05.01.2022 Aufrufe

DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Nr. 1 | 30.12.2021

DEUTSCHLAND € 5,80

Finnland € 8,70

Frankreich € 7,10

Griechenland € 7,30

Italien € 7,60

Norwegen NOK 92,–

Österreich € 6,50

Portugal (cont) € 6,90

Schweiz sfr 8,50

Slowakei € 7,10

Slowenien € 6,90

BeNeLux € 6,80

Dänemark dkr 64,95

Spanien € 7,10

Spanien / Kanaren € 7,30

Tschechien Kc 210,-

Ungarn Ft 2990,-

Printed

in Germany

Wie große und kleine Revolutionen gelingen

JAHRE DER SPIEGEL

Augsteins Schwester Ingeborg

über die Eigenheiten ihres Bruders

WOHNUNGSNOT

Wie der Staat alles

schlimmer macht

REINHOLD MESSNER

Das Trauma

vom Nanga Parbat


Willkommen im

ausgezeichneten *

5G Netz von

Wir machen sichtbar, was nie zuvor

zu sehen war: jetzt auf o2.de/5g

* Opensignal Awards – Germany: Report zum 5G-Nutzererlebnis August 2021 o2.de/goto/opensignal „ Nutzer erlebten die

schnellsten, durchschnittlichen 5G-Download-Geschwindigkeiten mit 131,4 MBit/s.“ Hier gezeigte Leuchtröhren symbolisieren nur

die örtliche Signalstärke des Netzes. 5G ist an immer mehr Standorten verfügbar. Für die Nutzung im Netz von ist ein geeignetes

Endgerät erforderlich, z. B. aus dem Portfolio. Weitere Informationen unter o2.de/netz.

Telefónica Germany GmbH & Co. OHG, Georg-Brauchle-Ring 50, 80992 München, WEEE-Reg.-Nr. DE 10160685


*


UNSERE NEUE

SPEZIALITÄT:

SPEZIALITÄTEN.

DIE MELITTA® MANUFAKTUR-KAFFEES

GIBT’S AB SOFORT ONLINE.

In unserer neuen Melitta ® Manufaktur rösten wir in limitierten Mengen

und mit viel Leidenschaft Spezialitätenkaffees. Weil’s Freude macht.

Mehr erfahren!

® Registrierte Marke eines Unternehmens der Melitta Gruppe


HAUSMITTEILUNG

Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL

75 Jahre SPIEGEL | Seiten 45 bis 62

Der SPIEGEL hat am 4. Januar Geburtstag, er wird 75. Für uns ein

Grund zu feiern, seit 75 Jahren steht unser Haus für un abhängige,

investigative Berichterstattung. Gleichwohl leben wir in Zeiten,

in denen viele Menschen das Vertrauen in etablierte Medien

verlieren, Verschwörungsmythen und Fake News um sich greifen.

Anlässlich unseres Jubiläums wollen wir deshalb eine kritische

Diskussion darüber eröffnen, was guter Journalismus heute und in

Zukunft leisten muss. »taz«-Chefredakteurin Barbara Junge beantwortet

diese Frage so: »Augsteins ›Im Zweifel links‹ bedeutet

immer auch: im Zweifel für die Schwachen und Wehr losen«,

schreibt sie in ihrer Gra tulation.

Unser Jubiläumsprogramm, das in dieser Ausgabe beginnt, steht

unter dem Motto »Journalismus für die Zukunft«. Nach welchen

Kriterien wählen wir unsere Themen aus? Wie sichern wir unsere Unabhängigkeit? Wie hat sich

unsere Arbeit über die Zeit verändert? Wenn Sie Fragen zum SPIEGEL haben oder wissen wollen,

wie wir arbeiten, dann schreiben Sie uns eine Mail an 75@spiegel.de. Einige Fragen wählen wir

aus und beantworten sie auf SPIEGEL.de und in unserem Jubiläumsheft, das am 8. Januar 2022

erscheint.

Wir starten außerdem mit der Gesprächsreihe »SPIEGEL Backstage«, in der unsere Kolleginnen

und Kollegen Einblicke in ihren Alltag gewähren und sich Ihren Fragen stellen. Am 11. Januar

machen Christoph Reuter und Jörg Diehl den Anfang, sie erzählen über »Krieg und Verbrechen

als Arbeitsalltag«. Die Events finden wegen Corona zunächst digital statt. Anmelden können Sie

sich unter spiegelgruppe.de/veranstaltungen.

Wir erlauben uns aber auch einen nostalgischen Blick zurück. Brigitte Wulzinger war eine

junge Mitarbeiterin des SPIEGEL, als sie 1998 einen Nebenjob antrat: Jahrelang, bis zu seinem

Tod, las sie Rudolf Augstein, der nur noch schlecht

sehen konnte, aus Zeitungen und Büchern vor und

begleitete ihn auf Reisen. Zu dieser Zeit begann Augstein

auch, ihr seine Biografie zu diktieren. Es blieb

beim Fragment. Nun beleuchten Wulzinger und der

Redakteur Alexander Kühn im Gespräch mit Augsteins

Schwester dessen Leben: Die Biologin Ingeborg

Villwock, 92, hat einen durchaus kritischen Blick

auf den SPIEGEL-Gründer. Wulzinger hingegen sagt,

der altersmilde Augstein sei »einer der charmantesten

und geistreichsten Menschen« gewesen, die sie

je kennengelernt habe.

Titel | Seiten 20, 66

In Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und für viele

gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mechanismen

des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chancen.

Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf

Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und

Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich

dort unabhängig von einander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

SPIEGEL COACHING

Augstein (hinten) 1952

Das Leben ist eine Baustelle, genauer gesagt: Es besteht leider oft aus

vielen Baustellen. Nur, welche ist die dringlichste? Die aktuelle Aus -

gabe von SPIEGEL COACHING, »Alles auf neu!«, hilft mit Selbstchecks

und einfachen wie alltagsnahen Trainings zu sechs Themen: Widerstandskraft

stärken, Beziehungskrisen lösen, Ängste meistern, Schmerzen annehmen,

Finanzen planen und genussvoll essen. Entwickelt wurden die

Trainings von Coaching-Experten gemeinsam mit der Psychologin Anne

Otto. SPIEGEL COACHING ist von Dienstag an im Handel erhältlich.

Max Ehlert / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

5




INHALT

DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 1 | 30.12.2021

TITEL

20 | Zäsuren Ein neues Jahr,

Zeit für einen Neu anfang – in der

Politik und im Persönlichen

26 | Der Psychologe Rainer

Riemann spricht darüber, wie ein

Start gelingen kann

Noch einmal loslegen

Unternehmerin

Bernat

ZÄSUREN Viele träumen um Silvester von einem neuen Leben, manche wagen auch

den Sprung – wie die Ex-Buchhalterin Katrin Bernat, die ein Unternehmen gründete.

Auch im Großen, in der Politik, gibt es ambitionierte Vorhaben. Doch so verlockend

Neues wirkt, die Hürden sind oft hoch. Was braucht es, sie zu überwinden? | 20

Gordon Welters / DER SPIEGEL

DEUTSCHLAND

10 | Leitartikel Sind die Mittel

der Bundes regierung gegen

höhere Preise ausreichend?

12 | Die Geschichten hinter den

Geschichten: Politiker kritisieren,

ohne destruktiv zu sein / Die

grausame Wahrheit der Juliflut /

Wenn Journalisten mit ihren

Prognosen danebenliegen

30 | Karrieren Verkehrsminister

Wissing gilt als Autofan, will sich

aber auch um die Bahn kümmern

33 | Parteien Die Krise der

CSU könnte durch CDU-Chef

Merz noch größer werden

34 | Gemeinsamkeiten Der

Linke Gysi, 73, und die Unionsfrau

dos Santos Firnhaber, 27,

im spiegel-Gespräch über Pa rallelen

zwischen ihren Parteien

38 | Energie Ein Bauer aus dem

Rheinland kämpft gegen RWE

40 | Subventionen Betrug beim

Staatstheater Darmstadt?

42 | Aggressionen »Querdenker«

bedrohen einen Bürgermeister

und seine Familie – warum?

75 JAHRE DER SPIEGEL

46 | SPIEGEL-Statut Wie und

für wen wir den spiegel machen

Daniel Hofer / DER SPIEGEL

Chris McAndrew / CAMERA PRESS / laif

Thomas Pirot / DER SPIEGEL

48 | Geschwister Ingeborg

Villwock erzählt im spiegel-

Gespräch, wie sie ihren

Bruder Rudolf Augstein im

Familienkreis erlebte

54 | Rückblick Der spiegel

in Zahlen

Volker Wissing

Der FDP-Verkehrsminister

ist von der Union menschlich

enttäuscht. | 30

Hanya Yanagihara

Im neuen Roman schildert die

Autorin eine satte Gegenwart

und eine elende Zukunft. | 120

Claus Kleber

Der ZDF-Journalist spricht über

seine schwierigsten Interviews:

Merkel habe ihm misstraut. | 87

56 | Zeitgeschichte Die

spiegel-Affäre und das

Ringen um die Pressefreiheit

wirken bis heute nach

8 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


58 | Relotius-Skandal Welche

Konsequenzen die Redaktion aus

der Affäre gezogen hat

60 | Sagen, was ist Die

großen SPIEGEL-Recherchen

der vergangenen 75 Jahre

62 | Gratulation Der SPIEGEL

muss bissig und unbequem

bleiben, fordert »taz«-Chefin

Barbara Junge

REPORTER

64 | Die Geschichten hinter den

Geschichten: Bei Schwarzenegger

/ Die Hanau-Protokolle

66 | Katastrophen Nach dem

Vulkanausbruch – zu Besuch

bei Auswanderinnen auf La Palma

71 | Homestory Warum verzweifle

ich an meinem Computer?

