DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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Vom Grauen der Wahrheit
NR. 31/2021 »So viel Wasser,
von überall« – Autorin Annette
Großbongardt schrieb mit
Kollegen über die Toten der
Jahrhundertflut diesen Sommer
im Ahrtal und in Nordrhein-
Westfalen.
Wie viele Details braucht die
Wahrheit? Um glaubhaft Realität
zu schildern, muss ich genau
sein als Journalistin. »Sagen,
was ist«, lautete der Leitsatz
unseres Gründers Rudolf Augstein.
Aber wie genau darf ich
Zerstörter Friedhof
in Bad Neuenahr-
Ahrweiler
Friedemann Vogel / epa
sein, wenn es um tragische Ereignisse
geht und viele Opfer?
Wenn ich schreibe, während
Menschen leiden und noch um
ihre Liebsten bangen? Ich war
im Ahrtal, wo es aussah, als hätte
ein Zyklop gewütet und
alles, was ihm in die Finger kam,
Häuser, Bäume, Autos, Wohnwagen
hochgehoben, zerschmettert
und dann mit Schlamm und
Wasser übergossen.
Natürlich sind wir den Fakten
verpflichtet, die unsere Recherchen
erbringen. Zur journalistischen
Sorgfaltspflicht gehört
es aber auch, die Wirkung
unserer Texte zu bedenken.
Meine Ressortleiterin hatte über
den Tsunami 2004 in Asien berichtet.
Sie habe damals erlebt,
sagte sie, wie verstörend Berichte
über Todesumstände
für Angehörige sein können,
die oft noch nicht wissen, wie
ihre Liebsten gestorben sind.
Schließlich verzichteten wir auf
Details, die zu drastisch schienen,
oder solche, die Menschen
auf sich beziehen konnten.
Wir schilderten, wie die Menschen
in ihren Kellern ertranken,
auf dem Campingplatz oder bei
dem Versuch, schnell noch ihr
Auto umzuparken. Aber ich
schrieb nicht über den Schlamm,
den Rechtsmediziner in den
Lungen von Verstorbenen fanden,
nicht, was sie mir über den
Schaumpilz erzählten, der sich
bei Ertrinkenden vor dem Mund
bildet, weil sie verzweifelt versuchen,
Luft zu bekommen.
Und so steht im Text nicht,
wie die Leichen in den Bäumen
hingen, nicht das Mädchen, das
bei einem Bestatter angespült
wurde. Nicht die Sorge des Innenministers,
einige Tote könnten
über den Rhein bis in die
Nordsee abgetrieben werden.
Jeder, der noch jemanden vermisst,
könnte ja denken: Ist das
jetzt mein Vater, der da gerade
auf ewig verschwindet?
Heute denke ich, unsere
Rücksicht auf die Hinterbliebenen
war damals richtig. Alles
war noch so frisch, die Toten
waren noch nicht beerdigt, etliche
Leichname nicht identifiziert
oder noch nicht einmal gefunden.
Aber ich frage mich
auch: Hätten wir nicht doch
mehr schreiben sollen? Um
noch besser vorstellbar zu machen,
mit welchem Leid, welchem
Trauma die Menschen in
den Flutgebieten leben müssen.
Um klarzumachen, welche
grausamen Konsequenzen das
Versagen der Verantwortlichen
hatte, die nicht rechtzeitig gewarnt
hatten. Es bleibt eine
schwierige Abwägung.
Vor einiger Zeit wurde eine
Tote aus dem Ahrtal bei Rotterdam
angespült, es dauerte Wochen,
bis sie identifiziert werden
konnte. Zwei Menschen werden
noch immer vermisst. Es ist die
Wahrheit.
»Das sind Ansteher,
brauchst du auch
einen?«
SPIEGEL.DE AM 9. SEPTEMBER
»Schmutzige Wäsche« – Gerichtsreporterin
Julia Jüttner
muss, gerade in Coronazeiten,
ungewöhnliche Mittel nutzen,
um einen Platz im Gerichtssaal
zu ergattern.
