Zeichnung August-Bünger-Haus und Fabrik,<br />

aus dem Buch „Stätten deutscher Arbeit“, erschienen um 1936<br />

Seite 14


VON<br />

BOB<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Der BOB Campus und die reale Utopie<br />

Wichlinghauser Straße: Leerstand, Eckkneipen, Call­Shops,<br />

Stehcafés, ohrenbetäubender Autoverkehr: So kenne ich die<br />

Straße, auf der ich jahrelang mehrmals in der Woche zu meinem<br />

Arbeitsplatz ging und die sich in meiner Wahrnehmung<br />

bis heute kaum verändert hat. Schon von weitem zu sehen: das<br />

imposante Viadukt, das seinen roten Bogen über die Straße<br />

spannt. Davor der Eine Kunst Kiosk, früher der Heine Kunst<br />

Kiosk. Heute zeigt er Arbeiten der Mobilen Oase zu Friedrich<br />

Engels. Sie leuchten mit großformatigen Porträts und Zitaten<br />

wie diesem aus dem Schaufenster: „Hier darfst Du kein<br />

Schwächling sein.“ Und dann ein paar Meter weiter das Büro<br />

des BOB Campus, dessen Schaufenster mit 24 Wünschen von<br />

Schülern der Max-Planck-Realschule in Form eines Weihnachtsbaums<br />

beklebt ist. Sie lauten mal pragmatisch „ich wünsche<br />

mir ein ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ für 6 Personen“, mal<br />

idealistisch „ich wünsche mehr Gerechtigkeit auf der Welt“.<br />

Unvermittelte Lebenszeichen dort, wo normalerweise der<br />

Geräuschpegel des Autoverkehrs dominiert und kaum eine<br />

Verständigung möglich ist. Gleich zwei Orte, die sich öffnen<br />

und zu Interaktion auffordern. Sie zeigen, dass zwischen der<br />

Wichlinghauser Str. 29 a und 31 sehr wohl Veränderung im<br />

Gange ist und Ungewöhnliches, ja Größeres für das Stadtviertel<br />

geplant wird.<br />

——————————————————————————————<br />

»Wir lernen alle<br />

miteinander und voneinander.«<br />

——————————————————————————————<br />

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt das Gelände<br />

des ehemaligen BOB (Bünger Oberbarmen) Textilwerks.<br />

Während mich vor ein paar Tagen Dr. Achim Bünger in die<br />

wechselvolle Geschichte seines Familienunternehmens mit-<br />

genommen hat, treffen wir heute Johanna Debik und Robert<br />

Ambrée von BOB Campus. Johanna Debik – Vorständin der<br />

Montag Stiftung Urbane Räume und Geschäftsführerin des<br />

BOB Campus – hat sich bei ihrem ersten Besuch in das Viertel<br />

verliebt und sich stark dafür gemacht, dass die Stiftung hier<br />

ein Projekt realisiert: „Als ich 2017 das erste Mal vom Bahnhof<br />

Oberbarmen zur Wichlinghauser Straße gegangen bin, war ich<br />

begeistert von der Quirligkeit in diesem Stadtteil. Ich dachte<br />

‚endlich im Leben‘“, erzählt sie begeistert, „dann habe ich die<br />

vielen Menschen kennen gelernt, die sich schon seit Jahren<br />

oder gar Jahrzehnten für andere einsetzen und alles geben.<br />

Wie zum Beispiel Bernd Schäckermann, Geschäftsführer des<br />

CVJM Oberbarmen, oder Karla Spennrath, die auf dem Gelände<br />

einen urbanen Garten betreute, oder auch Iris Colsman<br />

von der Färberei, um nur drei Menschen zu nennen, deren<br />

Einsatz und Begeisterung mich auf Anhieb angesteckt haben.“<br />

Besonders das ‚Wir‘ – der gemeinschaftliche Weg mit den im<br />

Stadtteil lebenden Menschen ist es, der sie anspornt und die<br />

Arbeit am BOB Campus prägt. „Wir lernen alle miteinander<br />

und voneinander: Wir von den Menschen, die hier leben, und<br />

sie von uns. BOB Campus ist ein lebendiges Projekt, das sich<br />

immer weiterentwickelt – ein Ort, in dem Zukunft gelebt wird<br />

und der das Potenzial hat, den Stadtteil gemeinschaftlich und<br />

nachhaltig zu verändern.“<br />

——————————————————————————————<br />

Eine Community, die sich mit der Idee<br />

des BOB Campus identifiziert.<br />

——————————————————————————————<br />

auch die BOB Botschafter:innen, die als engagierte Brückenbauer:innen<br />

im Viertel unterwegs sind und für die kulturelle<br />

Vielfalt von Oberbarmen stehen. Ein wichtiger Meilenstein<br />

für die Entwicklung der Community war außerdem das BOB<br />

LAB im Herbst 2019.“ Während einer Woche konnten die<br />

Oberbarmer:innen den Campus in verschiedenen Workshops<br />

und täglich in großer Tafelrunde beim gemeinschaftlichen<br />

Mittagessen im Testbetrieb erleben. Bekocht wurden sie von<br />

den ‚Weißen Herzen‘, einer ehrenamtlichen Initiative von Geflüchteten,<br />

die heute in Wuppertal leben.<br />

——————————————————————————————<br />

Ende 2021 soll der erste Bauabschnitt<br />

abgeschlossen sein.<br />

——————————————————————————————<br />

Das Areal des BOB Campus umfasst den Großteil des Geländes<br />

der ehemaligen Bünger Textilfabrik. Dazu gehören<br />

die historischen Shedhallen, das Produktionsgebäude aus<br />

den 1970er Jahren und die Wohnhäuser im Krühbusch. Das<br />

4500 m² große Freigelände von der Nordbahntrasse bis zum<br />

Zaun an der Wichlinghauser Straße wird in einer Kooperation<br />

mit der Stadt Wuppertal entwickelt und vom Landschaftsarchitekturbüro<br />

atelier le balto zu einem Nachbarschaftspark<br />

mit Anschluss an die Nordbahntrasse umgebaut. Nur das<br />

August-Bünger-Haus an der Wichlinghauser Straße 38 verbleibt<br />

in den Händen der Familie Bünger.<br />

Schon Ende 2021 soll der erste Bauabschnitt, die Sanierung<br />

der beiden gründerzeitlichen Wohngebäude und der<br />

historischen Shedhalle abgeschlossen sein – elf Wohnungen<br />

und sechs Bürolofts können dann gemietet werden. Bis zum<br />

Sommer 2022 wird der Umbau des Fabrikgebäudes aus den<br />

1970er Jahren zusammen mit dem Architekturbüro raumwerk.architekten<br />

realisiert. Auf vier Etagen entstehen eine<br />

Kita des CVJM Oberbarmen, Fachräume für die benachbarte<br />

Max­Planck­Realschule, ein Coworking Space und eine Nachbarschaftsetage<br />

mit mobiler Viertelsküche. Auch der Park<br />

wird 2022 fertig gestellt.<br />

——————————————————————————————<br />

Die Menschen im Stadtteil sollen<br />

den BOB Campus weiterentwickeln.<br />

——————————————————————————————<br />

Und die Zukunft des BOB Campus? „Langfristig sollen die<br />

Menschen im Stadtteil den BOB Campus tragen und weiterentwickeln“,<br />

erläutert Ambrée. „Dazu gehört auch, dass sie<br />

nach und nach mehr Verantwortung übernehmen und zum<br />

Beispiel aushandeln, wie die aus der Vermietung erwirtschafteten<br />

Überschüsse gemeinnützig genutzt werden sollen. Die<br />

Montag Stiftung Urbane Räume wird den Prozess so lange wie<br />

nötig begleiten.“ Johanna Debik weiter: „Ich sehe und erlebe,<br />

dass Wuppertal ein außergewöhnliches Potenzial hat. Stiftungsgründer<br />

Carl Richard Montag hat den BOB Campus auch<br />

schon ein paar Mal besucht und ist begeistert von dem Projekt<br />

und dem gemeinschaftlichen Engagement im Stadtteil.“<br />

Ich bin inzwischen sicher – in Zukunft wird es mir ein<br />

großes Vergnügen sein, die Wichlinghauser Straße hoch zu<br />

gehen. Ich bin neugierig auf die letzte Phase des Bauprozesses<br />

und freue mich besonders auf entspannte Tage im Park mit<br />

seinen Orten zum Verweilen, Plaudern und Gärtnern. Ich bin<br />

gespannt auf das bunte Treiben in der Nachbarschaftsetage<br />

und auf leckere kulinarische Reisen, serviert von der Viertelsküche.<br />

ORTSBELICHTUNG — WANDEL<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Schon der Bauprozess wird von zahlreichen Akteuren aus<br />

dem Stadtteil mitgestaltet. Als Beispiel sei hier die Etage für<br />

die Max-Planck-Realschule erwähnt. Während der Planung<br />

mit den Architekt:innen saßen in zahlreichen Workshops<br />

auch immer Lehrerkräfte und Schülerinnen und Schüler<br />

mit am Tisch. Johanna Debik: „So entsteht eine Community,<br />

die sich mit der Idee des BOB Campus identifiziert und sie<br />

Wirklichkeit werden lässt“. Robert Ambrée: „Dazu gehören<br />

Abbildung: raumwerk.architekten<br />

Seite 15


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> ANSICHTSSACHE<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Ein Kommentar von<br />

