DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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75 JAHRE DER SPIEGEL
Villwock: Er besaß immens viel Bildung,
genoss ein so hohes Ansehen.
Ihm war bewusst, wie viel Glück er
in seinem Leben hatte. Dennoch zählt
er zu den traurigsten Menschen, die
ich kennengelernt habe. Ich behaupte:
Er ist nicht einmal in seinem Leben
etwas länger glücklich gewesen.
SPIEGEL: Trotz seiner Erfolge?
Villwock: Rudolf war vielschichtig,
voller Widersprüche. Da war die Aggression
in seinen Texten. Da war die
Lust, hart über andere zu urteilen,
Menschen mitunter zu vernichten. Er
spürte früh, dass er Furore machen
kann mit dieser Art von Journalismus.
Als die britische Militärregierung ihm
Ende 1946 die vorläufige Lizenz zur
Gründung eines Nachrichten-Magazins
erteilte, ergriff er das Glück und
nutzte die Macht, die man ihm gab.
Er war zu jung, um diesem Rausch
nicht zu erliegen. Aber wissen Sie, all
das entsprach nicht seiner Natur. Der
Rudolf, den ich vor dem Krieg kannte,
war ein anderer.
SPIEGEL: Wie haben Sie ihn vor dem
Krieg wahrgenommen?
Villwock: Mein Bruder war der friedlichste
Vertreter, den sich eine Familie
vorstellen kann. Ein Mensch, der
kaum auffiel und sich durch nichts
hervortat. Häufig absentierte er sich,
er saß dann allein da und las. Selbst
im Flegelalter hat Rudolf nie revoltiert,
er raufte sich nie mit Kameraden,
verbreitete keinerlei Häme über
sie. Vor allem unser Vater war sehr
stolz auf sein Rudolflein, er verlangte
die besten Noten, Rudolf hat sie
geliefert. Anders als unser älterer
Bruder Josef und ich, weshalb wir
beide, die nichts taugten, ins Internat
kamen. Josef wurde vom Vater geschlagen,
er nie. Rudolf wollte das
Wohlgefallen seiner Eltern.
SPIEGEL: Aus Furcht vor Züchtigung?
Villwock: Nein, er wollte geliebt werden,
das war zeitlebens seine Triebfeder.
Deshalb später die vielen Frauengeschichten,
deshalb seine fünf Ehen,
er raste von einer Liebschaft zur
nächsten. Auch wenn er manche Frau
behandelte wie eine trockene Zitrone:
Er war auf der Suche nach der Geborgenheit,
die ihm zu Hause vorenthalten
worden war.
SPIEGEL: Das klingt fast tragisch.
Villwock: Es war aber so. Unser Elternhaus
war sehr verstandesbedingt.
Als Leitmotiv galt: fördern statt verwöhnen.
Ich habe meine Eltern geachtet
und geehrt, doch wenn ich
zurückdenke, muss ich sagen: Es fehlte
an Herzlichkeit. Es gab Dienstmädchen,
die sich um uns kümmerten,
Rudolf hatte sogar eine eigene
Kinderfrau, die er sehr gern hatte.
»Rudolf
hatte
Charme und
verstand
es, Leute
für sich
einzunehmen.«
Augstein-Geschwister
Margret, Ingeborg,
Rudolf, Irmgard,
Anneliese, Josef 1933
Aber ich kann mich nicht erinnern,
dass meine Mutter uns jemals in den
Arm genommen hätte. Nur wenn
man krank war, hat sie sich um einen
gekümmert. Rudolf hat das ausgenutzt.
Er hat sogar Krankheiten simuliert.
SPIEGEL: Ihre Familie war sehr
gläubig.
Villwock: Die katholische Kirche bestimmte
unseren Alltag. Wir mussten
vor und nach dem Mittagessen beten,
jeden Sonntag ging es zur Messe.
Kam ich aus dem Internat zu Besuch
oder fuhr dorthin zurück, bekreuzigte
sich meine Mutter. Als Kind hatte
ich ständig Angst, ins Fegefeuer zu
kommen. Mariae unbefleckte Empfängnis,
die Himmelfahrt Jesu, all
dieses Zeug nahmen wir wörtlich.
Rudolfs späterer Hass auf die katholische
Kirche rührte aus dieser Zeit.
