Der Sand Ausgabe 3
Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt
Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt
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Ausgabe 3
unentgeltlich & unbezahlbar · www.die-wueste-lebt.org
SAND
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DER
ZEITUNG FÜR OBERBARMEN/WICHLINGHAUSEN UND DEN REST DER STADT
Mein Stück Himmel
Seite 4/5
Nein sagen lernen
Seite 6/7
Ich zeichne mein Leben
Seite 18/19
Schütze die Flamme!
Seite 22
Freiheit
Eine Spurensuche
DER SAND DIE SEITE ZWEI
Ausgabe 3
Editorial
Liebe Bewohnerinnen und Bewohner der Wüste,
die Pandemie hat viele von uns in ihrer persönlichen Freiheit
eingeschränkt. Kontaktbeschränkungen, Ausgangsperren,
Schließungen von Läden, Gastrobetrieben und Kultureinrichtungen,
die Masken- und Testpflicht, die Debatte um die
Impflicht – all das verändert unseren Alltag, unsere Psyche,
unser Leben und auch das, was wir unter Freiheit verstehen.
Seit jeher beschäftigen sich Philosophen und Rechtsgelehrte
mit der Freiheit. Freiheit ist mehr als ein großes Wort.
Sie ist ein menschliches Grundbedürfnis, ein in unserer Verfassung
verbürgtes Grundrecht und ein universales Menschenrecht.
Sie ist ein Ideal, ein Versprechen.
Wir haben nun Menschen in Oberbarmen und Wichlinghausen
gefragt, was sie unter Freiheit verstehen. Sie sind
Expert:innen des Alltags, sie wissen, wovon sie sprechen, sie
wissen, wie es ist, ohne Freiheit zu leben, zu überleben. Viele
von ihnen kennen Armut, Durst, Hunger, Nächte im Freien,
Stürme und Kälte, Angst, Verfolgung, Verlust und Not. „Freiheit
ist ein Wort, das nur versteht, wer sie verliert“, hat uns
Rem, 15, erklärt.
Unsere Zeitung entsteht nicht in der Abgeschiedenheit
einer Redaktion, sondern draußen auf der Straße, auf Plätzen,
in Cafés und Geschäften, in Stadtteilspaziergängen, in der
Sprechstunde im Wüstenmobil auf dem Vorplatz der Färberei,
mal mit einem PopUpFotoStudio, mal mit dem Stadtschreiber
Roland Brus und seinem Oasen-Team; immer in der
Begegnung mit Bewohner:innen und Passant:innen.
Die Menschen erzählen in diesem SAND über ihre Ängste
und Wünsche, ihre Träume und Probleme. Was sie über Freiheit
wissen, ist absolut konkret. Sie berichten von Freiheit,
die man kaufen kann; von Freiheit durch Gesundheit, durch
Sicherheit und andere Privilegien; aber auch von Freiheit im
Spiel auf der Bühne. Sie sprechen über Ausgrenzung, Abhängigkeiten,
Arbeitsverhältnisse und Sklaverei, über soziale
Zwänge und unfreie Sexualität; sie erzählen von der Einschränkung
ihrer Bewegungs- und Meinungsfreiheit, von
physischen und psychischen Fesseln, von äußerer und innerer
Unfreiheit. Wie kommt man raus aus dem inneren oder
äußeren Gefängnis, aus politischen, religiösen und kulturellen
Zwängen? Kann der Ausbruchsversuch gelingen?
Auf den folgenden Seiten berichten Migrant:innen
über ihre Erfahrungen von Unfreiheit, Gewalt, Verfolgung
und Krieg. Sie werfen einen fremden und frischen Blick auf
Deutschland: auf die Erungenschaften politischer Freiheit
und darauf, dass persönliche Freiheit auch unfrei machen
kann, weil niemand mehr Zeit hat.
Schüler:innen der Hauptschule Wichlinghausen diskutieren
über Freiheit zwischen Traum und Wirklichkeit und
über ihre Sehnsucht in Hinblick auf Geschlechterrollen,
Liebe, Rassismus, Diskriminierung. Freiheit heißt für sie,
ihr Leben selbst zu zeichnen. Wilma Schrader erzählt von
Sascha Bückemeyer und seinem Alltag im Rollstuhl, dem
Kampf mit dem Irrsinn unseres Pflegesystems und davon, wie
sich Sascha für eine gerechtere und inklusivere Welt engagiert.
Unsere Reporter:innen zeigen, was Selbstbestimmung
sein kann: Dieter Westhoff widmet sich dem Phänomen
Kiosk und dem Preis der Selbstständigkeit. Daniela Raimund
und Philipp Czampiel entführen uns in die faszinierende
Welt der Kleingärten von Wichlinghausen: „Mein Stück
Himmel“ – eine Parzelle Paradies? Wir berichten über unseren
Fackellauf quer durch die Stadt: eine Manifestation für
Freiheit, Frieden und Chancengleichheit anlässlich des 100.
Geburtstags von Joseph Beuys. Und wir erinnern an Bernhard
Letterhaus, den Barmer Freiheitskämpfer, der von den
Nationalsozialisten ermordet wurde.
Nach dem letzten Bundestagswahlkampf haben wir
nach Schließung der Wahllokale die Plakate der Politiker und
ihre Slogans überklebt mit Bildern von Menschen, denen wir
in Oberbarmen begegnet sind, die hier leben und arbeiten.
Jetzt sehen Sie sie auf unserem Titel: Menschen aus vielen
Nationen und Kulturen, jung und alt. Sie zeigen sich, sie setzen
ein Zeichen: Wir sind da. Wir sind die, um die es geht, wenn
wir über Politik sprechen und Partizipation ernst nehmen
wollen. Nehmt uns wahr, nehmt nicht nur unsere Wahlstimme!
Hört uns zu!
Die Freiheit des Einzelnen ist nicht denkbar ohne den
Anderen. Kollektive Freiheit, sagt der Verfassungsrechtler
Christoph Möllers, bedeute auch, „dass wir uns nicht nur
einschränken, sondern auch ermächtigen, Dinge zu tun, die
wir alleine nicht tun könnten“. Alle Macht der Bevölkerung!
Diese Zeitung versteht sich als eine Spurensuche.
Freiheit ist weltweit bedroht. Wenn wir das Klima auf unserer
„schönen blauen Murmel“, wie Antje sagt, retten
wollen, müssen wir immer das Verhältnis von individueller
und kollektiver Freiheit aushandeln. Freiheit und Verantwortung
gehen Hand in Hand. Es geht, das zeigt uns die
CoronaZeit, nicht ohne Einschränkungen von Freiheit. Aber
bei wem? Zu welchen Lasten? Müssen wir unsere Freiheit
wirklich erst verlieren, um zu verstehen, was sie ist?
Die Redaktion
Es gibt einen Soundtrack zu dieser Ausgabe.
Wir Freiheit! haben auf Spotify eine Playlist für Euch zusammengestellt.
Der Soundtrack zu dieser Ausgabe
Natürlich dreht sich dort alles um Wandel und Arbeit:
für Dich zusammengestellt auf Spotify
Maybe DER SAND. Höre selbst!
Alle Macht der Bevölkerung Foto: Daniela Camilla Raimund
IMPRESSUM
DER SAND Zeitung für Oberbarmen, Wichlinghausen und den Rest der Stadt, März 2022
HERAUSGEBER:INNEN Die Wüste lebt! Roland Brus, Uwe Peter (V.i.S.d.P.), Daniela Camilla
Raimund
REDAKTION Roland Brus, Hans-Joachim Neubauer, Uwe Peter, Daniela Camilla Raimund,
Wilma Schrader, Hans-Dieter Westhoff
ANSCHRIFT VERLAG UND REDAKTION Der Sand – Ein Projekt von Die Wüste lebt!
c/o Die Färberei e.V., Peter-Hansen-Platz 1, 42275 Wuppertal · info@die-wueste-lebt.de · www.
die-wueste-lebt.org
AUTOR:INNEN Abdulrahman Alasaad, Roland Brokop, Roland Brus, Sina Dotzert, Rainer Lucas,
Hans-Joachim Neubauer, Uwe Peter, Daniela Camilla Raimund, Wilma Schrader, Hans-Dieter
Westhoff
ALLTAGSEXPERT:INNEN Alle Macht der Bevölkerung Abu Jones, Adla Mohamed, Ahmed
Gulag, Ali, Ali Karakoc, Almohamed, Alsaadi Sajjad, Andoj und Lulozim, Andreas Kaluza,
Anke Klammer, Anna Bröcker, Bärbel Höller, Bea Wallinger, Bernd Saure, Binguzel Kihç,
Carola Haberl, Christin Fuhrmann, Christine Leithäuser, Dashoumir Sali, Detlev Schäfer,
Diana Sandermann, Esmail Ibrahim, Gifty, Richmond und Solomon Addae, Giovanni Ermini,
Gisela Kettner, Günther Böttcher, Iris Colsman, James Gettys, Jörg Justin Fopa, Kerstin Holzmann,
Leila Elhei, Ludgera Menting, Martina Braun, Melanie Beul, Mohamad Alaa Alden, Monika
Kopersul, Nicola Koch, Oliver Falk, Özcan Kihç, Rago Ljub, Rakan Kaba, Salaymah Raghrid,
Shadi Alaaelddin, Stella Türkoglu, Surinder Singh, Ute Gehrke, Wilfried Jöckel, Willy Wolfgang
Bröcker, Zahara Al Mohamed Im Fokus Antje Böhning, Desirée Hahn, Diallo Djoulde, Georg
Kocher, Günther Trzeschwski, Haji Al Hammo Harbi, Peter Ebersberger, Ramona Blau, Samira
Lawaichi Am Rand Alexander, Astrid, Aydin, Erwin, Filiz, Helmut, Mario, Siggi, Willi Nah-
aufnahme Abdu, Amani, Amena, Aree, Civan, Francisca, Hanan, Khaled, Mariam, Mohammad,
Souzan, Valentina, Wiola, Zainab Futur 3 Enisa, Homan, Miray, Moheeb, Rem, Talal Flugschreiber
Anna, Carola, Detlef, Lutz, Khalid, Nikola, Mohammed, Ronni Hautnah Markus Breuer,
Sascha Bückemeyer, Heidi von Schledorn Mikrokosmos Emily, Leonie, Miri Mittendrin Ahilan
Kamenthiram, Bea, Danqi, Emil, Erhan Sag, Frau Gülüm, Isabell Hanisch, Herr Akbal, Herr
Danqui, Mento, Oktay Urzun, Salih Bozan, Saliha Sural, Senl, Shakan Asit, Sorupoluxmy
Ratnasingam, Sural, u.v.a.
FOTOGRAF:INNEN Philip Czampiel, Mirela Hadžić, Max Höllwarth, Rainer Lucas, Daniela Camilla
Raimund, Oskar Siebers, Hans-Dieter Westhoff, Simon Veith, © BOB CAMPUS
TRANSKRIPTIONEN Marvin Malek, Adnan Dalgic, Sophie Dzwonek, Tim Schoger
LEKTORAT Hans-Joachim Neubauer und Karen Peter
SATZ Jens Oliver Robbers und Mara Füsser
DRUCK Rheinische DruckMedien GmbH, Zülpicher Straße 10, 40196 Düsseldorf · Aufl age 10.000
DANK AN David Becher, Johannes Schmidt und Superknut (Utopiastadt), Roland Brokop, Iris
Colsman (Färberei), Johanna Debik und Robert Ambree (BOB Campus), Christoph Gärtner und
Regina Stephan (MLPD), Marcel Gießwein (Bündnis 90/ Die Grünen), Annette Hager, Severin
Hackspiel, Katharina Jungheim und Sarah Badi (Hauptschule Wichlinghausen), Florian Kötter,
Helge Lindt (SPD), Anne Lukas (Bob Kulturwerk), Victoria Lange (Volt), Gudrun Nolte und Helge
Bruhn (KOKOBE), Quartiersbüro Vierzwozwo, Berthold Schneider (Opernhaus Wuppertal), Uwe
Schneidewind, Christel Simon und Burkhard Rücker (CDU), Bernhard Sander (Die Linke), Ariane
Staab (Junior Uni), Manfred Todtenhausen (FDP), Sandra Wohlert (DKP), Teresa Wojciechowska,
Werner Zimmermann und an alle unsere Gesprächspartner:innen und Mitwirkenden.
Die Wüste lebt! ist ein Projekt von Die Färberei e.V. – Zentrum für Inklusion und Integration.
Gefördert über das Modellprogramm „Utopolis – Soziokultur im Quartier“ im Rahmen der ressortübergreifenden Strategie Soziale Stadt „Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“ des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen und der Beauftragten für Kultur und Medien (BKM).
Gefördert durch:
Seite 2
Titelfotos: Daniela Camilla Raimund
Ausgabe 3
ORTSBELICHTUNG
DER SAND
Ein schöner
Name für eine
schöne, ruhige
Straße
von Hans-Dieter Westhoff
Unterwegs in der Freiheitsstraße
Die Freiheitsstraße beginnt im Osten an der Breslauer Straße, in Sichtweite vom Carl-Duisberg-Gymnasium
und der Nordbahntrasse. Das Eingangsportal sind zwei Eichen, und insgesamt
ist fast die ganze Straße eine schöne Allee, für Wichlinghausen eine ziemliche Seltenheit.
Wie steht es mit der Freiheit in der Freiheitsstraße? In den Aushängen an der Kita Buddelkiste
auf der linken Seite geht es nicht darum, sondern um die üblichen Corona-Regeln:
„Einlass nur einzeln unter Einhaltung der üblichen
Hygiene-Regeln“. Auch beim Kinderspielplatz
nebenan ist die Freiheit eingeschränkt, allerdings
die von Hunden. Die dürfen hier nicht rein. Also
nicht Freiheit für, sondern von Hunden. Am Spielplatz-Zaun
und dann am Eingang des Nachbarhauses
ist Florentina aktiv. Sie ist wohl knapp ein
Jahr alt und kostet intensiv unter den Augen ihrer
geduldigen Mutter die Freiheit aus, selbst laufen
zu können. Jeder Pfahl, jede Stufe und jedes Blatt
wird genau untersucht, bevor es auf eigenen wackligen
Beinchen weitergeht. „Spazierenstehen“ wird
diese Fortbewegungsart in eingeweihten Kreisen
genannt. Florentina wohnt nicht hier, sondern nebenan
in der Liegnitzer Straße. Vielleicht ist die
Freiheitsstraße deshalb so interessant für sie.