Yagare Soucko<br />

Afrique<br />

Aufgeschrieben und übersetzt von<br />

Lamine Soumah<br />

Ich bin 29 Jahre alt und verheiratet, wir haben<br />

vier Kinder, sie sind sieben, fünf und die<br />

Zwillinge zwei Jahre alt. Wir leben in Wuppertal,<br />

genauer gesagt in Wichlinghausen. Davor<br />

lebten wir sehr lange in Libyen, mein Mann<br />

war dort Maschinenkraftfahrer und Vollzeit<br />

berufstätig. Wir sind wegen des Krieges aus<br />

Libyen geflüchtet. Aber wir stammen aus Mali<br />

in Westafrika, als ehemalige französische Kolonie<br />

ist die offizielle Sprache Französisch.<br />

Mir gefällt das Leben in Wichlinghausen,<br />

das kommt mir vertraut vor, so wie in Afrika.<br />

Es gibt viele Menschen aus verschiedenen<br />

Ländern, viele Einkaufsmöglichkeiten in der<br />

Nähe, Ärzte sind leicht zu finden, auch die<br />

Behörden sind nicht weit weg. Trotzdem habe<br />

ich das Gefühl, dass diese vielen Leute nicht<br />

miteinander leben, sondern nebenein ander,<br />

ich meine, es gibt keine wirklich gemeinsamen<br />

Interessen. Ich und meine Familie haben viel<br />

unter der Einsamkeit gelitten. Zum Beispiel<br />

leben wir in einem Mehrfamilien-Hochhaus<br />

mit vielen anderen Familien, also viele Nachbarn,<br />

aber wir haben leider keinen Kontakt,<br />

wir reden nicht miteinander, wenn wir uns<br />

im Flur begegnen, begrüßen wir uns kaum.<br />

Das tut mir sehr leid, vor allem für die Kinder.<br />

Wir kannten das Leben anders, nämlich<br />

ein aktives Sozialleben durch gemeinsame<br />

Aktivitäten wie z.B. Feierlich keiten<br />

oder sich gemeinsam für etwas oder gegen<br />

etwas engagieren, dadurch können die Kinder<br />

einander kennenlernen, Freundschaft schließen.<br />

Mir fällt auf, dass die Kinder in Europa<br />

viel mehr bei den Eltern aufwachsen, es gibt<br />

wenig Kontakt zu anderen, meiner Meinung<br />

nach schränkt das die Kommunikationskompetenz<br />

der Kinder ein.<br />

Zum Glück lernten wir 2020 die Organisation<br />

Dunua e.V. kennen. Wir haben nämlich<br />

viele Behördengänge, eine Menge Briefe zu<br />

bearbeiten, viele schulische Angelegenheiten<br />

für unsere Kinder und für uns selbst zu erledigen,<br />

wir waren mit all dem überfordert. Dunua<br />

hat ganze schnell viel für uns erledigt oder in<br />

die Wege geleitet und die Freizeitangebote<br />

sind gut für die Kinder. Das Schönste daran<br />

ist, dass wir keine Sprachbarriere haben, denn<br />

einige Ehrenamtler und Mitglieder sprechen<br />

die gleiche Sprache wie wir.<br />

Je suis Mme Soucko, j‘ai 29 ans, je suis mariée,<br />

avec mon mari nous avons quatre enfants, ils<br />

ont sept, cinque et des jumeaux de deux ans.<br />

Nous vivons tous ensemble à Wuppertal, plus<br />

précisément à Wichlinghausen. Avant cela,<br />

nous avons vécu en Libye pendant très longtemps,<br />

où mon mari était conducteur d‘engins<br />

lourds et travaillait à plein temps. Nous avons<br />

fui la Libye à cause de la guerre. Nous sommes<br />

originaires du Mali, qui est un pays d‘Afrique<br />

de l‘ouest qui est une ancienne colonie française,<br />

la langue officielle est le français.<br />

J‘aime vraiment<br />

la vie dans le quartier<br />

de Wichlinghausen,<br />

cela me semble familier,<br />

tout comme<br />

en Afrique. Il y a<br />

beaucoup de gens de<br />

différents pays, de<br />

nombreux magasins<br />

à proximité, des médecins<br />

sont faciles à<br />

trouver et les autorités<br />

ne sont pas loin.<br />

Néanmoins, j‘ai aussi<br />

le sentiment que ces<br />

nombreuses personnes<br />

ne vivent pas<br />

ensemble, mais côte<br />

à côte, je veux dire<br />

qu‘il n‘y a pas de réel<br />

intérêt commun. Ma<br />

famille et moi avions<br />

beaucoup souffert<br />

de la solitude. Je vais<br />

donner un exemple,<br />

nous vivons dans un<br />

immeuble avec beau-<br />

Was ich auch gut finde ist mein Sicherheitsgefühl,<br />

ich fühle mich in Sicherheit, ich habe<br />

keine große Angst um meine Kinder, wenn<br />

sie alleine im Garten spielen. Es gab eine Ausnahme<br />

in der Grundschule meines ältesten<br />

Kindes, meiner Tochter, wo sie aufgrund ihrer<br />

Hautfarbe rassistisch ausgegrenzt wurde.<br />

Das hat uns sehr empört, wir als Eltern haben<br />

schnell darauf reagiert und die Klassenlehrerin<br />

angesprochen, die Rückmeldung,<br />

die wir bekamen, war eher enttäuschend. Als<br />

Eltern fragt man sich, wo bin ich gelandet.<br />

Wir wollten mehr tun, das weiterverfolgen,<br />

leider hat die Sprache<br />

uns daran gehindert;<br />

da haben wir uns<br />

wirklich allein gelassen<br />

gefühlt. So viele<br />

Leute aus verschieden<br />

Kulturen um uns<br />

herum, doch keiner<br />

da, um zu unterstützen.<br />

Weil wir unsere<br />

Erfahrungen mit anderen<br />

geteilt haben,<br />

sind wir darüber hinweggekommen.<br />

Ich<br />

hoffe, sowas passiert<br />

nicht nochmal. Das<br />

würde zu dem Bild<br />

von Wichlinghausen<br />

nicht passen.<br />

Ich denke und<br />

wünsche mir, dass es<br />

in diesem Stadtteil<br />

soziale Zentren geben<br />

sollte, wo alle diese<br />

unterschiedlichen<br />

Leute sich treffen,<br />

regelmäßig oder ab<br />

coup de familles,<br />

Yagare Soucko<br />

und zu. Sowas wäre<br />

donc beaucoup de<br />

voisins, mais malheureusement<br />

Foto: Lamine Soumah<br />

großartig für die Kinder,<br />

so wachsen sie<br />

nous n‘avons aucun contact, nous<br />

ne nous parlons pas, quand nous nous rencontrons<br />

dans le couloir, nous nous disons à<br />

peine bonjour. Je suis vraiment désolée, surtout<br />

pour les enfants. Nous connaissions la<br />

vie différemment, c‘est-à-dire une vie sociale<br />

active à travers des activités communes telles<br />

que des célébrations ou s‘engager ensemble<br />

pour ou contre quelque chose, afin que les<br />

enfants puissent se connaître et se faire des<br />

amis. Je remarque que les enfants en Europe<br />

grandissent beaucoup plus entre leurs parents,<br />

il y a peu de contacts avec les autres<br />

miteinander mit gemeinsamen Zielen auf.<br />

Für die Eltern wäre das auch toll, für Junge<br />

und Ältere, für Aktivitäten, für Projekte, für<br />

den Austausch. Es wird ein richtiges buntes<br />

Leben sein. Ich würde mich dabei engagieren,<br />

mich mit meinen Ideen einbringen. Dunua<br />

und die anderen Nachbarschaftsvereine im<br />

Büngerhaus sind ein guter Anfang.<br />

Wir können uns die Zukunft in Wichlinghausen<br />

gut vorstellen. Im Sommer ist es<br />

besonders schön, auf der Trasse haben die<br />

Kinder viel Spaß und man trifft manchmal<br />

Bekannte.<br />

et, à mon avis, cela limite en quelque sorte<br />

les capacités de communication des enfants.<br />

Heureusement, nous avons connu l‘organisation<br />

Dunua e.V. en 2020. Nous avons beaucoup<br />

de rendez-vous au niveau des autorités,<br />

beaucoup de lettres à traiter, beaucoup de<br />

questions scolaires à régler pour nos enfants<br />

et pour nous-mêmes, nous étions en quelque<br />

sorte dépassés par toutes ces choses. Dunua<br />

a fait ou initié beaucoup pour nous et offre<br />

en même temps des possibilités de loisirs pour<br />

les enfants. La meilleure chose à ce sujet est<br />

que nous n‘avons pas de barrière linguistique,<br />

car certains bénévoles et membres parlent la<br />

même langue que nous.<br />

Ce que j‘aime aussi c‘est mon sentiment<br />

de sécurité, je me sens en sécurité, je n‘ai pas<br />

très peur pour mes enfants quand ils jouent<br />

seuls dans le jardin. Sauf à une exception à<br />

l‘école primaire de mon premier enfant, ma<br />

fille, où elle a été racialement marginalisée<br />

à cause de sa couleur de peau. Nous avons<br />

été très indignés, comme tous parents nous<br />

avions réagi rapidement et contacté l‘enseignante<br />

de la classe, le retour que nous avions<br />

reçus étaient plutôt décevant. Comme parents<br />

ont se demande dans quel monde on se<br />

trouve. Nous voulions en faire plus, approfondir<br />

la question, malheureusement la langue<br />

nous en a empêché, à ce moment-là, nous<br />

nous sommes vraiment sentis seuls. Autour<br />

de nous, il y a tellement de gens de cultures<br />

différentes, mais personne pour nous soutenir.<br />

Nous avons pu nous en sortir grâce aux<br />

échanges d‘expériences avec d‘autres, j‘espère<br />

que quelque chose comme ça ne se produira<br />

plus. Cela ne correspondrait pas à l‘image de<br />

Wichlinghausen.<br />

Je pense et souhaite qu‘il y ait des centres<br />

sociaux dans cette partie de la ville où toutes<br />

ces différentes personnes se rencontrent régulièrement<br />

ou de temps en temps. Ce serait<br />

formidable pour les enfants, car ils grandiront<br />

avec certains objectifs communs. Ce<br />

serait aussi formidable pour les parents, petits<br />

et grands pour des activités, des projets,<br />

des échanges. Ce sera une vraie vie colorée.<br />

Je m‘impliquerais, j‘apporterais mes propres<br />

idées. Dunua et d‘autres associations voisines<br />

dans Büngerhaus sont un bon début.<br />

On imagine bien notre l‘avenir à Wichlinghausen,<br />

en été c‘est particulièrement beau,<br />

les enfants s‘amusent beaucoup sur le parcours<br />

et on rencontre parfois des amis.<br />

Wichlinghausen<br />

Seite 16


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

TRANSIT<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Wie aus einer<br />

anderen Welt<br />

Die Künstlerin Piet Biniek provoziert mit Stille<br />

Freitag, 29. September 2020, Oberbarmen,<br />

Brücke am Berliner Platz, 16.00 Uhr:<br />

Zum ersten Mal seit dem Lockdown im März<br />

sind die Fridays for Future wieder auf der<br />

Straße. Vor meinem Büro: Polizei, Blaulicht,<br />

eine große Gruppe – jeder einzelne mit gehörigem<br />

Abstand zu den anderen – zieht minutenlang<br />

vorbei. Menschen mit Transparenten,<br />

einige mit Megaphon skandieren: „Wir sind<br />

hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft<br />

klaut.“ Der zehnminütige Autostillstand vor<br />

meinem Fenster passt perfekt zu der Einladung,<br />

der ich gerade folgen will: nämlich die<br />

Performance ‚Still Stehen‘ von Piet Biniek zu<br />

begleiten.<br />

Am Berliner Platz angekommen: Transitraum<br />

– geschäftige Menschen und viel Multikulti.<br />

Sie laufen zum Bus, kommen aus dem<br />

Bahnhof, gehen Richtung Innenstadt. Alle<br />

sind auf dem Weg. Nur eine Person nicht: eine<br />

Frau in grün geblümtem Kleid. Ein milchiger<br />

Regenmantel schützt vor dem aufziehenden<br />

Regen. Sie steht mitten auf der Brücke, über<br />

ihr schwarz, das hoch aufragende Gerüst<br />

der Schwebebahn, still, weil das Wuppertaler<br />

Wahrzeichen für ein Jahr wegen Reparaturmaßnahmen<br />

außer Betrieb gesetzt worden<br />

ist. Unter ihr die leise murmelnde und plätschernde<br />

Wupper, die sich kaum gegen<br />

den Stadtlärm durchsetzen kann und trotz<br />

grauem Himmel reflektierend glitzert. Piet<br />

steht einfach nur da, hat die Augen geschlossen.<br />

Vor ihr eine glänzend grüne Reisetasche<br />

und eine kleine rote Zeituhr. Biniek steht hier<br />

als Mensch, der nicht vorgibt, keiner zu sein –<br />

wie so mancher, der als vermeintliche Statue in<br />

den Einkaufszonen dieser Welt versucht, vorbeilaufende<br />

Konsumenten zu beeindrucken<br />

und auf diesem Wege ein paar Euros dazu<br />

zu verdienen. Passanten mittleren Alters<br />

schauen auf, die meisten nur kurz, und gehen<br />

gedankenverloren weiter. Jugendliche<br />

rempeln sich an, bleiben stehen, während<br />

drei Halbstarke direkt auf die im Vergleich<br />

zur Schwebebahn klein wirkende Figur zusteuern,<br />

doch kurz vor dem Zusammenstoß<br />

einen Bogen machen. Eine Frau bepackt mit<br />

Einkaufstasche und Rucksack kommt neugierig<br />

näher, spricht sie an: „Geht es Ihnen gut?“<br />

von Wilma Schrader<br />

Steht still: Piet Biniek unter Wuppertals Wahrzeichen<br />

Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

Biniek zeigt keine Regung. Die Frau verlässt<br />

das Bild langsam, ein wenig ratlos. Ich frage<br />

sie: „Haben Sie sich Sorgen gemacht?“ – „Ich<br />

habe gedacht, das sieht komisch aus. Ich habe<br />

gedacht, da stimmt was nicht, und ich frage<br />

einfach mal. Es kann ja immer was sein. Weil<br />

ich keine Antwort bekommen habe, habe ich<br />

gedacht, dass sie meditiert, oder wie man das<br />

sonst so nennt. In sechs Minuten geht mein<br />

Bus. Es ist gut, dass alles in Ordnung ist.“ Sie<br />

lächelt kurz und hetzt zum Bus. Eine Mutter<br />

mit Tochter, beide tragen traditionelle afrikanische<br />

Kleidung, gehen mehrfach Hand in<br />

Hand vorbei: „Never seen something like this.<br />

This is a strong German woman“, meint die<br />

Mutter, während die Kleine die Füße verdreht<br />

und schüchtern auf den Boden schaut.<br />

Jemand steht mitten in der Stadt, ohne<br />

ersichtlichen Grund, um wahrzunehmen, um<br />

hinzuhören, sich zu konzentrieren auf den<br />

eigenen Körper, das Atmen, entgegen den<br />

Regeln, entgegen dem zugedachten Nutzen<br />

des Ortes. Das fällt auf und ist eine Provokation.<br />

Eine die fasziniert, abstößt, aber auch<br />

dazu animiert, mitzutun. So hat sich ein älteres<br />

Paar gegenüber aufgestellt, kommt zur Ruhe,<br />

der Blick geht irgendwann ins Leere, beide<br />

schließen die Augen, der meditative Zustand<br />

springt über. Ich verbinde mich mit den nunmehr<br />

drei Meditierenden. Die einzelnen Geräusche<br />

separieren sich. Unten das Murmeln<br />

der Wupper, parallel der von links nach rechts<br />

vorbeizischende ICE, Wortfetzen aus der<br />

Ferne: „Ey, Alder verpiss dich“, in einiger Ferne<br />

der Schriftzug „Bauhaus“, daneben strebt der<br />

Gaskessel statisch nach oben und strahlt Stabilität<br />

und Ruhe aus. Während ich jemanden<br />

beim Stillstehen beobachte, wird die Welt<br />

plastischer, die Wahrnehmung geschärft, das<br />

Erleben des Moments vertieft. Und das mitten<br />

in der Stadt. Es entsteht ein Ort, der mir guttut.<br />

Ich atme innerlich auf.<br />

Piet öffnet die Augen, der kleine Wecker<br />

klingelt. Als käme sie aus einer anderen Welt,<br />

schaut sie den Menschen hinterher, dreht<br />

sich, hüpft und schüttelt sich: „Oh, ich habe<br />

gedacht der Wecker geht falsch, und ich brauche<br />

einen neuen.“ Sie wundert sich, dass die<br />

eine Stunde so schnell vergangen ist.<br />

Die Performance ‚Still Stehen II‘ fand aus Anlass des „Tags der Träume“ statt; eingeladen hatte die Färberei.<br />