Wir haben gelitten unter diesem bigotten
Verhalten, ihm ist das nur
eher klar geworden als mir. Rudolf
fühlte sich betrogen, bis ins Mark. Er
trat allerdings erst 1968 aus der Kirche
aus, nachdem unsere Mutter gestorben
war. Dass er so ein kompliziertes
Wesen geworden ist, liegt
sicherlich auch daran, dass er seine
Opposition gegen das Elternhaus nie
ausgelebt hat.
SPIEGEL: Später trat Ihr Bruder umso
bestimmter auf.
Villwock: Er war nicht das, was er
nach außen darstellte. Er hatte ein
vermindertes Selbstbewusstsein. Ein
Grund mag sein frühes Scheitern als
Dramatiker gewesen sein, sein einziges
Stück »Die Zeit ist nahe« wurde
sogar vom SPIEGEL verrissen und
seit der Premiere 1947 nie wieder
auf geführt. Ein weiterer Grund, weshalb
er mit sich haderte, war sein
Aussehen.
SPIEGEL: Er sah doch ganz gut aus.
Villwock: Unser Bruder Josef, der Anwalt,
war ein schöner Mann. Groß,
von strahlendem Auftreten. Rudolf
war nicht hässlich, aber er war klein
Privat
und sah eher aus wie ich, bis hin zu
unserem leichten Schielen.
SPIEGEL: Sind Sie da nicht zu ungnädig,
auch mit sich selbst?
Villwock: Sprechen wir nicht über
mich, ich muss ja kein Model mehr
werden. Als Rudolf ein Kind war, hatten
die Eltern an der Wand ein Zentimetermaß
eingezeichnet. Dort wurde
er jeden Sonntag rangestellt. Weil
unser Vater es mit dem Messen weniger
genau nahm als unsere Mutter,
kam es vor, dass Rudolf an manchem
Sonntag kleiner war als an dem davor.
Er litt dann sehr, und dieses Gefühl
zieht sich durch sein Leben. Ihren
Charakter können Sie verbergen, sofern
Sie ein guter Schauspieler sind,
Ihre Größe nicht.
SPIEGEL: Kleine Männer, die Komplexe
mit Machtwillen kompensieren –
ist das nicht ein Klischee?
Villwock: Nein, für Rudolf war es eine
Triebfeder. Unser Vater war ein Zwei-
Zentner-Mann, ein Kerl wie ein Geldschrank,
und unsere Mutter das genaue
Gegenteil. Wenn Rudolf ihn
besuchte, sagte er jedes Mal: »Vater,
ich nehme es dir wirklich übel, dass
du so eine kleine Frau geheiratet
hast.« Und wer ihn beobachtete,
wenn er – häufig verspätet – zu Festlichkeiten
erschien, hatte das Gefühl:
Rudolf schämt sich, da aufzutreten.
Er hatte keine Angst vor Menschen,
aber er suchte sie nicht. Das mag auch
mit einem weiteren Erbe zu tun haben,
das er aus unserer Familie mitbekommen
hatte: etwas, das in Richtung
Autismus geht. Großvater Augstein,
ein Weinhändler aus Bingen,
hatte viel davon, der hat nicht einmal
seine eigenen Kinder wirklich wahrgenommen.
Rudolf muss ebenfalls
einen Schuss davon abbekommen
haben.
SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?
Villwock: Er tat sich schwer damit,
sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Stattdessen dachte er sie
sich so, wie er sie sich wünschte. Wie
wenn man sich einen Nikolaus aus
Hefeteig backt. Manche Menschen
verdorrten an seiner Seite, ohne dass
er es wahrnahm.
SPIEGEL: Sie urteilen sehr hart über
Ihren Bruder.
Villwock: Schauen Sie: Ich will ihn
bestimmt nicht miesmachen, das
wäre das Letzte. Andererseits wollen
wir ihn auch nicht zur Ikone erheben,
nicht wahr? Rudolf hatte ein gutes
Herz, auch das war eine Seite an ihm,
wenngleich er sie häufig verbarg. Er
hatte Charme und verstand es, Leute
für sich einzunehmen. Etwa den Verleger
John Jahr, der eine Zeit lang sein
Nachbar war, nachdem Rudolf 1952
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