Im folgenden Teil der Straße gibt es den üblichen
Wuppertaler GebäudeMix. Auf der rechten
Seite mehr schlichte Neubauten in Folge der Bombentreffer
aus den 1940er Jahren. Auf der linken
Seite: Glück gehabt, die Jugendstil-Bauten aus der
vorletzten Jahrhundertwende haben es bis heute
geschafft. Hier spreche ich mit Diethelm darüber,
wie frei man sich fühlt in der Freiheitsstraße:
„Bisschen eng, Parkplätze muss man suchen. Und
wenn ich hier durchgehe, fühle ich mich wie im Urlaub:
so viele fremde Kennzeichen.“ Nebenan denkt
Hubert über den Straßennamen nach: „Ob man
sich in der Freiheitsstraße frei fühlt? Bis jetzt ja.
Das passt ganz gut. Es gab zwar auch Zeiten, da
hat ein Nachbar immer Trouble gemacht, aber jetzt
ist es wieder schön, hier zu wohnen.“ Seit 2003 ist
er schon hier, erst bei einer Freundin, und dann in
seiner eigenen Wohnung.
An der spitzwinkligen Kreuzung mit der Handelsstraße
Noch ein paar Häuser weiter, an der Kreuzung Görlitzer Straße, wird es jetzt munter. Links
zuerst das Atelier des Malers Rainer Kruse: „Mein Motto: Ich male, also bin ich. Malen ist für
mich Leidenschaft und Berufung als Gegenentwurf zu der vom Menschen selbst geschaffenen
entfremdeten Welt. Je mehr ich in den unmittelbaren künstlerischen, die Schöpfung achtenden
Gestaltungsraum hineinschreite, entsteht Freude, Zufriedenheit und Ruhe.“ Künstlerische
Freiheit in der Freiheitsstraße.
Daneben ist ein Trödler, bei dem man Sammeltassen,
aber auch alte Dual-Plattenspieler anschauen
kann. Der Eingang ist allerdings nicht frei, sondern so
zugestellt, dass man nicht sagen kann, ob das hier ein
Laden oder ein Lagerraum ist. An der Ecke dann die
Café-Bar „Zum Rothen Baron“: Viele Tische im Freien,
und viele rauchende Männer vor Tee- und Kaffeetassen.
Der Wirt heißt Boris Mihaylov, kommt aus Bulgarien,
und das Lokal ist auch der Treffpunkt für die bulgarische
Gemeinde. Wie es zu seinem komischen Namen kommt?
„Der Vermieter hat mir gesagt, ich soll es so nennen. Das
sei gut.“ Aha.
Schräg gegenüber steht Tojic am Parterrefenster
und raucht auch, und er denkt laut über die CaféGäste
nach: „Das war schöner, bevor die das Lokal aufgemacht
haben. Da sind jetzt so viele Leute da, die hier nicht
wohnen.“
Aufschriften an den folgenden Häusern zeugen von
Leidensdruck. Es geht um die Freiheit der Ausfahrt für
Autos, und es wird nicht nur einigermaßen freundlich
um „Ausfahrt freihalten“ gebeten; es wird auch gedroht:
„Widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge werden kostenpflichtig
abgeschleppt“ – auf kurzer Strecke drei Mal
gelesen. Noch eine interessante Drohung auf dem Weg:
„Werbung, Prospekte usw. nicht einwerfen! Die Unterlagen
werden kostenpflichtig an den Absender zurückgesandt“.
An der Ecke Teichstraße hat Evangelie einen freien
Parkplatz für ihr Auto gefunden. Sie wohnt gern hier.
„Freiheitsstraße ist ein schöner Name für eine schöne,
ruhige Straße, in der man sich sich frei fühlt, weil alles
in der Nähe ist, was man braucht.“ Hier ist der befahrbare
Teil unserer Straße zu Ende. Die Freiheit der Fußgänger
aber noch nicht. Es kommt eine kleine Freifläche
– schön verkehrsberuhigt aufgepflastert –
das erste gastronomische Highlight: Pizza Flash, ein
unfassbar preiswerter Bringdienst: Pizza Margherita
Ingrid Nolzen und Heinrich Barkam aus Haus Nr. 13 unterwegs in ihrer Freiheitsstraße
Foto: Oskar Siebers
mit schönen runden Holzstelen und wiederum einigen
alten Eichen: Die Freiheitsstraße endet so, wie sie begonnen
hat. Dann gibt es noch einen Fußweg zwischen Hecken, und
3,20, Currywurst mit Pommes 3,70, alles frei Haus aus der Freiheitsstraße. Etwas weiter die
Straße entlang haben rechts und links einige Häuser das NRW-Baudenkmal-Zeichen, alle mit
schönen klassizistischen Fassaden. Fast könnte man von einem Ensemble sprechen.
dann ist man an der Alten Straße. Die geht man hinunter, vorbei an einigen der schönsten
Fachwerkhäuser des Stadtteils, zum Wichlinghauser Markt – wo die Autos brausen und die
Busse warten.
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Seite 3
DER SAND AM RAND
Ausgabe 3
Mein Stück Himmel
Freiheit auf 370 Quadratmetern
Eine Reportage aus der Welt der Kleingärten: Am Beuler Bach, Hügel 1928, Lohmannsfeld, Olgastraße, Rittershausen und Schellenbeck Süd.
Interviews und Texte: Daniela Camilla Raimund · Fotos: Daniela Camilla Raimund und Philipp Czampiel
»Ich sitze gerne einfach nur im Garten und sehe dem Gemüse beim Wachsen zu.
Das muss ich dann nicht im Norma einkaufen.«
»Ich habe Panikattacken, dann komme ich hierher und fange an zu arbeiten, werde ruhig.«
»Nicht alles ist erlaubt hier. Zaun ist verboten. Übernachten auch.«
»Probier mal den Knoblauch hier – das reicht für geschieden!«
»Wir vermissen die Vereinsarbeit, die Gemeinschaft. Früher war das anders hier.«
»Freizeit ist, wenn man nicht arbeiten muss.«
»Die Leute sind faul geworden heutzutage.«
»Sri Lanka liegt direkt neben Russland, Oberschlesien neben Israel und Griechenland neben Kasachstan.«
»Kampf dem Unkraut!«
»Hier kann nicht jeder machen, was er will, wir sind an die Satzung gebunden.«
Seite 4
Ausgabe 3
AM RAND
DER SAND
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Einblick in ihre Gärten und Gedanken zum Thema Freiheit gaben uns:
Astrid, Aydin, Filiz, Willi, Erwin, Alexander, Mario, Siggi, Helmut u.a.
Mehr Fotos fi ndest Du im Sandkasten: www.die-wueste-lebt.org/der-sand
Seite 5
DER SAND NAHAUFNAHME
Ausgabe 3
Was bedeutet persönliche Freiheit?
Wir müssen
lernen, nein
zu sagen!
Die Frage, was Freiheit bedeutet, beschäftigt nicht nur Philosophinnen
und Philosophen. Sie bestimmt auch die konkrete
Wirklichkeit unserer Existenz. Roland Brokop und Abdulrahman
Alasaad haben Deutsch lernende Migrant:innen in einem
Video-Workshop gefragt, was sie brauchen, um frei zu sein.
FRANCISCA Persönliche Freiheit bedeutet für
mich, dass ich meine Frisur selber auswählen
kann und meine Kleidung. Dass ich ausgehen
kann, wohin ich will und wann ich will. Tanzen,
Disco, Kneipe, Konzert oder so. Oder
zuhause bleiben und Filme gucken, solange
ich will. Oder natürlich Deutsch lernen. Also
deutsche Filme gucken, meine ich. Ich gucke
natürlich NUR deutsche Filme (lacht). Ja, und
dass ich essen und trinken kann, was ich will
und wann ich will. Oder, dass ich rauchen kann
oder Alkohol trinken. Aber meine Mutter,
die in Afrika wohnt, ist immer in meinem
Kopf. Wenn ich zum Beispiel rauchen oder
Alkohol trinken möchte, denke ich an meine
Mutter, und dann kann ich das nicht machen.
Meine Mutter begrenzt meine Freiheit, obwohl
sie nicht hier ist. Das ist komisch, aber
das ist auch gut.
AREEJ Die Freiheit muss begrenzt werden.
Sonst machen viele Leute schlechte Sachen.
Es gefällt mir, dass man bestraft wird, wenn
man gegen die Gesetze verstößt. Ich meine,
dass JEDER bestraft wird, der gegen die
Gesetze verstößt. Auch Polizisten oder Soldaten
oder reiche oder bekannte Leute, sogar
Politiker! Es gibt Dinge, die sind für ALLE
Leute verboten. Das gibt Sicherheit, wenn alle
Leute Respekt oder auch ein bisschen Angst
vor den Gesetzen haben.
AMANI Ich fühle mich frei, wenn ich meine
Hobbys ausleben kann: Malen, Lesen, Musik,
Sport und so weiter. Ich meine, wenn ich
genug Zeit habe für diese Dinge. Eigentlich
bedeutet Freiheit für mich viel freie Zeit für
die schönen Dinge im Leben, die keine Pflicht
sind. Pflichten können auch okay oder sogar
toll sein. Kinder, Hausarbeit, Kochen, Einkaufen,
arbeiten gehen und so. Aber man braucht
auch freie Zeit ohne Druck.
SOUZAN Die Deutschen sind politisch frei.
Es gibt verschiedene Parteien und eine
richtige Opposition und so. Aber ich denke,
viele Deutsche sind privat oder persönlich
nicht frei. Sie haben nie Zeit, wenn man sie
einlädt, zum Beispiel. Es hat zwei Jahre gedauert,
bis mein Deutschlehrer mich und meine
Familie besucht hat, er hatte nie Zeit. Er war
immer beschäftigt. Zwei Jahre! Krass, oder?
————————————————————————————————————
Nur in der Gemeinschaft – oder besser
alleine?
AMANI Freiheit bedeutet, nicht alleine zu
sein. Hier in Deutschland fühle ich mich oft
alleine, weil meine Familie nicht hier ist.
Wenn du isoliert bist, ist deine Welt zu klein.
Du hast keine Freiheit. Familie und Verwandte
bedeuten Freiheit für mich. Wir Mütter sind
hier fast immer alleine mit unseren Kindern.
Es gibt keine Oma oder Tante, oder Nachbarn,
die uns helfen oder wo die Kinder hingehen
können.
Im Freien Foto: Daniela Camilla Raimund
ZAINAB Wenn die Familie gut ist, kann das
super sein. Aber wenn die schlecht sind und
alles bestimmen wollen, was du machst, ist
das die Hölle. Ich bin von meiner Familie zu
meinem Mann geflüchtet. Ich dachte, dann bin
ich frei, weil er mich liebt und möchte, dass
ich glücklich bin. Aber er wollte, dass ich alles
mache, was er sagt. Und seine Eltern auch.
Seite 6
Ausgabe 3
NAHAUFNAHME
DER SAND
Stell dir vor: Ich flüchte vor meinen Eltern und
AMENA Ja, Geld macht frei, vor allem wenn
weg, in einem großen Gefängnis. Sie haben
spielen dürfen. Und die Kinder bleiben oft zu
meinem Bruder und bekomme einen Mann,
man in einem nicht demokratischen Land
keine Freiheit mehr, sie haben auch keine
lang in der Schule.
der schlimmer ist als mein Bruder, und ich be
lebt. Mit Geld wird alles geregelt. Freiheit
Rechte, auf nichts haben sie Rechte. Keiner
komme Schwiegereltern, die schlimmer sind
kann man kaufen.
weiß, wie viele das sind. In meinem Land und
HANAN Die wichtigste Freiheit ist die Gesund-
als meine Eltern. Und alle waren immer da. Ich
in anderen Ländern.
heit. Aber das merkt man erst, wenn man krank
war total unfrei. Dann sind wir nach Deutsch
————————————————————————————————————
ist. Viele Leute vergessen das. Sie wollen so viel:
land geflüchtet. Gott sei Dank ohne seine
Wofür müssen Staat und Politik sorgen?
————————————————————————————————————
Geld, Auto, Reisen, tolle Sachen kaufen usw.
Eltern! Hier habe ich mich scheiden lassen
Dürfen wir glauben und denken, was wir
Aber wenn du krank bist, hilft auch kein Geld.
von meinem Diktator-Mann. Viele Deutsche
MARIAM Freiheit ist für mich zuerst Sicher
wollen?
haben mir geholfen für meine Freiheit. Jetzt
heit. Das klingt komisch, wie ein Widerspruch,
WIOLA Doch! Geld hilft auch bei der Gesund-
lebe ich mit den Kindern frei und glücklich.
aber ich denke an Syrien. Da war das ganze
CIVAN Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube,
heit. Du kannst gute Sachen zum Essen kaufen,
Ich habe deutsche Freunde, und ich arbeite
Leben nicht sicher. Wir waren nicht sicher vor
wir sind nicht so frei, wie wir denken. Ich bin
wenn du Geld hast. Dann bleibst du vielleicht
Vollzeit in einer Firma, weil die Kinder schon
Bomben, vor Explosionen oder vor Leuten mit
kein Muslim, aber wenn ich in Syrien in einer
länger gesund. Du kannst gute Ärzte bezahlen,
groß sind. Ich bin sogar frei vom Jobcenter!
Waffen. Was mache ich mit meiner Freiheit,
muslimischen Familie geboren wäre, würde
wenn du krank bist. Und arme Leute leben oft
wenn ich nicht rausgehen kann, weil vielleicht
ich wahrscheinlich anders denken. Ich wäre
nicht gesund, weil sie nicht genug Geld haben
HANAN Freiheit gibt es nur vor der Ehe. Wenn
der Tod auf mich wartet? Ohne Sicherheit
vielleicht überzeugt davon, dass es einen Gott
für gutes Essen.
du verheiratest bist, ist die Freiheit vorbei.
kann ich nicht frei sein. Sicherheit ist: Die
gibt und dass Mohammad sein Prophet ist.
Polizei, die Soldaten, die Politiker und Richter
Vielleicht könnte ich mir das gar nicht anders
————————————————————————————————————
————————————————————————————————————
schützen dich vor Gewalt und Kriminalität.
vorstellen, weil diese Idee so stark in meinem
Frei trotz Corona?
Machen, was man liebt, oder lieben, was
In Syrien hatte ich immer Angst oder ein
Kopf wäre. Die Eltern und die Umgebung,
man macht?
komisches Gefühl, wenn ich einen Polizisten
die Traditionen, die Schule und die Gesell
SOUZAN Corona hat natürlich viel persönliche
sah. Aber die Deutschen sagen „Die Polizei
schaft beeinflussen uns von Kindheit an. Es ist
Freiheit eingeschränkt. In Deutschland wurde
VALENTINA Freiheit ist für mich, wenn ich
ist dein Freund und Helfer“, und die meinen
schwer, sich davon freizumachen. Aber man
so viel diskutiert, und die Politiker mussten alle
machen kann, was ich liebe. Aber man kann
das wirklich. Aber manche hassen auch die
che machen das. Auch Muslime. Sie machen
Maßnahmen erklären. Sie wurden auch sehr
natürlich nicht alles machen, was man liebt.
deutsche Polizei. Das verstehe ich nicht.
sich frei von der Religion und suchen andere
kritisiert. In anderen Ländern gab es keine
Es ist auch schön, wenn man das lieben kann,
Antworten auf die großen Fragen des Lebens.