WIRTSCHAFT

72 | Die Geschichten hinter

den Geschichten: Abgang eines

»Bild«-Chefs / Schweigsame

Industrie

74 | Immobilien Warum der

Staat die Wohnungsnot nicht in

den Griff bekommt

80 | Geldpolitik Unicredit-

Chef Andrea Orcel über die neue

Stärke Italiens

84 | Elektromobilität E-Autos

boomen, doch Europa

baut zu wenige Ladesäulen

MEDIEN

87 | Journalismus SPIEGEL-

Gespräch mit ZDF-Anchorman

Claus Kleber über seinen Abschied

vom »heute journal« und

die Grenzen seiner Fragetechnik

AUSLAND

90 | Die Geschichten hinter

den Geschichten: Eine Odyssee

in Afghanistan / Die mutigen

Frauen von Minsk

92 | USA Wie der Sturm auf

das Kapitol vor einem Jahr einen

Polizisten traumatisiert hat

95 | Bulgarien Deutsche Impfgegner

an der Schwarzmeerküste

98 | Ukraine Die politische

Elite zerlegt sich selbst

100 | EU Kommissionsvize

Šefčovič über die Problemnachbarn

Groß britannien und

Schweiz

SPORT

102 | Die Geschichten hinter

den Geschichten: Ringer Frank

Stäblers Weg nach Olympia /

Afghanische Fußballerin auf der

Flucht vor den Taliban

104 | Bergsteigen Reinhold

Messner und der Tod

seines Bruders am Nanga Parbat

WISSEN

108 | Die Geschichten hinter den

Geschichten: Boosterimpfung

dank SPIEGEL-Grafik / Immer

Ärger mit dem Kirschlorbeer

110 | Astronomie SPIEGEL-

Gespräch mit ESA-Forscher

Günther Hasinger über das teuerste

Teleskop der Geschichte

114 | Analyse Omikron könnte

die Pandemie beenden

116 | Industrietechnik Baldiges

Ende schmutziger Hochöfen?

KULTUR

118 | Die Geschichten hinter

den Geschichten: Das Kino in der

Coronakrise / Die deutsche

Diskussion ums Jüdischsein

120 | Literaturstars Ein Besuch

bei der Autorin Hanya Yanagihara

125 | Karrieren Wer ist der neue

Leiter der Berliner Festspiele?

126 | Rassismus SPIEGEL-

Gespräch mit Joy Denalane und

Tupoka Ogette über ihr

Leben als schwarze Deutsche

131 | Filmkritik Regiedebüt

von Maggie Gyllenhaal

Bestseller | 123 SPIEGEL-TV-Programm | 124

Impressum, Leserservice | 132

Nachrufe | 133 Personalien | 134

Briefe | 136 Hohlspiegel / Rückspiegel | 138

1947 — 2022

18 SEITEN

JUBILÄUMSSPEZIAL

»Rudolf, du bewegst dich auf dünnem Eis«

Augsteins jüngste Schwester, Ingeborg Villwock, erzählt, welche

Rätsel ihr der SPIEGEL-Gründer bis heute aufgibt. Dazu eine

SPIEGEL-Würdigung von »taz«-Chefin Barbara Junge. | 48, 62

Das Familiendrama des Reinhold Messner

Der Tod des Messner-Bruders Günther bei einer gemeinsamen Tour

im Himalaja beschäftigt Bergsteiger seit über 50 Jahren. Warum gibt

es keine Versöhnung zwischen dem Idol und seinen Kritikern? | 104

»Wir alle sind rassistisch sozialisiert«

Die Aktivistin Tupoka Ogette und die Sängerin Joy Denalane

appellieren im SPIEGEL-Gespräch an weiße Menschen:

»Es geht nicht um Schuld, es geht um Verantwortung.« | 126

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL (2) Jörn Haufe DER SPIEGEL

Titel-Illustration: Rocket & Wink für den SPIEGEL

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

9


Wo bleibt der soziale Ausgleich?

LEITARTIKEL Agrarminister Cem Özdemir will »Ramschpreise« für Lebensmittel unterbinden. Der Vorschlag

kommt zu einer Zeit, in der viele Menschen nicht wissen, wie sie im neuen Jahr über die Runden kommen.

Grünenpolitiker

Özdemir bei

Essensausgabe

an Bedürftige in

Stuttgart

Die Gelbwestenbewegung

in Frankreich

entstand,

als die

Energiepreise

stiegen.

C

em Özdemir, der neue Ernährungs- und Landwirtschaftsminister,

hat recht: Zu viele Menschen in

Deutschland ernähren sich schlecht, sind übergewichtig

und deshalb krankheitsanfällig. Nahrungsmittel

sind im Vergleich zu anderen Verbrauchsgütern billig,

kleineren Bauernhöfen geht es oft schlecht, Tiere werden

bisweilen erbärmlich gehalten. Umwelt- und Klimaschutz

spielen in der Landwirtschaft eine noch zu kleine Rolle,

Lebensmittel werden bei uns, anders als in Frankreich

oder Italien, zu wenig wertgeschätzt. »Manchmal habe

ich das Gefühl, ein gutes Motoröl ist uns wichtiger als ein

gutes Salatöl«, sagte Özdemir in »Bild am Sonntag«. Seine

Folgerung: »Es darf keine Ramschpreise für Lebensmittel

mehr geben.« Essen müsse teurer werden.

Ein richtiges Ansinnen, leider falsch kommuniziert, zu

einem denkbar schlechten Zeitpunkt: Die Verbraucherpreise

befinden sich derzeit ohnehin schon in einem

Höhen flug, viele wissen nicht, wie sie im neuen Jahr die

Kosten stemmen sollen.

Özdemirs Botschaft wird viele verängstigen und verärgern,

statt sie zu motivieren. Gesellschaftlicher Wandel

aber wird nur gelingen, wenn es positive Anreize gibt.

Das gilt für die Wende in der Landwirtschaft genauso wie

im Klimaschutz. Sie muss sozialverträglich geschehen,

wie es die neue Regierung versprochen hat. Wo aber sind

die Ankündigungen für den »starken sozialen Ausgleich«,

der im Koalitionsvertrag steht? Wo bleibt das Zuckerbrot

neben der Peitsche?

Das Leben der Deutschen wird zunehmend teurer. Die

Nahrungsmittelpreise stiegen innerhalb eines Jahres um

4,5 Prozent, ihr Anteil an den Gesamtausgaben eines

Haushalts wächst. Die Energiepreise erhöhten sich um

20,2 Prozent, Heizöl ist sogar um 50 Prozent teurer geworden.

Die Kurve beim Erdgas stieg zeitweise an wie

Michael Hahn / BILD

eine Wand: Wurde der Preis beim niederländischen TTF-

Referenzmarkt im Sommer 2020 noch bei etwas mehr

als 5 Euro pro Kilowattstunde notiert, waren es kürzlich

bis zu 180 Euro, heute liegt er bei gut 105 Euro. Ähnlich

düster ist die Prognose für die Stromkosten. Die Megawattstunde,

die Stromanbieter für das kommende Jahr

einkaufen, kostete Mitte Dezember durchschnittlich rund

200 Euro, im Vorjahr waren es noch 40 Euro. Der höhere

CO 2-Preis spielt eine Rolle, wenngleich nicht die entscheidende.

Beim Strom hat die Bundesregierung Entlastung versprochen

und zum 1. Januar die EEG-Umlage gesenkt.

Doch die gut 100 Euro, die ein durchschnittlicher Haushalt

damit spart, werden die Kostensteigerung wohl nicht kompensieren.

Es war immer klar, dass es die Klimawende nicht ohne

Belastung und ohne Verzicht geben würde. Es ist aber

auch klar, dass Preissteigerungen bei Gas und Strom die

schwächeren Einkommen am härtesten treffen. Experten

haben früh vor der »sozialen Sprengkraft« wachsender

Klimakosten gewarnt. Die Politik muss für Menschen mit

wenig Geld schnellstmöglich einen Ausgleich schaffen.

Özdemirs Vorstoß symbolisiert ein grundsätzliches

Problem des rot-grün-gelben Wendekonstrukts. Zuerst

steigen die Kosten, erst dann folgt die finanzielle Kompensation.

Beispiel »Klima-« oder »Energiegeld«: Es soll

den Bürgerinnen und Bürgern einen Ausgleich für den

wachsenden CO 2-Preis geben, kann aber erst finanziert

werden, wenn genügend Geld aus der CO 2-Abgabe zusammengekommen

ist. Zudem dürfte die von den Grünen

an gepeilte Höhe des Energiegelds von 75 Euro pro Jahr

nicht ausreichen.

Die zeitliche Lücke ist gefährlich. Fühlen sich Menschen

übergangen und überfordert, wenden sie sich ab.

Profitieren könnten radikale Kräfte wie die AfD. Die Gelbwestenbewegung

in Frankreich entstand, nachdem die

Energiepreise gestiegen waren. Der Fehler: Das Geld

landete im Staatshaushalt statt direkt bei den Bürgern.

Es gibt genügend Ideen für eine Entlastung, etwa Zuschüsse

zum Wohngeld. Sie müssten nur schnell umgesetzt

werden. Aus der Psychologie ist bekannt, dass Menschen

ihr Verhalten weniger aus rationalen denn aus emotionalen

Gründen ändern. Darauf sollte die Politik verstärkt

ihren Blick richten. Wie kann man Bürgerinnen und Bürgern

gesunde Ernährung im wahrsten Wortsinn schmackhaft

machen? Wo sind Aktionen in Supermärkten oder

Schulen, die zeigen, dass man mit wenig Geld leckeres

und hochwertiges Essen kochen kann?

Für mehr artgerechte Tierhaltung und pestizidarmen

Anbau in der Landwirtschaft könnte die Politik mit Gesetzen

und Verboten sorgen – und mit klug gesteuerten

Subventionen. Solche Schritte würden die Menschen zu

diesem Zeitpunkt leichter akzeptieren als die Botschaft,

dass das Schnitzel demnächst teurer werden muss.

Martin Knobbe

n

10 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Wir telefonieren nicht mehr

wie in den 80ern. Und Geld sollte

man auch nicht mehr so anlegen

Es ist Zeit, Geldanlage neu zu denken

Wenn Sie Ihr Sparverhalten modernisieren wollen, sollten Sie

Ihr Geld in Investmentfonds von Union Investment anlegen.

Denn mit unseren Investmentfonds helfen wir Ihnen, mehr aus

Ihrem Geld zu machen. Vereinbaren Sie am besten noch heute

einen Beratungstermin in einer unserer Partnerbanken und

sparen auch Sie ab sofort zeitgemäß. Weitere Informationen

erhalten Sie unter www.union-investment.de.

Ab 25,– Euro monatlich

in Fonds sparen

Aus Geld Zukunft machen

Die Verkaufsprospekte, die Anlagebedingungen und die wesentlichen Anlegerinformationen erhalten Sie kostenlos in deutscher Sprache bei allen genossenschaftlichen Banken

und bei Union Investment Service Bank AG, 60329 Frankfurt am Main, oder auf www.union-investment.de/downloads. Stand: 1. Dezember 2021


Deutschland

Die Geschichten hinter den Geschichten – der besondere Rückblick

Wenn ein Text recherchiert, geschrieben und veröffentlicht ist,

ist die Arbeit der SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteure

eigentlich abgeschlossen. Manche Texte beschäftigen uns allerdings

weiter. Auf den folgenden Seiten und auf den Meldungsseiten

aller Ressorts berichten Redakteure und Redakteurinnen, welche

Reaktionen auf ihre Texte sie nachdenklich machten, welche Begegnungen

sie nicht mehr loslassen, was ihnen Heiteres oder Absurdes

während ihrer Recherchen widerfuhr. Und auch, was sie nicht

noch einmal so machen würden. 2021 ist das zweite Jahr, in dem

die Pandemie die Berichterstattung prägte. Es war zudem das

Wahljahr mit einem Regierungswechsel und intensiver politischer

Berichterstattung. Diese Seiten sind auch der Versuch, unsere

Arbeit transparenter zu machen und zu schildern, warum wir wie

entschieden haben. Die Journalistinnen und Journalisten berichten

von ihren Emotionen, hinterfragen journalistische Reflexe und sich

selbst. Manche erzählen, was das für sie heißt: Reporterglück.

