DER SAND Ausgabe 2

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DER SAND HAUTNAH Ausgabe 2 Backfisch mit Remoulade bekommst du nicht aus’m 3D-Drucker Man bettelt gar nicht mehr um Geld, man bettelt mittlerweile darum, arbeiten zu dürfen. Foto: Daniela Camilla Raimund Corona schlug ein wie eine Bombe Ein Schausteller berichtet von Andreas Kuhlmann Ich bin Schausteller vom Beruf. Ich habe einen Imbissbetrieb und fahr durchs ganze Bundesgebiet. Ich habe davon bis jetzt 30 Jahre lang gut gelebt und seit meinem 21. Lebensjahr bin ich selbstständig. Mein Geschäft ist das Hamburger Fischbuffet, alles so ein bisschen mit St. Pauli Flair und Hans Albers. Das ganze maritime Programm. Lachs, Krabben, Rollmops, die Marinaden, Bismarck hering und Krabbencocktails und all sowas. Der Renner ist natürlich immer ab September der Backfisch. Fisch ist ein sehr teurer Artikel und mittlerweile schon auch ein gewisser Luxus, nicht jeder isst Räucherlachs oder Ostseeblankaal. Ich brauch‘ viele Leute. Ich brauch’ viel Kundschaft. Es war immer ein Vorteil unseres Berufsstandes, nicht vom Internet abhängig zu sein. Viele Branchen sind kaputtgegangen durchs Internet. Das ist bei uns nicht der Fall. Du bekommst keinen Backfisch auf’m Brötchen mit Remoulade aus’m 3D-Drucker. Den kannst du nicht bei Amazon bestellen. Und selbst wenn du ihn dir zuhause machst und er ist lecker, schmeckt er nicht so wie am Stand auf dem Weihnachtsmarkt, wenn es kalt ist und du hast einen heißen Backfisch in der Hand und einen Glühwein. Das ist bei uns der große Vorteil. Jetzt bricht es uns das Genick. Wir sind 5.300 Schaustellerunternehmen in der Bundesrepublik. Wir machen mehr Umsatz als die hochwohlgelobte 1. und 2. Bundesliga. Wir „massieren“ 350 Millionen Menschen im Jahr inklusive aller Volksfestveranstaltungen und Weihnachtsmärkte. Die Bundesliga bringt 20 Millionen Menschen in einer Saison auf die Beine. Wir haben 4,7 Milliarden Euro Umsatz im Jahr. Das hat viele Facetten, Jahrmärkte und Volksfeste. Es heißt „Kirmes“. Es ist ja eine Mischung zwischen „Kirche“ und „Messe“. Und diese Traditionsvolksfeste, die es schon seit Hunderten von Jahren gibt, sind entstanden durch Viehmärkte. Wir Schausteller haben eine 1.200-jährige Tradition. Wir erzählen in den Städten die Geschichte dieser Städte. Ich komm’ aus einem Familienbetrieb. Mein Vater hat früher eine sogenannte „Radioverlosung“ gehabt. Es kamen die Transistorradios in den 50ern oder 60ern auf, das war eine Sensation. Wenn du das ins Futter reingesteckt hast, das riss dir die Jacke auseinander, so schwer war das Teil. Und die hat er verlost. Was aber keiner wusste, mein Vater hatte kein Geld, um die Ware zu kaufen. Er hatte immer nur ein Radio und der Rest waren alles leere Kartons. Und er hatte die Auswahl in der Hand. Gott hab ihn selig. Und hat immer ’ne Tüte Nieten rein geschüttet und irgendwann, wenn einer kam und alle Lose gekauft hat, weil er besonders schlau war, dann hat er die Auswahl reingeworfen, weil sonst fällt er ja auf. Das war am Anfang. Damit hat er sich selbstständig gemacht, dann fing er an mit dem Eimerwerfen. Als nächstes kriegte mein Vater das erste Kinderkarussell und kam in die Imbissbranche. Das war immer Vollimbiss, Pommes, Currywurst und Schaschlik und Backfisch. Mein Vater hat sich spezialisiert, nur Fisch gemacht. Er legte sich auch den Hamburger Dialekt zu. Da haben sie ihn alle „Fitschi“ genannt. Er hieß Heinz. In der Carnaper Straße wohnten wir. Gleich am Carnaper Platz, war eine sehr gute Veranstaltungsfläche. Ich war klein und es war großes Theater. Wir haben auch mit dem Monti zusammengearbeitet, einem Hochseilartisten. Da wurde dann ein Hochseil gespannt. Und gegenüber war das Gasthaus zur Sonne, da wurde danach gesoffen. Da bin ich reingeboren, reingewachsen. Mein Vater hatte einen ziemlich schnellen Verstand, der war auch nachher Vorsitzender vom Schaustellerverein. Später