Diskussion. Man hat einfach eine Ausgangs
was man macht. Wenn man zufrieden ist mit
ABDU Freiheit ist, wenn man die Regierung
Zum Beispiel bei den Philosophen oder ande
sperre verhängt oder andere Gesetze erlassen.
dem, was man hat oder macht, dann ist man
offen kritisieren kann. Privat oder in der Zei
ren Religionen.
Daran kann man sehen, dass die Politiker in
auch irgendwie frei.
tung und im TV oder Internet. Man kann
demokratischen Ländern von der Öffentlich
hier in Deutschland auch eine Demonstration
————————————————————————————————————
keit und den Medien kontrolliert werden. Die
KHALED Okay, Freiheit ist auch eine innere
machen, auf der man Angela Merkel to
Wo liegen die Grenzen der Freiheit?
haben eine große Macht in Deutschland. Man
Einstellung. Aber das funktioniert nicht immer,
tal kritisiert. 2016 und 17 waren viel Demos
sagt auch, die sind die vierte Gewalt.
oder? Wenn du in einer Diktatur lebst und
gegen Angela Merkel und gegen die Flücht
AMANI Wenn Leute Freiheit falsch verstehen
total unfrei bist, kannst du nicht sagen: Ich
linge. Manche haben auf Plakate geschrie
und andere Menschen dadurch schädigen.
AREEJ Freiheit und Sicherheit für alle, das ist
lebe in einer Diktatur, aber innerlich bin ich
ben „Merkel muss weg“. Das fand ich sehr
ein großes Problem. Das sieht man jetzt bei
frei. Wie kann man ein Gefängnis zum Para
schlecht, weil ich Frau Merkel sehr gut finde.
KHALED In den USA hat zum Beispiel jeder
Corona beim Impfen. Es gibt keine Impfpflicht,
dies machen? Das geht nicht, das ist totale
Aber man darf das machen in Deutschland.
hat das Recht, eine Waffe zu tragen.
es gibt persönliche Freiheit. Aber Ungeimpfte
Selbsttäuschung!
Das ist Meinungsfreiheit und Pressefreiheit
gefährden die Gesundheit und die Freiheit der
und Demonstrationsrecht. Die Polizei be
AMANI Das ist schlecht. Dadurch dass jeder
anderen.
————————————————————————————————————
schützt sogar die Menschen, die gegen die
eine Waffe tragen darf, werden viele Unschul
Welche Rolle spielt die Sprache?
Regierung demonstrieren. Man kann sagen,
dige getötet.
WIOLA Corona ist für mich die größte Freiheits-
die Polizei beschützt die Feinde der Regierung.
einschränkung in meinem Leben. Maske tragen,
AMANI In Deutschland gibt es ein gutes Leben.
Aber das ist gut. Alle haben das Recht, offen
AREEJ Ich finde, dass die Freiheit in einer Ge
Shutdown, Lockdown, keine Besuche machen,
Aber hier ist nicht alles einfach und frei.
und frei ihre Meinung zu sagen. Die kleinen
sellschaft ein bisschen begrenzt werden soll.
keinen Urlaub, kein Kino, kein Konzert, kein
Es gibt viele Leute, die hier nicht gut leben
Leute und die großen und auch die dummen
Kinder sollen zum Beispiel nicht alles sehen.
Kaffeetrinken oder Essengehen, kein Kinder
und keine Arbeit und viele Probleme haben.
oder schlechten Menschen. Alle haben Würde
Im Internet gibt es zu viel Freiheit, Gewalt
garten, keine Schule.
Warum? Weil sie nicht gut Deutsch sprechen
und Rechte. Das finde ich toll.
und Porno und sowas. Ich will meine Kinder
können – und verstehen auch nicht. Und
davor schützen. Hoffentlich kann ich das.
schreiben und lesen auch nicht. Die wissen
KHALED Ja, und in Syrien haben Kinder –
viele Sachen nicht, weil sie nicht richtig mit
Kinder! – etwas Ähnliches an eine Hauswand
————————————————————————————————————
Deutschen sprechen können. Sie können sich
gegen den Präsident Assad geschrieben. Die
Wie wollen wir leben?
nicht richtig informieren, nichts lesen. Die
wurden vom Geheimdienst abgeholt, einge
haben kein freies Leben, weil sie immer Hilfe
sperrt und gefoltert. Einfach so. Als die Eltern
AMANI In manchen Gegenden sieht man nur
brauchen. Man muss viel wissen in Deutsch
protestierten und demonstrierten, kam das
Häuser, Straßen und Autos. Wenn ich aus
land, wenn man frei leben will. Aber ohne
Militär und schoss auf die Leute, vier Tote.
dem Fenster gucke oder aus dem Haus gehe,
Sprache gibt es kein Wissen.
Das war der Anfang des Bürgerkriegs, mit
sehe ich nur graue Wände und Autos. Ich sehe
einer halben Million Toten. Keiner hatte mehr
keine Natur. Man fühlt sich nicht frei im Kopf
ZAINAB Genau! Und das wichtigste Wort für
Würde oder Rechte. Das ist schrecklich.
und guckt oft auf dem Bildschirm, im Fernse
die Freiheit ist „Nein!“. Wenn du keine Angst
hen oder Internet, in die virtuelle „Freiheit“.
mehr hast, „Nein“ zu sagen, beginnt deine
MOHAMMAD Wir reden hier über Freiheit mit
Das ist nicht normal, oder?
Freiheit. Besonders wenn du eine Frau bist.
Geld, Freiheit mit Auto, Freiheit mit Reisen, gute
Das habe ich hier in Deutschland gelernt.
Wohngegend mit Natur und so. Oder darüber,
AREEJ Das ist auch nicht schön für die Kinder.
ob die Corona-Beschränkungen richtig sind
Jetzt mit Corona ist das noch schlimmer, wenn
————————————————————————————————————
oder nicht. Das ist alles gut und wichtig. Aber
sie viele Tage zuhause bleiben müssen. Keine
Ohne Geld geht es nicht, oder?
es gibt eine Basis-Freiheit. Das ist Bewegungs
Schule, kein Kindergarten, kein Sport. Bei
freiheit oder Körperfreiheit. Ich meine, dass
uns in Syrien konnten sie einfach rausgehen
MARIAM Mit Geld kann man in Syrien viel
du mehr als vier Meter gehen kannst. In vielen
und vor oder hinter dem Haus spielen. Es gab
erreichen, man kann fast alles kaufen, sogar
Ländern kann die Polizei oder der Geheim-
immer viel freien Platz, wenn man aus dem
Polizisten oder Politiker oder Ärzte, und hat
dienst kommen und dich mitnehmen aus
Haus ging. Und Verwandte und Nachbarn, zu
viel Freiheit. Man hat sogar Würde, wenn man
deiner Wohnung und ins Gefängnis sperren.
denen sie gehen konnten.
Geld hat. Aber wenn man kein Geld hat, ist
Und dann bleibst du da, auf 10 Quadrat-
man nicht frei und hat keine Würde und keine
metern. Einen Monat , zwei, drei. Oder ein
ZAINAB Ja, genau! In Syrien gibt es für die
Rechte. Die Deutschen sagen: „Hast du was,
Jahr, zwei, drei oder länger. Und du weißt
Kinder immer die Möglichkeit, irgendwohin
dann bist du was, hast du nichts, dann bist du
nicht, warum. Und du kannst nichts machen.
rauszugehen, aber hier gibt es keine Plätze.
nichts.“ Das ist nicht so total ernst gemeint.
Keiner kann was machen. In meinem Land
Als ich Kind war, war ich die ganze Zeit drau
Ironisch oder so. Aber für mein Land passt
gibt es viele Männer, die einfach nur frei
ßen. Hier in Deutschland sind die Kinder nicht
das genau.
denken und sprechen wollen. Die sind einfach
so frei, weil sie nur an einem bestimmten Ort
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DER SAND MADE IN WICHLINGHAUSEN
Ausgabe 3
Die Grafik stammt aus dem Zyklus Lebensakrobatik – Luftspuren (2021).
„Mich interessiert an Kunst die Transgression; die Freiheit, die Grenzen traditioneller Sparten zu überschreiten,
um die Inhalte und Botschaften in ein anderes Licht zu stellen und die Kommunikation durch Kunst zu verbessern.”
Teresa Wojciechowska ist freischaffende Malerin, Grafi kerin, Installations- und Videokünstlerin.
Sie hat ihr Atelier in den Königsberger Höfen in Wuppertal Wichlinghausen.
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Ausgabe 3
ESSAY
DER SAND
Eine besonders
günstige Form
von Abhängigkeit
Ein Essay von Sina Dotzert über Freiheit und Privilegien
Vor einiger Zeit bin ich mit meinem Freund nach Südfrankreich
getrampt. Selten habe ich mich so frei und
so abhängig zugleich gefühlt: frei von der Notwendigkeit,
für eine Reise Geld ausgeben zu müssen, frei von
festen Abfahrts- und Ankunftszeiten, frei von der Verantwortung
für ein Fahrzeug, frei, überhaupt reisen zu
können; abhängig hingegen vom Wohlwollen fremder
Menschen, von ihren Fahrkünsten und von einem
Quäntchen Glück.
Als ich anfing darüber nachzudenken, wurde mir bewusst,
dass es eigentlich immer so ist: Es gibt keinen Moment in
meinem Leben, in dem ich komplett unabhängig wäre. Als
Kind brauchen wir Bezugspersonen, die uns lieben und versorgen.
Im Erwachsenenalter ist das nicht anders: Irgendjemand
muss unser Haus bauen, unsere Kleidung anfertigen,
und irgendwie müssen die Lebensmittel in den Supermarkt gelangen.
Jemand muss sich mit komplizierten Dingen auskennen,
Wissen weitergeben oder einfach schöne Geschichten erzählen.
Selbst wenn ich völlig isoliert im Wald leben würde, wäre
ich auf Trinkwasser, saubere Luft und eine intakte Pflanzenund
Tierwelt angewiesen. Wir sind also nicht nur von sozialen,
sondern auch von ökologischen Systemen abhängig.
Freiheit lässt sich also nicht mit Unabhängigkeit gleichsetzen.
Freiheit beschreibt vielmehr eine besonders günstige
Form von Abhängigkeit. Das griechische Wort für Freiheit,
„Eleutheria“, besagt, dass „Leute“ einer Gemeinschaft angehören.
„Freiheit“ im Deutschen geht auf das gotische „frijon“
zurück, was freundschaftlich lieben bedeutet. Dass sich Freiheit
nur im Kontext einer wohlwollenden Mitwelt konkretisiert,
ist also keine neue Erkenntnis. Doch es gibt Menschen,
die in der Praxis ein bisschen freier sind als andere.
Wenn ein Mensch privilegiert ist, dann genießt er ein besonderes
Vorrecht, das bestimmten Umständen geschuldet,
durch Gesetze festgeschrieben oder einfach im Alltag etabliert
ist. Beispielsweise darf ein:e deutsche:r Staatsbürger:in ab
ihrem/seinem 18. Geburtstag Volksvertreter:innen der BRD
wählen. Das ist gegenüber denjenigen, die hier leben, aber
nicht wählen dürfen, ein Vorteil. Ein Mensch, der in Deutschland
aufgrund seiner Herkunft oder seines Geschlechts nicht
diskriminiert wird, erhält leichter Zugang zu Bildung oder zu
einem angesehenen Job als ein Mensch, der von Diskriminierungen
betroffen ist. Ein Mensch, der wohlhabend ist, kann
sich mit seinem Geld allerlei ermöglichen, wovon er träumt.
Ein Mensch mit zwei gesunden Beinen kann problemlos die
vielen Treppen in Wuppertal auf- und absteigen. All diese
Menschen haben es leichter als andere, ihre Freiheitsrechte
in Anspruch zu nehmen, beziehungsweise ihr Leben oder ihre
Gesellschaft zu gestalten.
Es lohnt sich demnach zu prüfen, ob unsere Mitwelt
im Gleichgewicht ist, weil eben sie es ist, die Freiheiten erst
ermöglicht. Wäre unsere Mitwelt gefährdet, wären es auch
unsere Freiheiten. Wenn wir zugleich bedenken, dass wir als
biologische Wesen Teile von Ökosystemen sind und dass wir
im Zeitalter der Globalisierung mit allen Menschen dieses
Planeten in Gemeinschaft leben, dann müssen wir auch dies in
unsere Überlegungen mit einbeziehen. Man kann beobachten,
dass die medizinische Versorgung in wohlhabenden Ländern
im Schnitt besser ist als in weniger wohlhabenden. Die Gestaltungsfreiheit
der jetzigen und der folgenden Generationen
ist durch unseren Umgang mit unserem Planeten gefährdet.
Diese Tatsache hat neulich sogar das Bundesverfassungsgericht
verurteilt. Wir verbrauchen natürliche Ressourcen,
ohne dass jemand für die indirekten Kosten aufkäme. Die
daraus entstehenden Profite sammeln sich zu großen Teilen im
globalen Norden. In der Bundesrepublik selbst wird die Schere
zwischen arm und reich größer. Und weil in all diesen beispielhaften
Fällen Freiheiten im Sinne von Gestaltungsmöglichkeiten
und Inanspruchnahme von Rechten ungleich verteilt
sind, müssen wir unser globales, soziales und ökologisches
Miteinander überdenken.
Wir haben den konservativen Auftrag, Gesellschaften
im Sinne ihrer Werte zu erhalten. Wir haben den liberalen
Auftrag, Freiheiten auszuloten. Und wir haben den sozialen
Auftrag, für Gerechtigkeit zu sorgen. Wenn Privilegierte –
und dazu zähle ich selbst in vielerlei Hinsicht auch – nun
anerkennen müssen, dass sie vor allem deshalb bevorzugt
und ein bisschen freier als andere leben können, weil andere
für sie die entsprechenden Umstände geschaffen haben, dann
ist es an uns, im Sinne dieser drei großen Aufgaben Vorteile
abzugeben. Sollte das einmal nicht möglich sein, können
wir unseren Einfluss so nutzen, dass es den Menschen und
den ökologischen Systemen, von denen wir alle abhängen,
möglichst gutgeht.
Diejenigen, die bedürftig sind oder die diskriminiert
werden, dürfen laut und selbstbewusst fordern. Wer wiederum
bevorteilt ist und sich de-privilegiert, dem öffnen sich neue,
tiefgreifende Erfahrungen von Freiheit und Gemeinschaft.
Wann sind Sie zuletzt getrampt?
