DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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DEUTSCHLAND
Stadtansicht von Erbach 2012
Stadtmarketing Erbach / dpa
»Gestapo go home«
AGGRESSIONEN In einem idyllischen Städtchen müssen zwei Cafés schließen, weil Corona-Auflagen
missachtet wurden. Kurz darauf beschimpfen »Querdenker«
Polizisten, der Bürgermeister und seine Familie werden bedroht. Was ist nur los im Land?
E
s ist Montagvormittag, der 29. November,
als in einer Telegram-Gruppe dazu
aufgerufen wird, den Bürgermeister der
hessischen Kleinstadt Erbach, Peter Traub,
und seine Familie zu bedrohen.
Jörg L.: »Jetzt sollte es an der Zeit sein,
dem Traub die Stirn zu bieten. So nicht! Wie
auch immer man es macht, er muss den Druck
spüren.«
»Wie?«
Jörg L.: »Wie ich sagte: Demo vor seiner
Haustür – er muss bedrängt werden. Die Familie
fühlt sich dann nicht mehr sicher. Auch
mal die eine oder andere laute Drohung.«
»Yeees!«
Jörg L.: »Der darf keine ruhige Minute
mehr haben. Das Haus muss im Prinzip tagtäglich
›belagert‹ sein. Natürlich vorher nicht
anmelden.«
Ein Abgeordneter des Stadtrats habe ihm
am Abend die Nachrichten auf seinem Handy
gezeigt, erzählt Traub. »Da wurde mir schon
mulmig«, sagt der Bürgermeister. Er benachrichtigte
die Polizei.
Peter Traub, 65, ist seit drei Jahren Bürgermeister
von Erbach, einem Städtchen im
Odenwald. Knapp 14 000 Menschen leben
hier, vier Polizisten gibt es im Ort. In normalen
Zeiten ist Erbach für sein Schloss und das
Deutsche Elfenbeinmuseum darin bekannt.
In diesen Tagen ist Erbach noch etwas anderes:
eine Art Wallfahrtsort für »Querdenker«. Und
ein Menetekel für das ganze Land. Denn in
dem Städtchen zeigt sich, wie tief die Spaltung
der Gesellschaft schon ist, selbst in der Idylle.
Der inzwischen offen rechtsextreme Attila
Hildmann hat die Stadt auf Telegram erwähnt,
und auch der Mediziner Bodo Schiffmann,
auf den sich viele Coronaleugner berufen,
teilte die Nachricht aus Erbach. Als
Politiker Traub
Dirk Zengel / pics4news.de
wäre hier ein Hort des Widerstands gegen ein
Unrechtsregime.
Politiker und Verfassungsschützer warnen
seit Längerem vor einer Radikalisierung der
»Querdenken«-Szene. Sie wird inzwischen
vom Verfassungsschutz beobachtet. Im September
erschoss ein Mann einen Angestellten
einer Tankstelle in Idar-Oberstein, weil der
ihn gebeten hatte, eine Maske zu tragen.
So weit ist es in Erbach nicht gekommen.
Aber die Geschichte des Städtchens ist die
einer Eskalation. Sie endet mit dem Aufruf,
einen Bürgermeister und seine Familie einzuschüchtern.
Und beginnt bei einem Bäcker.
Alexander Knierim betreibt im Ort zwei
Bäckereien mit Cafés. Auf seiner Website wirbt
er mit dem guten alten Handwerk, alle Produkte
werden »in der Backstube direkt vor Ort«
hergestellt. Was es lange nicht in der Bäckerei
von Knierim gab: Hygienekonzept, Masken
oder die Bereitschaft, die Regeln zu achten.
In den eigenen Geschäften habe der Bäcker
nie Maske getragen, sagt Traub, sein Personal
ebenso wenig. Die Inhaber anderer Geschäfte
hätten sich beschwert, nach dem Motto:
Wie kann es sein, dass wir uns an die Regeln
halten müssen und der nicht?
Ab Anfang Oktober kontrolliert das Gesundheitsamt
immer wieder das Café, führt
42 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021