Piet Biniek ist freie Künstlerin und Tanz-Therapeutin.<br />

Sie wird ‚Still Stehen‘ nur an Orten stattfinden lassen, an denen sie Freunde hat oder an die Menschen sie einladen.<br />

Jede Performance wird einen besonderen Anlass oder eine besondere Widmung haben.<br />

Seite 17


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> DIE WÜSTE LEBT<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Neuer Bezirksbürgermeister<br />

Burkhard Rücker<br />

Dunua e.V.<br />

Kunstraum33<br />

Foto: privat<br />

Foto: Wolf Sondermann<br />

Die Bezirksvertretung (BV) Oberbarmen wird bis September 2025 von<br />

Burkhard Rücker (CDU) geführt. Er beerbt die langjährige Chefin der BV,<br />

Christel Simon (CDU), die 21 Jahre lang den Posten innehatte. Rücker zur<br />

Seite steht die stellvertretende Bürgermeisterin Heike Reese (SPD). Burkhard<br />

Rücker wurde 1947 geboren und lebt seit 50 Jahren in Wichlinghausen;<br />

er ist seit 2009 Mitglied in der Bezirksvertretung und seit 2003 in der CDU.<br />

In einem Interview mit der WZ lehnt er das Image Oberbarmens als Problemviertel<br />

ab. Vielmehr sieht er „ein Viertel mit einer vielfältigen kulturellen<br />

Landschaft, mit vielen Nationen, die friedlich zusammenleben“, wünscht<br />

sich jedoch ein „stärkeres Miteinander im Stadtteil“ und hofft dafür auf<br />

eine gute Zusammenarbeit mit den im Quartier tätigen Institutionen und<br />

Vereinen.<br />

Dunua bedeutet einfach „die Welt“, und so ist es nicht verwunderlich, dass<br />

der Verein Dunua e.V. für Weltoffenheit steht. Das strahlt auch der erste<br />

Vorsitzende Lamine Soumah aus, wenn er über die Arbeit dieser Migrantenselbstorganisation<br />

redet: „Bei uns ist jede:r willkommen, auch wenn der<br />

Verein vorrangig eine Begegnungs- und Anlaufstelle für Menschen afrikanischer<br />

Herkunft ist. Aber auch für jene, die sich für die afrikanische Kultur<br />

interessieren.“ Der Verein hat sich die Aufgabe gestellt, das Leben seiner<br />

Mitglieder durch Vermittlung von Hilfestellungen und Hintergrundwissen<br />

positiv zu verändern; sein vielfältiges Angebot soll dazu beitragen, nicht<br />

nebeneinander, sondern miteinander zu wirken und zu leben. „Wir bieten<br />

Kurse und Freizeitangebote an, helfen durch Vermittlung von Kontakten,<br />

leisten Unterstützung bei Behördengängen und vieles mehr.“ Dunua e.V.<br />

möchte auch zu einem vielfältigeren Afrikabild beitragen, „denn Afrika hat<br />

mehr zu bieten als Kriege und Krankheiten oder die Exotik der Naturparks“,<br />

sagt Soumah.<br />

Der Verein wurde im Juli 2019 offiziell gegründet. Als eine anerkannte<br />

Anlaufstelle wird Dunua durch das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge<br />

und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen und des Kommunalen<br />

Integrationszentrums der Stadt Wuppertal gefördert. Sein Sitz ist im alten<br />

Büngerhaus auf der Etage „Verein(t) in Wuppertal“.<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

Kunterbunte Haushaltsschwämme, gepresste Trompetenbaumblüten, getrocknete<br />

Teebeutel, leere Waschmittelflaschen: Es gibt wahrscheinlich kein<br />

Material, das Gisela Kettner nicht inspiriert und das nicht von ihr bemalt,<br />

bearbeitet, auseinandergenommen, zusammengefügt und zu neuem Leben<br />

erweckt wird. Die gelernte Textildesignerin, Künstlerin und Kulturarbeiterin<br />

gibt diese Leidenschaft und Erfahrung an Menschen weiter, die sich ebenfalls<br />

künstlerisch ausdrücken möchten. In ihrem Atelier in der Hermannstraße<br />

33 können Erwachsene und Kinder unabhängig von der eigenen Biographie<br />

und individuellen Voraussetzungen unter Anleitung experimentieren<br />

und ihr künstlerisches Potential erforschen. An Tagen des offenen Ateliers,<br />

zu Kursen oder nach individueller Absprache ist hier jede:r willkommen.<br />

Erreichbar ist der neue Bezirksbürgermeister gut über Mail:<br />

buruecker@web.de und auch telefonisch unter 0202 52 61 51.<br />

Dunua e.V., Wichlinghauser Str. 38, 42277 Wuppertal,<br />

dunuaev@gmail.com, facebook: dunua ev<br />

Kunstraum 33, Hermannstraße 33, 42277 Wuppertal, 0171 64 23 168<br />

Buchtipp<br />

Vom sächsischen Hof<br />

zur Textilhochburg —<br />

Eine Geschichte<br />

Wichlinghausens von<br />

Heiko Schnickmann<br />

Heiko Schnickmann Foto: privat<br />

Rediroma-Verlag, € 14,95<br />

Dass Wichmaringhusen zum ersten Mal 1384 erwähnt wird, von aver barmen<br />

aber erst ab 1500 herum zu lesen ist, und dass die Tütersburg nach Peter<br />

Tüter benannt ist, der 1597 den Hof Krauthäuschen oberhalb vom Wichlinghauser<br />

Markt kaufte: auch davon erzählt der Historiker Heiko Schnickmann<br />

auf 288 Seiten dieses gut recherchierten Buches. Er beleuchtet die Entwicklung<br />

des Stadtteils akribisch, aber auch mit Anekdoten gewürzt, von der<br />

Entstehung bis hin zur Gegenwart: Wie alt ist Wichlinghausen? Wo liegen<br />

seine Grenzen? Welche Entwicklung hat es durchgemacht?<br />

Der erste Teil des Buches handelt von Verwicklungen und Problemen der<br />

mittelalterlichen Geschichte. Der zweite Abschnitt widmet sich der Bedeutung<br />

der Garnnahrung und endet mit der Gründung der Kirchengemeinde<br />

1744. Im dritten Teil schließlich beschäftigt sich Schnickmann mit dem 19.<br />

und 20. Jahrhundert und endet im Jahr 2015 mit der Wiedereröffnung der<br />

Wichlinghauser Kirche als Begegnungszentrum. Lesenswert!<br />

Judith Steinhard, Stadtteilbibliothek Wichlinghausen,<br />

Wichlinghauser Str. 103, 42277 Wuppertal<br />

Seite 18


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

DIE WÜSTE LEBT<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Ost/West Integrationszentrum<br />

e.V.<br />

Mobile Kinder- und<br />

Jugendarbeit in<br />

Oberbarmen<br />

VierZwoZwo<br />

Quartierbüro<br />

Foto: Jörg Stölting<br />

Foto: privat<br />

Im Januar 2018 gründete sich der gemeinnützige Verein Ost/West Integrationszentrum.<br />

Rachid Zineddine und Katia Calo engagieren sich für Geflüchtete<br />

und Migrant:innen und helfen ihnen, sich in die deutsche Kultur<br />

einzuleben. „Wir begleiten sie, stehen ihnen zur Seite und sind damit eine<br />

große Stütze für ihre Integration. Wir zeigen ihnen, dass ein Miteinander<br />

unterschiedlicher Kulturen der erste Grundstein für ein friedliches Leben in<br />

Deutschland ist.“ Der Verein bemüht sich insbesondere um die Integration<br />

und gleichberechtigte Partizipation von Frauen. Viele Einzelaktivitäten und<br />

Kurse werden gut angenommen: Sprachkurse für Frauen, Hausaufgabenbetreuung,<br />

Sport für Frauen (Zumba) und Männer (Futsal) u.a. Großen Wert<br />

legt das Ost/West Integrationszentrum auf die Zusammenarbeit mit den<br />

anderen Vereinen auf der Etage Verein(t) in Wuppertal im Bünger-Haus.<br />

So gibt es eine Textilwerkstatt in Zusammenarbeit mit dem Dunua e.V. und<br />

dem IB-JMD im Quartier. In der Coronakrise nähten die Teilnehmerinnen<br />

Alltagsmasken, die später u. a. in Altenheimen und im Viertel verteilt wurden<br />

und mit Begeisterung entgegengenommen wurden.<br />

Foto: Daniel Book<br />

Das Gemeinschaftsprojekt der Stadt Wuppertal und der Diakonie Wuppertal<br />

existiert seit Januar 2019. Inga Rösner, Madleine Gabriel und Daniel<br />

Book sind als Streetworker im Stadtteil unterwegs und bieten vor Ort niederschwellige<br />

Hilfe für Kinder und Jugendliche an.<br />

Die Streetworker werden bei vielfältigsten Problemen tätig: Von der<br />

Wiederbeschaffung eines verlorenen Handys, der Hilfe bei Hausaufgaben<br />

oder der Arbeitsplatzsuche bis hin zur Unterstützung bei Wohnungslosigkeit<br />

oder dem Wiedereinstieg in das Hilfesystem.<br />

„Alles, was uns die Kinder und Jugendlichen erzählen, bleibt erstmal bei<br />

uns. Wir gehen nur in Kontakt mit anderen Stellen, wenn das von dem jeweiligen<br />

Kind oder Jugendlichen gewünscht ist. Das heißt, wir leisten keine<br />

Hilfe ‚von oben herab‘, sondern begleiten die Kinder und Jugendlichen auf<br />

Augenhöhe“, so Daniel Book.<br />

Inzwischen hat das Team der Streetworker auch mehrere Projekte im<br />

Gemeinwesen realisiert und unterstützt die Jugendlichen dabei, die Umgebung<br />

des Parkourplatzes in Wuppertal neu zu gestalten.<br />

Stefanie Rolf, Lukas Meier und Andreas Röhrig: Das sind die drei hinter<br />

Vierzwozwo, dem Quartiersbüro für Oberbarmen und Wichlinghausen. „Wir<br />

bringen Menschen zusammen, entwickeln gemeinsam Ideen und machen<br />

unser Quartier noch schöner! Als Quartiersbüro sind wir für alle Menschen<br />

und Vereine in Oberbarmen und Wichlinghausen da. Wenn Sie eine Idee<br />

für ein Projekt haben, dann kommen Sie zu uns. Wir beraten und unterstützen<br />

Sie dabei“, sagt Lukas Meier mit seinem einladenden Lachen. Ein<br />

Beispiel ist Daniel Flasches Projekt: Er wurde beraten, wie man möglichst<br />

alle Wichlinghauser:innen auf das Wiki projizieren kann: #Wirsindwichlinghausen.<br />

Rolfs, Meiers und Röhrigs Aufgaben sind vielfältig: Sie beziehen die<br />

Menschen im Stadtteil bei verschiedenen Anlässen wie Stadtteilkonferenzen<br />

und Baumaßnahmen ein. Dabei sind alle Ideen aus dem Stadtteil willkommen.<br />

Das Quartierbüro Vierzwozwo in Trägerschaft der Diakonie Wuppertal<br />

arbeitet eng mit der Stadt Wuppertal zusammen.<br />

Weitere Infos auf www.vierzwozwo.de<br />

Das Team ist zu erreichen:<br />

Stefanie Rolf: 0163 56 56 206, Andreas Röhrig: 0163 56 56 217,<br />

Lukas Meier: 01590 466 2 466.<br />

Bünger-Haus, Etage Verein(t) in Wuppertal,<br />

Wichlinghauser Str. 38, 42277 Wuppertal<br />

0202 51 49 20 85, ostwest-wuppertal@hotmail.com<br />

www.owiz.online<br />

Inga Rösner: 0176 16 97 45 09, iroesner@diakonie-wuppertal.de<br />

Daniel Book: 0157 80 62 30 37, dbook@diakonie-wuppertal.de<br />

Vor-Ort-Sprechstunden:<br />

Di: 10 — 12 Uhr im Berliner Plätzchen. Berliner Straße 173, 42277 W.<br />

Do: 15 — 17 Uhr im Stadtteilzentrum Wiki, Westkotter Str. 194, 42277 W.<br />

Kulturzentrum Immanuel<br />

Der „Förderverein Kulturzentrum Immanuel e.V.“ betreibt seit 1984 die<br />

Immanuelskirche sowie das anliegende Obendiek-Haus. Hier finden Veranstaltung<br />

jeglicher Art statt, unter anderem hochwertige Konzerte, Theateraufführungen,<br />