Foto: Daniela Camilla Raimund
DIE AUTORIN: Sina Dotzert lebt seit 2020 in Wuppertal und arbeitet als freischaffende
Dramaturgin. Zuvor war sie u. a. fest an der Oper Wuppertal und an der Komischen Oper
Berlin engagiert. Die ehemalige Lehramtsstudentin wirkte zudem im Schuldienst und entwickelte
Theaterstücke mit jungen Laien. Sina Dotzert engagiert sich im ensemble-netzwerk, das sich für
die Rechte von Theaterschaffenden einsetzt.
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DER SAND MITTENDRIN
Ausgabe 3
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Ausgabe 3
MITTENDRIN
DER SAND
Die Freiheit im Kiosk.
Und ihr Preis
Ein Rundgang durch die Welt der Büdchen in Oberbarmen und Wichlinghausen
Text: Hans-Dieter Westhoff · Fotos: Max Höllwarth
Kioske gibt es überall in Wuppertal, aber
Endlose Öffnungszeiten als Geschäfts-
mehr Shisha-Tabake gibt es beim Berliner
Marktführer. Bei M & E, McEck oder dem
wahrscheinlich nirgendwo so viele wie in
modell
Kiosk auf der Talachse. Überregional aktive
Kiosk Fröhlich gibt es lose Bonbons. Bei
Wichlinghausen und Oberbarmen. Es gibt
Unterstützt von sechs bis sieben Familien-
Spezialisten sind die Uzuns vom Bartho-Eck.
Bozan, Sural oder dem Bartho-Eck werden
sie an der Wichlinghauser und der Wittener
mitgliedern hält Erhan Sag diesen Kiosk rund
Hier gibt’s eine ganz Wand voller Clipper-Feu
Spielzeuge vom Modell-Rennwagen bis zur
Straße, der Schwarzbach und der Westkotter
130 Stunden pro Woche geöffnet, 365 Tage
erzeuge – hunderte von Designs für Sammler
rosa Prinzessin Lillifee angeboten, und ein be
Straße, aber auch mitten drin in den Wohn
im Jahr, morgens ab sieben und mindestens
aus Nah und Fern. Kann man bei ihnen auch
sonderer Hit ist das Wasser-Eis bei Sural für
quartieren. Mindestens dreißig gibt es hier,
bis Mitternacht, am Wochenende auch länger.
im Internet bestellen.
10 Cent pro Portion. Fast ein Kinder-Spezial
wahrscheinlich noch ein paar mehr.
Überhaupt sind die Öffnungszeiten ein wich
Viele Kioske sind Paketshops, McEck
kiosk ist der von Frau Gülüm an der Wittener
Kösk oder Küsk ist der türkische oder
tiger Faktor für die Beliebtheit der Büdchen
und die Jungs von der Wichlinghauser Str.
Str. 16. Hier gibt es nicht nur lose Bonbons
persische Begriff für kleines Häuschen, und
im Quartier. Bei Saliha Sural in der Wichling
6 für Hermes, Bartho-Eck für DHL oder der
und Spielsachen, sondern auch Schulartikel
nach diesem Vorbild nannte man hier vor 200
hauser Straße 54 ist die Tür zum Beispiel von
Kult-Kiosk von Shakan Asit an der Liegnitzer
und viele Kinderzeitschriften.
Jahren zuerst die vornehmen kleine Garten
6 bis 22 Uhr offen, beim Berliner Kiosk an der
Str. 75 für GLS. Für Menschen mit Verwandt
pavillons Kioske. Dass heute fast alle Kioske
Berliner Straße von 9 bis 3, am Wochenende
schaft im Ausland bieten Kioske Telefonkarten
Freiheit als selbstständige Kioskbetrei-
im Wuppertaler Osten von Migranten und
bis 4 Uhr, und bei Salih Bozan an der Breslauer
internationaler Betreiber an, zum Beispiel
ber:innen
ihren Kindern betrieben werden, hat gewiss
Straße 1 von 6 bis 23 Uhr.
der Berliner Kiosk oder Bozan an der Ecke
Für die Betreiber-Familien ist das ein zwei
nichts mit dem südöstlichen Ursprung die
Solche Zeiten kann nur bieten, wer eine
Breslauer/Wichlinghauser Straße. Außerdem
schneidiges Schwert. Mit den Geschäften –
ses Wortes zu tun. Aber bestimmt mit dem
Menge Helfer hat, fast immer aus der Familie.
werden bei Treffpunkt Lotto oder McEck
vom 2020er Lockdown abgesehen – sind die
Wunsch nach Selbstständigkeit und Freiheit.
Onkel, Schwager, Ehefrau und Kinder – alle
Geld transfer-Services angeboten. Damit kann
meisten eigentlich nicht unzufrieden. Aber der
helfen mit, damit die Kiosktür auch zu den
man Geld in die Ferne an Leute schicken, die
Preis für die kleine Selbstständigkeit ist hoch.
Aus der Fabrik in die Selbstständigkeit:
irrsten Zeiten offenbleiben kann. Danqi vom
kein Bankkonto haben.
Kioskbetrieb ist ein gefährliches Geschäft.
die kleine Freiheit?
Wichlinghauser Markt hat seine mithelfenden
Beim Kiosk-Sortiment kommt es auf die
Die nächtlichen Öffnungszeiten und das leicht
Saliha Sural hat es erst mit einem Döner
Söhne Mento und Emil sogar im Kiosk-Namen
Lage an. Es gibt Hauptstraßen-Kioske, am bes
weiterverkaufbare Sortiment von Zigaret
laden probiert, bis er vor 13 Jahren den Kiosk
M & E verewigt. Dabei gibt es auch Überra
ten an Bushaltestellen oder Kreuzungen, zum
ten und Spirituosen machen die Büdchen zu
an der Ecke Breslauer/Wichlinghauser Straße
schungen: An der Schimmelsburg 36 betreibt
Beispiel der Berliner Kiosk oder der von den
Opfern von Beschaffungskriminellen. Die
in einem leeren Ladenlokal direkt unter dem
das Ehepaar Ahilan Kamenthiram und Soru
Sags an der unteren Wichlinghauser Straße.
Mehrzahl der Kioske ist in den letzten Jahren
Nordbahntrassen-Viadukt eröffnete. Oktay
poluxmy Ratnasingam den Kiosk McEck. Bis
Hier dominieren die Laufkunden, die eben
Opfer von Überfällen und Einbrüchen ge
Urzun war Metall-Facharbeiter, als er vor
her konnten sie die Öffnungszeiten von 8.00
ein Päckchen Tabak oder einen Schokoriegel
worden. Erhan Sag erzählt von maskierten
zwei Jahren in den Eckladen seines Bruders
bis 24.00 Uhr gemeinsam stemmen, aber jetzt
brauchen. Im Wohnquartier-Büdchen domi
Räubern, Saliha Sural von gezogenen Waffen,
Engin an der Bartholomäusstr. 91 einstieg.
hat Frau Sorupoluxmy Vierlinge bekommen.
niert der Stammkunde, der sich dort seine
Danqui von erfolgreicher Verteidigung ge
Da war immer schon in Geschäft: erst eine
Jetzt muss Ahilan die neuen Öffnungszeiten
zwei Flaschen Feierabend-Bier holt. Man duzt
gen Einbruchsversuche, während er noch im
Metzgerei, dann ein Lebensmittelladen und
von 10.00 bis 21.00 Uhr allein absitzen, wo
sich, und die richtige Zigarettenmarke liegt
Hinterzimmer Ware ordnete. Shakan Asit vom
jetzt der Kiosk Bartho-Eck. Herr Akbal hatte
bei die stolze Mutter gewiss noch mehr und
schon auf dem Tresen, bevor die Stammkun
Kult-Kiosk in der Liegnitzer Straße hat nach
einen Imbiss in Hilden, bis er in den Wupper
länger zu tun hat.
din oder der Stammkunde den Mund aufge
vier Attacken – zwei Einbrüche und zwei
taler Osten einstieg, wo er jetzt mit Söhnen
macht haben. Quartiers-Kioske führen auch
Überfälle – jetzt die Nase voll. Schon bald wird
und Verwandten den Treffpunkt Lotto auf
Die bunte Welt des Kiosk-Sortiments
ein kleines Lebensmittel-Sortiment: H-Milch,
er den Baseballschläger hinter dem Tresen
der Wichlinghauser Straße und den Kiosk 49
Auf den ersten Blick gibt es in allen
Toastbrot, abgepackten Aufschnitt, Kaffee –
mitnehmen und hinter sich die Ladentür für
auf der Schwarzbach hat. Herr Danqui vom
Kiosken das gleiche zu kaufen: Zigaretten,
für den Haushalts-Notfall halt. In Zeiten des
immer zumachen.
Kiosk M & E am Wichlinghauser Markt wech
Getränke, Süßigkeiten und Snacks halt. Auf
Pandemie-Lockdowns haben die Kioske dieses
Denn da sind auch immer wieder die
selte vom Zustellfahrer für Großhändler und
den zweiten Blick hat jedes Lädchen seine
Sortiment sogar aufgestockt, zum Beispiel bei
endlosen Öffnungszeiten, von denen die
Restaurants in die Selbstständigkeit, und Senli
Spezialitäten, die für das Geschäft immer
McEck oder bei M & E. Dort oder bei Sural
Lebens kraft ganzer Familien verschlungen
vom Kiosk Fröhlich an der Schwarzbach 183
wichtiger werden, denn die Umsätze mit Tabak
gibt’s morgens auch Brötchen.
wird. Frau Gülüm vom „Kinder-Kiosk“ an der
war Offsetdrucker. Erhan Sag verlor vor sechs
und Schnaps nehmen seit Jahren ab; außer
Wittener Straße ist sich da eigentlich sicher:
Jahren seinen Job bei Brose in Ronsdorf. Dann
dem sind die Tankstellen arge Konkurrenten.
Ohne Kinder geht es nicht
„Kiosk-Selbstständigkeit ist keine Freiheit,
beschloss er, sich selbstständig zu machen, ließ
Deshalb haben einige unserer Lädchen beim
Büdchen sind nicht nur für Raucher,
sondern ein selbst gewähltes Gefängnis.“
sich seinen Arbeitslosengeld-Anspruch beim
Thema Rauchen und Zubehör mächtig aufge
Migranten und Getränkefreunde da, sondern
Arbeitsamt auszahlen und übernahm mit die
rüstet. Bei Sural an der Wichlinghauser 54 gibt
ganz besonders für Kinder. Wahrscheinlich
sem Startgeld den Kiosk an der Wichlinghauser
es eine Menge Shishas, beim Treffpunkt Lotto
sind Kiosk-Betreiber im Wohnviertel beim
Mehr Büdchen und ihre Besitzer:innen findest du
Straße 6, direkt an der Bushaltestelle.
ein großes Tabak-Sortiment dafür, und noch
Umsetzen von Taschengeld in Kinderglück
hier: www.die-wueste-lebt.org/der-sand
Die TABAKBÖRSE
Legendär und umstritten: Der Kiosk auf dem Berliner Platz war über viele Jahre
Stein des Anstoßes für die einen und beliebter Treffpunkt für die anderen.
An der Tabakbörse gab es Bier, Drogen und ab und zu eine Prügelei. Viele
Anwohner:innen und Passant:innen fühlten sich gestört von den Kiosk-
Besucher:innen, nannten sie „Trinker“, „Junkies“ oder „Penner“. Oft kam
die Polizei. Die Menschen, die sich hier trafen, sollten weg.
Im September 2021 schuf die Stadt Fakten und ließ den Kiosk abreißen.
Jetzt erinnern nur noch die Spuren der Steine an ihn.
„Mich haben die Menschen nicht gestört“, sagt Isabell Hanisch, die
Inhaberin des Eis-Cafés Barocco schräg gegenüber. „Aber aus gastronomischer
Sicht und für den Platz ist es jetzt besser so. Es gab immer wieder
Leute, die der Anblick abgeschreckt hat, und manche hatten auch Angst.“
Alle Probleme gelöst? Bea kommt seit 12 Jahren auf den Platz; gemeinsam
mit ihren Freund:innen saß sie immer gerne auf dem Mäuerchen
vor der Tabakbörse. Bis zuletzt kämpfte sie für den Erhalt des Kiosks;
sie sammelte über 1000 Unterschriften und schickte sie an die Stadt.
Vergeblich.
Bea hat einen wichtigen Ort verloren: „Ich fände es besser, wenn es
mehr Toleranz für uns gäbe“, sagt sie: „Wir sind nicht nur Leute mit einer
Alkohol- oder Drogenproblematik, sondern Menschen wie du und ich.
Oberbarmer. Jetzt treffen wir uns halt woanders“.
„Woanders“ liegt nur ca. 100 Meter entfernt, auf der anderen Seite des
Platzes. „Sie werden uns nicht wegkriegen“, beharrt Bea, „wir gehören
auch dazu.“ Die Getränke holt man sich nun vom Point Pedro.
Die Redaktion
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DER SAND MIKROKOSMOS
Ausgabe 3
Wir müssen reden!
Der alltägliche Straßenkampf –
Lärm, Parkplätze, Müll und Hundekacke
Von Rainer Lucas
Nun bin ich nach 40 Jahren Wuppertal in
WichlinghausenSüd gelandet, aus dem betulichen
Unterbarmen in einer Spielstraße,
die ums Eck geht. Hier stehen gepflegte altbergische
Fachwerkhäuser der dort lebenden
Eigentümer neben heruntergekommenen
Mietshäusern mit BewohnerInnen, die wenig
Geld haben. Die sozialen und kulturellen
Unterschiede führen im Straßenleben zu einer
bunten Mischung von Menschen unterschiedlicher
Herkunft.
Hier geht es lebendiger zu als in Unterbarmen,
und vieles spielt sich direkt auf der
Straße ab. Die Sitzbänke laden zum Verweilen
ein, die Alten reden über ihre Wehwehchen,
die Frauen übers Einkaufen, die Männer
über ihre Autos, und die Kinder bilden Rudel,
fahren Rad oder spielen Ball. Dieses soziale
Leben gefällt mir, und ich lerne viel über andere
Kulturen und Sitten. Es hat sich inzwischen
herumgesprochen, dass meine kleine Werkstatt
gut bestückt ist: Werkzeuge für kleine
Fahrradreparaturen, Wagenheber, Ballluftpumpe
– es gibt immer was zu tun. Aber dieses
Miteinander wird im Alltag auch auf die Probe
gestellt, insbesondere dann, wenn sich jemand
Freiheiten nimmt, ohne Rücksicht zu nehmen
auf die Bedürfnisse der Nachbarn oder das allgemeine
Wohlergehen. Ein paar Beispiele:
Zwischen Weltmusik, WDR 4
und den Rolling Stones
Es ist Sonntag, die Kirchenglocken läuten, aber
nicht mehr so oft wie früher. Neue Töne dringen
an mein Ohr. Gegenüber hören die arabischen
Mädchen ihre Hitparade, im Hinter hof
dudelt WDR 4. Soll ich nun auch noch einen
kulturellen Beitrag leisten? Ich lege die Stones
auf, laut, damit jeder die Botschaft mitkriegt:
„I‘m free to do what I want
any old time (…) But I‘m free,
any old time, to get what
I want.“
Jederzeit kann ich machen was ich will? Wohl
doch nicht, denn es klopft von oben. Offensichtlich
fühlt sich da mein Nachbar gestört.
