DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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DEUTSCHLAND
Bis zur letzten Ähre
ENERGIE Eckardt Heukamp will seinen Bauernhof nicht dem
Kohletagebau opfern. Aktivistinnen und Aktivisten kämpfen für ihn,
selbst Greta Thunberg war schon da. Denn seine
Äcker sind zum Symbol im Streit um die Klimapolitik geworden.
D
er Bauer bewaffnet sich mit einem
Schraubenzieher, so leicht gibt er nicht
auf. Eckardt Heukamp steht an einer
Werkbank, vor ihm liegt eine kaputte Personenwaage.
»Doofes Ding«, sagt er und fummelt
mit dem Schraubenzieher darin rum. Eine
Feder springt heraus, eine Mutter fällt zu Boden.
Heukamp braucht die Waage, er würde
gern ein paar Kilogramm abnehmen. Er spielt
Tennis im Verein, im zweiten Satz geht ihm
manchmal die Puste aus. Aber die Waage kann
er wohl nicht mehr retten. »Gerade erst gekauft
und schon Schrott«, sagt er. »Mannomann.«
Eckardt Heukamp, 57, Landwirt aus Lützerath
in Nordrhein-Westfalen, kann sich über
die kleinen Ungerechtigkeiten fast genauso
aufregen wie über die großen. Er kämpft vor
Gericht um seinen Bauernhof. Es ist ein
Rechtsstreit, der nicht mehr nur Menschen
im Rheinischen Braunkohlerevier bewegt,
sondern auch die Bundesregierung. Es geht
um die Fragen, wie viel Braunkohle Deutschland
noch braucht und vor allem: wo man sie
noch aus dem Boden holen sollte.
Gut möglich, dass Heukamp bald seinen
Hof und sein Zuhause verliert. Möglich ist
auch, dass das Gericht für ihn entscheidet und
nicht im Sinne des Energiekonzerns RWE.
Das würde Heukamp wohl endgültig zu einer
Legende der Klimabewegung machen, obwohl
das nie sein Plan war.
Heukamp packt den Schraubenzieher weg
und setzt sich an einen Holztisch im Innenhof
seines Gehöfts. Es ist ein kühler Dezembermorgen,
überall auf seinem Hof stehen Fahrzeuge
herum, hier vier Traktoren, dort ein
Mähdrescher, dazwischen mehrere Pkw mit
platten Reifen oder demolierten Türen. Die
Motorhaube seines BMW-Cabrios steht offen.
Heukamp ist ein Tüftler, ein Schrauber. Er
hat inzwischen genug Zeit, Sachen zu reparieren.
Auf seinen Feldern ist der Landwirt immer
seltener, im Herbst war er zuletzt dort, um zu
ernten. Von den einst rund 100 Hektar Ackerfläche
seien ihm noch 16,75 geblieben, in einer
Ortschaft, die mehrere Kilometer von Lützerath
entfernt liege, sagt er. Die Felder rund um
seinen Bauernhof habe er fast komplett an
RWE abtreten müssen. Wo Heukamp früher
mal Kartoffeln, Rüben und Mais säte, fressen
sich jetzt die Braunkohlebagger durch den Boden.
Ihre Schaufelräder kommen seinem Hof
jeden Tag ein Stückchen näher. Er oder die
Schaufeln – wer bleibt am Ende übrig?
Lützerath liegt südlich von Mönchengladbach,
die Ortschaft grenzt direkt an den Tagebau
Garzweiler. Hier, im Rheinischen Revier,
fördert RWE jedes Jahr rund 100 Millionen
Tonnen Braunkohle, um daraus vor allem
Strom zu erzeugen.
Damit die Bagger an die Kohle unter Lützerath
kommen, werden die Einwohner des
Orts seit 2006 umgesiedelt. Knapp 100 Menschen
sind seitdem fortgezogen. Sie wurden
von RWE entschädigt, viele haben ein neues
Leben in der Nähe von Erkelenz begonnen,
ungefähr zehn Kilometer von Lützerath entfernt.
Nur Heukamp blieb zurück, als Einziger.
Vermisst er seine Nachbarn? Er habe sowieso
nie viel Kontakt zu ihnen gehabt, jetzt
seien sie »halt weg«, sagt er. »Ich bin ein Einzelgänger,
das war ich schon immer.«
Teile seines Hofs wurden 1763 gebaut und
stehen unter Denkmalschutz. Heukamp
wuchs in Lützerath auf, wurde Landwirt. Er
führt den Bauernhof in der vierten Generation.
