Mitteilungsblatt Thüringer Pfarrverein 2. Halbjahr 2021
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„Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
(1. Kor 13,13) - Die Kunst der Kasualie ist die Liebe.
Dr. Anne Helene Kratzert Pfarrerin
in Palmbach-Stupferich im Kirchenbezirk
Karlsruhe-Stadt. Eindrücklich
beschreibt sie die Kunst der Kasualie
als Liebe und den Auftrag für die eigene
Kasualpraxis, der sich aus diesem
Verständnis ergibt.
„Frau Pfarrerin, ich kann ihnen NICHTS
Gutes über meine Mutter sagen.“
Sie ist kaum zur Tür meines Amtszimmers
herein, da schmettert sie mir
diesen Satz entgegen. Sie feuert ihn
in den Raum wie eine Nebelbombe,
noch bevor wir uns die Hand geben,
und sein Dunst bleibt zwischen uns
stehen für die Dauer eines mühsamen
Gesprächs über eine Mutter, die, nach
Fühlen und Meinen der Tochter, in allem
versagt hat, worin eine Mutter
versagen kann. Jetzt ist sie tot. Diese
Mutter, die keiner ihrer Aufgaben je
gerecht wurde. Emotional nicht. Materiell
nicht. Sozial-gesellschaftlich nicht.
Die, schlimmer noch, die Liebe nicht
verdient hat, die die Tochter doch empfand
für sie, denn: „Es war ja meine
Mutter.“ Ein super-fail. Aber eben: Die
Mutter. Eigentlich nicht wert, Mutter
genannt zu werden. Immer betrunken
oder mit Drogen bis zur Apathie ausgeschaltet.
Wenn wach, dann aggressiv,
bestimmend, lieblos. Mehr mit der Suche
nach Liebhabern und neuem Stoff
beschäftigt als mit der Sorge um ihre
zahlreichen Kinder.
„Frau Pfarrerin, ich kann ihnen NICHTS
Gutes über meine Mutter sagen.“
Durch den Dunst dieses Satzes tasten
wir uns durch ein Leben, das an vielen
Stellen nicht erfüllt war. Unter schwierigem
Vorzeichen schon begann. In so
vielen Seelen-Ecken unglücklich blieb.
Diese Tochter kann mir wirklich nichts
Gutes über ihre Mutter erzählen. Aber
ich merke, wie berührt sie ist. Wie angefasst
von diesem Tod. Sie zittert beim
Erzählen und weint viel, weil da auch bei
ihr Traumata sind, die aufbrechen und
zeigen, dass es ein Kreuz war, Kind dieser
Mutter zu sein. Dass aber auch auf
ihrer Seite Unversöhntheiten und Lieblosigkeiten
waren, und dennoch hat sie
die Mutter begleitet und gestützt bis
an ihr Ende. Ihr zum Lebensende einen
Dienst erwiesen, den sie selbst von der
Mutter so schmerzlich ersehnt, aber nie
bekommen hat.
Die Kunst der Kasualie ist die Liebe.
Wie umgehen mit einer Lebensgeschichte,
die so von Schmerz, Versagen
und offensichtlicher Bruchstückhaftigkeit
des Lebens, von Schuld und Fehlern
durchfurcht ist wie diese? Ich war
noch Pfarrerin im Probedienst, als ich in
einer Karlsruher Gemeinde mit diesem
Schicksal in Berührung kam. Die Begegnung
mit diesem Sterbefall ist mir eine
Lehrgeschichte über die Kunst der Kasualie
geworden. Und ich habe es seither
immer wieder erlebt: Beerdigungs-
Mitteilungen aus dem Thüringer Pfarrverein Nr. 02-2021 55