Kritisch, nicht destruktiv

NR. 37/2021 »Der Baldrian-Kandidat« – Hauptstadtbüroleiter Martin Knobbe schrieb einen kritischen Leitartikel

über Olaf Scholz und wurde dafür angegangen. Er fragt sich, wie man Kritik übt, ohne bloß Frust zu erzeugen.

W

erden

Politiker vom SPIEGEL »niedergeschrieben«? Ein Leserbrief

brachte mich zum Nachdenken. Er erreichte mich,

nachdem ich im Spätsommer einen Leitartikel über Olaf

Scholz geschrieben hatte. Der Tenor meines Textes: Scholz sei ein kluger

Stratege, zu einem guten Kanzler mache ihn das noch lange nicht.

Für die künftigen Herausforderungen brauchte es meiner Ansicht nach

mehr als die Weiter-so-Attitüde, die Scholz damals ausstrahlte.

Der Leser kritisierte gar nicht so sehr den Inhalt des Kommentars.

Er fragte: Wen sollen wir denn dann wählen? Er sagte, wir,

also der SPIEGEL, hätten alle Kandidaten »niedergeschrieben«:

Armin Laschet hatten wir im Asterix-Stil auf dem Titel als »Häuptling

Wirdsonix« persifliert, Annalena Baerbock nach ihren vielen

Fehlern scharf kritisiert – eine Woche nach dem Scholz-Kommentar

erschien eine kritische Titelgeschichte über die Grünen.

Sind wir destruktiv? Tragen wir zur Politikverdrossenheit bei,

wenn wir ständig jede und jeden an der Spitze der Politik kritisieren?

Reden wir so einer populistischen Weltsicht das Wort, in der »die

da oben« sowieso unfähig sind? Das sind Fragen, die den SPIEGEL

seit Jahrzehnten begleiten. Noch nie gingen sie so direkt an mich.

Nun gehört der kritische Blick zur DNA eines seriösen Politikjournalisten,

für den SPIEGEL gilt das erst recht. Dass wir bei jeder

Politikerin, bei jedem Politiker, egal welcher Couleur, das Haar

in der Suppe suchen und hoffentlich auch finden, erwarten unsere

Leserinnen und Leser von uns, davon bin ich überzeugt. Dennoch

wäre es falsch, wenn nach dem Lesen politischer SPIEGEL-Artikel

nur Frust, Resignation oder gar Wut blieben. Was also sind die

Lehren aus der Kritik des Lesers? Stand heute sehe ich zwei.

Erstens müssen wir sprachlich abrüsten. Ich weiß nicht, wie

oft der SPIEGEL – und andere – in der Pandemie von Staatsoder

Politikversagen geschrieben haben, aber es war wohl zu oft.

Manchmal, wenn dringend nötige Schritte der Politik bewusst

oder aus Unvermögen unterbleiben, sind diese Worte angemessen.

Man sollte sich aber vergegenwärtigen, was es heißt, wenn ein

Staat richtig versagt. Historische und aktuelle Beispiele dafür gibt

es genug.

Zweitens sollten wir noch öfter aufzeigen, was gut läuft und was

ein Vorbild für eine Problemlösung sein kann. Während der Pandemie

haben wir das manchmal gemacht, wenn Länder wie Israel

es mit kreativen Aktionen schafften, die Infektionszahlen nach

unten zu drücken. Zu zeigen, wie es gehen kann, zu beschreiben,

warum es gut läuft, das sollten wir viel öfter versuchen. Ohne die

scharfe Kritik zu unterlassen – wenn sie berechtigt ist.

12 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL


Stegners Keule

NR. 36/2021 »Da kommt

der Ralf« – Schleswig-Holstein-

Korrespondent Ansgar Siemens

por trätierte SPD-Urgestein

Ralf Stegner, dabei sah er

etwas, das ihn an »Watergate«

erinnerte.

Ein Bild zeigt für mich den

Inbegriff eines Journalisten: Robert

Redford am Schreibtisch,

die Muschel eines Telefonhörers

ganz nah am Mund. Die Szene

stammt aus dem Film »Die Unbestechlichen«,

es ist die Geschichte

von Watergate, dem

Skandal des Jahrhunderts. Hollywoodstar

Redford verkörpert

Bob Woodward, den Enthüller

der »Washington Post«.

Im Sommer habe ich Ralf

Stegner porträtiert. »Roter

Rambo« nennen sie ihn, weil er

gern gegen politische Gegner

austeilt. Für manche ist Stegner

der Inbegriff eines Sozialdemokraten,

kernig, links und stets

zur verbalen Rauferei bereit.

Der einst mächtigste SPD-Mann

in Schleswig-Holstein kämpfte

um ein Bundestagsmandat, das

er schließlich gewann.

Während der Recherche traf

ich ihn in seinem Büro im Kieler

Landtag, er packte, zwei Tage

später zog er aus. Das Zimmer

erzählte sein politisches Leben.

Siemens

Auf dem Sideboard lagen Boxhandschuhe,

auf dem Sofa ein

Kissen mit dem Schriftzug

»Lächle – Du kannst sie nicht

alle töten«. Mich faszinierte etwas

anderes: Auf seinem Schreibtisch

entdeckte ich einen Retrotelefonhörer

für das iPhone. Die

Art Keule, mit der Redford telefonierte.

Stegner hatte sie von

seinen Söhnen geschenkt bekommen

– für Sprech stunden

mit dem Wahlvolk.

Ich habe mir solch einen

Hörer sofort gekauft. In der

Redaktion sind Telefone abgeschafft.

Für Gespräche im Festnetz

setzt man sich ein Headset

auf, wählt Nummern bei Microsoft

Teams. Es ist wie im Callcenter.

Ich stöpsle neuerdings

den Hörer (»Opis 60s Micro«)

in mein Handy, Robert Redford

im Kopf und Ralf Stegner vor

Augen. Ein Journalist braucht

einen Telefonhörer.

DER SPIEGEL

Ein mieses Gefühl

NR. 46/2021 »Maskuline

Mi gration« – Ohne es zu wollen,

weckte Redakteurin Katrin Elger

falsche Hoffnungen bei einer

Syrerin im Libanon.

Vor ein paar Wochen telefonierte

ich mit einer alleinerziehenden

Syrerin, die mit ihren

Kindern im Libanon lebt. Am

Ende weinte Taghrid. Auch die

Übersetzerin und ich hatten

Tränen in den Augen. Es ist ein

mieses Gefühl, Hoffnungen zerschlagen

zu müssen. Taghrid,

47 Jahre alt, hatte geglaubt, wir

könnten ihr dabei helfen, nach

Deutschland zu kommen.

Berichterstattung kann öffentliche

Aufmerksamkeit auf

ein Problem lenken, sie ändert

nicht geltende Gesetze. Ich versuche,

das deutlich zu formulieren.

Im Fall von Taghrid hatte

ich unterschätzt, welche Hoffnungen

eine Interviewanfrage

bei ihr wecken würde.

Ich kenne die Witwe schon

seit mehr als vier Jahren, damals

porträtierte ich ihre älteste

Tochter Tabarak, zu dem Zeitpunkt

21 Jahre alt. Deren Mann

war ohne sie nach Deutschland

geflohen, und ich schilderte,

wie langwierig und schwer es

für ihn war, seine Frau nachzuholen.

Dafür hatte ich Tabarak

und Taghrid im libanesischen

Tripoli besucht.

Monate nachdem mein Artikel

erschienen war, erhielt Tabarak

das Visum für Deutschland.

Als sie ein Jahr später

einen Sohn bekam, besuchte ich

sie, um ihr zu gratulieren. Sie

kochte syrisch für mich, die stolze

Oma Taghrid war per Videochat

dazugeschaltet, ich hielt

den Kleinen auf dem Arm.

Vor ein paar Wochen rief ich

Taghrid an, weil ich mit ihr für

einen Artikel über die schwierige

Situation von Geflüchteten

im Libanon sprechen wollte.

Nur engste Angehörige wie

Ehepartner oder minderjährige

Kinder haben ein Recht auf Familiennachzug,

Taghrid nicht.

Daran kann auch ein Text im

SPIEGEL nichts ändern.

Ich spreche häufig mit Geflüchteten,

höre ihre dramatischen

Geschichten. In Hamburg

fühlt sich das für mich oft fern

an, das macht es leicht, professionelle

Distanz zu wahren.

Aber ich habe in Tripoli selbst

gesehen, wie schlecht es Taghrid

und ihren Kindern dort geht.

Ihre Tochter schickt ihr alles

Geld, das sie in Deutschland erübrigen

kann. Taghrids Enkel

ist inzwischen drei Jahre alt, sie

hat ihn – anders als ich – noch

nie getroffen.

Smarter Kampf fürs

Klima

SPIEGEL.DE AM 10. SEPTEMBER

»Sie wollen nichts mehr essen.

Bis Laschet, Scholz und Baerbock

mit ihnen reden« – Über Monate

begleitete Redakteurin Nike Laurenz

Klima akti visten in Berlin.

Die manchmal gerade erst Volljährigen

waren PR-Profis – besser

als manche Konzernsprecher.

Im Spätsommer wollten junge

Aktivisten in Berlin so lange das

Essen einstellen, bis die Kanzlerkan

didaten Annalena Baerbock,

Olaf Scholz und Armin Laschet

öffentlich mit ihnen über die

Klimakrise sprechen würden.

Wegen der Aktion wurden die

Streikenden Zielscheibe von

Häme und Spott – ihr Vorhaben

sei naiv, erpresserisch, sinnfrei.

Als ich die Gruppe kennenlernte

– ich traf sie mehrmals,

beim Protestieren und beim Hungern

– war ich vor allem: erstaunt.

Ich kam mit den negativen

Kommentaren im Ohr:

»Diese Rebellen haben

doch keine Ahnung, wie die

Welt funktioniert.«

Aber sie hatten Ahnung,

mehr als viele andere, die auch

ein Anliegen haben. Sie wussten,

wie man auf sich aufmerksam

macht, wie man die Presse

um sich schart. Sie teilten mir

eine Sprecherin zu, die sie gekürt

hatten. Sie schickten mir

Mails mit Streik-Updates, anfangs

täglich, auf Deutsch und

Englisch.

