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ERZIEHUNG & BILDUNG<br />
Seiten<br />
blick!<br />
Was machen unsere Mitarbeitenden eigentlich,<br />
wenn sie nicht im Dienst s<strong>in</strong>d?<br />
Mit 27 Jahren traf Kerst<strong>in</strong> Sittig<br />
e<strong>in</strong>e Entscheidung, die<br />
nicht nur ihr eigenes Leben<br />
bereichern sollte: Damals<br />
beschloss die heutige Teamleiter<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Wohngruppe Kompass <strong>der</strong> <strong>Graf</strong> <strong>Recke</strong> <strong>Stiftung</strong><br />
<strong>in</strong> Düsseldorf-Wittlaer, den Motorradführersche<strong>in</strong><br />
zu machen. Ihr damaliger<br />
Lebensgefährte war begeisterter Biker, »und<br />
ich hatte ke<strong>in</strong>e Lust, nur h<strong>in</strong>tendrauf zu<br />
sitzen«, erklärt Kerst<strong>in</strong> Sittig ihre damalige<br />
Motivation. Mit Folgen: Bis heute ist das<br />
Motorrad ihre größte Leidenschaft, wie sie<br />
bekennt.<br />
Dabei waren die Anfänge durchaus<br />
bescheiden: E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Suzuki hatte sich<br />
Kerst<strong>in</strong> Sittig nach bestandener Prüfung<br />
zunächst zugelegt. »Die Masch<strong>in</strong>e musste<br />
auch von e<strong>in</strong>er nicht so großen Person gut<br />
zu handeln se<strong>in</strong>«, erklärt die 53-Jährige. Man<br />
müsse sie auch schieben und im Zweifel<br />
aufrichten können. <strong>Das</strong> allerd<strong>in</strong>gs war bis<br />
heute kaum e<strong>in</strong>mal notwendig, sie habe<br />
sich »noch nie richtig auf die Nase gelegt«,<br />
wie sie erzählt. Sie fahre mit dem Motorrad<br />
vorausschauen<strong>der</strong> als mit dem Auto, versuche<br />
auch die an<strong>der</strong>en Verkehrsteilnehmer<br />
e<strong>in</strong>zuschätzen. »Mir ist bewusst, dass ich<br />
ke<strong>in</strong>e Knautschzone habe.«<br />
Was ebenfalls hilft: Es geht Kerst<strong>in</strong> Sittig<br />
nicht ums schnelle Fahren, son<strong>der</strong>n ums<br />
sogenannte Cruisen, sie liebt die Kurven<br />
und die vorbeiziehende Landschaft, wie<br />
sie betont. »Ich kann dabei wun<strong>der</strong>bar den<br />
Kopf freikriegen. Ich werde dann e<strong>in</strong>s mit<br />
dem Moped.« <strong>Das</strong> gel<strong>in</strong>gt ihr sogar, wenn sie<br />
den Arbeitsweg ab und an auf zwei statt auf<br />
vier Rä<strong>der</strong>n fährt. Im Auto mache sie sich<br />
auf dem Rückweg häufig noch Gedanken<br />
über den Tag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohngruppe. »Auf dem<br />
Motorrad ist das alles sofort weg. Da komm<br />
ich ganz schnell runter, das kommt e<strong>in</strong>er<br />
Therapie schon ganz nahe.« Sie lacht.<br />
BEGEISTERUNG WUCHS<br />
MIT DEN MASCHINEN<br />
E<strong>in</strong>e Honda CBF 500 Naked Bike steht bei<br />
Kerst<strong>in</strong> Sittig <strong>der</strong>zeit im alten Hof <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Scheune, e<strong>in</strong>e Honda 750er Chopper Shadow<br />
geschützt unterm Vordach. Mit dieser<br />
war sie vor nicht allzu langer Zeit sogar<br />
<strong>in</strong> Kroatien unterwegs. »Die Küste entlangzufahren,<br />
das war ganz wun<strong>der</strong>voll«,<br />
schwärmt sie. In den Süden gelangte das<br />
Motorrad allerd<strong>in</strong>gs auf dem Hänger. Nicht,<br />
weil sich Sittig ke<strong>in</strong>e tausend Kilometer im<br />
Sattel zutrauen würde. »Ich will nicht mit<br />
kle<strong>in</strong>em Gepäck anreisen. Aus dem Alter b<strong>in</strong><br />
ich raus«, sagt sie mit e<strong>in</strong>em Gr<strong>in</strong>sen.<br />
Ihre Begeisterung h<strong>in</strong>gegen ist mit<br />
den Masch<strong>in</strong>en offensichtlich ebenfalls<br />
gewachsen. Und so war es für Kerst<strong>in</strong> Sittig<br />