Ist es nur die Lautstärke oder auch der ungewohnte
Sound? Für Beschwerden in dieser
Angelegenheit ist bei der Stadt Wuppertal eine
Dienststelle für Gefahrenabwehr zuständig.
Anzeigen sind aber selten von Erfolg gekrönt,
da der Sachverhalt „laute Musik“ in der Regel
bestritten wird. Vielleicht gibt es ja noch andere
Möglichkeiten, das zu klären?
Ballspielen und Gassi gehen
Ich spiele auf der Spielstraße mit meinem Enkel
Fußball. Da geht ein Fenster auf und eine
Frau ruft: „Hier wird nur mit Softball gespielt,
Lederbälle sind nicht erlaubt!“ Rückfrage
meinerseits: „Wieso?“ Antwort: „Die parkenden
Autos könnten beschädigt werden“. Also habe
ich einen kleinen Plastikball angeschafft, der
bei meinem Enkel aber wenig Anklang findet.
An dieser Stelle muss ich doch einmal
grundsätzlicher werden. Was ist das für eine
merkwürdige Spielstraße, in der auf 200
Meter Länge 32 Stellplätze für Pkws eingerichtet
sind (plus „wilden Parkern“ komme ich
ab 20 Uhr auf 40 Autos). Das sind mehr Autos
als Kinder; schätzungsweise spielen 20 bis 30
Kinder bei schönem Wetter auf der Straße.
Einmal im Monat kommt eine Politesse vorbei,
die schaut, dass alle wie vorgesehen parken
und verteilt das ein oder andere „Knöllchen“.
Aber nach den Kindern schaut keiner.
Diese Spielstraße ist inzwischen auch ein
Hundepfad. Die vielen Bäume und die schönen
Beete werden morgens früh und nachmittags
stark von Hunden für ihr Geschäft genutzt.
Natürlich in Begleitung ihrer Besitzer. Das
stinkt irgendwie zum Himmel, ganz real, aber
auch grundsätzlich. Da nützen auch die vielen
Verbotsschilder nicht. Hat Wuppertal nicht
ein Hundeverbot auf Spielplätzen, und wieso
gilt das nicht für eine Spielstraße? Ein solches
Problem kann nicht dadurch gelöst werden,
dass die Nachbarn sich darüber verständigen,
ob Kinder oder Hunde wichtiger sind.
Müllpalmenaktion mit Nachbarskindern Foto: Rainer Lucas
Das schnelle, süße Frühstück
auf der Straße
Ein Frühstück am Küchentisch ist anscheinend
nicht mehr üblich. Viele Schulkinder verspeisen
noch schnell einen Snack auf dem Weg
zur Schule, und die bunten Verpackungen
landen dann auf der Straße. Da ist alles dabei:
Milchschnitte, Schokolade, Kakao, Limo. Und
neuerdings auch zahlreiche Schutzmasken.
Soweit es meinen Straßenabschnitt betrifft,
sammele ich das jeden Tag ein. Für die ganze
Straße ist die Kehrmaschine der ESW zuständig,
die aber nur einmal pro Woche
kommt. Betroffen von dieser Müllflut sind
auch die schönen Blumenbeete, die einige
Nachbarsfrauen angelegt haben. Soll ich jetzt
den Müllwart spielen und die Kinder ermahnen?
Ist wohl nicht so zielführend. Außerdem
müsste ich dann früher aufstehen.
Freiheit und die Palme als
Müllbotschafterin
Wie die Beispiele zeigen, ist „Freisein“ in
Wichlinghausen nicht so einfach. Wie können
die damit verbundenen Konflikte gelöst
werden? Die „Bullen“ rufen, Überwachungskameras
anbringen, den Blockwart spielen?
Autoritäre Maßnahmen sind nicht so mein
Ding. Sie lösen auch meistens nicht das
Problem, sondern verschieben es nur auf
eine andere Ebene: Macht! Das Recht des
Stärkeren, der große Bruder, der alles regelt.
Nein, danke!
Ich muss dann wohl selbst aktiv werden, sonst
krieg ich schlechte Laune. Denn insbesondere
der Müll und die Hundescheiße bringen mich
an manchen Tagen auf die Palme.
Beim Anblick meiner drei Meter hohen
Palme, die ich seit 40 Jahren pflege, kommt
mir dann doch noch eine Idee. Und mitten im
Nachdenken darüber, wie und wann ich was
mache, klingeln 3 Nachbarskinder und fragen,
ob die Automatten, die auf der Straße liegen,
mir gehören. Natürlich nicht. Aber wir kommen
ins Gespräch und ich erzähle von meiner
Idee, die Palme als Müllbotschafterin auf die
Straße zu stellen. Gesagt, getan! Ich stelle gemeinsam
mit den Kindern Palme samt Hocker
als Untersatz vor das Haus. Dann sammle ich
mit den Kindern den Frühstücksmüll von der
Straße und wir hängen die Fundstücke mit
Wäscheklammern an die Palme. Die Kinder
bemalen ein Schild, auf dem steht: „Wo gehört
der Müll hin?“ (Siehe Foto). Der ungewöhnliche
Aufbau weckt gleich die Neugier
der Nachbarn, die gerade vorbeikommen.
Yusuf von gegenüber hält mit seinem Lieferwagen
an und fragt: „Warum?“, und ich sage:
„Anstoß zum Nachdenken, Müll gehört nicht
auf die Straße.“ – „Gut so“, sagt er und fährt
weiter. Auch die FahrradJungs melden sich
zu Wort: „Sowas machen wir nicht!“
Die Wirkung meiner Aktion ist begrenzt
auf mein unmittelbares Umfeld. Ob das auch
anderswo funktioniert, weiß ich nicht. Aber es
wäre schön, wenn es in Wichlinghausen mehr
solcher Aktionen gäbe. Mit oder ohne Palme,
Hauptsache man spricht miteinander. Und
damit die Gespräche etwas länger dauern
können, stelle ich noch drei Stühle raus, vielleicht
gibt es ja noch mehr Gesprächsbedarf,
nicht nur über Müll, sondern auch über die
schönen Seiten des Lebens. Ich werde mich
diese Woche nochmal auf einen der Stühle
setzen und mal gucken, was passiert. Wie ich
das mit der Hundekacke ansprechen soll, weiß
ich noch nicht. Die kann ich ja nicht an die
Palme hängen.
Herzlichen Dank für die Hilfe und den spontanen
Mülleinsatz an Emily, Miri und Leonie!
Teile Deine Erfahrungen /
Deine Meinung unter:
info@die-wueste-lebt.org
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Ausgabe 3
WIDERSTAND
DER SAND
Das
falsche
Kreuz
Bernhard Letterhaus –
ein freier frommer Barmer
Von Hans-Dieter Westhoff
Ernst Gerd Jentges: Porträt Bernhard Letterhaus
Die Hauptschule auf dem Rott ist nach
ihm benannt und ebenso die kleine
Straße auf der Westseite des Alten
Markts, zwischen Wirkerstraße und
Wupper. Bernhard Letterhaus gehört
also zu den städtischen Prominenten,
die es posthum auf Schul- und Straßenschilder
geschafft haben. Aber er war
kein Bürgermeister, Maler oder Dichter,
sondern ein Bandwirker und Gewerkschafter
vom Rott, gleichzeitig frommer
Katholik, später Politiker und Widerstandskämpfer
im Dritten Reich. 1944
wurde er von den Nazis gehängt.
Strammer Katholik unter Pietisten
Der 1894 in Barmen geborene Bernhard
Letterhaus wächst, mitten im pietistischevangelischen
Wuppertal, in einer streng
katholischen Familie auf. Natürlich will er
Priester werden, aber nach acht Jahren Volksschule
geht er als Lehrling in die Bandwirkerei,
dann an die Textilfachschule in der Gewerbeschulstraße
und anschließend als Soldat in die
Schützengräben des 1. Weltkriegs. 1918 hat
er mit der Misere der Industriearbeiter und
der Hölle des Stellungskriegs genug Elend
kennengelernt. Er wird Gewerkschafter im
Katho lischen Arbeiterbund (KAB) – Spitzname:
Stichflamme – und wenig später auch
Politiker in der Zentrumspartei.
Diese ist im Kaiserreich und in der Weimarer
Republik die katholische Volkspartei
mit, ähnlich wie später die CDU, unternehmerfreundlichen
und gewerkschaftlich orientierten
Flügeln. Bis zur Machtübernahme der
Nazis ist das Zentrum ziemlich einflussreich.
In fast jeder Regierung von 1919 bis 1933
sitzen Zentrums-Minister; auch der letzte
Kanzler vor Hitler, Franz von Papen, ist ein
Zentrums-Mann, allerdings einer von der monarchistischen
Rechten. Dieser tritt 1932/33
aktiv für eine Aufnahme der NSDAP in die
Regierung ein, um diese in der gemeinsamen
Koalition zu „zähmen“. Was kommt, ist bekanntlich
keine Zähmung der Nazis, sondern
die Machtergreifung Hitlers.
Bernhard Letterhaus gehört als Gewerkschaftsmann
zum linken Zentrums-Flügel und
steht von Anfang an in scharfer Gegnerschaft
zu den Nationalsozialisten. Ihm geht es um
die Emanzipation der Arbeiter, zum Beispiel
bei der Gründung der katholischen Arbeiter-Internationalen
1928 in Köln: „Eine katho
lische Arbeiterbewegung, die die Freiheit und
Gleichberechtigung der Lohnarbeiterschicht
will, deren Ziel es ist, die Stand werdung der
Arbeiterschaft zu erreichen, muss danach
streben, der ganzen Wirtschaft wieder einen
Sinn zu geben, in ihr die Dienstidee am Menschen
durchzusetzen.“
Das falsche Kreuz
Als Mitglied im Preußischen Landtag nennt
er 1929 Hitler, Göring, Göbbels und Freisler
„Größenwahnsinnige, Volksbetrüger, Hohlköpfe
und Abenteurer, die das Volk ins Unglück
stürzen werden“. 1930 spricht er auf
dem Katholikentag in Münster vom Hakenkreuz
als dem „falschem Kreuz“, mit dem die
Nazis „die Herzen des leidenden Volkes verwüsten“.
Weil er – im Gegensatz zur Mehrheit
der Zentrums-Fraktion im Reichstag – das Ermächtigungsgesetz
ablehnt, bleibt er im März
1933 der Abstimmung im Landtag fern, und er
wirbt auch nach 1933 in katholischen Kreisen
für den Widerstand gegen das NS-Regime.
Bei Kriegsbeginn 1939 wird er eingezogen;
ab 1942 ist er in der Presseabteilung der
Wehrmacht aktiv. Hier trifft er Menschen
wie Ludwig Beck und Carl Goerdeler, die am
20. Juli 1944 den Putsch gegen Hitler versuchen
werden. Auch mit seinen katholischen
Freunden berät er sich im „Kölner Kreis“ und
gehört schließlich zum führenden Kern der
Widerstandskämpfer, der bereit ist, nach dem
Umsturz das Amt des politischen Beauftragten
im Münsterland zu übernehmen und als
Aufbauminister der neuen Regierung tätig zu
werden. Am 25. Juli 1944 wird er verhaftet,
am 13. November 1944 zum Tode verurteilt
und am folgenden Tag in Plötzensee erhängt.
Die Stichflamme brennt nicht mehr.
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DER SAND IM FOKUS
Ausgabe 3
FREIHEIT
Eine Recherche der Mobilen Oase
mit Pop-Up-Foto-Studio an der B 7
Interviews: Roland Brus
Fotos: Mirela Hadžic
Casting: Daniela Camilla Raimund
Mehr zum Making-Off der Aktion fi ndest du unter: www.die-wueste-lebt.org/der-sand
Samia
Freiheit muss man sich verdienen. Für mich gibt es nur
ein Gesetz: Energie kommt zurück, egal ob gute oder
schlechte. Ich glaube, wenn ich andere leben lasse, darf
ich leben. Wenn ich andere frei lasse, darf ich frei sein.
Ich bin seit 12 Jahren Veganerin. Weil ich mich immer
philosophisch gefragt habe, was ist der Sinn des Lebens
und was mache ich falsch? Warum ist das alles hier so
düster und schmerzhaft? Ich sehe dieses Gesetz, da wo
man die Tiere frei lässt, wo man ihnen nicht wehtut, da
kann man auch inneren Frieden haben. Das merke ich,
am eigenen Leib. Auch die Träume änderten sich, mein
Denken. Man ist einfach friedlicher und wird sozusagen
mit Freiheit belohnt.
Peter
Ich bin Holzspielzeug-Schreiner. Ich spiele
seit ein paar Jahren Theater, bei der Gruppe
Bamboo, wie Antje. Das bedeutet mir sehr viel.
Da gibt es viel Freiheit. Da sind wir auch spon-
tan. Im Stück sind auch immer Sachen dabei,
die nicht geprobt sind. Die einfach so raus
kommen und das wird dann halt gemacht. Da
kommen noch ganz andere Sachen raus, auch
Gefühle.
Wenn ich demnächst in Rente gehe, ist gut,
dass man nicht einfach so dasteht. Dann hat
man noch was, das Schauspiel. Dann darf ich
nur noch Theater machen. Ja, das ist Freiheit,
wenn ich mich dann nur doch auf diese eine
Sache konzentrieren kann, sonst auf nichts.
Desiree
Freiheit ist vor allen Dingen Freizeit zwischen
Arbeit und Privatleben. Ich bin LKW- und
Busfahrerin, wir haben echt eine 60-Stundenwoche
plus Heimfahrt. Ist nichts mit Sightseeing
oder sowas, wie das früher mal war. Weil die
LKW-Fahrer komplett überwacht werden. Die
Firmen haben Fleetboard und wissen genau,
wo ich gerade bin. Uhrzeit, alles. Urlaub hat
man auch kaum oder kannst du nicht machen,
weil man eh so wenig Geld verdient. Dann
sagen sie, ja komm, dann zahlen wir euren
Urlaub aus. Das ist nicht die Freiheit der
Straße, eher Sklaverei.