Ausstellungen, aber auch Tagungen, Hochzeiten und Geburtstagsfeiern.<br />

Die Immanuelskirche ist die Heimstätte der überregio nal<br />

bekannten Kantorei Barmen-Gemarke. Zudem ist das Kulturzentrum in<br />

Fachkreisen ein beliebter Aufnahmeort – bis zu 30 CD-Aufzeichnungen<br />

werden pro Jahr realisiert.<br />

2020 startete unter anderem mit Chorwerk Ruhr, dem Salonorchester<br />

Wuppertal und dem Duo „Graceland“ mit Coversongs von Simon and<br />

Garfunkel. Im März und April wurde es still. Allerdings nur bis das erste<br />

Streamingkonzert mit dem Sinfonieorchester Wuppertal im Mai live übertragen<br />

wurde und Stößels Komödie über die Sommerzeit hinweg eine Spielstätte<br />

in dem großzügigen Veranstaltungssaal fand. Darüber hinaus konnte<br />

Salon Knallenfalls sein Debüt mit Till Reiners realisieren, und Martin Stürtzer<br />

setzte von Oktober an seine Festivalreihe „Phobos XI“ fort.<br />

Das Kulturzentrum ist sich sicher, dass auch dieses Jahr, trotz Corona und<br />

alledem, wieder viele Gäste die Veranstaltungsräume mit Leben füllen werden.<br />

Das ganze Angebot und Veranstaltungsprogramm unter:<br />

www.immanuelskirche.de<br />

Normannenstr. 24 / Sternstraße 73 in 42275 Wuppertal<br />

Ansprechpartnerin:<br />

Janine Ballein, 0202 64 19 69, info@immanuelskirche.de<br />

Willst Du Deine Initiative vorstellen?<br />

Schreib uns: info@die-wueste-lebt.org<br />

Wiki Stadtteilzentrum<br />

Das Wiki Stadtteilzentrum bietet eine große Palette vielfältiger Programme<br />

und Projekte rund um die Themen Begegnung, Vernetzung, Kinder- und<br />

Jugendarbeit, Kultur und Freizeit.<br />

Im Wiki gibt es eine Hausaufgabenbetreuung mit Sport- und Freizeitangeboten,<br />

an denen man auch ohne Anmeldung teilnehmen kann. Regelmäßige<br />

Tanzveranstaltungen, Chormusik, die Wichlinghauser Vorträge mit<br />

spannenden Themen und die Hausmusikabende runden das Programm ab.<br />

Das Wiki ist in Wichlinghausen gut vernetzt und an verschiedenen Projekten<br />

in Kooperationen beteiligt. So hat die Kooperation mit dem Rockprojekt<br />

Wuppertal „Musikwerkstatt Wichlinghausen/Oberbarmen“ viele Jugendliche<br />

für Musik begeistert.<br />

Vereine, Familien und Einzelpersonen können die schönen Räumlichkeiten<br />

für Feiern, Vereinssitzungen etc. gegen eine geringe Gebühr nutzen. Im<br />

Elterncafé und in anderen Cafébereichen treffen sich wöchentlich Eltern<br />

mit ihren Kindern im Kleinkindalter zu Kaffee und Austausch. Das beliebte<br />

„Café Wiki“ findet mehrfach in der Woche statt. Hier gibt es Kaffee und<br />

Kuchen, Spiele-Nachmittage und viele Begegnungsmöglichkeiten.<br />

Das komplette Angebot des Stadtteilzentrums gibt es unter:<br />

www.kjf-wuppertal.de/diakonie-im-stadtteil/wiki<br />

Westkotter Str. 198, 42277 Wuppertal<br />

Leitung: Eric Stöcker, 0202 976 482 88,<br />

estoecker@diakonie-wuppertal.de<br />

Seite 19


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> VIA PAPIER<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Unendlich viele Anschlussmöglichkeiten<br />

zum kostenlosen Ausdrucken: www.viapapier.eu<br />

Die Via Papier ist eine Straße aus Papier. Wenn Du möchtest, verbindet sie Oberbarmen und Wichlinghausen mit ganz Europa.<br />

Auf www.viapapier.eu kannst Du mehr solcher Papierstraßen ausdrucken. Du legst sie aneinander und bestimmst, wohin es geht.<br />

Die Via Papier mag bis nach London führen oder einfach zu dem Haus Deiner besten Freundin. Und wenn Du Lust hast, malst Du sie bunt.<br />

Nicht nur diese Straße ist aus Papier, aus Papier ist alles Mögliche. Vielleicht ist deshalb mit Papier alles möglich? Vielleicht probierst Du es mal aus?<br />

Wie sieht dein Straßenstück aus?<br />

Schick ein Foto: info@die-wueste-lebt.org<br />

Wir zeigen es im Sandkasten online:<br />

www.die-wueste-lebt.org/category/dersand<br />

Seite 20


Über Arbeit<br />

B E R I C H T E A U S D E M W U P P E R T A L E<br />

2 0 0<br />

EXTRABLATT!<br />

J A H R E<br />

E N G E L S<br />

WER NICHT<br />

KÄMPFT,<br />

IST DUMM<br />

Foto: Simon Veith<br />

ZWEI STUNDEN BETTELN FÜR EINE HAND-<br />

TASCHE •• WEM GEHÖRT MAN? ••<br />

ICH HAB MEIN GEHALT SELBSTSTÄNDIG<br />

ERHÖHT •• GLÜCK DURCH GELD ••<br />

DU DARFST KEIN SCHWÄCHLING SEIN<br />

•• GLEICHHEIT, DAS IST UTOPIE ••<br />

<strong>DER</strong> EINZELHANDEL WILL ZWEI HÄNDE


Arbeit<br />

200 Jahre Engels:<br />

Ein Extrablatt<br />

Foto:<br />

Daniela Raimund<br />

Freizeit<br />

Leben<br />

Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels in Barmen geboren. Erst war er Kind, dann<br />

wurde er Unternehmer, Publizist, Philosoph, Revolutionär. Sein Name steht für eine<br />

politische Vision, für einen wachen Blick auf die Menschen und ihre Lebenswirklichkeit.<br />

In vielem ist Engels seiner Zeit voraus, etwa in Sachen Umwelt. Ihm ist ganz klar,<br />

dass wir die Natur nicht beherrschen können, „sondern dass wir mit Fleisch und Blut<br />

und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und dass unsre ganze Herrschaft<br />

über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen<br />

und richtig anwenden zu können.“ Wir wissen heute, wie recht er hat.<br />

Engels’ großes Thema aber ist die Arbeit. Und das, was die einen aus der Arbeit der anderen machen:<br />

Profi t. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet das Ausbeutung und unermessliches Leid. „Es herrscht ein<br />

schreckliches Elend unter den niedern Klassen, besonders den Fabrikarbeitern im Wuppertal“, schreibt Engels in<br />

seinen berühmten Briefen aus dem Wuppertale: „syphilitische und Brustkrankheiten herrschen in einer Ausdehnung,<br />

die kaum zu glauben ist; in Elberfeld allein werden von 2500 schulpfl ichtigen Kindern 1200 dem Unterricht<br />

entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle<br />

sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, den er einem Kinde gibt.“ Diagnose: Ausbeutung.<br />

Kinderarbeit, Verwahrlosung und Elend: Engels beobachtet, wie eine industriell gefertigte Billigdroge den<br />

Markt überschwemmt: „Ganz besonders in Elberfeld-Barmen verfi el die Masse der arbeitenden Bevölkerung<br />

dem Trunk. Scharenweise Arm in Arm, die ganze Breite der Straße einnehmend, schwankten von 9 Uhr abends<br />

an die ‚besoffenen Männer‘ unter disharmonischem Gejohle von Wirtshaus zu Wirtshaus und endlich nach<br />

Hause.“ Unbildung, Chancenlosigkeit, Verzweifl ung bestimmen das Leben der Arbeiterfamilien.<br />

Was hat sich verändert seit damals? Was würde Engels heute in Wuppertal, insbesondere an einem<br />

Hans-Joachim<br />

Neubauer<br />

sogenannten Brennpunkt wie Oberbarmen sehen? Zu seiner Zeit gab es kein Harz IV und keine „soziale Marktwirtschaft“,<br />

aber ist das Leben jetzt einfacher? Womit kämpfen die Menschen heute? Wir haben uns mit Engels<br />

auf den Weg gemacht. Seit Monaten tauchen wir als Mobile Oase mit unseren künstlerischen Aktionen im<br />

öffentlichen Raum auf, mit unserem Pop-up-Studio, mit Interventionen in den Alltag, mit Kameras und Mikrofonen.<br />

Wir haben die Menschen gefragt, wie das ist: Arbeit, Freizeit, Leben in Wuppertal, speziell im Osten. Die<br />

Wuppertalerinnen und Wuppertaler haben uns erzählt, wie es ihnen mit oder ohne Arbeit geht, wie sie ihre Freizeit<br />

gestalten, wie sie leben mit oder ohne Handicap. Sie, die Expertinnen und Experten des Alltags, berichten, was sie<br />

bewegt, was ihnen fehlt, worauf sie hoffen, wovon sie träumen.<br />

Wir glauben, dass sich von Engels einiges lernen lässt: genau hinzuschauen, nach den Ursachen zu fragen,<br />

über Lösungen nachzudenken. In unseren Berichten aus dem Wuppertale geht es auch um neue Wege, mit der<br />

veränderten Arbeitswelt umzugehen. „Die Einstellung zur Arbeit hat sich total gewandelt“, erklärt eine unserer<br />

Expertinnen die neue Ökonomie: „Es geht darum, dass Arbeit im Grunde nicht existiert, oder die, die arbeiten,<br />

sind im Dunkeln.“<br />

Sollte Engels an seinem Jubeltag in Oberbarmen auftauchen, drüben am Berliner Platz oder gleich um die<br />

Ecke beim Tedi, er wäre mitten in einem Weltort. Die Globalisierung prägt uns alle. Unser Extrablatt zeigt: Arbeit<br />

ist mehr als klassische Erwerbsarbeit. Sie umfasst auch Ehrenamt und künstlerische Arbeit, Kindererziehung und<br />

häusliche Arbeit, Arbeitssuche und die Arbeit der Leistungsempfänger, Körperarbeit und Arbeit an sich selbst.<br />

Einfach nur normal im Leben zu stehen kann Arbeit sein. Friedrich Engels würde vermutlich staunen. Vielleicht<br />

käme er ja auf einen Kaffee rüber zu einer unserer Expertinnen. „Und, wie geht’s Ihnen so, gnädige Frau?“,<br />

würde er fragen. „Stabil, Alter“, würde sie wohl sagen, und natürlich: „Herzlichen Glückwunsch, Fritz!“<br />

Rainer Lucas: Die zwei Gesichter der Arbeit<br />

Friedrich Engels — Was hat der Philosoph und Revolutionär uns heute zu sagen?<br />

Friedrich Engels, dessen 200. Geburtstag am 28.11.2020 in Wuppertal gefeiert<br />

wird, hat Zeit seines Lebens den krassen Gegensatz zwischen Arm und Reich in der<br />

kapitalistischen Gesellschaft kritisiert. Er hat vor allem zusammen mit Karl Marx<br />

hinterfragt, wie der Reichtum der Kapitalisten zustande kommt. Und hierauf auch<br />

eine Antwort gefunden. Der Kapitalist als Eigentümer der Fabrik und der Produktionsmittel<br />

(Maschinen, Gebäude) zahlt den Arbeiter:innen nicht das aus, was sie an<br />

Wert durch ihre Arbeit geschaffen haben. So entsteht fortwährend ein Mehrwert,<br />

Motor für die weitere Kapitalbildung der Eigentümer. Dem gegenüber steht der einfache<br />

Lohnarbeiter, der nur über seine Arbeitskraft verfügt und dessen Einkommen<br />

abhängig ist von der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Friedrich Engels hat die Anfänge der industriellen Arbeit und die damit verbundenen Lebensverhältnisse<br />

vor allem in Manchester beobachtet, wohin sein Vater ihn 1842 zwecks Ausbildung zum Kaufmann schickte.<br />

Nach diesem Aufenthalt verfasste er im Winter 1844/45 in Barmen eine kritische Sozialreportage mit dem Titel<br />

„Zur Lage der arbeitenden Klasse in England“. Dieses 350 Seiten starke Werk sollte den deutschen Arbeiter:innen<br />

vor Augen führen, was ihnen bevorstünde, wenn die Industrialisierung sich auch in Deutschland allgemein<br />

durchsetzen würde: Arbeitstage von 12 bis 14 Stunden, Lohndrückerei, Entlassungen bei Absatzkrisen, Verstümmelung<br />

der Arbeitenden durch die Maschinen, Kinderarbeit. Gleichzeitig lebten vor allem die emigrierten<br />

irischen Arbeiter:innen in engen, dunklen Wohnungen, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen. Hierzu Friedrich<br />

Engels: „Die Abtritte sind hier so rar, dass sie entweder alle Tage voll werden oder den meisten zu entlegen sind.<br />

Wie sollten sich die Leute waschen, wo sie nur das schmutzige Irkwasser (Fluss in Manchester) nahebei haben<br />

und Wasserleitungen und Pumpen erst in honetten (feinen) Stadtteilen vorkommen!“<br />

Natürlich haben sich die Arbeits- und Lebensverhältnisse in den entwickelten Industrieländern in den<br />

letzten 200 Jahren verbessert. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Bildungsmöglichkeiten auch für Arbeiterkinder,<br />

Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Verbot der Kinderarbeit, Arbeitsschutz, Regelarbeitszeit und sozialer Wohnungsbau.<br />