habe ich das Geschäft von meinen Eltern übernommen. Und dann ist mit Corona eine Bombe eingeschlagen, wo man auf einmal abgeschaltet wird. Das habe ich am Anfang gar nicht so ernst genommen, aber jetzt so langsam wird’s eng. Das Schlimme ist ja, man bettelt gar nicht mehr um Geld, man bettelt mittlerweile darum, arbeiten zu dürfen. Die komplette Veranstaltungsbranche ist faktisch tot. Wir sind belegt mit einem Berufsausübungsverbot bis auf weiteres. Wenn das alles nicht stattfinden kann, dann muss dieser Rettungsschirm her. Sonst wird es die Veranstaltung ganz bald nicht mehr geben. Dann müsst ihr euren Enkelkindern erklären, wie Zuckerwatte geschmeckt hat oder wie es war, im Kinderkarussell gesessen zu haben. Es passiert gerade eine Revolution, nur das erledigt ein Virus für uns. Wir erleben eine Marktbereinigung und auch eine gesellschaftliche Bereinigung. Wenn mein Geschäft pleitegeht, passiert was mit mir, auch persönlich. Eine psychische Veränderung, ein Einschnitt, auf einmal. Dann muss ich mir was einfallen lassen. Dann wach ich auf einmal nachts auf, fange an zu schwitzen. Ich habe Existenzängste, was ich vorher nicht hatte und nicht kannte. Ja, es gab immer Höhen und Tiefen, ’nen guten Monat, ’nen schlechten Monat. Aber wenn so eine brutale Geschichte passiert mit einem totalen Cut, wo das Fallbeil fällt, dann passiert natürlich auch gesellschaftlich etwas mit mir. Dann spüre ich, dass ich nicht mehr das Ansehen habe, auf einmal denke ich, jemand anders könnte sagen: „Ach, der ist doch pleite!“ Aber dass ich immer noch der gleiche bin, interessiert keinen in dem Moment! Ich möchte gerne weiter einen geraden Weg gehen. Es wäre auch jetzt irre, mit 53. Also, ich krieg das schon irgendwie zu Ende noch. Ich geh auch nicht vorher aus dem Kino, bevor der Film zu Ende ist. Dieser Beitrag beruht auf einem Gespräch mit Andreas Kuhlmann, aufgeschrieben vom Stadtschreiber Roland Brus. Das Hamburger Fischbuffet, alles so ein bisschen mit St.-Pauli-Flair und Hans Albers. Foto: privat Der „Mondräumer“-Automatenstand von Andreas’ Vater aus den frühen 70er Jahren. Foto: privat Seite 30
Ausgabe 2 FLUGSCHREIBER DER SAND Flugschreiber Oberbarmen / Wichlinghausen Stimmen zum Thema Wandel, gesammelt bei Aktionen und Stadtspaziergängen des Stadtschreibers Roland Brus und seines Oasen-Teams Ich glaub nicht, dass wir daraus was lernen, sondern wir warten nur darauf, die PS wieder zum Laufen zu bringen. Richtig Gas geben! Eins ist ja auch bemerkenswert: Der Umsatz von Fahrrädern ist extrem gestiegen. Die kommen mit der Produktion von E-Bikes gar nicht mehr nach. Da muss man wieder eine neue Form des Umgangs finden. Nach dem Motto, mein Freund ist nicht mein Feind. Wenn er mich ansteckt, dann haben wir gemeinsam ein Problem. Aber wenn du keine Kultur mehr erleben kannst, keine Musik, kein Theater, merkste das nicht sofort. Da ist keine Wunde, sondern die Wunde entsteht eigentlich im Kopf oder bei dir im Gefühl. Halte Abstand von deinen Freunden, von deinen Bekannten. Du kannst eigentlich niemandem vertrauen, dass er dich nicht anstecken kann. Diese Lernerfahrung ist eigentlich eine Katastrophe. Man kann ganz viel verwandeln: in meinem Haus wohnen ältere Leute. Privat male ich manchmal Blumen und Tiere und schmeiße denen was in den Briefkasten. Dass die sich einfach ein bisschen freuen. Was ich am meisten vermisse? Eine Umarmung. Etwas Zärtlichkeit. Ich hab noch einen Hund, aber es fehlt halt was, Normalität. Das Rumalbern mit den Kindern. Dieses Freie, dieses Spaß-Haben und die Nähe. Die Kinder haben mich umarmt und so was. Und jetzt muss man sagen: „Ne, stopp, bis hierhin und nicht weiter.“ Angst hab ich nicht. Lass ich mir auch nicht einreden. Heute hab ich da an der Rosenau gesessen. Hab da ein Kreuzworträtsel gemacht. Da setzte sich zwar einer neben mich, aber der sah auch gesund aus. Seite 31
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