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Der Sand Ausgabe 3

Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt

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DER SAND MIKROKOSMOS<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Wir müssen reden!<br />

<strong>Der</strong> alltägliche Straßenkampf –<br />

Lärm, Parkplätze, Müll und Hundekacke<br />

Von Rainer Lucas<br />

Nun bin ich nach 40 Jahren Wuppertal in<br />

Wichlinghausen­Süd gelandet, aus dem betulichen<br />

Unterbarmen in einer Spielstraße,<br />

die ums Eck geht. Hier stehen gepflegte altbergische<br />

Fachwerkhäuser der dort lebenden<br />

Eigentümer neben heruntergekommenen<br />

Mietshäusern mit BewohnerInnen, die wenig<br />

Geld haben. Die sozialen und kulturellen<br />

Unterschiede führen im Straßenleben zu einer<br />

bunten Mischung von Menschen unterschiedlicher<br />

Herkunft.<br />

Hier geht es lebendiger zu als in Unterbarmen,<br />

und vieles spielt sich direkt auf der<br />

Straße ab. Die Sitzbänke laden zum Verweilen<br />

ein, die Alten reden über ihre Wehwehchen,<br />

die Frauen übers Einkaufen, die Männer<br />

über ihre Autos, und die Kinder bilden Rudel,<br />

fahren Rad oder spielen Ball. Dieses soziale<br />

Leben gefällt mir, und ich lerne viel über andere<br />

Kulturen und Sitten. Es hat sich inzwischen<br />

herumgesprochen, dass meine kleine Werkstatt<br />

gut bestückt ist: Werkzeuge für kleine<br />

Fahrradreparaturen, Wagenheber, Ballluftpumpe<br />

– es gibt immer was zu tun. Aber dieses<br />

Miteinander wird im Alltag auch auf die Probe<br />

gestellt, insbesondere dann, wenn sich jemand<br />

Freiheiten nimmt, ohne Rücksicht zu nehmen<br />

auf die Bedürfnisse der Nachbarn oder das allgemeine<br />

Wohlergehen. Ein paar Beispiele:<br />

Zwischen Weltmusik, WDR 4<br />

und den Rolling Stones<br />

Es ist Sonntag, die Kirchenglocken läuten, aber<br />

nicht mehr so oft wie früher. Neue Töne dringen<br />

an mein Ohr. Gegenüber hören die arabischen<br />

Mädchen ihre Hitparade, im Hinter hof<br />

dudelt WDR 4. Soll ich nun auch noch einen<br />

kulturellen Beitrag leisten? Ich lege die Stones<br />

auf, laut, damit jeder die Botschaft mitkriegt:<br />

„I‘m free to do what I want<br />

any old time (…) But I‘m free,<br />

any old time, to get what<br />

I want.“<br />

Jederzeit kann ich machen was ich will? Wohl<br />

doch nicht, denn es klopft von oben. Offensichtlich<br />

fühlt sich da mein Nachbar gestört.<br />

Ist es nur die Lautstärke oder auch der ungewohnte<br />

Sound? Für Beschwerden in dieser<br />

Angelegenheit ist bei der Stadt Wuppertal eine<br />

Dienststelle für Gefahrenabwehr zuständig.<br />

Anzeigen sind aber selten von Erfolg gekrönt,<br />

da der Sachverhalt „laute Musik“ in der Regel<br />

bestritten wird. Vielleicht gibt es ja noch andere<br />

Möglichkeiten, das zu klären?<br />

Ballspielen und Gassi gehen<br />

Ich spiele auf der Spielstraße mit meinem Enkel<br />

Fußball. Da geht ein Fenster auf und eine<br />

Frau ruft: „Hier wird nur mit Softball gespielt,<br />

Lederbälle sind nicht erlaubt!“ Rückfrage<br />

meinerseits: „Wieso?“ Antwort: „Die parkenden<br />

Autos könnten beschädigt werden“. Also habe<br />

ich einen kleinen Plastikball angeschafft, der<br />

bei meinem Enkel aber wenig Anklang findet.<br />

An dieser Stelle muss ich doch einmal<br />

grundsätzlicher werden. Was ist das für eine<br />

merkwürdige Spielstraße, in der auf 200<br />

Meter Länge 32 Stellplätze für Pkws eingerichtet<br />

sind (plus „wilden Parkern“ komme ich<br />

ab 20 Uhr auf 40 Autos). Das sind mehr Autos<br />

als Kinder; schätzungsweise spielen 20 bis 30<br />

Kinder bei schönem Wetter auf der Straße.<br />

Einmal im Monat kommt eine Politesse vorbei,<br />

die schaut, dass alle wie vorgesehen parken<br />

und verteilt das ein oder andere „Knöllchen“.<br />

Aber nach den Kindern schaut keiner.<br />

Diese Spielstraße ist inzwischen auch ein<br />

Hundepfad. Die vielen Bäume und die schönen<br />

Beete werden morgens früh und nachmittags<br />

stark von Hunden für ihr Geschäft genutzt.<br />

Natürlich in Begleitung ihrer Besitzer. Das<br />

stinkt irgendwie zum Himmel, ganz real, aber<br />

auch grundsätzlich. Da nützen auch die vielen<br />