Aber sobald eine ökonomische Krise auftaucht, verschärfen sich die sozialen Gegensätze wieder.<br />

Das ist auch in Oberbarmen zu spüren, einem Wuppertaler Stadtteil mit hohem Arbeitslosenanteil und<br />

vielen Menschen, die mit Hartz IV über die Runden kommen müssen. Wie in Manchester um 1840 leben hier viele<br />

zugezogene Menschen, nicht aus Irland, sondern aus den Ländern des Südens, die sich mit unsicheren und<br />

schlechten Jobs durch Leben schlagen müssen oder arbeitslos sind. Über diese Arbeits- und Lebensverhältnisse<br />

in Oberbarmen wissen wir viel zu wenig. Ein neuer Engels müsste auftauchen und darüber berichten, dass Armut<br />

und menschenunwürdige Lebensverhältnisse auch im „reichen“ Deutschland nicht verschwunden sind.<br />

Gibt es zur Arbeitslosigkeit Alternativen? Sicherlich, wenn man Engels Gedanken der „Menschwerdung“<br />

durch Arbeit weiterdenkt. Denn Arbeit ist nicht nur Lohnarbeit, sondern auch selbstständiges und kreatives Gestalten.<br />

Die Menschen in Oberbarmen haben viele Fähigkeiten und Talente, die entdeckt und entwickelt werden<br />

können. Sinnvolle Arbeit, die das eigene Leben bereichert, ist möglich. Friedrich Engels hatte in seiner Zeit die<br />

Werkstätten und Fabrikanlagen von Robert Owen (Frühsozialist) vor Augen, in denen Arbeit, Ausbildung und<br />

Gemeinschaftskultur aufs Engste verbunden waren. Solch einen Ort braucht auch Oberbarmen, einen Ort mit<br />

Werkbänken und Werkzeugen, die alle Menschen nutzen können, die etwas Sinnvolles und Schönes herstellen<br />

oder alte Sachen reparieren wollen. Ein „Haus der Eigenarbeit“, angesiedelt in einer der vielen leerstehenden<br />

Fabriken, das würde auch helfen, den sozialen Zusammenhalt im Stadtteil zu stärken. Ein solches Haus wäre<br />

eher Friedrichs Heimat als das vornehme Bürgerhaus im Engelsgarten.<br />

Rainer Lucas, Ökonom, Autor und ehemaliger Kurator von Engels 2020, lebt seit 4 Jahren im wilden Wichlinghausen. Zum Nachlesen: Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Edition Holzinger, 2017. www.hei-muenchen.de/was-ist-das-hei/das-modellprojekt-haus-der-eigenarbeit


Arbeit heute – Arbeit gestern<br />

Der BOB CAMPUS als Labor einer neuen Ökonomie<br />

Auf dem Gelände des ehemaligen Bünger Textilwerks an der Wichlinghauser Straße entsteht derzeit der<br />

BOB CAMPUS. Wo früher Schnürsenkel, Gardinenbänder und andere Textilien hergestellt wurden, wird in<br />

Zukunft gelernt, gewohnt, gearbeitet, gespielt, gegärtnert, geteilt – an einem Ort, der allen offen steht.<br />

www.bob-campus.de<br />

Foto: Simon Veith<br />

Heute arbeiten 15 bis 20 Leute in einer AGH-Maßnahme auf der Baustelle, einer sogenannten Arbeitsgelegenheit<br />

des Jobcenters und der GBA (Gesellschaft für berufl iche Aus- und Weiterbildung). Einer von ihnen<br />

ist Mohamad (links). Der 48-jährige Syrer ist seit gut einem Jahr in dem Projekt. „Das Mauern habe ich hier<br />

gelernt“, sagt der gelernte Dachdecker, „das mache ich gerne, mit Wasserwaage und so, immer schön gerade.“<br />

Andreas, einer seiner Kollegen (Foto: siehe Titelseite) ist erst seit einem halben Jahr in der Maßnahme. Er hat<br />

Maler-Lackierer gelernt und später noch eine Ausbildung als Heilerziehungspfl eger gemacht. Auf dem ersten<br />

Arbeitsmarkt ist es schwer, mit 50 Jahren eine feste Stelle zu fi nden. „Mit 50 bist du als Handwerker schon alt“,<br />

sagt er: „Mal sehen, wie die Zeiten jetzt sind. Wenn ich hier weg bin, werde ich wieder verwaltet.“<br />

Grillfleisch für 2,20<br />

Ausschnitt aus „Friedrich und Karl“<br />

Von Michael Schumacher, Autor und Poetry-Slamer,<br />

Gewinner des Engels-Poetry-Slams in der börse;<br />

gebürtiger Wuppertaler, lebt in Xanten.<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

Brigitte<br />

Ich hab 47 einhalb Jahre hier in der Fabrik gearbeitet. Ich<br />

hab mit 14 Jahren angefangen. Ich wollte gerne Kinderkrankenschwester<br />

werden. Mein Vater sagte, du heiratest<br />

sowieso, du brauchst keine Ausbildung. Ich war überwiegend<br />

in der Bandweberei. Ich hab ein paar Jahre Kettenschererei<br />

gemacht und später dann als Springer. Im Sommer war ’ne<br />

Bullenhitze hier drin. Es war sehr laut, wir mussten Gehörschutz<br />

tragen. Wenn wir uns mal unterhalten wollten, meistens<br />

Zeichensprache.<br />

Ich wollte die 50 noch vollmachen. Aber dann kam die<br />

Insolvenz. Da haben wir unser Weihnachtsgeld gestundet,<br />

wir wurden gar nicht gefragt. Es hieß, wir kriegen das Ende<br />

des Jahres aufs Konto. Haben wir bis heute nicht gekriegt.<br />

Und eine kleine Abfindung sollten wir auch kriegen. Haben<br />

wir auch nicht gekriegt.<br />

Bernhard<br />

Ich war 44 Jahre hier beschäftigt. Ich hab bei Vorwerk gelernt,<br />

als Teppichweber. 1968 fing ich hier bei der Firma<br />

Bünger an als Häkler und arbeitete, bis hier zugemacht<br />

wurde, September 2012. Ich hab mich bis zum Schichtmeister<br />

hochgearbeitet. Ich hab die Arbeit gern gemacht, weil, die<br />

Chefs waren nicht hochnäsig. Wir haben schöne Feste gefeiert.<br />

Die ließen sich nicht lumpen. Da wurde Geld geschaufelt.<br />

Jetzt bin ich bei BOB CAMPUS eine Art Hausmeister.<br />

Die Firma Bünger war in Europa bekannt. Hier waren<br />

ca. 200 Leute, viele Griechen, Italiener, Jugoslawen, Spanier.<br />

80 Prozent Frauen, Männer waren ja teurer. Frauen leisten<br />

oft viel mehr, das war manchmal ungerecht. Wir mussten<br />

auch zum Ohrenarzt, 1 bis 2 mal im Jahr, und aus Düsseldorf<br />

kamen Ärzte zur Untersuchung, ob Blei im Blut war. Es<br />

wurde alles getan, dass die Leute gesund waren.<br />

Es roch nach Textilgarn, Wolle. Wir hatten 1000 Flechtmaschinen,<br />

machten Schnürsenkel und die Bleibänder<br />

für Fischernetze in Kanada und für Gardinen. Wir hatten<br />

Strickmaschinen, oben standen 99 Webautomaten. Wir<br />

waren vielseitig, haben auch P-Fix gemacht, Kunstpersianer,<br />

Pinkelflaschen für Krankenhäuser, Hundeleinen auch.<br />

Bei Gardinenband waren wir Marktführer. Wir hatten<br />

1972 als erste die Müller-Maschinen. Wofür andere Wochen<br />

brauchten, das machten wir in zwei Stunden. So zwangen<br />

wir die andern in die Knie. Ab 1995 fing der Motor an zu<br />

stottern. Auf einmal kamen Jalousien in Mode. Die Firma<br />

schwenkte um, betrieb Handel mit dem Chinesen, gute Idee,<br />

aber zum Schluss funktionierte es nicht mehr.<br />

Wir machten Gurte für die Autoindustrie und für das<br />

Militär, für Fallschirme, Zelte, Schutzwesten. Wir haben<br />

alles probiert.<br />

„Was sagst du nun, verehrter Freund,<br />

hat sich’s gelohnt, der große Kampf,<br />

den wir vor langer Zeit begonnen?<br />

Ist all das nicht schon längst zerronnen,<br />

wie Sand durch uns’re Hand geglitten,<br />

das Kapital – fährt weiter Schlitten<br />

und lullt Millionen wattig ein,<br />

garniert Betrug mit güld’nem Schein,<br />

und suggeriert dem kleinen Mann,<br />

dass er den Reichtum mehren kann<br />

durch seiner Hände emsig Tun.<br />

Spendier’n wir ihm ein Billighuhn,<br />

und Grillfl eisch für zwei Euro zwanzich,<br />

dann halten sie das Maul.<br />

Man kann sich<br />

mit Konsum betäuben,<br />

mit Düften den Gestank bestäuben<br />

und sich in seine Blase lullen.“<br />

„Ist‘s wirklich das, was die Leut’ wollen?“<br />

„So scheint’s, mein lieber Friederich.“<br />

„Das ist doch wirklich widerlich!<br />

Ich komm zurück!“<br />

„Tu’s lieber nicht.<br />

Lass uns hier oben glücklich bleiben,<br />

und seh’n von hier das Menschheitstreiben.“<br />

•<br />

LESETIPPS<br />

Arbeiten am Widerspruch – Friedrich Engels zum 200. Geburtstag<br />

Rainer Lucas, Reinhard Pfriem, Hans-Dieter Westhoff (eds.);<br />

Metropolis Verlag, 2020; ISBN 978-3-7316-1400-5<br />

Friedrich Engels – Vorgestern, Gestern, Morgen?<br />

Engelsessay-Wettbewerb der börse<br />

Texte der Gewinner:innen des Jury-Preises; www.dieboerse-wtal.de/engelsessay<br />

IMPRESSUM<br />

Extrablatt zu<br />

Friedrich Engels 200. Geburtstag<br />

ÜBER ARBEIT<br />

Berichte aus dem Wuppertale<br />

November 2020<br />

Ein Projekt der Mobilen Oase in Kooperation<br />

mit <strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> – Zeitung für Oberbarmen /<br />

Wichlinghausen und den Rest der Stadt<br />

HERAUSGEBER:INNEN<br />

Roland Brus (V.i.s.d.P.), Hans-Joachim<br />

Neubauer, Daniela Raimund<br />

REDAKTION<br />

Roland Brus, Hans-Joachim Neubauer,<br />

Daniela Raimund, Uwe Schorn, Uwe Peter<br />

© alle Rechte bei den Autoren<br />

TRANSKRIPTIONEN<br />

Marvin Malek, Jeanne Brumme, Adnan<br />

Dalgic, Monika Sur<br />

GESTALTUNG<br />

Robbers & Guns, www.robbers.eu<br />

ALLTAGSEXPERT:INNEN<br />

GESTALTUNG<br />

Alina, Jens Oliver Anke, Robbers, Bernhard, www.robbers.eu<br />

Brigitte, Carola,<br />

Daniel, Georg, Idi, Isabell, Jürgen, Nadine,<br />

Paul,<br />

ANSCHRIFT<br />

Piro, Ralf, Rainer, Rick, Sandro, Sonja,<br />

Tarek,<br />

VERLAG<br />

Timo<br />

UND<br />

uva.<br />

REDAKTION<br />

Mobile Oase, Roland Brus<br />

DANK Schusterstr.1 AN – 42105 Wuppertal<br />

Iris Colsman, Färberei e.V.; Team BOB CAMPUS;<br />

Team<br />

DRUCK<br />

die börse; Uwe Wunderlich und Nicole<br />

Mallmann,<br />

Rheinische<br />

Wuppertaler<br />

DruckMedien<br />

Tafel;<br />

GmbH<br />

Hans-Dieter<br />

Westhoff;<br />

Zülpicher Straße<br />

Rainer Lucas;<br />

10 – 40196<br />

Anne<br />

Düsseldorf<br />

Bünger, Uwe<br />

Brackwehr AUFLAGE – herzlichen Dank an alle unsere<br />

Interviewpartner:innen!<br />

8.000 Stück<br />

GESAMTRAHMEN<br />

ALLTAGSEXPERT:INNEN<br />

Das Alina, Extrablatt Anke, Bernhard, ist ein Projekt Brigitte, im Carola, Rahmen des<br />

interdisziplinären Daniel, Georg, Idi, Kunstprojektes Isabell, Jürgen, Nadine,<br />