Die Gruppe kommunizierte

über WhatsApp, es ist selten,

dass die, über die wir Journalistinnen

und Journalisten berichten,

so erreichbar sind. Sie wiesen

auf ihre Website hin, auf ihre

Instagram-Storys, sie organisierten

Pressekonferenzen unter

freiem Himmel, beschäftigten

Journalisten bei Befragung von

Klimaaktivistin in Berlin

Stefan Müller / PIC ONE

einen eigenen Fotografen. Die

wörtlichen Zitate ihrer Mitglieder,

die ich in meine Texte

schrieb, sollte ich ihnen schriftlich

vorlegen.

Als sie im November Olaf

Scholz, der sich erbarmt hatte,

zu einem Gespräch in der SPDnahen

Friedrich-Ebert-Stiftung

trafen, waren Journalisten im

Saal wegen Corona nicht erlaubt.

Schwierig für die Berichterstattung,

doch für einen exklusiven

Einblick luden die Aktivisten

mich kurzerhand am Abend

zuvor in ihre kleine Berliner

Wohnung ein, in der sie sich mit

Laptops und Gurkenbroten zur

Planung des Scholz-Treffens verabredet

hatten. Als ich mich später

verabschiedete, sagte die

Sprecherin: »Sehr nett, dass du

gekommen bist. Außer dir haben

wir niemanden hierher eingeladen.«

Im Treppenhaus musste

ich lachen: Diese Rebellen sind

wirklich nett – oder extrem clevere

PR-Profis.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

13


Vom Grauen der Wahrheit

NR. 31/2021 »So viel Wasser,

von überall« – Autorin Annette

Großbongardt schrieb mit

Kollegen über die Toten der

Jahrhundertflut diesen Sommer

im Ahrtal und in Nordrhein-

Westfalen.

Wie viele Details braucht die

Wahrheit? Um glaubhaft Realität

zu schildern, muss ich genau

sein als Journalistin. »Sagen,

was ist«, lautete der Leitsatz

unseres Gründers Rudolf Augstein.

Aber wie genau darf ich

Zerstörter Friedhof

in Bad Neuenahr-

Ahrweiler

Friedemann Vogel / epa

sein, wenn es um tragische Ereignisse

geht und viele Opfer?

Wenn ich schreibe, während

Menschen leiden und noch um

ihre Liebsten bangen? Ich war

im Ahrtal, wo es aussah, als hätte

ein Zyklop gewütet und

alles, was ihm in die Finger kam,

Häuser, Bäume, Autos, Wohnwagen

hochgehoben, zerschmettert

und dann mit Schlamm und

Wasser übergossen.

Natürlich sind wir den Fakten

verpflichtet, die unsere Recherchen

erbringen. Zur journalistischen

Sorgfaltspflicht gehört

es aber auch, die Wirkung

unserer Texte zu bedenken.

Meine Ressortleiterin hatte über

den Tsunami 2004 in Asien berichtet.

Sie habe damals erlebt,

sagte sie, wie verstörend Berichte

über Todesumstände

für Angehörige sein können,

die oft noch nicht wissen, wie

ihre Liebsten gestorben sind.

Schließlich verzichteten wir auf

Details, die zu drastisch schienen,

oder solche, die Menschen

auf sich beziehen konnten.

Wir schilderten, wie die Menschen

in ihren Kellern ertranken,

auf dem Campingplatz oder bei

dem Versuch, schnell noch ihr

Auto umzuparken. Aber ich

schrieb nicht über den Schlamm,

den Rechtsmediziner in den

Lungen von Verstorbenen fanden,

nicht, was sie mir über den

Schaumpilz erzählten, der sich

bei Ertrinkenden vor dem Mund

bildet, weil sie verzweifelt versuchen,

Luft zu bekommen.

Und so steht im Text nicht,

wie die Leichen in den Bäumen

hingen, nicht das Mädchen, das

bei einem Bestatter angespült

wurde. Nicht die Sorge des Innenministers,

einige Tote könnten

über den Rhein bis in die

Nordsee abgetrieben werden.

Jeder, der noch jemanden vermisst,

könnte ja denken: Ist das

jetzt mein Vater, der da gerade

auf ewig verschwindet?

Heute denke ich, unsere

Rücksicht auf die Hinterbliebenen

war damals richtig. Alles

war noch so frisch, die Toten

waren noch nicht beerdigt, etliche

Leichname nicht identifiziert

oder noch nicht einmal gefunden.

Aber ich frage mich

auch: Hätten wir nicht doch

mehr schreiben sollen? Um

noch besser vorstellbar zu machen,

mit welchem Leid, welchem

Trauma die Menschen in

den Flutgebieten leben müssen.

Um klarzumachen, welche

grausamen Konsequenzen das

Versagen der Verantwortlichen

hatte, die nicht rechtzeitig gewarnt

hatten. Es bleibt eine

schwierige Abwägung.

Vor einiger Zeit wurde eine

Tote aus dem Ahrtal bei Rotterdam

angespült, es dauerte Wochen,

bis sie identifiziert werden

konnte. Zwei Menschen werden

noch immer vermisst. Es ist die

Wahrheit.

»Das sind Ansteher,

brauchst du auch

einen?«

SPIEGEL.DE AM 9. SEPTEMBER

»Schmutzige Wäsche« – Gerichtsreporterin

Julia Jüttner

muss, gerade in Coronazeiten,

ungewöhnliche Mittel nutzen,

um einen Platz im Gerichtssaal

zu ergattern.

Prozesse sind grundsätzlich

öffentlich, so steht es im Gerichtsverfassungsgesetz,

Journalistinnen

und Journalisten dürfen

aus dem Gerichtssaal berichten.

Aber dazu müssen sie erst

einmal in den Saal hineinkommen.

Und das hat mit Journalismus

wenig zu tun. Im Juni 2020,

am Vorabend des Prozesses

gegen den mutmaßlichen Mörder

des Kasseler Regierungspräsidenten

Walter Lübcke, kam

ich am Frankfurter Oberlandesgericht

vorbei. Es war 22 Uhr,

vor dem Eingang standen Leute

– ich hielt sie für Neonazis – die

den Angeklagten unterstützen

wollten. Dann sah ich, wie ein

Kollege einem von ihnen Geldscheine

reichte. Er sagte zu mir:

»Das sind Ansteher, brauchst du

auch einen?«

Wegen der Coronapandemie

waren in Frankfurt am Main

statt 120 Zuschauerplätzen im

Saal lediglich 37 vorgesehen,

19 davon für Journalisten. Aber

sehr viel mehr Kolleginnen

und Kollegen wollten über den

Prozess berichten, es war für

mich das bedeutendste Verfahren

des Jahres. Hektisch telefonierte

ich herum und fand jemanden,

der sich gegen Mitternacht

für mich anstellte. Um

sechs Uhr löste ich ihn aus.

Er war übermüdet, durchgefroren,

es hatte geregnet. Und

ich fühlte mich schäbig.

Vor Gericht wird manchmal

bis 18 Uhr verhandelt, oft schreibe

ich direkt danach einen Text,

die Arbeitstage dauern häufig bis

21 Uhr. Das halte ich nicht durch,

wenn ich die Nacht davor auf

dem Klappstuhl in der Kälte verbracht

habe. Aber wohin führt

das? Am 9. September musste

sich der frühere Bayern-Profi

Jérôme Boateng vor dem Münchner

Amtsgericht verantworten,

weil er seine ehemalige Lebensgefährtin

geschlagen haben soll.

Der Andrang war enorm, aber

im Saal waren nur sechs Plätze

für Journalisten vorgesehen.

Ich war vorbereitet und hatte

über einen Kollegen den Studenten

Severin engagiert. Severin

sollte sich gegen Mitternacht

anstellen. Dann hörte ich von

einem anderen Gerichtsreporter,

sein Ansteher sei schon um

20 Uhr da. Severin sprach mit

seinem Kumpel Alexej, der sich

von 20 Uhr bis Mitternacht anstellen

würde und Severin dann

von Mitternacht bis morgens.

Ich fand das zwar absurd, dachte

aber: guter Plan. Am Tag vor

der Verhandlung rief Alexej an,

er sei zufällig am Justizgebäude

vorbeigelaufen, da stehe schon

Jüttner

Peter Jülich

jemand. In der Pressestelle des

Gerichts erfuhr ich, dass

die Deutsche Presse-Agentur

um 11 Uhr morgens einen ersten

Mitarbeiter zum Anstehen

geschickt haben soll – fast

24 Stunden vor Prozessbeginn.

Alexej besorgte sich Liegestuhl,

Brotzeit und schrieb mir

um 17.44 Uhr: »Sitze jetzt als

Dritter da.« Vor ihm die »Frankfurter

Allgemeine«. Kurz nach

ihm kamen Ansteher von

»Bild«, »Süddeutscher Zeitung«

und der »Zeit«. Bevor ich schlafen

ging, brachte ich Alexej ein

Helles, Chips und Schokolade.

Severin löste ich mit Croissants

und Kaffee ab, ich wollte mein

schlechtes Gewissen beruhigen.

Aber das ändert nichts daran:

Sie, nicht ich, mussten die Nacht

draußen verbringen.

Ich mache dieses Spiel mit,

ich trage dazu bei, dass sich

Helferinnen und Helfer immer

früher anstellen müssen, das ist

mir bewusst. Aber wenn ich es

nicht tue, erhalten SPIEGEL-

Leser keine Berichte aus dem

Gerichtssaal. Ein vernünftiger

Ablauf ist es trotzdem nicht.

14 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Abgezähltes Lob

SPIEGEL.DE AM 10. SEPTEMBER

»Nichts zu lachen« – Redakteurin

Anna Clauß berichtete von

ei nem CSU-Parteitag kurz vor

der Bundestagswahl und überhörte

ein wichtiges Detail in

der Rede von CSU-Chef Markus

Söder.

Zwei Wochen vor der Bundestagswahl

sah es nicht gut aus

für die Union. Ein CSU-Parteitag

in der Nürnberger Messehalle

sollte den Kampfgeist der Parteimitglieder

wecken und Geschlossenheit

von CDU und CSU

demonstrieren. Am Freitagabend

um 22 Uhr erschien meine Zusammenfassung

des ersten von

zwei Parteitagstagen online.

Im Vorspann hieß es: »Mit Witzen

über die Frisuren der Grünen

und übers Gendern versucht

Markus Söder auf dem CSU-Parteitag

in Nürnberg, den Abwärtstrend

der Union zu stoppen.

