05.01.2022 Aufrufe

DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Vom Grauen der Wahrheit

NR. 31/2021 »So viel Wasser,

von überall« – Autorin Annette

Großbongardt schrieb mit

Kollegen über die Toten der

Jahrhundertflut diesen Sommer

im Ahrtal und in Nordrhein-

Westfalen.

Wie viele Details braucht die

Wahrheit? Um glaubhaft Realität

zu schildern, muss ich genau

sein als Journalistin. »Sagen,

was ist«, lautete der Leitsatz

unseres Gründers Rudolf Augstein.

Aber wie genau darf ich

Zerstörter Friedhof

in Bad Neuenahr-

Ahrweiler

Friedemann Vogel / epa

sein, wenn es um tragische Ereignisse

geht und viele Opfer?

Wenn ich schreibe, während

Menschen leiden und noch um

ihre Liebsten bangen? Ich war

im Ahrtal, wo es aussah, als hätte

ein Zyklop gewütet und

alles, was ihm in die Finger kam,

Häuser, Bäume, Autos, Wohnwagen

hochgehoben, zerschmettert

und dann mit Schlamm und

Wasser übergossen.

Natürlich sind wir den Fakten

verpflichtet, die unsere Recherchen

erbringen. Zur journalistischen

Sorgfaltspflicht gehört

es aber auch, die Wirkung

unserer Texte zu bedenken.

Meine Ressortleiterin hatte über

den Tsunami 2004 in Asien berichtet.

Sie habe damals erlebt,

sagte sie, wie verstörend Berichte

über Todesumstände

für Angehörige sein können,

die oft noch nicht wissen, wie

ihre Liebsten gestorben sind.

Schließlich verzichteten wir auf

Details, die zu drastisch schienen,

oder solche, die Menschen

auf sich beziehen konnten.

Wir schilderten, wie die Menschen

in ihren Kellern ertranken,

auf dem Campingplatz oder bei

dem Versuch, schnell noch ihr

Auto umzuparken. Aber ich

schrieb nicht über den Schlamm,

den Rechtsmediziner in den

Lungen von Verstorbenen fanden,

nicht, was sie mir über den

Schaumpilz erzählten, der sich

bei Ertrinkenden vor dem Mund

bildet, weil sie verzweifelt versuchen,

Luft zu bekommen.

Und so steht im Text nicht,

wie die Leichen in den Bäumen

hingen, nicht das Mädchen, das

bei einem Bestatter angespült

wurde. Nicht die Sorge des Innenministers,

einige Tote könnten

über den Rhein bis in die

Nordsee abgetrieben werden.

Jeder, der noch jemanden vermisst,

könnte ja denken: Ist das

jetzt mein Vater, der da gerade

auf ewig verschwindet?

Heute denke ich, unsere

Rücksicht auf die Hinterbliebenen

war damals richtig. Alles

war noch so frisch, die Toten

waren noch nicht beerdigt, etliche

Leichname nicht identifiziert

oder noch nicht einmal gefunden.

Aber ich frage mich

auch: Hätten wir nicht doch

mehr schreiben sollen? Um

noch besser vorstellbar zu machen,

mit welchem Leid, welchem

Trauma die Menschen in

den Flutgebieten leben müssen.

Um klarzumachen, welche

grausamen Konsequenzen das

Versagen der Verantwortlichen

hatte, die nicht rechtzeitig gewarnt

hatten. Es bleibt eine

schwierige Abwägung.

Vor einiger Zeit wurde eine

Tote aus dem Ahrtal bei Rotterdam

angespült, es dauerte Wochen,

bis sie identifiziert werden

konnte. Zwei Menschen werden

noch immer vermisst. Es ist die

Wahrheit.

»Das sind Ansteher,

brauchst du auch

einen?«

SPIEGEL.DE AM 9. SEPTEMBER

»Schmutzige Wäsche« – Gerichtsreporterin

Julia Jüttner

muss, gerade in Coronazeiten,

ungewöhnliche Mittel nutzen,

um einen Platz im Gerichtssaal

zu ergattern.