Er hat Geschwister, doch auch die sind
längst weggezogen.
An seinem Tisch verschränkt Heukamp die
Arme. »Ich sehe es einfach nicht ein«, sagt er.
»Hier habe ich meine Ruhe, kann Kaffee trinken,
abends grillen. Warum soll ich weg? Vielleicht
stehe ich danach schlechter da als jetzt,
und das alles, damit RWE Gewinne machen
kann?« Er erzählt, wie in den vergangenen Jahren
die anderen Dörfer in der Gegend umgesiedelt
wurden. Wie die Kirche zerstört wurde,
in der er seine Firmung hatte. Wie der Friedhof
verschwand, auf dem seine Eltern begraben
Lützerath
S Karte: OpenStreetMap
Mönchengladbach
Tagebau
Garzweiler
Düsseldorf
Rhein
10 km
waren. Den Grabstein hatte Heukamp noch
gerettet, er lehnt jetzt an seiner Hauswand.
»Es lohnt sich, für seine Heimat zu kämpfen«,
sagt er. Es ist ein langer Kampf geworden.
Seit sieben Jahren verhandeln RWE und
Heukamp, es gab immer wieder Treffen, Termine
mit Gutachtern und Anwälten. Für die
Felder, die Heukamp bereits abtreten musste,
bekam er Entschädigungen. Seinen Hof wollte
er bislang nicht hergeben.
Heukamp habe »einen Dickkopf und ein
ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit«, sagt
seine Anwältin Roda Verheyen. Er sei »eine
Besonderheit« und durchaus anstrengend.
Alles laufe übers Telefon oder per Post, denn
E-Mails schreibe Heukamp nicht.
Geht es nach RWE, wird Lützerath bis
Ende 2022 als Ortschaft verschwunden sein.
So sieht es auch die Leitentscheidung der
nordrhein-westfälischen Landesregierung vor.
Das, was der Konzern vorhat, ist längst genehmigt.
Doch ist alles, was rechtens ist, auch
richtig?
Deutschland will aus der Kohleverstromung
aussteigen, so hat es noch die alte Bundesregierung
beschlossen. Und im Koalitionsvertrag
der Ampel steht, dass die neue Bundesregierung
bestimmte Dörfer im Rheinischen Revier
erhalten wolle. Es geht um Ortschaften, die
laut RWE bereits zu rund 70 Prozent umgesiedelt
sind. Doch Lützerath, so schien es bislang,
wird bald Geschichte sein.
Fragt man bei RWE nach Heukamp, hört
man, es habe »eine Vielzahl von Gesprächen
mit konkreten Angeboten« gegeben. Stimmt,
sagt Heukamp, »aber die Angebote waren
alle untauglich für mich«. Er zeigt auf den
ehemaligen Kuhstall. Vor ein paar Jahren
habe er das Dach erneuern lassen, sagt er, für
10 000 Euro. RWE habe ihm für das Gebäude
insgesamt 37 000 Euro geboten. Lächerlich,
findet der Bauer. Er sagt, ihm seien Felder
in Brandenburg angeboten worden, bei
Frankfurt (Oder). »Was soll ich damit?«
Heukamp schwärmt vom fruchtbaren
Ackerland rund um Lützerath, von »Lössschichten
und Bördeböden«, die es eben nicht
überall gebe und mit denen man auch in trockenen
Jahren eine ordentliche Ernte einfahren
könne.
Irgendwann hatte RWE genug von dem
renitenten Bauern und seinem Faible für Bördeböden.
Seitdem geht es um die Eigenheiten
des Bergrechts, der Konzern und der Bauer
streiten über »Grundabtretungsbeschlüsse«
und »vorzeitige Besitzeinweisungen«. Es ist
kompliziert geworden, Behörden und Gerichte
befassen sich mit der Angelegenheit, es gibt
mehrere Klagen und laufende Verfahren.
Wäre es ein Tennisspiel, könnte man sagen:
Heukamp hat den ersten Satz verloren und
liegt im zweiten zurück. Er ist dennoch der
Meinung, dass seine Chancen 50:50 stünden.
Einen Großkonzern, das Bergrecht und Gerichte
mag er gegen sich haben. Richtig ist aber
auch, dass Heukamp nicht mehr allein kämpft.
Er steht von seinem Holztisch auf, läuft über
seinen Hof und auf die kleine Wiese dahinter.
38 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021