Armin Laschet? Den erwähnt er

nur ein einziges Mal.«

Am Samstag um acht Uhr

weckte mich die SMS eines

CSU-Pressesprechers: »Es

stimmt einfach nicht, was Sie da

schreiben.« Was genau nicht

stimmte, teilte er mir nicht mit.

Dass etwas nicht stimmen konnte,

signalisierte mir auch ein TV-

Interview mit Markus Söder, in

dem er einer »Autorin«, bei der

es sich nur um mich handeln

konnte, »Fake News«-Verbreitung

vorwarf. Die Pressestelle

der CSU kontaktierte sogar die

SPIEGEL-Chefredaktion.

Der Grund für die Aufregung?

Markus Söder hatte Armin

Laschet in seiner 70-minütigen

Rede nicht nur zu Beginn

erwähnt, als er in die Halle rief:

»Für alle Journalisten zum Mitschreiben:

Wir wollen Armin

Clauß auf Wahlkampfabschlussveranstaltung

der CSU

Laschet als Kanzler.« Auch in

der 58. Minute hatte Söder Laschets

Vor- und Nachnamen

zweimal untergebracht. Offenbar

genau in dem Zeitfenster,

das ich für einen kurzen Gang

auf die Toilette im Kellergeschoss

der Messeanlage nutzte,

hatte Söder darum gebeten,

»Armin Laschet morgen einen

tollen Empfang« zu bereiten.

Gefolgt von den Worten: »Wir

stehen zu 100 Prozent hinter

unserem Kanzlerkandidaten

und wollen Armin Laschet im

Kanzleramt sehen.«

Faktenfehler werden beim

SPIEGEL online umgehend berichtigt,

das ist unser Anspruch.

Allerdings hielt ich die Einwände

der CSU für etwas kleinlich.

Kursive Anmerkungen am

Ende unserer Artikel machen

nachträgliche Änderungen für

Leser transparent. Unter meinem

Parteitagsbericht steht

nun: »In einer früheren Fassung

des Textes hieß es, Markus Söder

habe Armin Laschet in seiner

Rede nur ein einziges Mal erwähnt.

Tatsächlich hat er ihn

mindestens ein weiteres Mal erwähnt.

Wir haben die entsprechenden

Textstellen korrigiert.«

Haben die Medien und ich

durch meinen fehlerhaften Artikel

das schwierige Verhältnis

zwischen Markus Söder und

Armin Laschet womöglich zerrütteter

erscheinen lassen, als es

in Wahrheit war? Ein funktionierendes

Team waren sie

jedenfalls nicht. Lobende Worte,

die Söder für Laschet bei öffentlichen

Auftritten gefunden

haben mag, wirkten so schwach

dosiert, dass sie mich selten

überzeugten. Die verkorkste

Kandidatenkür der Union war

ein Grund für ihre Niederlage

bei der Bundestagswahl.

Privat

Irre Thesen

SPIEGEL-MORGEN-NEWSLETTER

VOM 8. MAI »Kein Scholz-Zug,

nirgends« – Markus Feldenkirchen,

Autor im Hauptstadt büro,

war sich sicher, dass Olaf Scholz

niemals Bundeskanzler werden

würde.

Journalisten wie ich, die nicht

in Delphi geboren wurden, taugen

nicht als Orakel. Das hat

mir das zurückliegende Wahljahr

endgültig gezeigt – vor allem

der Fall oder besser: der

Aufstieg eines gewissen Olaf

Scholz, dem weder ich noch das

Gros meiner Kollegen eine

Chance aufs Kanzleramt attestiert

hatten. Herzlichen Glückwunsch.

Seit dem 8. Dezember

ist Olaf Scholz Kanzler.

Seit dieser Bundestagswahl

habe ich mir vorgenommen,

künftig allenfalls noch Prognosen

über den Ausgang von Spielen

der Fußballbundesliga abzugeben.

Da glaube ich wenigstens,

mich auszukennen.

Bis zum Sommer des zu Ende

gehenden Jahres habe ich keinen

Pfifferling auf Olaf Scholz

gesetzt. Auf allen Kanälen, die

mir zur Verfügung stehen, habe

ich mit ernster Miene und innerer

Überzeugung erklärt, dass

Verbundenheit,

stärker als die Flut

SPIEGEL.DE AM 22. JULI »Mit

dem Wissen von heute hätten wir

evakuieren müssen« – Redakteur

Hubert Gude erlebte in Mayschoß

an der Ahr eine bemerkenswerte

Gemeinschaft.

Im Juli fuhr ich über eine

holprige Piste durch einen Wald

nach Mayschoß in der Eifel.

Das war der einzige Weg hinunter

in ein Dorf, von dem zum

großen Teil nur Trümmer übrig

geblieben waren. Ein paar

Tage zuvor hatte das Hochwasser

den rund 900 Bewohnern

die Bundesstraße, die Bahngleise,

den Strom und sogar das

Trinkwasser geraubt. Fünf Menschen

ertranken, kaum ein Haus

an der Ahr war heil geblieben.

Als ich durch die schlammbedeckten

Straßen stapfte,

wunderte ich mich bald über

diese Mayschoßer. Ich hörte

kaum Wehklagen. Leute, deren

Häuser heil geblieben waren,

kamen mit Schaufeln. Winzer

die Sache für Scholz gelaufen

sei. Dass seine Partei, die SPD,

einfach unten durch sei. Und

dass auch er, Scholz, nie und

nimmer das entscheidende Momentum

erzeugen könne.

Diese These vertrat ich in

SPIEGEL-Artikeln, in Kolumnen,

im Morgen-Newsletter, im

SPIEGEL-Leitartikel, im Gespräch

mit Freunden und in der

Talkshow von Markus Lanz.

Wir Journalisten in Berlin,

die von den Kollegen gern als

politische Beobachter befragt

werden, vertrauen in Wahrheit

viel zu selten unseren eigenen

Beobachtungen, sondern bauen

zu oft auf die vermeintlichen Erkenntnisse

irgendwelcher Umfrage-Klitschen.

Wenn ich selbst

bei solchen Befragungen mitmache,

behaupte ich meist, eine

AfD-wählende 95-jährige Frau

aus dem Allgäu zu sein. Ich habe

keine Ahnung, ob die solche

Manöver durchschauen und

trotzdem wissen, was ich wirklich

wählen würde.

Die Bundestagswahl 2021 ist

mir jedenfalls eine Lehre. Ich

halte fortan alles für möglich,

was theoretisch denkbar ist.

Selbst so irre Thesen wie die,

dass Olaf Scholz einmal Bundeskanzler

wird.

brachten Traktoren und Stromgeneratoren.

Alle packten an.

»Wie geht de Mam?«, fragte ein

Nachbar einen Mann, dessen

betagte Mutter nach der Katastrophe

ins Krankenhaus musste.

»Hier wartet keiner auf Hilfe

von außen«, sagte eine Frau, die

eine Notfallapotheke aufgebaut

hatte. »Wir Mayschoßer sind

für unseren Zusammenhalt bekannt.«

Abends saßen die Leute

aus dem Dorf, von der Freiwilligen

Feuerwehr und die Winzer

auf der Straße bei einem Bier

zusammen.

Diese Dorfgemeinschaft hat

mich beeindruckt und auch ein

wenig beschämt. Ich habe eine

tolle Familie und enge Freunde.

Aber als leidenschaftlicher

Großstädter mag ich es auch, in

die Anonymität der Masse einzutauchen.

Bei allem Mitgefühl

wegen der Zerstörung, die das

Hochwasser bei ihnen angerichtet

hat, habe ich die Menschen

in Mayschoß insgeheim beneidet.

Für eine Verbundenheit, die

keine Flut ihnen nehmen kann.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

15


Eine Metastrategie,

kein Plan

NR. 31/2021 »Die Vermessung

des Volkes« – Alfred Weinzierl

schrieb darüber, wie Umfrageinstitute

Stimmungen der

Wähler ergründen. Er lernte

auch, was Laschet fehlte.

Mitte Juni, Recherchebesuch

in der CDU-Zentrale in Berlin.

Es geht um die Frage, wie die

Union Erkenntnisse der Meinungsforscher

im Bundestagswahlkampf

nutzen will. Nicht

ohne Stolz reden die Parteimanager

von ihren Vorbereitungen

für eine »Metastrategie«. In sie

sollen die Themen einfließen,

die Wählerinnen und Wählern

laut Umfragen wichtig sind.

Die politisch Interessierten

fragen sich, welche Schwerpunkte

Kanzlerkandidat Armin

Laschet setzen will, wie er den

bei seiner Wahl zum Vorsitzenden

von ihm diagnostizierten

Reformstau auflösen will. Ich

frage den Wahlkampfmanager,

wie Veränderungswille und

Kontinuität nach 16 Merkel-

Jahren in einem griffigen Slogan

zusammenkommen können.

»Im besten Fall wird es ein programmatisches

Versprechen,

das so breit ist, dass man da

mehr hinter vermuten kann.«

Ich finde mich mit der Nichtantwort

ab. Die CDU will mir

eben das Motto ihrer Kampagne

nicht vorzeitig auf die Nase

Weinzierl

binden. Als die Union ein paar

Tage später ihr Wahlprogramm

präsentiert, ist es eine Ansammlung

von Floskeln, kein Reformplan,

keine Fortschrittsidee. Der

Claim könnte inhaltsleerer

kaum sein: »Gemeinsam für ein

modernes Deutschland.«

Ich habe die CDU überschätzt.

Und viele in der Partei

haben Laschet überschätzt. Im

Wahlkampf gewinne ich den

Eindruck, dass der Kanzlerkandidat

sich für die Analysen seiner

Experten, die den Bürgerinnen

und Bürgern in Kopf und

Seele geblickt haben, nicht

recht interessiert. Laschet

glaubt, ein Wahlkampf könne

aus dem Bauch heraus geführt

werden. Ab Ende August zieht

Olaf Scholz in den Umfragen

vorbei. Laschet und die Union

verfallen in Aktionismus – denn

eine »Metastrategie« hat es nie

gegeben, oder wenn es sie gab,

dann blieb sie in der Schublade.

Im Juni war es offenbar nicht

so, dass mir die Wahlkampfmanager

nichts verraten wollten.

Es war einfach nicht viel da.

Jörg Müller

»O nein, nicht das«

NR. 41/2021 »Leute wie ich

werden – zack – einfach

aus sortiert« – Redakteur Hannes

Schrader traf einen

ehemals obdachlosen Mann,

der ihm den eigenen Zynismus

vor Augen führte.

Ich wollte nie über Obdachlose

schreiben. Artikel über Wohnungslosigkeit,

davon war ich

überzeugt, trieften häufig vor

Mitleid und stellten Elend aus.

