DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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TITEL
Wir können
auch anders
ZÄSUREN Endlich ein neues Jahr, Zeit für einen Neuanfang.
Was in Politik und Gesellschaft jetzt ansteht – und wie
den Menschen im eigenen Leben der Sprung ins Ungewisse gelingt.
I
n ihrem alten Leben, vor der Pandemie,
saß Katrin Bernat zehn,
zwölf Stunden pro Tag in ihrem
Büro in Berlin-Wannsee am Schreibtisch.
Sie arbeitete als selbststän dige
Buchhalterin, verglich Soll und Haben.
Zeit für andere Dinge sei nicht geblieben,
sagt sie, ein Job habe den nächsten gejagt.
»Ich habe im Büro gelebt.« Sie kontrollierte
dann Zahlen für Zalando, die Max-Planck-
Gesellschaft, für Start-ups. Als Corona nach
Deutschland kam, brachen die Aufträge weg,
weil ihre Kunden die Budgets für externe Mitarbeiter
radikal kürzten.
Sie sagt: »Für mich war Corona ein Geschenk.«
In ihrem neuen Leben, dem Leben seit Oktober
2020, fährt Katrin Bernat bis zu 15 Tage
im Monat mit einem weißen Pferdetransporter
vom Typ »2-Ride Horse Truck« durch die
Republik und bringt Pferde etwa zu Turnieren;
der Kilometer kostet bei ihr ab 1,10 Euro
brutto, inklusive Heu und Videoüberwachung
der Tiere. Es gibt viele Pferdebesitzer in Berlin
und Brandenburg, die keinen entsprechenden
Wagen haben.
Wenn Bernat nicht auf Autobahnen und
Landstraßen unterwegs ist, verbringt sie die
Zeit bei ihren eigenen Pferden auf der Weide.
Sie besitzt drei Hengste – Magu, Ray und
Apache. Katrin Bernat ist 42 Jahre alt, und
sie sagt: »Unterschwellig hatte ich schon lange
den Wunsch, etwas Neues anzufangen. Die
Pandemie hat mir erlaubt, richtig darüber
nachzudenken und es am Ende auch zu machen.
Ich bin meinem Herzen gefolgt.«
Soll und Haben. Für Katrin Bernat steht
auf der einen Seite ihre Karriere als Buchhalterin,
auf der anderen ihre Liebe zu Pferden.
Sie war neun, als sie ihr Taschengeld für
Voltigierstunden ausgab. Sie radelte zum
Reiterhof in den nächstgelegenen Ort, half
beim Füttern der Pferde und führte sie aus.
Nach der Schule machte sie eine Ausbildung
zur Steuerfachangestellten, weil der Bekannte
eines Bekannten meinte, das sei doch was
für sie. Sie quälte sich durch die Ausbildung,
hätte am liebsten abgebrochen, aber ihre Eltern
sagten: Kind, mach das zu Ende, dann
hast du was. Zum Reiten ging Katrin Bernat
immer seltener, irgendwann gar nicht mehr.
Sie machte das Abitur nach, studierte Marketing
und Kommunikation in Berlin, gründete
ein Unternehmen, leitete einen Lohnsteuerhilfeverein.
Sie war erfolgreich. Glücklich
war sie nicht. »Zahlen von A nach B zu
schieben und sich mit dem deutschen Steuergesetz
zu beschäftigen ist nicht die Erfüllung.«
Vor vier Jahren fuhr sie an einem Wochenende
aufs Land und besuchte mehrere Reiterhöfe,
weil sie sich ein Pflegepferd zulegen
wollte. Sie dachte an eine Reitbeteiligung,
damit sie gezwungen wäre, öfter in die Natur
zu gehen. Nach einer halben Ewigkeit saß sie
wieder auf einem Pferd: »Im Galopp durch
die Wälder pfeifend, das war ein Hochgefühl
wie Achterbahnfahren. Die pure Freiheit.«
Nie wäre Katrin Bernat aber auf die Idee
gekommen, ihren Beruf aufzugeben. »Ich
konnte nicht loslassen. Da war das Geld, die
sichere Position, das Souveräne und Anerkannte.
Ich wollte mir nicht zugestehen,
etwas zu zerstören, was ich mir aufgebaut
hatte.«
Als Corona zuschlug, hielt die erste Soforthilfe
sie finanziell über Wasser. Drei Monate
lang hoffte sie, dass sich die Lage wieder normalisieren
könnte. Danach ging alles ganz
schnell. »Ich habe Corona als ein Zeichen gesehen.«
Sie fragte sich: Was machst du gern?
Reiten, bei den Tieren sein. Kannst du dir
vorstellen, das zu deinem Job zu machen? Ja.
Sie kaufte einen Transporter, für 60 000
Euro. Sie bastelte eine Website für ihren
Shuttleservice, veröffentlichte ihr Angebot,
seitdem wird sie gebucht.
Katrin Bernat hat sich einen Mädchentraum
erfüllt. Ihr neuer Beruf ist nicht so lukrativ
wie der alte, und da sind Momente, in
denen sie sich fragt, ob ihr Geschäftsmodell
funktionieren wird. Aber ein Zurück in die
Buchhaltung gibt es für sie auf keinen Fall.
Sie sagt, dann rüste sie den Transporter lieber
um zum Eiswagen.
Ohne die Coronakrise wäre Katrin Bernats Neuanfang
nicht möglich gewesen. So ist das oft.
Krisen decken Nöte auf, sie fordern den Neuanfang
heraus. Das muss nicht immer so gut ausgehen
wie bei Bernat. Ein Neuanfang kann auch
scheitern, und dann ist es oft furchtbarer als vorher,
weil neben dem Leben im Alten und Unerwünschten
noch die Illusion verloren gegangen
ist, dass es anders sein könnte.
Manchmal machen Katastrophen nicht nur
den persönlichen, sondern auch einen gesellschaftlichen
Neustart notwendig – Corona
oder der Klimawandel etwa. Ein neuer Impfstoff,
neue Technologien, neue Arbeits- und
Verhaltensweisen müssen her. Zumeist aber
20 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021