Verbotsschilder nicht. Hat Wuppertal nicht<br />

ein Hundeverbot auf Spielplätzen, und wieso<br />

gilt das nicht für eine Spielstraße? Ein solches<br />

Problem kann nicht dadurch gelöst werden,<br />

dass die Nachbarn sich darüber verständigen,<br />

ob Kinder oder Hunde wichtiger sind.<br />

Müllpalmenaktion mit Nachbarskindern Foto: Rainer Lucas<br />

Das schnelle, süße Frühstück<br />

auf der Straße<br />

Ein Frühstück am Küchentisch ist anscheinend<br />

nicht mehr üblich. Viele Schulkinder verspeisen<br />

noch schnell einen Snack auf dem Weg<br />

zur Schule, und die bunten Verpackungen<br />

landen dann auf der Straße. Da ist alles dabei:<br />

Milchschnitte, Schokolade, Kakao, Limo. Und<br />

neuerdings auch zahlreiche Schutzmasken.<br />

Soweit es meinen Straßenabschnitt betrifft,<br />

sammele ich das jeden Tag ein. Für die ganze<br />

Straße ist die Kehrmaschine der ESW zuständig,<br />

die aber nur einmal pro Woche<br />

kommt. Betroffen von dieser Müllflut sind<br />

auch die schönen Blumenbeete, die einige<br />

Nachbarsfrauen angelegt haben. Soll ich jetzt<br />

den Müllwart spielen und die Kinder ermahnen?<br />

Ist wohl nicht so zielführend. Außerdem<br />

müsste ich dann früher aufstehen.<br />

Freiheit und die Palme als<br />

Müllbotschafterin<br />

Wie die Beispiele zeigen, ist „Freisein“ in<br />

Wichlinghausen nicht so einfach. Wie können<br />

die damit verbundenen Konflikte gelöst<br />

werden? Die „Bullen“ rufen, Überwachungskameras<br />

anbringen, den Blockwart spielen?<br />

Autoritäre Maßnahmen sind nicht so mein<br />

Ding. Sie lösen auch meistens nicht das<br />

Problem, sondern verschieben es nur auf<br />

eine andere Ebene: Macht! Das Recht des<br />

Stärkeren, der große Bruder, der alles regelt.<br />

Nein, danke!<br />

Ich muss dann wohl selbst aktiv werden, sonst<br />

krieg ich schlechte Laune. Denn insbesondere<br />

der Müll und die Hundescheiße bringen mich<br />

an manchen Tagen auf die Palme.<br />

Beim Anblick meiner drei Meter hohen<br />

Palme, die ich seit 40 Jahren pflege, kommt<br />

mir dann doch noch eine Idee. Und mitten im<br />

Nachdenken darüber, wie und wann ich was<br />

mache, klingeln 3 Nachbarskinder und fragen,<br />

ob die Automatten, die auf der Straße liegen,<br />

mir gehören. Natürlich nicht. Aber wir kommen<br />

ins Gespräch und ich erzähle von meiner<br />

Idee, die Palme als Müllbotschafterin auf die<br />

Straße zu stellen. Gesagt, getan! Ich stelle gemeinsam<br />

mit den Kindern Palme samt Hocker<br />

als Untersatz vor das Haus. Dann sammle ich<br />

mit den Kindern den Frühstücksmüll von der<br />

Straße und wir hängen die Fundstücke mit<br />

Wäscheklammern an die Palme. Die Kinder<br />

bemalen ein Schild, auf dem steht: „Wo gehört<br />

der Müll hin?“ (Siehe Foto). <strong>Der</strong> ungewöhnliche<br />

Aufbau weckt gleich die Neugier<br />

der Nachbarn, die gerade vorbeikommen.<br />

Yusuf von gegenüber hält mit seinem Lieferwagen<br />

an und fragt: „Warum?“, und ich sage:<br />

„Anstoß zum Nachdenken, Müll gehört nicht<br />

auf die Straße.“ – „Gut so“, sagt er und fährt<br />

weiter. Auch die Fahrrad­Jungs melden sich<br />

zu Wort: „Sowas machen wir nicht!“<br />

Die Wirkung meiner Aktion ist begrenzt<br />

auf mein unmittelbares Umfeld. Ob das auch<br />

anderswo funktioniert, weiß ich nicht. Aber es<br />

wäre schön, wenn es in Wichlinghausen mehr<br />

solcher Aktionen gäbe. Mit oder ohne Palme,<br />

Hauptsache man spricht miteinander. Und<br />

damit die Gespräche etwas länger dauern<br />

können, stelle ich noch drei Stühle raus, vielleicht<br />

gibt es ja noch mehr Gesprächsbedarf,<br />

nicht nur über Müll, sondern auch über die<br />

schönen Seiten des Lebens. Ich werde mich<br />

diese Woche nochmal auf einen der Stühle<br />

setzen und mal gucken, was passiert. Wie ich<br />

das mit der Hundekacke ansprechen soll, weiß<br />

ich noch nicht. Die kann ich ja nicht an die<br />

Palme hängen.<br />

Herzlichen Dank für die Hilfe und den spontanen<br />

Mülleinsatz an Emily, Miri und Leonie!<br />

Teile Deine Erfahrungen /<br />

Deine Meinung unter:<br />

info@die-wueste-lebt.org<br />

Seite 12

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