Doch als Praktikant beim

SPIEGEL musste ich: Meine

Ressortleiterin rief an und sagte,

sie hätte da ein Thema für

mich. Es ging um ein Projekt

in Berlin, das Obdachlose von

der Straße holen will, indem

man ihnen bedingungslos eine

Wohnung gibt.

»O nein, nicht das«, dachte

ich.

»Na klar, mache ich gern«,

sagte ich.

Um keine Betroffenheitsgeschichte

zu erzählen, nahm ich

mir vor, hart und kritisch zu

sein. Werden Drogenabhängige

clean? Schaffen sie es, vom Alkohol

wegzukommen, finden

sie einen Job? Oder ist das nur

eine teure Maßnahme, die sowieso

nichts bringt?

Diese Fragen trug ich mit mir

herum, als mir im Süden Berlins

ein Mann mit kurzen Haaren

und freundlichen graubraunen

Augen die Tür öffnete. Seine

Wohnung war noch fast leer, er

war gerade erst eingezogen. Er

hatte einen alten Schreibtischstuhl

und eine Klappleiter. Er

setzte sich auf die Leiter und erzählte

mir von seinem Leben

vor dieser Wohnung.

Er berichtete, wie er knapp

ein Jahr zuvor wegen einer

Angststörung in seiner ehemaligen

Wohnung verwahrloste,

nicht mehr duschte, sich einen

Bart wachsen ließ, der ihm bis

zum Bauchansatz reichte. Wie

er seine Wohnung verlor und

auf der Straße landete.

Wie er nach der ersten Nacht

dachte: »Jetzt bin ich ganz

unten angekommen.« Erst kam

er in eine Gemeinschaftsunterkunft,

schließlich fand er zu

dem Projekt, das ich vorstellen

sollte. Dort hatte er eine

Wohnung bekommen. Ohne

Bedingungen.

Fast drei Stunden saß ich bei

ihm und hörte ihm zu. Als wir

fertig waren, erwischte ich mich

dabei, dass ich bewegt war, von

dem, was ihm passiert war. Ich

fand meine Gedanken auf einmal

zynisch.

Geht es mich wirklich etwas

an, ob jemand hinter der eigenen

Tür zu viel trinkt, ein Startup

gründet oder den ganzen

Tag Däumchen dreht? Die eigene

Wohnung ermöglichte diesem

Mann – Vorsicht, Pathos –,

in Würde zu leben, das habe ich

an diesem Tag verstanden.

Eine schwierige

Konfrontation

NR. 24/2021 »Er kocht sie

ganz langsam« – Redakteurin

Kristin Haug sprach mit dem

Ökologen Ian Baldwin, der jahrelang

Doktoranden und Postdocs

drangsaliert haben soll.

Zahlreiche Doktoranden und

Postdocs hatten mir erzählt, wie

der Direktor des Max-Planck-

Instituts für chemische Ökologie

in Jena, Ian Baldwin, ihnen

das Leben zur Hölle gemacht

habe. Wie er sie beschimpft, zur

Arbeit angetrieben, manipuliert

habe. Manche schilderten,

die Arbeit mit Baldwin habe sie

krank gemacht.

Ich hatte zahlreiche Dokumente

gesichtet, mit Kolleginnen

und Kollegen Baldwins geredet.

Nach allem, was ich hörte,

erschien er mir gefühlskalt und

Haug

M. Kuhn

narzisstisch. Bevor ich ihn anrief,

war ich aufgeregt. Baldwin

war bislang vor allem von

Journalisten kontaktiert worden,

weil sie über seine Erfolge in

der Wissenschaft berichten

wollten. Über seinen mutmaßlichen

Machtmissbrauch hatten

die Medien noch nicht berichtet.

Wie würde er reagieren?

Baldwin fragte mich, mit

wem ich geredet hätte. Er ermahnte

mich, die Fakten besser

zu prüfen: Er sei das Opfer, er

fühle sich verleumdet. Ich musste

aufpassen, welche Details

ich nannte – denn ich musste

meine Quellen schützen. Fast

alle wollten aus Angst vor Konsequenzen

anonym bleiben.

Baldwin ist immer noch ein einflussreicher

Wissenschaftler.

Ich betonte: »Ich kenne nur

die eine Seite, möchte aber gern

erfahren, wie Sie die Dinge sehen.«

Wir redeten eine Stunde

miteinander, und Baldwin verstand,

dass dies eine Gelegenheit

war, sich zu erklären. Er erzählte,

er sei davon angetrieben,

wissenschaftliche Exzellenz

zu erreichen und die Menschen

um sich herum auch dazu

zu ermutigen. Ehemalige Weggefährten

bestätigten mir, wie

sehr Baldwin sich der Wissenschaft

verschrieben hatte und

dabei offenbar die Bedürfnisse

seiner Kolleginnen und Kollegen,

die nicht allein für die Forschung

lebten, aus dem Blick

verloren hatte.

Baldwin und ich tauschten

nach dem Gespräch noch ein

paar E-Mails aus, in denen er

sich rechtfertigte, aber auch für

sein Fehlverhalten entschuldigte.

Unser Telefonat half mir,

Baldwins Handeln besser zu

verstehen und auch, wie es zu

den Vorwürfen kam. Das schlug

sich in meinem Text nieder.

Manche meiner Quellen warfen

mir vor, zu viel Verständnis für

ihn gezeigt zu haben.

Vielleicht habe ich das sogar.

Ich bin trotzdem froh, mir seine

Darstellung ausführlich angehört

zu haben. Es ist nicht nur

journalistischer Standard, es

hilft, ein komplettes Bild zu bekommen.

Ich hoffe, dass der Artikel

gezeigt hat, was Vorgesetzte

durch ihr Verhalten bei Mitarbeitenden

anrichten können.

16 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Verheizt auf

Station IOI-C

NR. 47/2021 »Wo die vierte

Welle bricht« – Redakteur

Tobias Großekemper kehrte

nach mehr als 20 Jahren für

drei Tage zurück in seinen alten

Beruf, die Krankenpflege. Er

zieht ein bitteres Fazit.

Mitte November, sechs Uhr

morgens in einer Umkleide des

Universitätskrankenhauses

Leipzig. Ich schlüpfe in einen

Kasack, die übliche Krankenhausuniform.

Und damit zurück

in ein Kapitel meines Lebens,

das ich für abgeschlossen gehalten

hatte: Krankenpflege.

Nach mehr als 20 Jahren

sind alle Erinnerungen sofort

wieder da. Der Krankenhausgeruch,

nach Reinigungsmittel.

Die Uhrzeit und die Dienstpläne.

Menschliche Schicksale

in Mehrbettzimmern.

Wenn ich erzähle, dass

meine erste berufliche Station

die Pflege war, reagiert mein

Gegenüber überrascht, aber

immer positiv. Als mache mich

das sozial kompetenter.

Ich ergriff den Beruf, weil ich

dachte, ich könnte damit überall

auf der Welt arbeiten und Kranken

ein wenig helfen.

Mir selbst gab der Beruf zu

wenig: zu wenig geregelte

Arbeitszeiten, zu wenig Perspektive

und auch zu wenig

Geld. 1999 wurde ich Journalist.

So viel zur Sozialkompetenz.

Jetzt also wieder im Kasack.

Drei Tage lang sollte ich auf

der Station IOI-C des Klinikums

mitlaufen, eine Intensivstation

für Coronapatienten.

Aufschreiben, was passiert, wie

Großekemper in

Leipziger Uniklinik

es dem Pflegepersonal geht.

Meine Pflegeausbildung half

mir, nicht gleich umzukippen,

als im dritten Zimmer, in das ich

hineinschaute, ein Mensch in

einem Leichensack lag.

Unvorbereitet war ich auf die

komplette Sinnlosigkeit des

Sterbens. Die, die es hart getroffen

hatte, waren in der Regel

ungeimpft. Lauter Skispringer

ohne Helm. Hatten die Wissenschaft

geleugnet und wären

jetzt, ohne sie, schon lange tot.

Und ohne die Pflegerinnen und

Pfleger, die sie versorgten, auch.

Vor mehr als 20 Jahren zeigten

sie uns in der Ausbildung,

was man alles gut machen kann,

wenn man Zeit hat als Pfleger.

Danach, auf den Stationen,

lernten wir, dass es diese Zeit

eigentlich nie gibt. Seitdem ist

die Situation für Pflegende nur

noch schlechter geworden, zu

wenig Geld, zu dünne Besetzung,

jeder weiß es, seit Jahren.

In der Universitätsklinik

Leipzig sah ich Pflegerinnen

und Pfleger eigentlich immerzu

rennen. Von Bett zu Bett. Aber

auch gegen eine Gesellschaft,

die draußen lebt, als gäbe es

kein Corona. Sie rannten dort

seit 20 Monaten. Ich dachte:

Sie werden verheizt. Wie es

ihnen geht, davon habe ich jetzt

eine Idee.

Ich glaube heute, nach den

Erfahrungen in der Uniklinik

Leipzig, dass dieses freundliche

Erstaunen, dass ich in den Jahren

davor auslöste, wenn ich erwähnte,

mal Pfleger gewesen zu

sein, nichts mit Anerkennung

sozialer Kompetenz zu tun hat.

Sondern mehr mit der ehrlichen

Überraschung, wie

man auf diesen Beruf überhaupt

noch kommen kann.

Sven Döring / DER SPIEGEL

Peter Jülich

Nächte voller Zweifel

NR. 22/2021 »Du Kinderschänder!«

– Redakteur Maik Großekathöfer

schrieb über einen

Erzieher, der bezichtigt wird,

Kinder sexuell missbraucht zu

haben.

Ein Journalist muss sich

manchmal festlegen: Wer lügt,

wer sagt die Wahrheit? Ein Text

kann wie ein Richterspruch

sein, was mir bei einer Recherche

in diesem Jahr schlaflose

Nächte bereitete.

Im Mai habe ich einen Artikel

über einen Erzieher recherchiert,

der ein Mädchen missbraucht

haben soll. Als die Ermittlungen

gegen ihn eingestellt

wurden, wurde er bedroht und

beleidigt. Die Generalstaatsanwaltschaft

Koblenz leitete Verfahren

ein unter anderem wegen

Verleumdung und öffentlicher

Aufforderung zum Mord.

Ich wollte beschreiben, wie ein

Mann zu Unrecht beschuldigt

wird, und verabredete mich mit

dem Erzieher und seinem Anwalt

zu einem Gespräch.

Dabei erfuhr ich, dass dem

Erzieher, der in dem Text das

Pseudonym Frank Müller trägt,

von drei weiteren Müttern

unterstellt wird, sich an ihren

Töchtern vergangen zu haben.