Diallo
Ich komme aus Guinea. Ich bin 19 Jahre alt. Ich bin seit zwei Jahren alleine in Deutschland. Unsere Kultur ist sehr
kompliziert. Meine Eltern hatten mich mit 12 Jahren beschneiden lassen. Ich wurde mit 13 verheiratet. Das war sehr
schwer. Deswegen bin ich weggelaufen. Wegen der Heirat bin ich ein bisschen traumatisiert. Mein Kopf ist blockiert.
Meine kleine Schwester ist wegen mir behindert. Ich habe sechs Monate geblutet. Sie hat das gesehen. Sie kann
jetzt nicht sprechen. In Guinea haben die Männer Freiheit und die Frau darf nichts. Hier in Wuppertal bin ich frei.
Hier kannst du zur Schule gehen, kannst du gut essen. Hier gibt es Unterstützung für Kinder. Die Menschen sind
nett. Alles ist gut. Deswegen sag ich, Freiheit ist sehr wichtig für mich. Viele, auch deutsche Mädchen, wissen davon
gar nichts, aber es ist wichtig.
Seite 14
Ausgabe 3
IM FOKUS
DER SAND
Antje
Freiheit ist ja, dass Menschen so leben können und
dürfen, wie sie möchten und nicht von oben Däumchen
drauf. Ich bin geistig behindert, von Geburt an.
Merkt man nicht, aber bei manchen Sachen schon. Beim
Sagen, Handarbeiten, Kochen. Vor allen Dingen mit
Geld. Mathematik ist nicht so meins, da brauche ich
schon Unterstützung. Und wenn ich einkaufen gehe und
bezahlen muss, dass da einer hinter mir steht, der da
drüber guckt. Ich bin in der Kerzenwerkstatt am Dönberg.
Ich habe jetzt vier mal in der Woche Betreuung.
Ich bin sehr freiheitsliebend. Mit der Umwelt ist es
jetzt kurz vor zwölf. Die ganze Politik, die verdrängt das.
Die schieben das von da nach da hinten. Das muss
aufhören, dass die den Regenwald abholzen, und da
in Afghanistan, der Krieg. Wir haben doch nur diese
eine Erde, die von oben aussieht wie ‘ne schöne blaue
Murmel. Die Politiker sollten da mal rauf und von oben
gucken, was auf der Erde los ist, was in uns Menschen
ist und was uns in unser aller Herzen bewegt. Ich möchte
Riesenarme haben und wie ein Engel meine Arme um
die Erde legen und zu allen sagen, die chaotisch sind:
Haut ab! Lasst unsere schöne Erde in Frieden.
Günther
Das ist ein schönes Wort, Anarchie. Man sagt Anarchisten sind Chaoten.
Anarchie kommt vom anarchia, aus dem Griechischen, das bedeutet: ohne Gewalt, ohne Zwang, durch Vernunft.
Man macht ein Schimpfwort aus etwas, was an sich positiv ist. Die Menschen sind blöde, und ich bin nicht
besser, wenn ich zum Aldi gehe, einkaufen, da gibt es Freilauf-Hühner und besondere Hühner, und ich kauf die
preiswerteren. Damit unterstütze ich das System doch auch, weil mir das Hemd mehr wert ist als der Rock. So sind
die Menschen.
Als Kind, vielleicht so vierte, fünfte, sechste Klasse in der Volkschule in Berlin, da war ein Lehrer, wo der herkam,
weiß ich nicht. Von dem hab ich ein Gedicht gelernt: „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm mit
hellem Scheine, süßes Engelsbild. Magst du nie dich zeigen der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen nur am
Sternenzelt?“
Ist ein ganz schönes Gedicht. Aber was hat‘s genützt?
Georg
Ich schlag mich durch, schon seit 30 Jahren.
Gibt keine Freiheit mehr. Ich bin auf der Straße.
Kommt nichts mehr rein. Die Leute haben einfach Angst.
Ich krieg keine Münzen mehr, antworten tun sie auch
nicht mehr, also sprechen können sie auch nicht mehr.
Die haben Angst vor dem scheiß Corona-Mist. Wenn
das so weitergeht, haben wir es bald hier wie in China.
Keiner redet mehr, keiner hat ’ne eigene Meinung. Das
läuft hier.
Die Freiheit für mich ist, meine Meinung offen zu sagen.
Aber das darf man ja auch nicht mehr, wenn wir jetzt zum
Beispiel die Impfung anzweifeln.
Dazu kam die Überfremdung, da dürfen wir auch
nichts gegen sagen, dann kam die Währung, da wurden
wir auch nicht gefragt, ja, und jetzt ist scheiße. Da steht
doch keiner auf und sagt, wir machen nicht mehr mit.
Einfach wäre, einfach die Masken weglassen, einfach
weiterleben wie sonst, aber nein, geht nicht, wir werden
erpresst. Impfpfl icht durch die Hintertür.
Und die Maskendeals, die gelaufen sind! Die haben
sich alle die Taschen vollgemacht, und was haben wir?
Wir haben nichts! Wir müssen nach Münzen fragen,
kriegen nichts, werden noch dumm angeguckt.
Haji
Ich komme aus dem Irak mit meiner Familie. Ich bin verheiratet
und habe vier Kinder. Wir sind seit fünf Jahren
hier. Uns geht es gut in Deutschland. Ich bin Jeside.
Im Irak werden wir verfolgt, Jesiden und auch Christen.
Das ist sehr schwer, sehr gefährlich, wir haben viel Krieg
im Irak.
Hier ist es gut, das Leben, die Kinder gehen in die
Schule und haben eine Ausbildung und alles. Hier hast
du viele Möglichkeiten. Aber im Irak keine. Und keine
Freiheit. Alles Krieg, keiner fragt, keine Schule, manchmal
gibt es eine Pause, dann wieder Krieg. Es ist alles
schwer und gefährlich. Es gibt dort keine Perspektive.
Hier hast du Perspektive. Viel Zeit, viele Chancen, viel
Arbeit, viele Firmen. Ich hab Arbeit. Oberbarmen, alles
ist schön.
Ramona
Jetzt haben wir auch wieder ein bisschen Freiheit, wo wir in die Stadt gehen können. In den Wald könnte man auch
gehen, das wäre auch Freiheit, aber wenn ich jetzt nur in den Wald gehe, dann werde ich bekloppt. Deswegen muss
ich unter Menschen sein.
Freiheit heißt für mich, dass Geld keine Rolle spielt. Sodass wir einfach unser Leben leben, wie wir Lust haben.
Aber es war schon immer so, dass Geld eine Rolle spielt. Es ist nicht so, dass wir wenig haben. Ich meine jetzt nicht
dieses Einkaufen oder so. Ich meine jetzt wirklich so spontan irgendwo nach Spanien oder Türkei gehen ohne Geldprobleme,
sowas halt.
Seite 15
DER SAND HAUTNAH
Ausgabe 3
Ein Gespräch über Freiheit und Behinderung:
Besuch bei Sascha Bückemeyer
Von Wilma Schrader
Sascha und sein Projektassistent Markus Breuer Foto: Oskar Siebers
Seite 16
Ausgabe 3
HAUTNAH
DER SAND
Der Herbst meldet sich. Der Morgen ist
damit die mir nicht wegkippen – was unge
sind; der Landesverband Rheinland, der das
die vorübergehend bei mir eingezogen sind.“
nebelig, der Ahorn vor meinem Fenster
heure Schmerzen verursacht. So hilfreich das
persönliche Budget auszahlt.“
Sascha Bückemeyer gibt nicht auf. Trotz
leuchtet rot. Heute bin ich mit Sascha
Medikament auch ist, ich bin dankbar dafür,
Heidi von Schledorn, seine Pflegeassis
aller Behinderungen, trotz allen Leidens hat er
Bückemeyer verabredet. Seit seiner
aber durch die Nebenwirkungen bezahle ich
tenz, mischt sich ein: „Es gibt keine Lobby
sein Selbstbewusstsein bewahrt: Er hat durch
Kindheit leidet er an Rheuma. Mit ihm
einen hohen Preis“, beschreibt Bückemeyer
für Behinderte. Sie sind nicht wichtig. Sie
gesetzt, dass er das „persönliche Budget“ er
will ich über Behinderung und Freiheit
seinen Zustand. Von seiner Rheumaklinik
werden kaserniert, behandelt und müssen
hält, eine Hilfeleistung die 2001 eingeführt
reden. Es ist feucht, es ist kalt. Ob es
im bayrischen Oberammergau, in der er sich
sich Regeln fügen, die sie nicht wollen, zum
wurde. Seitdem kann er seine Pflege assistenz
ihm wohl gut geht?
einmal pro Jahr aufhält, ist er gut eingestellt.
Beispiel täglich 20 unterschiedliche Pfleger
selbst managen. Mit 30 Jahren hat er den
Ich stehe in einer ruhigen Seitenstraße in
Inzwischen kommt er mit 2 mg des künstlich
aushalten, Menschen, die sie oftmals nicht
Führer schein bestanden. Gegen zu wenig aus
Nächstebreck. Gegenüber ein verlassen wir
hergestellten Hormons pro Tag aus. Damit
kennen. Immerhin sind die Dienstleistungen
gezahlte Gelder wehrt sich Bückemeyer auch
kendes Gebäude, vielleicht eine Schule, ansonsten
bürgerlich. Bückemeyer lebt in einem
schmucklosen Sechziger-Jahre-Mehrfamilienhaus.
Im Hausflur eine Rampe: Hier wohnt
jemand, der auf einen Rollstuhl angewiesen
ist. Die Wohnungstür öffnet sich. Ein Mops-
Mischling begrüßt mich schnaufend und mit
wedelndem Schwanz. Eine Frau versucht,
den Kleinen zurückzupfeifen. Ich betrete den
schmalen Flur. Sascha Bückemeyer kommt
mir in seinem Rollstuhl entgegen.
Er ist kleiner und zarter als erwartet;
zwei strahlend blaue Augen mustern mich
aufmerksam. Er wirkt etwas distanziert und
neugierig; er trägt einen roten Bart und eine
Kappe mit dem gestickten Logo seines Vereins
„Helfen durch Handeln“. Cool irgendwie.
Er führt mich in die Küche, bietet mir einen
Kaffee oder Tee an. Die Frau – offensichtlich
seine Assistenz – folgt, nachdem sie ihren
kleinen Hund beruhigt hat. Ich erkläre, was es
mit uns auf sich hat: dass wir eine hyperlokale
Zeitung herausgeben, dieses Mal zum Thema
Freiheit. Sascha Bückemeyer kennt uns: „Alle
Ausgaben im Netz gefunden.“ Ich: „Und?“ –
„Alles super, ich freue mich, dass Sie da sind.
Außerdem braucht mein Verein ja immer
wieder Aufmerksamkeit!“ Er grinst.
—————————————————
»Ich finde diese
ständigen verbalen
Fettnäpfchen nervig.«
—————————————————
kann er das Leben führen, das er sich vorstellt.
—————————————————
»Es gibt keine Lobby
für Behinderte.
Sie sind nicht wichtig.«
—————————————————
„Wie hält man es in einem solchen Körper
aus?“, will ich wissen, „besonders in der Jugend?
Sind die gesunden Kinder mit Ihnen gut
umgegangen?“ – „Damit hatte ich nie Probleme“,
sagt er. „Schon im Kindergarten habe ich
mir unbewusst ein Netzwerk geschaffen, war
schon immer ein Rebell, wenn es um meine
Behandlung ging. Die Krankheit hat meine
Freunde nie beeindruckt. Im Gegenteil, sie haben
mich überallhin mitgenommen, und heute
sind sie es, die mir helfen, wenn die Pflegedienste
an ihre Kapazitätsgrenzen kommen.“
Das Netzwerk ist so stabil, dass ihn Freunde
aus Kindergartenzeiten bis heute begleiten.
Die Eltern Bückemeyer waren Inhaber
einer mittelständischen Druckerei. Selbstständig
zu sein scheint zu Bückemeyers DNA
zu gehören. Mit 15 Jahren kündigte er seinen
Eltern an, später in der eigenen Wohnung
leben zu wollen. „Manchmal wünschte ich mir,
zehn Jahre später geboren zu sein. Da war,
dank Internet, die Informationsbeschaffung
schon einfacher. Ich bin sicher, vieles wäre
anders gelaufen.“.
2004 wagte er den ersten Schritt und zog
aus. Das Wohnheim für behinderte Menschen
der „Evangelischen Stiftung Volmarstein“ bot
dicht am Körper und intim.“ Bückemeyer
weiter: „Behinderte werden über einen Kamm
geschoren. Das Pflegesystem in Deutschland
zwingt Menschen in völlig absurde Situationen.
Meine Betreuungsassistenz darf mir fünf
Mal täglich auf das Klo helfen. Beim sechsten
Mal muss ich fragen und bin dann auf das
Wohlwollen meines Assistenten angewiesen.
Ich habe auch schon gehört: ‚Mach‘ in deine
Hose, dann darf ich dir wieder eine große Waschung
anbieten‘“, erzählt Bückemeyer ruhig,
legt den Kopf schief und schaut mich an, um
herauszufinden, wie ich auf seine drastische
Geschichte reagiere.
—————————————————
»Schneller,
höher, weiter
ist nicht mein Ding.«
—————————————————
Kranken Menschen, die auf Hilfe angewiesen
sind, haftet das Stigma des Scheiterns an, und
das in einer Gesellschaft, die Leid ignoriert
und grenzenlose Freiheit aus eigener Kraft
nahezu kultisch verehrt. Heidi von Schledorn:
„Es gibt eine Parallelwelt, von der gesunde
Menschen nichts mitbekommen. Behinderte
kämpfen für sich allein. Sie organisieren sich
nicht, ihnen fehlen die Kraft und das Selbstbewusstsein.
Und wir, die Pflegenden, halten
die staatlich diktierten Kataloge kaum aus.
Mental nicht, und weil es eine körperlich
schwere Arbeit ist, auch physisch nicht. Wir
werden krank, wir werden schlecht bezahlt,
schon mal gerichtlich. Einen zwei Jahre andauernden
Prozess hat er soeben gewonnen.
—————————————————
»Ich würde gerne dort
leben, wo es warm
und trocken ist!«
—————————————————
Eine Mission gibt ihm Kraft: Er will sein
Wissen, seine gesammelten Erfahrungen
an die weitergeben, die sich allein gelassen
fühlen. Die in einer Welt leben, die sie in ein
unwürdiges Kontroll-System zwingt und behinderten
Menschen von vorneherein die
Fähigkeit zu selbstbestimmtem und freiem
Handeln abspricht: „Es spricht doch Bände,
dass ein volljähriger Mensch mit einer rechtlichen
Betreuung in diesem Jahr das erste Mal
wählen durfte. Das waren 85.000 neue Wähler.“.