Prozesse sind grundsätzlich

öffentlich, so steht es im Gerichtsverfassungsgesetz,

Journalistinnen

und Journalisten dürfen

aus dem Gerichtssaal berichten.

Aber dazu müssen sie erst

einmal in den Saal hineinkommen.

Und das hat mit Journalismus

wenig zu tun. Im Juni 2020,

am Vorabend des Prozesses

gegen den mutmaßlichen Mörder

des Kasseler Regierungspräsidenten

Walter Lübcke, kam

ich am Frankfurter Oberlandesgericht

vorbei. Es war 22 Uhr,

vor dem Eingang standen Leute

– ich hielt sie für Neonazis – die

den Angeklagten unterstützen

wollten. Dann sah ich, wie ein

Kollege einem von ihnen Geldscheine

reichte. Er sagte zu mir:

»Das sind Ansteher, brauchst du

auch einen?«

Wegen der Coronapandemie

waren in Frankfurt am Main

statt 120 Zuschauerplätzen im

Saal lediglich 37 vorgesehen,

19 davon für Journalisten. Aber

sehr viel mehr Kolleginnen

und Kollegen wollten über den

Prozess berichten, es war für

mich das bedeutendste Verfahren

des Jahres. Hektisch telefonierte

ich herum und fand jemanden,

der sich gegen Mitternacht

für mich anstellte. Um

sechs Uhr löste ich ihn aus.

Er war übermüdet, durchgefroren,

es hatte geregnet. Und

ich fühlte mich schäbig.

Vor Gericht wird manchmal

bis 18 Uhr verhandelt, oft schreibe

ich direkt danach einen Text,

die Arbeitstage dauern häufig bis

21 Uhr. Das halte ich nicht durch,

wenn ich die Nacht davor auf

dem Klappstuhl in der Kälte verbracht

habe. Aber wohin führt

das? Am 9. September musste

sich der frühere Bayern-Profi

Jérôme Boateng vor dem Münchner

Amtsgericht verantworten,

weil er seine ehemalige Lebensgefährtin

geschlagen haben soll.

Der Andrang war enorm, aber

im Saal waren nur sechs Plätze

für Journalisten vorgesehen.

Ich war vorbereitet und hatte

über einen Kollegen den Studenten

Severin engagiert. Severin

sollte sich gegen Mitternacht

anstellen. Dann hörte ich von

einem anderen Gerichtsreporter,

sein Ansteher sei schon um

20 Uhr da. Severin sprach mit

seinem Kumpel Alexej, der sich

von 20 Uhr bis Mitternacht anstellen

würde und Severin dann

von Mitternacht bis morgens.

Ich fand das zwar absurd, dachte

aber: guter Plan. Am Tag vor

der Verhandlung rief Alexej an,

er sei zufällig am Justizgebäude

vorbeigelaufen, da stehe schon

Jüttner

Peter Jülich

jemand. In der Pressestelle des

Gerichts erfuhr ich, dass

die Deutsche Presse-Agentur

um 11 Uhr morgens einen ersten

Mitarbeiter zum Anstehen

geschickt haben soll – fast

24 Stunden vor Prozessbeginn.

Alexej besorgte sich Liegestuhl,

Brotzeit und schrieb mir

um 17.44 Uhr: »Sitze jetzt als

Dritter da.« Vor ihm die »Frankfurter

Allgemeine«. Kurz nach

ihm kamen Ansteher von

»Bild«, »Süddeutscher Zeitung«

und der »Zeit«. Bevor ich schlafen

ging, brachte ich Alexej ein

Helles, Chips und Schokolade.

Severin löste ich mit Croissants

und Kaffee ab, ich wollte mein

schlechtes Gewissen beruhigen.

Aber das ändert nichts daran:

Sie, nicht ich, mussten die Nacht

draußen verbringen.

Ich mache dieses Spiel mit,

ich trage dazu bei, dass sich

Helferinnen und Helfer immer

früher anstellen müssen, das ist

mir bewusst. Aber wenn ich es

nicht tue, erhalten SPIEGEL-

Leser keine Berichte aus dem

Gerichtssaal. Ein vernünftiger

Ablauf ist es trotzdem nicht.

14 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!