Paul, Piro, Ralf, Rainer, Rick, Sandro, Sonja,<br />

»...<br />

Tarek,<br />

aus<br />

Timo<br />

dem<br />

uva.<br />

Wuppertale«<br />

Arbeit, Freizeit, Leben<br />

DANK AN<br />

www.ausdemwuppertale.de<br />

Iris Colsman, Färberei e.V.; Team BOB CAMPUS;<br />

Produktionsleitung:<br />

Team die börse; Uwe Wunderlich und Nicole<br />

Anni Mallmann, Roolf Wuppertaler Tafel; Hans-Dieter<br />

Westhoff; Rainer Lucas; Anne Bünger, Uwe<br />

Brackwehr – herzlichen Dank an alle unsere<br />

Interviewpartner:innen!<br />

DURCHFÜHRUNG<br />

GESAMTRAHMEN<br />

Die Das Mobile Extrablatt Oase ist ein ist ein Projekt Kunstprojekt im Rahmen des<br />

im interdisziplinären öffentlichen Raum Kunstprojektes und kooperiert mit<br />

Die Wüste lebt!<br />

»... aus dem Wuppertale«<br />

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www.ausdemwuppertale.de<br />

www.die-wueste-lebt.org<br />

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Anni Roolf<br />

die_wueste_lebt<br />

DURCHFÜHRUNG<br />

Die Mobile Oase ist ein Kunstprojekt<br />

im öffentlichen Raum und kooperiert mit<br />

Die Wüste lebt!<br />

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Mit Unterstützung von:<br />

Durchgeführt von:


Alltagsexpert:innen aus Wuppertals<br />

Osten berichten über das<br />

Leben in der neuen Ökonomie<br />

Piro<br />

Sonja<br />

Ich bin Pressenarbeiterin. Für die Autoindustrie. Seit 17<br />

Jahren fest. Und ein Jahr Leiharbeiter.<br />

Ich hätte lieber weiter zur Schule gehen sollen, das<br />

rate ich jedem. Du legst nur die Teile in die Maschine ein.<br />

Entweder schmeißt du die selber raus, oder die werden von<br />

der Luft rausgeschmissen, oder du schmeißt sie in die Kisten.<br />

Ich verdiene 12 Euro die Stunde, also gar nix. Gerecht?<br />

Nein. Man versucht, wenn’s geht, zu sparen. Wenn ich Überstunden<br />

mache, geht alles für die Kleidung drauf und für<br />

Elektrogeräte. Wenn’s geht, gönne ich mir mal einen Urlaub.<br />

Aber sonst? Da bleibt zum Monatsende nicht viel übrig, 50<br />

bis 100 Euro. Da wir seit einem Jahr kaum Überstunden<br />

machen, muss ich leider jetzt noch einen Nebenjob suchen.<br />

Wem gehört man? Eigentlich keinem. Du gehörst dir<br />

nur selber. Okay, wenn du eine Wohnung hast, gehörst du<br />

dem Vermieter. Bei der Arbeit, wenn du eine Arbeit haben<br />

willst, gehörst du dem Chef. Aber als Mensch würde ich<br />

sagen, du gehörst dir selber, dir alleine.<br />

Daniel<br />

Ich geh noch zur Schule. Ich find, das ist nicht direkt Arbeit. in die Stadt gehe, frag ich, dann bekomm ich ein bisschen<br />

Arbeit ist, dass man die Disziplin haben muss, sich zuhause Geld. Ich überlege nicht, woran ich in Zukunft arbeiten soll.<br />

hinzusetzen und zu lernen für die Schule.<br />

Ich leb eher so in den Tag hinein. Wenn ich nachdenke, in 20,<br />

Ich helfe oft bei meiner Mutter bei der Arbeit aus. Die 30 Jahren, da hab ich schon ein bisschen Angst, nicht Angst,<br />

hat hier einen Marktstand. Wenn wir zuhause arbeiten, auf der Straße zu enden. Sondern Angst, was mit unserer<br />

helfe ich den LKW auszuladen. Ich mach das freiwillig, ich Welt sein wird. Auch der Klimawandel. Ob man dann noch<br />

mach alles für meine Mutter. Ich helfe gerne, dafür will ich so leben kann wie jetzt. Ob Luft dann noch ein freies Gut sein<br />

gar kein Geld. Taschengeld bekomm ich nicht. Wenn ich wird, oder ob man dann Luft zum Atmen sogar kaufen muss.<br />

Ich bin seit 19 Monaten in Deutschland. Ich komme aus Albanien, habe<br />

Wirtschaft in Griechenland studiert. Ich habe einen Minijob und besuche<br />

einen Deutschkurs, Niveau B2.<br />

Ich arbeite beim DPD, lade Pakete in LKWs. Zweimal pro Woche,<br />

sechs Stunden. Die Arbeit ist sehr anstrengend, die Pakete sind schwer, und<br />

die Maschine bringt sie schnell zu uns, sehr schnell. Alle beklagen sich.<br />

Ich verdiene monatlich 450 Euro. Das Jobcenter hilft mir bei der<br />

Krankenkasse, bei meinem Deutschkurs und der Wohnung. Ich bezahle<br />

auch keine Gebühren für das Fernsehen.<br />

Ich will mein Zeugnis anerkennen lassen und suche einen neuen Job.<br />

In meiner Freizeit lese ich über Geschichte oder fahre mit dem Bus durch<br />

die Stadt. Ich hab Engels’ Haus besucht. Engels war sehr hoch mit seiner<br />

Idee, aber nicht alle sind wie er. Er war reich, er wollte, dass alle gleich<br />

sind. Gleichheit, das ist Utopie, das kommt niemals in der Realität. Weil<br />

jeder anders ist. Der ist besser, der schlimmer, der fleißiger, der faul.<br />

Ich war bei der Post, 1975 fing die Lehre an, ein<br />

paar Jahre später schied ich aus. Ich hab mein<br />

Gehalt selbstständig erhöht. Bei einem Zahlendreher<br />

flog ich auf. 384 Fälle, Unterschlagung in<br />

Tateinheit mit Verwahrungsbruch. Ich hab Pakete<br />

zugestellt, hab die einkassiert, aber nicht alle an<br />

der Postkasse abgeführt. Damals ging das. Ich war<br />

22, und die Staatsbeamten-Karriere war aus.<br />

Später kaufte ich mit ungedeckten Schecks<br />

ein, wo die Reichen einkaufen. Früher hattest du<br />

auch als Vorbestrafter eine Chance, irgendwo<br />

anzufangen. Später war ich auf’m Bau, freiberuflich,<br />

selbstständig sagt man ja so schön. Zuletzt<br />

saß ich auf’m Bock. Irgendwann ging gar nichts<br />

mehr.<br />

Meine Erwerbsunfähigkeitsrente ist beantragt,<br />

auf Grund meines Vorlebens, weil ich suchtkrank<br />

bin. Ich bin im Beirat der Menschen mit<br />

Behinderungen aktiv und in der Sucht-Selbsthilfe.<br />

Früher zog ich alles rein, was knallte. Seit 10<br />

Jahren nicht mehr. Aber ich geb keine Garantie.<br />

Paul


Alina<br />

Seit dem Unfall bin ich auf Arbeitssuche. Der Einzelhandel möchte mich<br />

nicht mehr nehmen, weil meine Tätigkeit sehr eingeschränkt ist, mit der<br />

einen Hand. Ich bin Floristin. Das kann ich nicht mehr ausüben. Weil, ich<br />

brauch halt zum Binden von Sträußen zwei Hände.<br />

Ich würde jeden Job machen, wenn ich aus dieser Rente wegkommen<br />

würde, weil, ich bekomme 600 Euro Rente und davon muss ich 300<br />

Euro Miete bezahlen. Dann muss ich noch 70 Euro Strom bezahlen. Das<br />

heißt, ich hab 230 Euro zum Leben im Monat. Das ist geringer als ein<br />

Hartz-IV-Empfänger. Geht das überhaupt?<br />

Wenn ich mir was kaufen möchte, geh ich betteln, drüben am Marktplatz.<br />

Ich habe die Handtasche, die hat acht Euro gekostet, aus’m Second-<br />

Hand-Laden, aber dafür musste ich halt zwei Stunden betteln gehen.<br />

Ich bin freiberuflicher Dozent und Mediengestalter.<br />

Ein Teil ist Marketing, SEO, Suchmaschinenoptimierung.<br />

My Business, was man da alles<br />

mittlerweile so machen kann, aber auch klassische<br />

Werbung, Poster gestalten, Flyer gestalten,<br />

Einladungen. Ich arbeite derzeit ganz wenig.<br />

Bedingt durch den Lockdown sind viele Aufträge<br />

weggebrochen. Im Prinzip kann ich sagen, ohne<br />

die Corona-Soforthilfe hätte ich das nicht überlebt.<br />

Existenzangst hab ich nicht. Aber nur weil<br />

ich auch die sozialen Sicherungssysteme kenne.<br />

Ganz einfach: Wenn alle Stricke reißen, gehe ich<br />

zum Jobcenter.<br />

Das Schönste, was ich mache, ist die Doziererei.<br />

Was Besseres gibt es nicht.<br />

Rainer<br />

Ich bin Hausmeister in der Färberei, seit sieben Jahren. Ich bin einfach überall.<br />

Mit einem Kollegen zusammen. Ich gucke, dass alles in Ordnung bleibt, dass<br />

alles leuchtet, dass nix kaputt geht. Und draußen den Platz sauber halten.<br />

Ich habe einmal in der Schreinerei ein Praktikum gemacht, dann in der<br />

Autowerkstatt. Da wäre ich beinahe genommen worden. Auch im Rewe, wenn<br />

der nicht zugemacht hätte. Aber ich habe nicht aufgegeben, ich habe weiter<br />

gekämpft, habe dann doch noch was gefunden. Jeder der nicht kämpft, ist<br />

dumm. Sonst stecken sie dich irgendwo rein, wo du gar nicht rein willst, in<br />

irgend so eine Werkstatt. Hier darfst du kein Schwächling sein in der Arbeit.<br />

Mir geht’s gut. Und die anderen müssen sich da selbst drum kümmern.<br />

Hört sich zwar hart an, aber ich kann den anderen nicht helfen, das ist das Problem.<br />

Ich kann doch nur mir helfen.<br />

Rick<br />

Timo und Idi<br />

We are working for a Greek company. We do works with Rigips.<br />

Here in Germany we are working for two month. We<br />

stay in Oberbarmen, four people together, in two rooms.<br />

We get twelve Euro per hour. I don’t think it’s enough.<br />

Sometimes I say to him: “It is better if we go to Greece.” We<br />

have a better life there, in Rhodos. Family, weather, friends,<br />

beach, everything. I worked in tourism before, as a waiter.<br />

Now, with Corona there is no tourism.<br />

I live in immigration for 25 years now. Originally we<br />

come from Albania. In Greece, we have been working for<br />

20 years. They never give us a European passport. The poor<br />

have to stay poor. Because the rich have to stay rich.


Ich bin 86, und mit dem Theaterspielen, das hat schon in meinem Schuldienst<br />

begonnen. Ich habe Architektur studiert, Referendarzeit gemacht<br />

für berufsbildende Schulen, Bautechnik, und dann an der Fachoberschule<br />

für Gestaltung Kommunikation und Gestaltung unterrichtet. Vor einer<br />

Schulklasse muss man schauspielern. Wer das nicht beherrscht, kann kein<br />

Lehrer sein. Das hat sehr viel mit Arbeit zu tun, mit innerer Arbeit.<br />

Ich habe Termine, montags Theatergruppe, am Dienstag Tai Chi-<br />

Gruppe, mittwochs Tanzchor, am Donnerstag Tanztraining und am Freitag<br />

Straßenchor. Am Samstag und Sonntag habe ich frei.<br />

Anke<br />

Die Einstellung zur Arbeit hat sich total gewandelt. Es geht darum, dass<br />

Arbeit im Grunde nicht existiert, oder die, die arbeiten, sind im Dunkeln.<br />

Die gehen zwar in die Fabriken, aber sie werden nicht wahrgenommen. Sie<br />

werden vielleicht wahrgenommen, wenn sie auf die Straße gehen, wenn<br />

mal darüber gesprochen wird. Aber die Arbeit eines Arbeitenden, die wird<br />

nicht wahrgenommen.<br />

Mein Job im Libanon war Verkäufer. Waschmaschinen und Fernseher, Laptops,<br />

Handys. Ich hab an einem Stand Nüsse verkauft, auch im Supermarkt<br />

gearbeitet, als Taxifahrer und auf Baustellen. Nach Wuppertal kam ich kurz<br />

nach Silvester 2016.<br />

Nach vier Jahren durfte ich endlich arbeiten. Bei E/D/E in Schwelm.<br />

Ich habe vier Tage gearbeitet, dann wurde mir wegen Corona gekündigt. Ich<br />

habe für vier Tage 210 Euro ungefähr verdient. Pro Tag 52 Euro. Weil, die<br />

Leihfirma kriegt immer auch von den Menschen Geld.<br />

Ich bin jetzt bei der Fahrschule angemeldet: Viele Leute suchen jemanden<br />

mit Führerschein. Ich frage immer die Leute, ob sie Arbeit haben. Hier, da.<br />

Das ist ständig in meinen Kopf, das Arbeitengehen.<br />

Tarek<br />

Ich bin 71, habe 43 Jahre gearbeitet als Taxifahrer, auch als selbstständiger<br />