Im Frühjahr 2019 gründete er gemeinsam
mit seinen Pflegeassistenzen und Freunden
‚Helfen durch Handeln e.V.‘. Mit seinem
Verein sorgt Bückemeyer für Aufmerksamkeit
und veranstaltet karitative Events. Anfang
2020 gründete er gemeinsam mit seinen
Freunden die HdH-Betreuung, mit der er behinderten
Menschen konkrete Hilfe für mehr
Teilhabe anbietet. Mehr Entfaltungsmöglichkeiten
und Freiheit gehören zu den Unternehmenszielen,
auch für Pflegeassistenzen. Jeder
Mensch soll in die Lage versetzt werden, einen
gesellschaftlich wertvollen Beitrag leisten zu
können, egal ob behindert oder nicht. Er selbst
jedenfalls ist auf dem besten Weg dorthin.
„Handicap oder Behinderung? Will ein
ihm Unterschlupf. Zwei lange Jahre harrte er
wir werden nicht gesehen. Das ist zermürbend.
Wann sein Unternehmen wirtschaftlich arbei-
Mensch, der unter körperlichen Beeinträch
dort aus, fühlte sich aber als Behinderter un
Wir beugen uns einem System, das wir völlig
ten wird, lässt sich noch nicht sagen: „Das alles
tigungen leidet, als Mensch mit Behinderung
ter Behinderten deplatziert, wollte ein selbst
falsch finden, können uns aber nicht wehren,
muss Spaß machen und darf nicht in Stress
angesprochen werden?“, möchte ich zunächst
bestimmtes, kein betreutes Leben führen. Der
weil auch uns die Kraft fehlt. Wir wollen
ausarten. Schneller, höher, weiter ist nicht
wissen. „Ja gut, ‚du bist behindert‘ ist meist als
Zufall kam ihm zur Hilfe. Im Radio hörte seine
helfen, nicht kämpfen und Steine in den Weg
mein Ding. Wir nehmen uns die Zeit, die wir
Beschimpfung gemeint, aber es gibt so viele
Mutter von der Kokobe, einer Organisation,
gelegt bekommen.“ Und Bückemeyer weiter:
brauchen.“
Dinge, die wir heute falsch sagen können. Ich
die Jugendlichen mit Behinderung dabei hilft,
„Weshalb muss ich jedes zweite Jahr den so
Und welche Träume hat er für seine Zu
habe eine Behinderung und damit basta. Ich
ein in ihrem Rahmen eigenständiges Leben zu
genannten Hilfeplan erneuern lassen? Bei mir
kunft? „Ich würde gerne dort leben, wo es
kann einfach nicht alles, was andere können.
führen. Die Mutter nahm Kontakt auf, und es
ist doch klar, dass ich weder in 5 noch in 10
warm und trocken ist! Der Winter ist für mich
Ich finde diese ständigen verbalen Fettnäpf
gelang. Die Kokobe verhalf Bückemeyer zur
Jahren laufen kann! Gut, es könnte schlechter
die schlimmste Jahreszeit, feucht und kalt, und
chen nervig“, seufzt Bückemeyer. Das wäre
ersten eigenen Wohnung: „Damals konnte ich
geworden sein! Ich sitze alle zwei Jahre in Ge
führt zu Rheumaschüben. Manchmal sind die
also schon mal geklärt.
mit der Hilfe der Mitarbeiter nach und nach
genwart von mehreren Beisitzern und muss
so schlimm, dass ich mich selbst nicht berüh
Sascha Bückemeyer ist 37 Jahre alt und
alle mir zur Verfügung stehenden Leistungen
Listen abarbeiten, in der jede menschliche
ren kann, weil alles so weh tut. Ein Traum von
etwa so groß wie ein sechsjähriger Junge.
so zusammenstellen, dass ich ein selbststän
Verrichtung mit einem Zeitkontingent verse
mir wäre, einen Ort zu schaffen, wo Pflege
Seine Hände, klein und verformt, haben nur
diges Leben in der eigenen Wohnung führen
hen wird: Wie oft und wie lange gehe ich auf
kräfte, alte Menschen, junge Menschen, be
wenig mit der Anatomie einer erwachsenen,
konnte. Ich wollte keinesfalls mehr von meinen
die Toilette, jeweils 10 Minuten? Wie viel Zeit
hinderte und gesunde zusammenleben und
gesunden Hand zu tun. Sie lassen ahnen, was
Eltern versorgt werden. Sie haben sich keine
brauche ich für das Zähneputzen, wie viel für
alle Aufgaben gemeinsam bewältigen. Und ich
die Krankheit mit den Knochen seines Kör
Hilfe geholt, sind wahrscheinlich nicht mal
das Anziehen, das Essen. Am Ende steht dann
wünsche mir, dass mein Verein wächst und
pers angestellt hat. Er sitzt im Rollstuhl, kann
auf die Idee gekommen. Heute möchte ich
eine Stundenzahl, sagen wir mal 13. Dann
ich das alles noch erlebe.“
nicht gehen, wird es nie können, und er ist in
nicht mehr von meiner Mutter auf die Toilet
kommt eine Beisitzerin und behauptet, dass
allen seinen Bewegungen auf ein Minimum
te gehoben werden. Ich möchte die Freiheit
ich nur 11 Stunden benötigen würde, weil sie
eingeschränkt. Seit seiner Geburt leidet er unter
haben, selbst zu entscheiden, wer mich pflegt,
selbst eine behinderte Tochter habe und be
Rheuma, hat Schmerzen und Entzündungen;
wer menschlich zu mir passt“, sagt Bücke
urteilen könne, wieviel Zeit für die täglichen
seit seinem ersten Lebensjahr bekommt er
meyer. „Und selbst heute ist die Informations
Verrichtungen notwendig sei. Also bekomme
Kortison. Das Medikament hat seine Knochen
beschaffung noch schwierig. Die öffentlichen
ich nur für 11 Stunden eine persönliche Assis
porös gemacht. Drei Rückenwirbel sind inzwi
Stellen sehen alle nur den eigenen Bereich und
tenz genehmigt.“ Ich bin entsetzt: „Und was
schen gebrochen: „Ich habe mehrere Titan-
verwalten: die Krankenkassen, die die Gelder
geschieht, wenn es mal schlecht läuft?“ Bücke
Schrauben in meiner Wirbelsäule, zwei künst
der Pflegeversicherung auszahlen; die Kom
meyer sagt trocken: „Das war im vergangenen
liche Kniegelenke und versteifte Fußgelenke,
munen, die für die Grundsicherung zuständig
Jahr so. Aber da hatte ich ein paar Freunde,
Seite 17
DER SAND FUTUR 3
Ausgabe 3
„Freiheit ist, dass ein Mensch tragen kann, was er will, und seine Meinung
sagen kann, egal ob das gut ist oder nicht; dass ein Mensch ohne Einschränkungen
lebt. Freiheit ist ein dem Menschen bekanntes Wort.
Ein Mensch wird frei geboren, lebt frei und stirbt frei, auch wenn seine
Freiheit behindert, geraubt und eingeschränkt wird. Ohne Freiheit hat das
Leben keinen Sinn, denn Freiheit ist Leben. Freiheit bedeutet, dass man
rausgeht, ohne Angst zu haben.“
Freiheit
Freiheit heißt, all das zu machen,
was man einfach machen will,
unabhängig zu bestimmen ohne
Zwang und ohne Drill.
„Wenn kein Zwang ist, herrscht Freiheit.
Wenn man selbst bestimmen kann, was man tut, ist
man frei. Freiheit gehört zu den Grund- und Menschenrechten
und zu jeder modernen Demokratie.“
„Liebe ist Freiheit – wenn man das
Geschlecht lieben kann, das man
lieben will, oder auch das Geschlecht
sein kann, das man sein will. Wenn
ich mich in jemanden vom gleichen
Geschlecht verliebe? Das ist nicht
leicht, aber ich wäre stolz, Bruder!“
Freiheit heißt auch, zu bestimmen,
was man selbst für richtig hält,
welcher Religion man huldigt, heißt,sich nicht
nur mit Pfl ichten zu quälen.
Freiheit heißt zu kritisieren
ganz egal, zu welcher Zeit:
sich das Wort nicht nehmen lassen
wegen Untergebenheit.
Alles ist möglich
oder
kann gelassen
unterlassen werden.
Nichts erwarten.
Nichts befürchten.
Frei sein
bedeutet
Ganz sein.
„Wo ich herkomme, muss
immer ein Mann dabei sein,
wenn du als Mädchen oder
Frau das Haus verlassen
willst.
Als ich sechs Jahre alt war,
war ich krank. Meine Mutter
dufte nicht mit mir zum Arzt
gehen, wir mussten warten,
bis mein Onkel kommt, dass
er uns begleitet. Da bin ich
fast gestorben.“
„Freiheit hat nicht jeder. Wir Menschen können
ohne Freiheit schwer leben.
Freiheit ist ein Wort, das nur versteht, wer sie
verliert. Ich bin eine Person, die dieses Gefühl
erlebt und ihre Freiheit verloren hat, als sie
jung war, aber ich bin zurückgekommen, um mir
meine Freiheit zu nehmen, weil mein Leben
ohne Freiheit keinen Sinn hat.“
Was wir möchten:
kein Rassismus
kein Mobbing
Liebe
Fotos: Oskarv Siebers
Seite 18
Ausgabe 3
FUTUR 3
DER SAND
„Freiheit ist auch wenn man ein Zuhause hat und das Glück hat, in einem Land zu leben wo es keinen Krieg gibt.“
„Freiheit hat viele Bedeutungen.
Freiheit bedeutet, dass ein Mensch
in Frieden lebt und tut, was er will.
Freiheit ist, dass du dein Leben
selbst zeichnest.
Niemand sagt dir, was du tun sollst
und was nicht.
Wir müssen viel nachdenken, bevor
wir eine Entscheidung treffen.“
In meiner Heimat
konnte ich nicht
anziehen‚
was ich wollte ̇
Zeichne
dein Leben!
Moheeb, Talal, Miray, Enisa, Homan, Rem zeigen ihre Sicht auf Freiheit
Schüler:innen der Hauptschule Wichlinghausen haben diese Doppelseite gemeinsam mit den Schulsozialarbeiterinnen
Katharina Jungheim und Sarah Badi mit der SAND-Redaktion entwickelt. Mehr fi ndest du unter: www.die-wueste-lebt.org/der-sand
Seite 19
DER SAND DIE WÜSTE LEBT
Ausgabe 3
Die FSJ’lerinnen des
BOB Campus
Stadtteilservice in der
Schwarzbach
Foto: Oskar Siebers
Theresia und Halima, machen ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) beim
BOB Campus. Sie unterstützen das Team, sind mit Projektpartnern in
Oberbarmen und Wichlinghausen aktiv, wie der Max-Planck-Realschule,
der Grundschule Wichlinghauser Straße, der Stadtteilbibliothek Wichlinghausen
und der Färberei.
Auf der Instagram-Seite des BOB Campus können ihnen die Follower
bei ihrem „Video-Diary“ begleiten. Im Januar haben sie den „Activism Club“
gestartet, eine Art AG, die sich einmal in der Woche trifft. Dort wird über
wichtige Themen wie Rassismus, Sexismus, Queerphobia, Krisengebiete,
Foto: Simon Veith, © BOB CAMPUS
Umwelt usw. gesprochen. „Das hört sich jetzt total ernst an – es sind ja
auch ernste Themen – aber wir möchten eine Art „comfort zone“ schaffen,
in der man offen über Dinge reden kann, die einen beschäftigen und die
einen auch selber betreffen.“ Die Themen wählt die Gruppe gemeinsam aus.
Interesse dem Activism Club beizutreten und im Alter von 14 – 25 Jahren?
Kontakt über: h.omer@bob-campus.de
BOB Campus Projektbüro, Wichlinghauser Straße 31, 42277 Wuppertal
Tel.: 0202 25 45 88 07, www.bob-campus.de
Der Stadtteilservice Oberbarmen/Heckinghausen ist einer von sieben in
Wuppertal. Hier bieten langzeitarbeitslose Menschen ihre Hände, Füße,
Ohren und ihre Zeit an: Sie unterstützen bedürftige Bürger im Stadtteil
bei ihren täglichen Erledigungen wie dem Einkaufen oder dem Gang zum
Arzt, sie besuchen Menschen zu Hause oder in Senioren-Einrichtungen
und verbringen Zeit mit ihnen, bei einem Spaziergang oder einer Runde
Mensch ärger Dich nicht.
Diese Dienstleistung ist in jedem Fall kostenfrei. Ob jung oder alt,
Privatperson oder Verein: Jeder kann das Angebot in Anspruch nehmen,
wenn eine Bedürftigkeit vorliegt. Wer Unterstützung benötigt, meldet sich
telefonisch beim:
Stadtteilservice Oberbarmen/Heckinghausen
(Wichernhaus Wuppertal gGmbH) Schwarzbach 44, 42277 Wuppertal
Mo — Do: 08:00 — 16:00 Uhr, Telefon 0202 89 77 164
„Zuhause in Wuppertal“ ein Projekt stellt sich vor
Foto: Oskar Siebers
Die Mitarbeiter:innen vom Projekt „Zuhause in Wuppertal“ haben den
Wunsch, dass sich neuzugewanderte Menschen aus der EU in Wuppertal
zu Hause fühlen können. Sie möchten dabei unterstützen, schwierige
Lebenssituationen zu verbessern und Integration zu erleichtern. Das Vorhaben
schließt sich an das langjährige Projekt „Zuhause in Oberbarmen“
an, sodass auch weiterhin die Anlaufstelle auf der Berliner Str. 165 dazu
genutzt werden kann, Fragen und Probleme unkompliziert und ohne Termin zu
klären. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine persönliche Beratung
zu allen wichtigen Themen, wie z.B. Arbeit, Sprache und Gesundheit zu bekommen.
Weil einige Teammitglieder selbst nach Deutschland zugewandert
sind und mehrere Sprachen sprechen, kann Beratung in zehn verschiedenen
europäischen Sprachen angeboten werden.
In dem Projekt „Zuhause in Wuppertal“ arbeiten verschiedene Partner
aus ganz Wuppertal zusammen. Das Ressort Zuwanderung und Integration
der Stadt ist der Projektträger, Kooperationspartner sind der Caritasverband
Wuppertal/ Solingen, die Diakonie Wuppertal, das Jobcenter Wuppertal
AöR, der Internationale Bund, der Verein Sozialtherapeutischer Kinder- und
Jugendarbeit und das Nachbarschaftsheim Alte Feuerwache.