gar ke<strong>in</strong>e Frage, dass sie ihrem geme<strong>in</strong>samen<br />
Hobby treu bleiben würde, als ihr Lebensgefährte<br />
vor acht Jahren starb. Die Kontakte,<br />
die sie <strong>in</strong> die Biker-Szene aufgebaut hatte,<br />
waren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge sehr hilfreich. Mit Freunden<br />
macht sie sich weiterh<strong>in</strong> regelmäßig auf<br />
zu geme<strong>in</strong>samen Touren an die Mosel o<strong>der</strong><br />
Ausfahrten zu Biker-Treffs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Eifel.<br />
Doch ganz gleich, ob zu zweit o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er größeren Gruppe: Wenn sie auf dem<br />
Moped sitze, konzentriere sie sich ganz aufs<br />
Fahren, sagt Kerst<strong>in</strong> Sittig; sie habe auch<br />
bewusst ke<strong>in</strong>e Sprechanlage im Helm. »<strong>Das</strong><br />
s<strong>in</strong>d Momente, die man ganz für sich alle<strong>in</strong>e<br />
hat.« Es ist e<strong>in</strong> wichtiger Ausgleich für die<br />
53-Jährige, die sonst »schon hauptsächlich<br />
für an<strong>der</strong>e da ist«, wie sie bekennt. <strong>Das</strong> gilt<br />
für ihre Arbeit als Erzieher<strong>in</strong> mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen ganz beson<strong>der</strong>s. Etwas<br />
an<strong>der</strong>es wäre für sie, die selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
sozialen Brennpunkt aufgewachsen ist, aber<br />
nie <strong>in</strong>frage gekommen, wie sie mit Überzeugung<br />
sagt.<br />
MOTORRAD UND ROCK<br />
GEHÖREN ZUSAMMEN<br />
In ihrer Freizeit geht Kerst<strong>in</strong> Sittig gerne<br />
auf Konzerte. »Und natürlich stehe ich auf<br />
Gitarrenmusik«, me<strong>in</strong>t sie und lacht. Auf<br />
ihrer Playlist stehen daher Rockbands wie<br />
AC/DC o<strong>der</strong> Led Zeppel<strong>in</strong> ganz oben, sie<br />
könne sich aber auch für Re<strong>in</strong>hard Mey<br />
begeistern. Dazu kommt e<strong>in</strong> Faible für alles<br />
Handwerkliche; vom Häkeln, das ihr e<strong>in</strong>e<br />
»Die Küste<br />
entlangzufahren,<br />
das war ganz<br />
wun<strong>der</strong>voll.«<br />
Kerst<strong>in</strong> Sittig<br />
Kolleg<strong>in</strong> beigebracht hat, bis h<strong>in</strong> zum Dachdecken<br />
ihrer Gartenhütte. »Ich saß auch<br />
schon auf me<strong>in</strong>em Haus, rittl<strong>in</strong>gs auf dem<br />
Dachfirst, und habe den Schornste<strong>in</strong> verputzt.«<br />
Noch lieber aber sitzt Kerst<strong>in</strong> Sittig<br />
freilich auf e<strong>in</strong>er ihrer beiden Hondas. E<strong>in</strong><br />
Leben ohne Moped sei für sie nicht denkbar,<br />
sagt sie. Ihren mittlerweile 32-jährigen Sohn<br />
hatte sie daher schon mitgenommen, »als<br />
<strong>der</strong> noch ganz kle<strong>in</strong> war«. Ke<strong>in</strong>e Frage, dass<br />
dieser nun ebenfalls Motorrad fährt, genau<br />
wie die Schwiegertochter. Doch auch <strong>in</strong> die<br />
an<strong>der</strong>e Richtung blieb ihr Entschluss von<br />
damals nicht ohne Konsequenzen.<br />
Als sie sich vor e<strong>in</strong>em guten Vierteljahrhun<strong>der</strong>t<br />
für den Motorrad-Führersche<strong>in</strong><br />
angemeldet hatte, ihre ersten, vorsichtigen<br />
Runden auf e<strong>in</strong>em Parkplatz drehte,<br />
erwachte auch bei ihrem Vater e<strong>in</strong>e offenbar<br />
versteckte Leidenschaft. »Er war damals<br />
50 und hat dann tatsächlich mit mir den<br />
Führersche<strong>in</strong> gemacht.« Kerst<strong>in</strong> Sittig freut<br />
das bis heute: Ihr Vater, sagt sie, sei mittlerweile<br />
77 Jahre alt – »und er fährt immer<br />
noch«. //<br />
3/<strong>2021</strong> <strong>recke</strong>: <strong>in</strong> 21