Prozesse sind grundsätzlich
öffentlich, so steht es im Gerichtsverfassungsgesetz,
Journalistinnen
und Journalisten dürfen
aus dem Gerichtssaal berichten.
Aber dazu müssen sie erst
einmal in den Saal hineinkommen.
Und das hat mit Journalismus
wenig zu tun. Im Juni 2020,
am Vorabend des Prozesses
gegen den mutmaßlichen Mörder
des Kasseler Regierungspräsidenten
Walter Lübcke, kam
ich am Frankfurter Oberlandesgericht
vorbei. Es war 22 Uhr,
vor dem Eingang standen Leute
– ich hielt sie für Neonazis – die
den Angeklagten unterstützen
wollten. Dann sah ich, wie ein
Kollege einem von ihnen Geldscheine
reichte. Er sagte zu mir:
»Das sind Ansteher, brauchst du
auch einen?«
Wegen der Coronapandemie
waren in Frankfurt am Main
statt 120 Zuschauerplätzen im
Saal lediglich 37 vorgesehen,
19 davon für Journalisten. Aber
sehr viel mehr Kolleginnen
und Kollegen wollten über den
Prozess berichten, es war für
mich das bedeutendste Verfahren
des Jahres. Hektisch telefonierte
ich herum und fand jemanden,
der sich gegen Mitternacht
für mich anstellte. Um
sechs Uhr löste ich ihn aus.
Er war übermüdet, durchgefroren,
es hatte geregnet. Und
ich fühlte mich schäbig.
Vor Gericht wird manchmal
bis 18 Uhr verhandelt, oft schreibe
ich direkt danach einen Text,
die Arbeitstage dauern häufig bis
21 Uhr. Das halte ich nicht durch,
wenn ich die Nacht davor auf
dem Klappstuhl in der Kälte verbracht
habe. Aber wohin führt
das? Am 9. September musste
sich der frühere Bayern-Profi
Jérôme Boateng vor dem Münchner
Amtsgericht verantworten,
weil er seine ehemalige Lebensgefährtin
geschlagen haben soll.
Der Andrang war enorm, aber
im Saal waren nur sechs Plätze
für Journalisten vorgesehen.
Ich war vorbereitet und hatte
über einen Kollegen den Studenten
Severin engagiert. Severin
sollte sich gegen Mitternacht
anstellen. Dann hörte ich von
einem anderen Gerichtsreporter,
sein Ansteher sei schon um
20 Uhr da. Severin sprach mit
seinem Kumpel Alexej, der sich
von 20 Uhr bis Mitternacht anstellen
würde und Severin dann
von Mitternacht bis morgens.
Ich fand das zwar absurd, dachte
aber: guter Plan. Am Tag vor
der Verhandlung rief Alexej an,
er sei zufällig am Justizgebäude
vorbeigelaufen, da stehe schon
Jüttner
Peter Jülich
jemand. In der Pressestelle des
Gerichts erfuhr ich, dass
die Deutsche Presse-Agentur
um 11 Uhr morgens einen ersten
Mitarbeiter zum Anstehen
geschickt haben soll – fast
24 Stunden vor Prozessbeginn.
Alexej besorgte sich Liegestuhl,
Brotzeit und schrieb mir
um 17.44 Uhr: »Sitze jetzt als
Dritter da.« Vor ihm die »Frankfurter
Allgemeine«. Kurz nach
ihm kamen Ansteher von
»Bild«, »Süddeutscher Zeitung«
und der »Zeit«. Bevor ich schlafen
ging, brachte ich Alexej ein
Helles, Chips und Schokolade.
Severin löste ich mit Croissants
und Kaffee ab, ich wollte mein
schlechtes Gewissen beruhigen.
Aber das ändert nichts daran:
Sie, nicht ich, mussten die Nacht
draußen verbringen.
Ich mache dieses Spiel mit,
ich trage dazu bei, dass sich
Helferinnen und Helfer immer
früher anstellen müssen, das ist
mir bewusst. Aber wenn ich es
nicht tue, erhalten SPIEGEL-
Leser keine Berichte aus dem
Gerichtssaal. Ein vernünftiger
Ablauf ist es trotzdem nicht.
14 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021