Taxenunternehmer. Ich gehöre zu den Altersarmen, Rente 280 Euro, das wird<br />

aufgestockt von der Grundsicherung. Mein Ziel war immer, nicht arbeiten zu<br />

müssen. Das Taxifahren kommt dem sehr nah, weil man eigentlich nichts<br />

anderes tut, als auf Fahrgäste zu warten. Ich habe nur noch Freizeit, ich<br />

muss nicht mehr arbeiten. Ich mache nichts. Ich langweile mich gerne.<br />

Das ist der beste Zustand, den man erreichen kann. Ich war 15 mal in<br />

Pattaya in Thailand, als Sextourist.<br />

Wenn ich eine Frau kennengelernt habe, habe ich mich immer verliebt in<br />

die. Das ist für mich nicht Prostitution. Ich habe die immer wie eine Freundin<br />

erlebt. Ich kriege Glücksgefühle für Geld. Das hätte ich nie für möglich<br />

gehalten. Klar, sie spielt mir das vor, aber für mein Glücklichsein spielt das<br />

keine Rolle. Das ist eine Beziehung auf Lohnbasis. Die Frau wird eigentlich<br />

meine Angestellte für durchschnittlich 50 Euro am Tag. Ich kann sie jederzeit<br />

kündigen, auch umgekehrt. Wenn ich hier eine längere Beziehung hatte, gab<br />

es über kurz und lang viele Probleme.<br />

Jürgen<br />

Eisverkäuferin ist nicht meine erste Tätigkeit. Wir hatten ein Pizza-Taxi-<br />

Unternehmen, dann auf der Gathe ein Restaurant, „Laguna verde“, dann<br />

die Diskothek „Midnight“. Ich habe genug durch als Selbstständige.<br />

Ich habe eine Ausbildung gemacht als Kabeljungwerkerin. Kabelfertigung<br />

war ein Männerberuf. Ich war in einer Schlosserei, habe U-Stahl<br />

gefeilt, alles. Der Beruf war richtig gut. Ich war 12 Jahre da, dann ging die<br />

Firma pleite.<br />

Hier im Cafe Barocco bin ich Inhaberin. Ich habe einen 14-Stunden-Tag,<br />

ohne Ruhetag, seit 17 Jahren. Sehr selten Freizeit, wenn ich‘s schaffe, einmal<br />

die Woche nachmittags. Das war‘s. Gut, man lässt auch sein Herz hier,<br />

sonst würde man das nicht schaffen.<br />

Hier gibt es jede Nationalität, viele können kein Deutsch. Man hilft bei<br />

Papieren. Meine Preise sind bezahlbar, ich denke immer: Die haben noch<br />

weniger Geld als du. Ich werde sowieso keine Millionärin mehr, das hat<br />

sich erledigt. Ich mach das aus Spaß, mehr oder weniger.<br />

Isabell


Ich habe leichte Workaholic-Züge, ich mag Arbeit, egal in welcher Form, ich<br />

muss mich beschäftigen. Mit 19 fing ich als Aushilfe im Textil-Einzelhandel<br />

an und arbeitete mich hoch. Zuletzt war ich Storemanager bei einer großen<br />

Modefirma, hatte den größten Store weltweit. Hatte ein super Gehalt, aber<br />

ich fühlte mich nicht mehr frei, konnte mich nicht weiterentwickeln, teilweise<br />

waren das 80 Stunden die Woche. Schlafstörungen. 2018, nach über 10 Jahren,<br />

verließ ich die Firma. Ich zog einen Cut, um nicht weinend nach Hause<br />

zu gehen. Man hat Ängste, die kannst du auf der Arbeit nicht zulassen.<br />

Hab jetzt das erste Mal in meinem Leben Hartz IV, Arbeitslosengeld II,<br />

ist finanziell nicht einfach. Bei LinkedIn such ich täglich nach Jobs, bin<br />

proaktiv im Gespräch mit Headhuntern, um wieder berufstätig zu werden.<br />

Aktuell sammele ich Pfandflaschen, um mein Leben etwas besser zu gestalten.<br />

Ich lebe in einem Hotel, da zahle ich einen sehr guten Preis für die 10<br />

Quadratmeter, auf denen ich meine Tage oder Nächte verbringe. Es ist auch<br />

Arbeit, bei sich zu bleiben. Man muss in den Spiegel schauen und sagen:<br />

„Ey, George, es ist nicht ganz cool gelaufen.“ Das tut manchmal weh. Das<br />

ist Arbeit.<br />

Georg<br />

Nadine<br />

Ich weiß nicht mehr, wie ich zu diesem Kulturzentrum Bandfabrik gekommen<br />

bin, über einen Ein-Euro-Job? Über Arbeitsstunden, die ich machen<br />

musste? Jedenfalls, ich hab mit aufgeräumt, wenn es vermietet wurde, danach<br />

sauber gemacht. Bei Veranstaltungen stand ich mit hinter der Theke,<br />

oder ich war vorher da, hab die Künstler betreut, mit Essen versorgt und<br />

Getränken, solche Dinge halt. Davor habe ich im Einzelhandel gearbeitet,<br />

habe eine Ausbildung als Hauswirtschaftlerin angefangen, bei Kik gearbeitet,<br />

Putzjobs.<br />

Durch meine Erkrankung wurde ich immer wieder gestoppt. Borderline beziehungsweise<br />

bipolare Störung.<br />

Ich bin gerne hier, weil ich hier die Leute kenne. Hier trinken wir immer<br />

Alkohol. Das wollen wir gar nicht, aber man verfällt dem leider. Man nimmt<br />

sich das vor und dann fällt es schwer, „Nein“ zu sagen. Mein Traum ist, eine<br />

Familie zu haben und ruhig und vernünftig zu leben. Aber in dieser Realität<br />

geht es einfach nicht.<br />

Ralf<br />

25 Jahre war ich selbstständiger Metzger hier in Oberbarmen. Vor sechs<br />

Jahren habe ich aufgehört, weil die Kundschaft nicht mehr da war, zu wenig<br />

Deutsche. Mittagsgeschäft war ganz gut, danach saß ich da und keiner<br />

kam. Ich las drei Zeitungen am Tag. Überall steht das gleiche drin. Da wirst<br />

du balla balla.<br />

Früher 7-Tage-Woche. Ich hatte 40 Mitarbeiter, fünf Geschäfte, in<br />

Wuppertal allein vier. Ich fing morgens um drei Uhr an und machte abends<br />

um sechs Feierabend. Jeden Sonntag Büro, den ganzen Tag. Hatte auch zwei<br />

Kinder. Ich hatte nie Zeit dafür. Nie.<br />

Ich hab den Laden drangegeben, beliefere jetzt Imbiss-Buden, mach’ belegte<br />

Brötchen für Firmen, Geschäftsbesuche. Grill-Events. Hab zwei Omas<br />

in Wichlinghausen, die mich immer noch jede Woche anrufen. Denen bring<br />

ich ein Päckchen für 20 Euro. Nachmittags liege ich auf der Couch und ruhe<br />

mich aus. Das erfüllt mich nicht.<br />

Ich lasse meinen Marktwert schätzen. Beim Tönnies kannst du Geld<br />

verdienen als Fleischermeister. Ich hätte direkt eine Abteilung für mich gekriegt.<br />

Hundert Mann am Band, du musst nur gucken, dass das Ding läuft.<br />

3500 Euro netto. Aber man muss Schicht machen, drei Schichten. Die am<br />

Band verdienen 1500. Alles Leiharbeiter. Kein Deutscher.<br />

Da kommen die Schweine, werden betäubt, geschlachtet, und dann<br />

kommen die über die Rohrbahnen, im Abstand von 30 cm. Du sitzt zu fünf<br />

Mann auf einem Teller, der sich dreht. Der eine schneidet die Bauchdecke<br />

auf, zack. Teller dreht sich. Das nächste Schwein, der Teller dreht sich, und so<br />

geht das weiter. Immer nur ein Schnitt, dann weiter zum Nächsten.<br />

Ich habe in der häuslichen Krankenpflege gearbeitet. Die psychischen Dinge<br />

der Leute klären, den Haushalt, die Grundpflege. Das war sehr, sehr schwer.<br />

Ich litt unsagbar unter dem Druck, dass ich das nicht gelernt hatte, aber<br />

aufgrund meines Handicaps immer beweisen musste, dass ich das schaffe.<br />

Das konnte ich irgendwann nicht mehr. Dann arbeitete ich im Altenheim im<br />

Empfang, über 16 Jahre. Durch meine Frühgeburt bin ich Spastikerin, das<br />

Laufen ist schwierig und immer schon das Sehen. Diese Augen machen einen<br />

manchmal sehr wütend. 10 Prozent Sehleistung, da siehst du nicht mehr so<br />

schnell. Das macht viel Arbeit.<br />

Jetzt ist es durch die Osteoporose problematisch geworden, beruflich ging<br />

es gar nicht mehr. Es ist eben alles viel langsamer. Im Berufsleben war<br />

schwierig, dass Leute sagten: „Geht das nicht ein bisschen schneller?“ oder<br />

„Ach komm, ich mache das mal eben, ja?“ Das war immer schon ein Problem.<br />

Darum auch der Druck. Ich möchte das schaffen, ich möchte normal im<br />

Leben stehen.<br />

Carola<br />

Die Texte auf den Seiten 4 bis 8 stammen aus Aktionen mit Interviews<br />

des Stadtschreibers, Roland Brus, und seines Oasen-Teams von Januar bis November 2020.<br />

Alle Bilder auf Seiten 4 und 5: Mirela Hadžić<br />

Alle Bilder auf Seiten 6 und 7: Daniela Raimund und Uwe Schorn


AGENDA<br />

Wenn Engels wiederkäme:<br />

Wuppertalerinnen und Wuppertaler sagen, worum sich der Revolutionär heute kümmern müsste.<br />

Dringend.<br />

»DIE SOLLTEN MEHR FÜR UNS ARME LEUTE SORGEN, NICHT NUR FÜR DIE REICHEN. WIR ZAHLEN IMMER DRAUF,<br />

GERADE IN <strong>DER</strong> KRISE. ZUM HAMSTERN HAB ICH KEIN GELD. ICH KLAUE KLOPAPIER, DAMIT ICH WELCHES HABE.«<br />

»MEHR STUNDENLOHN!«<br />

»ICH WÜNSCHE MIR MEHR MENSCHLICHKEIT IN <strong>DER</strong> POLITIK. AUCH MAL DEN LEUTEN ZUHÖREN.<br />

WENN DU NICHT DARAUF EINGEHST, WERDEN DIE RECHTEN IMMER STÄRKER.«<br />

»IN DIE SCHNIEKE ALTSTADT IM WESTEN SOLLTE MAN EIN FIESES SPIELKASINO REINKNALLEN.<br />

UMVERTEILUNG, NEUVERTEILUNG!«<br />

»ICH WÜNSCH MIR EIN KLEINES HÄUSCHEN, WO MAN AUCH URLAUB MACHEN KANN.<br />

O<strong>DER</strong> EINE EIGENTUMSWOHNUNG, WO KEINER SAGEN KANN „ICH HABE EIGENBEDARF.“«<br />

»WENN WIR IM NETZ EINKAUFEN, KRIEGT MAN DAS PAKET, PACKT ES AUS, SCHICKT ES WIE<strong>DER</strong> ZURÜCK, HAT ALLES KEINEN WERT.<br />

KIN<strong>DER</strong> MÜSSTEN LERNEN, WAS DAS MIT BERUFEN ZU TUN HAT, MIT ARBEITSBEDINGUNGEN, MIT GELD.«<br />

»ER SOLL SICH FÜR DEN KLIMASCHUTZ EINSETZEN.«<br />

»GANZ WICHTIG WÄRE EIN GRUNDEINKOMMEN FÜR JEDEN. DAMIT DIE MENSCHEN KEINE EXISTENZÄNGSTE HABEN.«<br />

»MAN MÜSSTE DAFÜR SORGEN, DASS JE<strong>DER</strong> AUTOMATISCH EINEN KÖRPERENTSPRECHENDEN ARBEITSSTUHL ERHÄLT.<br />

SONST BEKOMMT MAN VERSPANNUNGEN, UND DAS GEHT AUF DIE PSYCHE, UND DANN: BURNOUT.«<br />

»ER MÜSSTE ERSTMAL IN <strong>DER</strong> POLITIK AUFRÄUMEN, MÜSSTE DA ALLE SCHWARZEN SCHAFE RAUSSCHMEISSEN,<br />

DIE POLITIKER, DIE NUR GROSSE SPRÜCHE MACHEN, ABER IHR WORT NICHT HALTEN.«<br />

»ICH WÜRDE SYSTEMRELEVANTE BERUFE BESSER BEZAHLEN, STREETWORKER, SOZIALPÄDAGOGEN, KIN<strong>DER</strong>GÄRTNER,<br />

DAMIT <strong>DER</strong>EN ARBEIT WERTGESCHÄTZT WIRD.«<br />

»HIER IN OBERBARMEN WÜNSCH ICH MIR EINEN KLEINEN JUWELIER, <strong>DER</strong> NOCH OHRLÖCHER STICHT, DAS GIBT ES GAR NICHT MEHR.<br />