Kontakt:
Berliner Straße 165, 42277 Wuppertal, Tel.: 0202 70 51 67 77
Mo. — Do. 11:00 — 16:00 Uhr, Fr. 11:00 — 13:30 Uhr
Teamleitung: Dana von der Mühlen, Tel.: 0202 563 4736
E-Mail: dana.vondermuehlen@stadt.wuppertal.de
Seite 20
Ausgabe 3
DIE WÜSTE LEBT
DER SAND
Die Fahrradmeisterei
an der Nordbahntrasse
Klimacontainer in Wichlinghausen:
Zentrum für Nachhaltigkeit
Die Nordbahntrasse begeistert seit Jahren die (Wuppertaler) Bürger:innen
und lädt zum Radfahren zwischen Oberbarmen und Vohwinkel ein. Ein
neues Angebot im Osten Wuppertals möchte sie dabei unterstützen:
Die Fahrradmeisterei Wuppertal bietet in einer Werkstatt mit einem
Ladenlokal in der Breslauer Straße 65 diverse Reparatur- und Serviceleistungen
rund um das Zweirad sowie Gebrauchträder zu erschwinglichen
Preisen an. Hinzu kommt eine Servicestation direkt am Wichlinghauser
Bahnhof vor der Skatehalle Wicked Woods, an der „Erste Hilfe“ geleistet
wird und Fahrradspenden entgegengenommen werden. Im kommenden
Jahr soll das Angebot der Fahrradmeisterei zudem durch geführte Fahrradtouren
und Fahrtrainings erweitert werden.
Foto: Container-Gemeinschaft
Passant*innen auf der Nordbahntrasse ist er bestimmt schon aufgefallen:
Ein umgebauter alter See-Container direkt neben dem Bahnhof Wichlinghausen.
„Die Leute halten hier oft an und fragen, was wir machen“, berichtet
Andreas Röhrig vom Quartiersbüro Vierzwozwo. Tatsächlich hat sich
hier seit kurzem ein kleines Zentrum für Begegnung und Nachhaltigkeit
etabliert - mit steigender Strahlkraft ins Quartier.
Zusammen mit der Container-Gemeinschaft werden Ideen und Veranstaltungen
für eine nachhaltige Zukunft entwickelt – wie z.B. der monatliche
„WirGarten“: Dort können sich die Nachbar*innen bei Getränken
und Snacks austauschen und mit Vertreter*innen aus Politik und Stadtverwaltung
ins Gespräch kommen.
Für diese Zukunftsgespräche in gemütlicher Atmosphäre werden immer
wieder andere Gäste eingeladen. „Auch sollen die Veranstaltungen
Jugendliche ansprechen, die die Nordbahntrasse frequentieren“, so Projektleiterin
Liesbeth Bakker vom Verein BOB Kulturwerk e.V.
Informationen und aktuelle Termine:
www.klimaschutz-wuppertal.de
www.facebook.com/bobkulturwerk
www.instagram.com/klimacontainer_wuppertal
Foto: Oskar Siebers
Fahrradmeisterei Wuppertal (Wichernhaus Wuppertal gGmbH)
Tel.: 0202 574 98 115
Werkstatt: Breslauer Str. 65 | Mo-Fr: 9:00 — 18:30 Uhr, Sa: 10:00 — 18:00 Uhr
Annahme- und Servicestation: Langobardenstr. 65 | bitte nach aktuellen Öffnungszeiten
auf der Website erkundigen
Mehr Informationen: www.tinyurl.com/yckur4rh
Willst Du Deine Initiative vorstellen?
Schreib uns unter: info@die-wueste-lebt.org
Gewalt – das alltägliche Grauen in Familien
Die Darstellungen, wie wir sie aus Krimis kennen, sind abstoßend. Es trifft
nicht unsere Freundinnen, unsere Verwandten, unsere Bekannten, unsere
Nachbarn; es sind die anderen, die wir nicht kennen. Aber Gewalt in
Familien gibt es auch in unserer Nachbarschaft; wer hilft dann? Zum Beispiel
der Verein „Refugio – Selbsthilfe häusliche Gewalt“, ein von migrantischen
Frauen gegründeter Verein für Frauen in Notlagen.
Wieso Selbsthilfe? Kommt bei Gewalt nicht die Polizei?
Nein, es kommt nicht immer die Polizei. Dafür werden Nachbarn zu selten
aktiv, wenn es nebenan laut wird. Ein typisches Beispiel: Morgens ruft
eine Frau beim Verein an. Sie sei wiederholt von ihrem Mann geschlagen
worden und habe jetzt endgültig genug; sie wisse aber nicht, wie sie sich
trennen soll, denn ihr Mann würde es sofort erfahren. Die Vereinsvorsitzende
fährt zu ihr, holt sie erst einmal aus der Wohnung und bietet ihr in
den Räumen des Vereins vorübergehend Schutz. Sie bespricht mit ihr ihre
Lage und auch die Hilfsmöglichkeiten.
Warum eine migrantische Organisation?
„Du kennst unsere Kultur, Du verstehst mich“, hören die Vereinsmitglieder
häufig. Zudem sprechen die betroffenen Frauen oftmals in Notlagen
lieber ihre Herkunftssprache; sie müssen ohnehin schon nach Worten
suchen, aber nicht der Sprache wegen!
Was kann der Verein bieten?
Außer der Hilfe in Akutsituationen auch die Stärkung durch Gesprächsgruppen,
das gegenseitige Stützen, Netzwerke von Frauen für Gespräche
und Freizeit. Dabei erfahren sie, dass auch andere in ähnlichen Situationen
waren, ihr Leben nun anders in die Hand genommen haben.
Warum bietet Refugio auch Kinder- und Jugendfreizeit an?
In Familien sind nicht nur Frauen von Gewalt betroffen. Auch die Kinder
leiden enorm unter den Spannungen, den Ausreden und Lügen zu Verletzungen.
Einmal mit Mutter und anderen einen Ausflug zu machen, einen
stressfreien Tag zu erleben, nicht immer im Familienterror lavieren zu müssen,
befreit und bietet Möglichkeiten für entspannte Gespräche.
Mal- und Kochkurse sowie Tanzprojekte stehen ebenfalls allen offen;
in ihnen können die Betroffenen Selbstwirksamkeit erleben, lachend etwas
miteinander unternehmen, sich erholen.
Refugio – Selbsthilfe häusliche Gewalt e.V.
Wichlinghauser Str. 38, 42277 Wuppertal (Etage Verein(t) in Wuppertal)
Ansprechpartnerin: Georgina Manfredi: 0178 717 69 83
Foto: Oskar Siebers
Der Verein „Refugio – Selbsthilfe häusliche Gewalt“
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DER SAND SOZIALE PLASTIK
Ausgabe 3
Schütze
die Flamme!
Ein Fackellauf durch Wuppertal
Von Hans Neubauer · Fotos: Max Höllwarth
Wuppertal – „Stadt der Performanz“
Beim Performance Festival „Die Unendlichkeit des Augenblicks“ im Juni 2021 drehte sich
alles um Joseph Beuys und seine Kunst. Im ehemaligen Blumenladen am Ev. Friedhof Hugostraße
in Wichlinghausen eröffneten Olaf Reitz und Andy Dino Iussa ihre HEILKÜNSTLEREI
mit „ICH BIN ALLE“, einem von Beuys’ Arbeit „Zeige deine Wunde“ inspirierten Projekt.
Online-Version: www.heilkuenstlerei.art
In Utopiastadt haben die Utopisten David Becher und Supaknut Heimann und ihr Team
ihre „Registrierungs stelle für handhabbare Freiheit“ eingerichtet. Was sich dahinter verbirgt,
steht online im Sandkasten: www.die-wueste-lebt.org/category/dersand
Weitere Infos zu dem von Bettina Paust, Barbara Gronau, Timo Skandries und Katharina
Weisheit kuratierten Beuys-Performance-Festival gibt es hier: www.wuppertal.de/beuysperformancefestival
Die große Fotogalerie zum Festival: www.picdrop.com/wppt/beuys
Sie steht im Grundgesetz, die Freiheit der Kunst: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und
Lehre sind frei.“ Ja, so soll es sein, und diese Freiheit ist viel wert. Wieviel? Zum einen geht es
auch um Zahlen: Ausgleichsgelder für von Corona betroffene Künstler, Rentenbescheide von
der Künstlersozialkasse, Tarifverträge an den Stadttheatern – und natürlich die phantastischen
Summen, die Jeff Koons oder Gerhard Richter für ihre Werke erzielen.
Ist die Freiheit der Kunst wirklich mehr als die Projektion der sozialen Marktwirtschaft
auf die Sphäre der Kreativen? „Die schöpferischen und gestaltenden Menschen sind die Basis
der Kultur- und Kreativwirtschaft“, informiert das Bundesministerium für Wirtschaft und
Klimaschutz auf seiner Homepage: Sie „schaffen künstlerische Qualität, kulturelle Vielfalt,
kreative Erneuerung und stehen zugleich für die wirtschaftliche Dynamik einer auf Wissen
und Innovation basierenden Ökonomie.“ Kunst ist allemal ein Wirtschaftsfaktor, soviel ist klar.
„Was würde wohl Joseph Beuys dazu sagen?“, fragten wir uns vor einem Jahr. Warum
Beuys? Zum einen, weil Beuys gerade im Fokus der „Kultur- und Kreativwirtschaft“ war: 2021
feierte die Kunstwelt den 100. Geburtstag des 1986 verstorbenen Künstlers. Das sollte nicht
ohne Oberbarmen und Wichlinghausen passieren, sagten wir uns und bewarben uns um einen
Platz im Beuys-Veranstaltungskalender. Wir tauchten ein in Beuys‘ Welt der Eichen, Hirsche,
Schlitten und Batterien. Für „I like America and America likes Me“ flog Beuys 1974 nach New
York, ließ sich, eingewickelt in Filzdecken, in die Galerie René Block fahren, um dort einige Tage
mit einem Kojoten in einem Raum zu leben. Eine Aktion als Rätsel, als mystische Provokation.
In seiner letzten Rede erzählte Beuys, wie er als junger Mann das Foto einer Skulptur
Wilhelm Lehmbrucks betrachtete: „Und in dem Bild sah ich eine Fackel, sah ich eine Flamme,
und ich hörte ‚Schütze die Flamme!‘“ Dieses Erlebnis wurde für ihn zum alles entscheidenden
Impuls, seine „soziale Plastik“ zu entwickeln – „zur Umgestaltung des sozialen Ganzen“.
Wir von der Mobilen OASE nahmen ihn beim Wort, den toten Jubilar. Und setzten, im Olympiajahr
und unter pandemischen Bedingungen, unseren besonderen Fackellauf von Wuppertal in
Gang: „Politische Demonstration/ Motto: Schütze die Flamme – Für Freiheit, Frieden und die
Umgestaltung des sozialen Ganzen“, trugen wir ein in das Polizei-Formular zur „Anmeldung
einer Versammlung unter freiem Himmel“. Kunst-Veranstaltungen waren untersagt, also
wurde es eine Manifestation. Abdulrahman Alasaad, ein Geflüchteter aus Syrien, ließ sich,
eingehüllt in Filz, auf den Rasen des leeren Wuppertaler Stadions tragen. Dort nahm er die
Fackel, reichte sie weiter und startete damit unseren Fackellauf. Zwanzig Läuferinnen und
Läufer schützten und trugen die Flamme zehn Kilometer weit durch die Talachse bis zum
Berliner Platz – Geflüchtete, Einheimische und Migranten, Junge und Alte aus Oberbarmen,
Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Prominenz; die einen liefen schnell, die
anderen spazierten langsam, jeder, wie er konnte, jede, wie sie wollte. Oberbürgermeister Uwe
Schneidewind, Operndirektor Berthold Schneider und andere Führungskräfte aus Kultur,
Politik und Wissenschaft reihten sich ein und demonstrierten mit für die „Umgestaltung
des sozialen Ganzen“. Begleitet wurden sie von Velotaxis, zahlreichen Zuschauerinnen und
Zuschauern, vielen Neugierigen und einer wachsamen Polizei-Eskorte.
Wer dabei war, weiß, wie viel hier erzählt, gelacht und diskutiert wurde, wie schön es sein
kann, Kunst einmal nicht als Werk und Wert, sondern als Ereignis zu sehen, als eine manchmal
irritierende, immer wieder inspirierende gemeinsame Erfahrung. Am Ende bestand sie darin,
Menschen aus den unterschiedlichsten Welten zusammenzubringen. Mit ihrem Lachen und
ihren Gesprächen, ihrer Freundlichkeit und ihrer guten Laune erinnerten sie an den Auftrag,
den Beuys für sich aus dem Werk des Wilhelm Lehmbruck ableitete: Schütze die Flamme, damit
die Welt einmal eine bessere werde. Dafür kann sich niemand was kaufen? Eben!
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Ausgabe 3
FLUGSCHREIBER
DER SAND
Flugschreiber Oberbarmen / Wichlinghausen
Stimmen zum Thema Freiheit, gesammelt bei Aktionen und Stadtspaziergängen
des Stadtschreibers Roland Brus und des Mobile Oase-Teams
Nicht verheiratet sein! Frei sein!
Frei von Männern! Ich hab lange
gebraucht, bis ich kapiert hab: „Du
brauchst das gar nicht!“ Männer
haben meine Freiheit eingeschränkt,
nicht nur in der Sexualität. Ich konnte
nicht Nein sagen.
Versuch mal den Tag so zu gestalten,
wie du ihn willst. Du kannst
nicht einfach sagen, ich stehe jetzt
auf und mache dies oder das. Zeit
ist die wichtigste Währung, die wir
haben. Zeit generiert Freiheit.
Freiheit für mich ist: Die ganze Welt
muss glücklich sein und alle Leute
Frieden haben. Bei mir ist das so.
Um mich frei zu fühlen, gehe ich in
den Wald und schlafe da. Ich grille
Steaks, beobachte das Feuer, das
macht die Seele frei.
Ich nehm mein Fahrrad, das ist
meine Freiheit.
Du musst Maske tragen, du musst
aufpassen, dass du dich nicht ansteckst.
Für mich ist das Freiheitsberaubung.
Wenn deine Mülltonne stinkt, mach
sie zu. Schmeiß das Zeug nicht auf
den Boden. Ich kann nicht immer
alleine den Hof und die Einfahrt
sauber machen. Aber wenn wir zusammen
reinigen, sauber, geht alles
flott.
Aber dann gibt es auch Menschen
wie mich, die nicht gut sind. Glaubst
du, die lassen sich vorschreiben, was
zu tun und zu lassen ist? Je mehr
ich ein Raubtier reize, umso gefährlicher
wird das.
Araber, Araber, Araber, Araber.
Das tut weh. Ich bin auch Araber,
seit 32 Jahren hier. Wir brauchen
mehr Mischung, mehr Läden, gute
Wohnungen. Ich möchte, dass die
Deutschen wieder zurückkommen.
Kommt bitte.
Wenn mir jemand ein E-Auto aufzwingen
will, das nicht mal Motorsound
hat, hört es bei mir auf. Da
müssen sie sich was einfallen lassen.
Foto: Max Höllwarth
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DER SAND FATAMORGANA
Ausgabe 3
FREI
HEIT
AUS
HAL
TEN?
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