DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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DEUTSCHLAND
Der Ampel-Architekt
KARRIEREN FDP-Unterhändler Volker Wis sing setzte wegen schlechter
Erfah rungen mit der Union früh auf die Koalition mit SPD und Grünen. Der neue
Verkehrsminister und gläubige Calvinist aus der Pfalz kann Trickser nicht leiden.
Liberaler Wis sing
Zitat groß
Marginalie
hier wären
fünf Zeilen
sehr schön
Zitat Autor
Daniel Hofer / DER SPIEGEL
E
ine Woche nachdem er Minister
geworden ist, sitzt Volker Wissing
an einem runden Besprechungstisch
in dem Eckzimmer, das
er von seinem Vorgänger Andreas
Scheuer geerbt hat. Das Büro versprüht
den Charme eines ICE-Interieurs.
Der Holzton des Tischs beißt
sich mit dem des Parketts und dem
der Schränke.
Als Wis sing vor ein paar Tagen
sein neues Büro beziehen wollte,
musste er erst mal aufräumen. Überall
lagen Devotionalien von Flugzeugbauern,
Omnibusverbänden und
Eisenbahngesellschaften herum.
Wis sing steht auf und geht zu
einem Bündel aus rot-schwarz-blauem
Stoff, das auf einem Schrank in
der Ecke liegt. Es ist eine Badehose
der Berliner Verkehrsbetriebe im
Würmchenmuster der U-Bahn-Sitzbezüge.
Er hebt die Badehose in die
Höhe, als wollte er sagen: Würden Sie
Ihrem Nachfolger eine Badehose hinterlassen?
Die Amtsübergabe vom alten an
den neuen Bundesverkehrsminister
am 8. Dezember gehörte zu den wenigen
skurrilen Szenen dieses ansonsten
sehr deutschen, fast langweiligen
Regierungswechsels. Scheuer nutzte
den letzten Auftritt in seinem Haus,
um fast 20 Minuten über sich selbst
zu reden. Er gebrauchte Worte wie
»läuft«, »haben wir schon getan«,
»sind gut aufgestellt« und zählte seine
angeblichen Erfolge auf: »mehr
Mobilfunk, mehr Glasfaser, mehr
Lade infrastruktur, mehr Geld für Bus
und Bahn, mehr Radverkehr, die
Drohnen, die Flugtaxis, die synthetischen
Kraftstoffe, mehr Investitionen
in Infrastruktur als je zuvor«.
Dann ging Wis sing ans Rednerpult.
Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen,
darauf zu verweisen, was in
diesem Land nach 16 Jahren unionsgeführter
Regierungen alles nicht
funktioniert. Aber er wollte als neuer
Hausherr vor den neuen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern keinen politischen
Streit austragen. Stattdessen
sagte Wis sing: »Ein Regierungswechsel
ist ein sehr würdiger Akt in einer
Demokratie. Er kann eine große Ästhetik
haben.« Dann lobte er das
Knobelsdorff-Ensemble der Staatskapelle
Berlin, das den Termin im
Verkehrsministerium musikalisch begleitet
hatte. Die Musiker hätten »diese
Ästhetik auf sehr wunderbare Weise«
betont.
Es war Wis sings Art, seinem Vorgänger
zu sagen, dass dieser ein Rüpel
sei.
Für den Liberalen ist es kein Zufall,
dass ausgerechnet ein Vertreter der
30 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021