ALSO, AUCH SCHÖNHEIT MÖCHTE ICH.«<br />

»ENGELS SOLLTE SICH UM GEHANDICAPTE MENSCHEN KÜMMERN. WOHNUNGEN MÜSSTEN BEHIN<strong>DER</strong>TENGERECHT SEIN UND BEZAHLBAR.<br />

DIE „NORMALEN“ MÜSSTEN SAGEN: „GEHANDICAPT IST NORMAL. DAS GEHÖRT ZU UNS.“«<br />

»DEN JURISTEN UND STEUERBERATERN SOLLTE MAN EINHEIZEN. DEN INKASSOUNTERNEHMEN AUCH.«<br />

»DAS PFLÄNZCHEN <strong>DER</strong> MITARBEIT WECKEN:<br />

SELBER DENKEN, NICHT EINFACH REPRODUZIEREN, NICHT EINFACH VERDIENEN WOLLEN, SON<strong>DER</strong>N SELBER MACHEN.«<br />

Foto: Daniela Raimund


<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

<strong>SAND</strong> IM GETRIEBE<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Günter Eich:<br />

Sand im Getriebe<br />

Nein, schlaft nicht,<br />

während die Ordner der Welt<br />

geschäftig sind!<br />

Seid misstrauisch gegen ihre Macht,<br />

die sie vorgeben<br />

für euch erwerben zu müssen!<br />

Wacht darüber, dass eure Herzen<br />

nicht leer sind,<br />

wenn mit der Leere eurer Herzen<br />

gerechnet wird!<br />

Tut das Unnütze, singt die Lieder,<br />

die man aus eurem Mund<br />

nicht erwartet!<br />

Seid unbequem, seid Sand,<br />

nicht das Öl<br />

im Getriebe der Welt!<br />

Günter Eich (1907 — 1972)<br />

(letzte Strophe aus dem Schlussgedicht des Hörspiels „Träume“)<br />

Uli Klan, Musiker, Komponist und Aktivist aus Wuppertal, hat dieses Gedicht unter dem Titel „Seid Sand nicht das Öl im<br />

Getriebe der Welt“ für Chor und Orchester vertont. Die Komposition wird in einer Neufassung am 15. August 2021 bei<br />

einer gewaltfreien Blockade der Bagger im NRW-Braunkohletagebau im Rahmen einer Klima-Aktion der Bewegung<br />

„Alle Dörfer sollen bleiben“ uraufgeführt. Weitere Informationen sowie einen Auszug aus der Partitur im Sandkasten online:<br />

www.die-wueste-lebt.org/category/dersand<br />

Seite 29


<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> HAUTNAH<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Backfisch mit<br />

Remoulade<br />

bekommst du<br />

nicht aus’m<br />

3D-Drucker<br />

Man bettelt gar nicht mehr<br />

um Geld, man bettelt mittlerweile<br />

darum, arbeiten zu<br />

dürfen.<br />

Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

Corona schlug ein wie eine Bombe<br />

Ein Schausteller berichtet<br />

von Andreas Kuhlmann<br />

Ich bin Schausteller vom Beruf. Ich habe einen Imbissbetrieb und fahr durchs ganze Bundesgebiet.<br />

Ich habe davon bis jetzt 30 Jahre lang gut gelebt und seit meinem 21. Lebensjahr bin ich<br />

selbstständig.<br />

Mein Geschäft ist das Hamburger Fischbuffet, alles so ein bisschen mit St. Pauli Flair<br />

und Hans Albers. Das ganze maritime Programm. Lachs, Krabben, Rollmops, die Marinaden,<br />

Bismarck hering und Krabbencocktails und all sowas. Der Renner ist natürlich immer ab September<br />

der Backfisch. Fisch ist ein sehr teurer Artikel und mittlerweile schon auch ein gewisser<br />

Luxus, nicht jeder isst Räucherlachs oder Ostseeblankaal. Ich brauch‘ viele Leute. Ich brauch’<br />

viel Kundschaft.<br />

Es war immer ein Vorteil unseres Berufsstandes, nicht vom Internet abhängig zu sein.<br />

Viele Branchen sind kaputtgegangen durchs Internet. Das ist bei uns nicht der Fall. Du bekommst<br />

keinen Backfisch auf’m Brötchen mit Remoulade aus’m 3D-Drucker. Den kannst du<br />

nicht bei Amazon bestellen. Und selbst wenn du ihn dir zuhause machst und er ist lecker,<br />

schmeckt er nicht so wie am Stand auf dem Weihnachtsmarkt, wenn es kalt ist und du hast<br />

einen heißen Backfisch in der Hand und einen Glühwein. Das ist bei uns der große Vorteil. Jetzt<br />

bricht es uns das Genick.<br />

Wir sind 5.300 Schaustellerunternehmen in der Bundesrepublik. Wir machen mehr Umsatz<br />

als die hochwohlgelobte 1. und 2. Bundesliga. Wir „massieren“ 350 Millionen Menschen<br />

im Jahr inklusive aller Volksfestveranstaltungen und Weihnachtsmärkte. Die Bundesliga bringt<br />

20 Millionen Menschen in einer Saison auf die Beine. Wir haben 4,7 Milliarden Euro Umsatz<br />

im Jahr.<br />

Das hat viele Facetten, Jahrmärkte und Volksfeste. Es heißt „Kirmes“. Es ist ja eine Mischung<br />

zwischen „Kirche“ und „Messe“. Und diese Traditionsvolksfeste, die es schon seit Hunderten<br />

von Jahren gibt, sind entstanden durch Viehmärkte. Wir Schausteller haben eine 1.200-jährige<br />

Tradition. Wir erzählen in den Städten die Geschichte dieser Städte.<br />

Ich komm’ aus einem Familienbetrieb. Mein Vater hat früher eine sogenannte „Radioverlosung“<br />

gehabt. Es kamen die Transistorradios in den 50ern oder 60ern auf, das war eine<br />

Sensation. Wenn du das ins Futter reingesteckt hast, das riss dir die Jacke auseinander, so<br />

schwer war das Teil. Und die hat er verlost. Was aber keiner wusste, mein Vater hatte kein Geld,<br />

um die Ware zu kaufen. Er hatte immer nur ein Radio und der Rest waren alles leere Kartons.<br />

Und er hatte die Auswahl in der Hand. Gott hab ihn selig. Und hat immer ’ne Tüte Nieten<br />

rein geschüttet und irgendwann, wenn einer kam und alle Lose gekauft hat, weil er besonders<br />

schlau war, dann hat er die Auswahl reingeworfen, weil sonst fällt er ja auf.<br />

Das war am Anfang. Damit hat er sich selbstständig gemacht, dann fing er an mit dem Eimerwerfen.<br />

Als nächstes kriegte mein Vater das erste Kinderkarussell und kam in die Imbissbranche.<br />

Das war immer Vollimbiss, Pommes, Currywurst und Schaschlik und Backfisch. Mein<br />

Vater hat sich spezialisiert, nur Fisch gemacht. Er legte sich auch den Hamburger Dialekt zu.<br />

Da haben sie ihn alle „Fitschi“ genannt. Er hieß Heinz.<br />

In der Carnaper Straße wohnten wir. Gleich am Carnaper Platz, war eine sehr gute Veranstaltungsfläche.<br />

Ich war klein und es war großes Theater. Wir haben auch mit dem Monti<br />

zusammengearbeitet, einem Hochseilartisten. Da wurde dann ein Hochseil gespannt. Und<br />

gegenüber war das Gasthaus zur Sonne, da wurde danach gesoffen. Da bin ich reingeboren,<br />

reingewachsen.<br />

Mein Vater hatte einen ziemlich schnellen Verstand, der war auch nachher Vorsitzender<br />

vom Schaustellerverein. Später habe ich das Geschäft von meinen Eltern übernommen. Und<br />

dann ist mit Corona eine Bombe eingeschlagen, wo man auf einmal abgeschaltet wird. Das<br />

habe ich am Anfang gar nicht so ernst genommen, aber jetzt so langsam wird’s eng. Das<br />

Schlimme ist ja, man bettelt gar nicht mehr um Geld, man bettelt mittlerweile darum, arbeiten<br />

zu dürfen. Die komplette Veranstaltungsbranche ist faktisch tot. Wir sind belegt mit einem<br />

Berufsausübungsverbot bis auf weiteres.<br />

Wenn das alles nicht stattfinden kann, dann muss dieser Rettungsschirm her. Sonst wird<br />

es die Veranstaltung ganz bald nicht mehr geben. Dann müsst ihr euren Enkelkindern erklären,<br />

wie Zuckerwatte geschmeckt hat oder wie es war, im Kinderkarussell gesessen zu haben. Es<br />

passiert gerade eine Revolution, nur das erledigt ein Virus für uns. Wir erleben eine Marktbereinigung<br />

und auch eine gesellschaftliche Bereinigung.<br />

Wenn mein Geschäft pleitegeht, passiert was mit mir, auch persönlich. Eine psychische<br />

Veränderung, ein Einschnitt, auf einmal. Dann muss ich mir was einfallen lassen. Dann wach<br />

ich auf einmal nachts auf, fange an zu schwitzen. Ich habe Existenzängste, was ich vorher nicht<br />

hatte und nicht kannte. Ja, es gab immer Höhen und Tiefen, ’nen guten Monat, ’nen schlechten<br />

Monat. Aber wenn so eine brutale Geschichte passiert mit einem totalen Cut, wo das Fallbeil<br />

fällt, dann passiert natürlich auch gesellschaftlich etwas mit mir. Dann spüre ich, dass ich nicht<br />

mehr das Ansehen habe, auf einmal denke ich, jemand anders könnte sagen: „Ach, der ist doch<br />

pleite!“ Aber dass ich immer noch der gleiche bin, interessiert keinen in dem Moment!<br />

Ich möchte gerne weiter einen geraden Weg gehen. Es wäre auch jetzt irre, mit 53. Also,<br />

ich krieg das schon irgendwie zu Ende noch. Ich geh auch nicht vorher aus dem Kino, bevor<br />

der Film zu Ende ist.<br />

Dieser Beitrag beruht auf einem Gespräch mit Andreas Kuhlmann, aufgeschrieben vom Stadtschreiber Roland Brus.<br />

Das Hamburger Fischbuffet,<br />

alles so ein bisschen mit<br />

St.-Pauli-Flair und Hans Albers.<br />

Foto: privat<br />

Der „Mondräumer“-Automatenstand<br />

von Andreas’ Vater<br />

aus den frühen 70er Jahren.<br />

Foto: privat<br />

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<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

FLUGSCHREIBER<br />

<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong><br />

Flugschreiber Oberbarmen / Wichlinghausen<br />

Stimmen zum Thema Wandel, gesammelt bei Aktionen und Stadtspaziergängen<br />

des Stadtschreibers Roland Brus und seines Oasen-Teams<br />

Ich glaub nicht, dass wir daraus was<br />

lernen, sondern wir warten nur darauf,<br />

die PS wieder zum Laufen zu<br />

bringen. Richtig Gas geben!<br />

Eins ist ja auch bemerkenswert: Der<br />

Umsatz von Fahrrädern ist extrem<br />

gestiegen. Die kommen mit der Produktion<br />

von E-Bikes gar nicht mehr<br />

nach.<br />

Da muss man wieder eine neue Form<br />

des Umgangs finden. Nach dem<br />

Motto, mein Freund ist nicht mein<br />

Feind. Wenn er mich ansteckt, dann<br />

haben wir gemeinsam ein Problem.<br />

Aber wenn du keine Kultur mehr<br />

erleben kannst, keine Musik, kein<br />

Theater, merkste das nicht sofort.<br />

Da ist keine Wunde, sondern die<br />

Wunde entsteht eigentlich im Kopf<br />

oder bei dir im Gefühl.<br />

Halte Abstand von deinen Freunden,<br />

von deinen Bekannten. Du kannst<br />

eigentlich niemandem vertrauen,<br />

dass er dich nicht anstecken kann.<br />

Diese Lernerfahrung ist eigentlich<br />

eine Katastrophe.<br />

Man kann ganz viel verwandeln: in<br />

meinem Haus wohnen ältere Leute.<br />

Privat male ich manchmal Blumen<br />

und Tiere und schmeiße denen was<br />

in den Briefkasten. Dass die sich<br />

einfach ein bisschen freuen.<br />

Was ich am meisten vermisse?<br />

Eine Umarmung. Etwas Zärtlichkeit.<br />

Ich hab noch einen Hund, aber es<br />

fehlt halt was, Normalität. Das Rumalbern<br />

mit den Kindern. Dieses<br />

Freie, dieses Spaß-Haben und die<br />

Nähe. Die Kinder haben mich umarmt<br />

und so was. Und jetzt muss<br />

man sagen: „Ne, stopp, bis hierhin<br />

und nicht weiter.“<br />

Angst hab ich nicht. Lass ich mir<br />

auch nicht einreden. Heute hab ich<br />

da an der Rosenau gesessen. Hab<br />

da ein Kreuzworträtsel gemacht. Da<br />

setzte sich zwar einer neben mich,<br />

aber der sah auch gesund aus.<br />

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<strong>DER</strong> <strong>SAND</strong> FATAMORGANA<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2<br />

Hast du<br />

genug?<br />

Seite 32

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