Müller beteuerte, er habe nichts

getan. Ich saß in der Anwaltskanzlei

und zweifelte zum

ersten Mal leise an ihm: so viele

unberechtigte Vorwürfe – ist

das möglich? Im Zug zurück nach

Hamburg las ich Dokumente

aus den Akten. Mal hielt ich

Müller für unschuldig, mal für

schuldig, dann wieder nicht.

Später verbrachte ich fünf

Tage mit ihm. Als ich seine

Wohnung betrat, sagte ich: »Ich

Müller

glaube erst mal gar nichts.« Ein

Spruch, den ich von einem der

Faktenprüfer geklaut hatte, die

alle Texte im SPIEGEL verifizieren.

Jeden Tag sprach ich stundenlang

mit Müller, las Whats­

App-Chats auf seinem Handy,

sprach mit der Staatsanwaltschaft,

las sein Tagebuch, sprach

mit seinem Arbeitgeber. Ich

stellte Müller unangenehme

Fragen, er beantwortete jede.

Im Hotel lag ich manchmal

nachts wach und überlegte, ob

ich zu leichtgläubig bin. Könnte

sein Tagebuch ein Fake sein?

Dann gab es Phasen, in denen

war ich mir sicher, dass hier ein

Mensch vernichtet wird.

Schließlich saß ich am

Schreibtisch vor einem leeren

Bildschirm und überlegte: Was

machst du daraus? Die Realität

ist immer störrisch, aber hier

ging es um etwas anderes. Irrtum

ist ein großer Feind der

Wahrheit. Ich hatte die Akten

ein zweites und drittes Mal gelesen,

war meine Aufzeichnungen

mehrfach durchgegangen.

Alles, was ich aufschreiben

wollte, ließ sich belegen, nun

musste ich mir ein Urteil bilden.

Ich kam zu dem Ergebnis, dass

Müller unschuldig ist, dass er

es sein muss, weil die Fakten für

ihn sprechen, weil man nachvollziehen

kann, wie ein Gerücht

das andere befeuerte, ein

Verdacht den nächsten auslöste.

Ich habe, hoffentlich, einen

Text geschrieben, dem man das

Nachdenken des Autors anmerkt.

Bei dem der Leser verstehen

kann, warum ich Müller

für ein Opfer halte. Anfang Dezember

hatte ich zuletzt mit

Frank Müller Kontakt. Die drei

noch offenen Verfahren sollen

demnächst eingestellt werden.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

17


Abschied von den

alten Herren

NR. 36/2021 »Als die K-Frage

verfrühstückt wurde« – Melanie

Amann, Mitglied der Chefredaktion,

führte in diesem

Jahr eine Menge Abschiedsgespräche

mit führenden Politikern

der Union. Liegt da eine

tiefere psychologische Ursache

begraben?

Wenn ich auf meine Artikel

in diesem Jahr zurückblicke,

fällt mir auf, wie viele sich um

Männer drehen. Das allein ist

wenig überraschend, wenn man

über Politik berichtet. Aber es

waren heuer besonders viele ältere

Herren aus CDU und CSU.

Was war da los?

2021 stand für den Abschied

von Angela Merkel, und der

SPIEGEL hat ein Merkel-Sonderheft,

einen Merkel-Podcast,

ein Merkel-Audiobuch und

einen 37 Seiten langen Merkel-

Titelkomplex veröffentlicht. Ich

weiß nicht, wie die Kollegen,

die dieses Merkel-Menü geplant

haben, auf meine Arbeit

blicken, aber auf meinem Teller

landeten nicht die Merkel-Filetstücke,

also die Analyse ihrer

Außenpolitik, ihr Elternhaus

oder wenigstens noch ihre Wirkung

auf die Frauenfrage, sondern

stets – die Männer.

Volker Kauder (Ex-Fraktionsvorsitzender),

Edmund

Stoiber (Ex-Kanzlerkandidat),

Horst Seehofer (Ex-Bundesinnenminister)

und Wolfgang

Schäuble (Ex-Präsident des

Deutschen Bundestages und

auch sonst sehr viel Ex) waren

meine größeren »Projekte« in

diesem Jahr.

Alles alte Merkel-Rivalen,

teils erbitterte Gegner, die aber

Amann, Stoiber

alle letztlich kapitulierten. Keiner

spricht mehr böse über sie,

nicht mal »off the record«, also

zum Nichtzitieren. Der eine

sagt lieber gar nichts (Schäuble),

einer klingt sehr milde

(Stoiber), die anderen zwei singen

Loblieder auf sie (Kauder,

Seehofer).

Vielleicht liegt es an meiner

journalistischen Sozialisierung

bei der »Frankfurter Allgemeinen

Zeitung«, aber ich habe

immer gern ältere Politiker getroffen.

Als für die AfD zuständige

Politikreporterin war das

ohnehin unvermeidlich, aber

ich würde lügen, wenn ich die

Gespräche mit ihrem heutigen

Ehrenvorsitzenden Alexander

Gauland eine Qual nennen

würde. Unser Gesprächsfaden

war zeitweise so stabil, dass in

der Partei hartnäckig kolportiert

wurde, Gauland sei ein alter

Freund meiner Familie.

Falls AfD-Leute noch SPIEGEL

lesen sollten: Das stimmt nicht.

Egal welche Partei, ich höre

gern zu, wenn ältere Semester

»vom Krieg erzählen«, gerade

weil ihre Verletzungen unsichtbar

sind. Die Psychologie hat

sicher einen Fachbegriff für

meine Neigung. Aber die Geschichtsstunden

über Hahnenkämpfe

in Fraktion, Vorstand

oder Klausurtagung sind mitunter

auch nützlich und inspirierend

für den Alltag in einer

politischen Redaktion.

Mein 2021 endete dann aber

doch mit einer Frau, ich schrieb

ein Porträt über Beate Baumann,

die langjährige Büroleiterin

der Kanzlerin. Die ist

auch gar nicht alt, sondern in

den besten Jahren. Aber

Manno mann, kann sie vom

Krieg erzählen.

Lorraine Hellwig

DER SPIEGEL

Laschet, Eberle

Drei Phasen mit

Laschet

NR. 15/2021 »Häuptling Wirdsonix«

– NRW-Korrespondent

Lukas Eberle berichtete im Bundestagswahlkampf

über Armin

Laschet, am Ende bekam er es

mit der Polizei zu tun.

Ich habe Armin Laschet beim

Versuch begleitet, Kanzler zu

werden. Eineinhalb Jahre lang

ging ich zu seinen Pressekonferenzen

und Hintergrundgesprächen,

führte Interviews mit ihm

in seinem Büro oder am Telefon,

ich hörte seine Reden auf

Parteiveranstaltungen und im

Landtag, lief ihm in Jerusalem

und Paris hinterher.

Ich probierte die Pommes

frites in seinem Lieblingsimbiss

in Aachen. Manche Artikel, die

zusammen mit Kolleginnen und

Kollegen entstanden, landeten

auf dem SPIEGEL-Cover.

Wir druckten einen Titel,

auf dem Laschet als übergewichtiger

Majestix dargestellt

war. Die Titelzeile: »Häuptling

Wirdsonix«. Als sich Laschet

und Markus Söder um

die Kanzlerkandidatur für die

Union stritten, brachten

wir ein Cover, das Laschet mit

lädierter Nase zeigte. Auf

einem anderen SPIEGEL-Heft

hielt er sich den Mund zu, darunter

stand: »Uuups! Die fünf

Irrtümer des Armin Laschet

und die Folgen für Deutschland«.

Unsere Kritik war hart,

aber angebracht.

Die Folgen hätten mir egal

sein müssen. Waren sie aber

nicht. Im Rückblick lässt sich

das Verhältnis zwischen Laschet

und mir in drei Phasen einteilen.

Phase 1: Zu Beginn konterte

er die Artikel mit Sarkasmus.

»Wer liest schon den SPIEGEL?«,

fragte er mich und lachte.

Später, in Phase 2, entschied

er sich für die Blockadetechnik.

Er beantwortete manche Fragen

von mir mit Nein, obwohl ich

sie noch nicht einmal zu Ende

gestellt hatte.

Mitte September, kurz vor

der Bundestagswahl, waren wir

wohl in Phase 3 angelangt: Ich

stand bei einem Wahlkampfauftritt

von Laschet in Delbrück-

Steinhorst, Ostwestfalen. Zuvor

hatte ich mich offiziell als Journalist

angemeldet.

Zwei Polizisten kamen zu

mir, einer sagte: »Zeigen Sie

mir mal bitte Ihren Ausweis,

und ich würde gerne in Ihren

Rucksack schauen.« Ich fragte

ihn, warum. Der Polizist antwortete,

Laschets Personenschützer

hätten ihn beauftragt,

mich zu kontrollieren. In deren

Augen sähe ich »verdächtig«

aus. Es waren jene Personenschützer,

die mich in den Monaten

zuvor bei zahlreichen Terminen

mit dem Unionspolitiker

gesehen hatten.

Später rief ich eine Sprecherin

Laschets an und bat um eine

Erklärung. Sie entschuldigte

sich, es sei vermutlich ein Missverständnis

gewesen, sagte sie,

die Sache habe nichts mit unserer

Berichterstattung zu tun gehabt.

Möglicherweise stimmte

das. Ich weiß bis heute nicht,

was ich von dieser Aktion halten

soll. Fest steht, dass die Beziehung

zwischen Armin Laschet

und mir an diesem Tag in

Delbrück-Steinhorst an ihrem

Tiefpunkt angekommen war.

18 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Zwischen Wohnung

und Netto

Reporterglück in der

Parkgarage

NR. 34/2021 »Mann im Spiegel«

– In den Niederlanden enthüllten

Reporter Jürgen Dahlkamp

und Roman Lehberger

einen Polizeiskandal.

Eine Titelgeschichte über die

Macht der Kokainmafia in den

Niederlanden – das war die

Idee. Für Reporter, die vor allem

über Themen in Deutschland

berichten, keine einfache

Aufgabe. Kontakte muss man

erst mühsam aufbauen. Einem

von uns war nicht einmal Frau

Antje ein Begriff. Die ortsansässige

Presse ist einem bei der

Recherche meilenweit voraus.

Im August reisten wir nach

Amsterdam. Einen Monat zuvor

war dort der Kriminalreporter

Peter R. de Vries vor

einer Parkgarage erschossen

worden. De Vries hatte gefährliche

Feinde: Er beriet als Medienexperte

einen Kronzeugen,

der vor Gericht gegen einen

Drogenboss aussagte. Wochenlang

hatte es in den niederländischen

Medien kaum ein anderes

Thema gegeben. Was war

da noch für zwei deutsche Journalisten

zu holen, Monate nach

dem Mord?

Erster Stopp: der Tatort. An

der Stelle, an der de Vries erschossen

worden war, spritzte ein

Mann mit einem Schlauch die

Straße ab, ein Mitarbeiter der

Parkgarage, in der de Vries oft

seinen Wagen abstellte. Der

Mord an ihm hätte verhindert

werden können, schimpfte der

Mann. Eine Woche vor der Tat

habe ein Kollege einen Späher

beobachtet, der de Vries an der

Parkgarage auszukundschaften

schien. Der Hinweis habe die

Polizei erreicht, aber nichts sei

passiert. Wir schauten uns ungläubig

an. War das möglich? Wir

sind gerade in Amsterdam angekommen,

und der Erste, den wir

treffen, erzählt uns von einem

handfesten Polizeiskandal? Gemeinsam

mit einem niederländischen

Kollegen überprüften wir

die Geschichte. Sie stimmte. Der

Späher, den der Angestellte der

Parkgarage gesehen hatte, entpuppte

sich nach dem Mord als

mutmaßlicher Fahrer des Fluchtwagens.

Die Geschichte machte

in den Niederlanden Schlagzeilen.

In unserer Branche nennt

man so etwas: Reporterglück.

SPIEGEL.DE AM 16. NOVEMBER

»Impfpflicht für alle« – In

ei nem Kommentar ärgerte sich

Redakteurin Sophie Garbe

auch über den Egoismus der

Ungeimpften. Dann kam eine

Leserzuschrift.

Es waren nicht die Hassnachrichten,

die mich überraschten.

Wenn man eine Corona-Impfpflicht

für alle fordert, muss

man sich auf solche Reaktionen

einstellen. Mit einer Mail wie

der von Herrn Bruhns, der in

Wahrheit anders heißt, hatte ich

hingegen nicht gerechnet. Herr

Bruhns schrieb gleich im ersten

Satz, er sei kein »Querdenker«.

Aber er wolle doch mal darauf

hinweisen, dass es auch noch

Menschen wie ihn gebe. Herr

Bruhns sagt, er habe psychische

Probleme und sei Alkoholiker.

Und da dauere es eben manchmal

länger, bis man sich um eine

Impfung kümmern könne.

Herr Bruhns schrieb: »Jeder,

der jetzt noch wissentlich und

willentlich eine Impfung verweigert,

ist ein Narr. Aber wie

viele können vielleicht nur noch

zwischen Wohnung und Netto

pendeln, wie viele sind des Lebens

müde, und wie viele schlafen

unter der Brücke und tun

sich mit einer gesamtgesellschaftlichen

Verantwortung

schwer, weil sie eh schon nicht

mehr dazugehören?«

In dem Kommentar hatte ich

auch meinem Ärger über die

mangelnde Solidarität der Ungeimpften

Luft gemacht. Nach

Herr Bruhns’ Schreiben verpuffte

diese Wut. Seine Worte riefen

mir ins Bewusstsein, dass eine

Impfkampagne, die Menschen

wie Herrn Bruhns übersieht,

auch nicht besonders solidarisch

ist. Dass die Hürden auf dem

Weg zu einer Impfung nicht für

alle in unserer Gesellschaft

gleich hoch sind. Mit diesem

Gedanken im Hinterkopf würde

ich heute wohl einen anderen

Kommentar schreiben.

Herr Bruhns hat es übrigens,

so schrieb er mir, trotzdem geschafft:

Nach einem für ihn strapaziösen

Tag sei er nun doppelt

geimpft.

Vom Flanieren mit

Politikern

NR. 18, 23, 26, 30/2021

SPIEGEL-Spaziergänge – Im besonderen

Jahr des Wahlkampfs

wollte das Hauptstadtbüro Leserinnen

und Lesern besondere

journalistische Formen bieten.

Erst wenn man etwas ausprobiert,

weiß man, wie es ist, stellte

SPIEGEL-Autorin Susanne

Beyer fest.

Wer in den vergangenen

zwölf Monaten jemanden treffen

wollte, der tat das oft

draußen. »Zum Spaziergang«,

so lautete erneut das Codewort

in diesem zweiten Coronajahr.

Auch Begegnungen mit Politikerinnen

und Politikern fanden

unter freiem Himmel statt. Verändert

ein gemeinsamer Spaziergang

die Art und Weise, wie

und worüber man miteinander

spricht? Wir wollten das genauer

wissen und erfanden eine

kleine Reihe, die wir »SPIEGEL-

Spaziergänge« nannten.

Mit der Linken-Co-Parteichefin

Susanne Hennig-Wellsow,

mit dem Grünen-Co-Parteichef

Robert Habeck, mit der

damaligen Kulturstaatsministerin

Monika Grütters (CDU)

und der damaligen Digitalbeauftragten

Dorothee Bär (CSU)

gingen wir jeweils durchs Regierungsviertel.

Und ja: Orte beeinflussen

durchaus die Gefühlslage

von Gesprächspartnern.

Als wir mit der Ostdeutschen

Hennig-Wellsow durch das

Brandenburger Tor gingen, erzählte

sie anrührend, wie

schwierig für ihre Eltern die

Veränderungen nach dem

Mauerfall gewesen seien. Mit

Robert Habeck liefen wir am

Kanzleramt vorbei, es war

Beyer, Habeck, Jonas Schaible

nicht lange her, dass er bei der

Entscheidung zur Kanzlerkandidatur

zurückstecken

musste – an anderen Stationen

hatte er schnell und geistreich

geantwortet, hier aber wurde

er einsilbig.

Etwas anderes kannten und

wussten wir zwar vorher, aber

wenn man es über Stunden miterlebt,

werden einem die Folgen

bewusster: Politikerinnen

und Politiker werden ständig

erkannt und angesprochen, mal

freundlich, mal fordernd, auch

aggressiv, sie vermeiden es,

über rote Ampeln zu gehen,

weil sie wissen, dass sich eine

solche Szene, auf einem Handyvideo

aufgenommen, im

Internet gegen sie richten könnte.

Personenschutz gibt es nur

für wenige Politiker, auch deswegen

erfordert der politische

Beruf eine andau ernde Vorsicht.

Ein hoher Preis, ein hohes

Risiko in polarisierten

Zeiten – erkennen wir Bürgerinnen

und Bürger überhaupt

genug an, dass dieser Preis

von unseren politischen Repräsentanten

gezahlt wird?,

fragten wir uns.

Und noch etwas stellten

wir fest: Das Schlendern, das

Flanieren schließt den inhaltlichen

Dissens zwar nicht aus,

fordert aber einen gelassenen

Ton ein. So gewinnt man

durch diese spezielle Form

des journalistischen Gesprächs

zwar besondere Einblicke,

aber verliert die Möglichkeit

einer Konfrontation. Und

das bedeutet: Trotz Corona

kann das gemeinsame Spazierengehen

mit den Protagonisten

der Politik für uns Journalisten

nur eine schöne Ausnahme

bleiben.

Andreas Chudowski

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

19


TITEL

Wir können

auch anders

ZÄSUREN Endlich ein neues Jahr, Zeit für einen Neuanfang.

Was in Politik und Gesellschaft jetzt ansteht – und wie

den Menschen im eigenen Leben der Sprung ins Ungewisse gelingt.

I

n ihrem alten Leben, vor der Pandemie,

saß Katrin Bernat zehn,

zwölf Stunden pro Tag in ihrem

Büro in Berlin-Wannsee am Schreibtisch.

Sie arbeitete als selbststän dige

Buchhalterin, verglich Soll und Haben.

Zeit für andere Dinge sei nicht geblieben,

sagt sie, ein Job habe den nächsten gejagt.

»Ich habe im Büro gelebt.« Sie kontrollierte

dann Zahlen für Zalando, die Max-Planck-

Gesellschaft, für Start-ups. Als Corona nach

Deutschland kam, brachen die Aufträge weg,

weil ihre Kunden die Budgets für externe Mitarbeiter

radikal kürzten.

Sie sagt: »Für mich war Corona ein Geschenk.«

In ihrem neuen Leben, dem Leben seit Oktober

2020, fährt Katrin Bernat bis zu 15 Tage

im Monat mit einem weißen Pferdetransporter

vom Typ »2-Ride Horse Truck« durch die

Republik und bringt Pferde etwa zu Turnieren;

der Kilometer kostet bei ihr ab 1,10 Euro

brutto, inklusive Heu und Videoüberwachung

der Tiere. Es gibt viele Pferdebesitzer in Berlin

und Brandenburg, die keinen entsprechenden

Wagen haben.

Wenn Bernat nicht auf Autobahnen und

Landstraßen unterwegs ist, verbringt sie die

Zeit bei ihren eigenen Pferden auf der Weide.

Sie besitzt drei Hengste – Magu, Ray und

Apache. Katrin Bernat ist 42 Jahre alt, und

sie sagt: »Unterschwellig hatte ich schon lange

den Wunsch, etwas Neues anzufangen. Die

Pandemie hat mir erlaubt, richtig darüber

nachzudenken und es am Ende auch zu machen.

Ich bin meinem Herzen gefolgt.«

Soll und Haben. Für Katrin Bernat steht

auf der einen Seite ihre Karriere als Buchhalterin,

auf der anderen ihre Liebe zu Pferden.

Sie war neun, als sie ihr Taschengeld für

Voltigierstunden ausgab. Sie radelte zum

Reiterhof in den nächstgelegenen Ort, half

beim Füttern der Pferde und führte sie aus.

Nach der Schule machte sie eine Ausbildung

zur Steuerfachangestellten, weil der Bekannte

eines Bekannten meinte, das sei doch was

für sie. Sie quälte sich durch die Ausbildung,

hätte am liebsten abgebrochen, aber ihre Eltern

sagten: Kind, mach das zu Ende, dann

hast du was. Zum Reiten ging Katrin Bernat

immer seltener, irgendwann gar nicht mehr.

Sie machte das Abitur nach, studierte Marketing

und Kommunikation in Berlin, gründete

ein Unternehmen, leitete einen Lohnsteuerhilfeverein.

Sie war erfolgreich. Glücklich

war sie nicht. »Zahlen von A nach B zu

schieben und sich mit dem deutschen Steuergesetz

zu beschäftigen ist nicht die Erfüllung.«

Vor vier Jahren fuhr sie an einem Wochenende

aufs Land und besuchte mehrere Reiterhöfe,

weil sie sich ein Pflegepferd zulegen

wollte. Sie dachte an eine Reitbeteiligung,

damit sie gezwungen wäre, öfter in die Natur

zu gehen. Nach einer halben Ewigkeit saß sie

wieder auf einem Pferd: »Im Galopp durch

die Wälder pfeifend, das war ein Hochgefühl

wie Achterbahnfahren. Die pure Freiheit.«

Nie wäre Katrin Bernat aber auf die Idee

gekommen, ihren Beruf aufzugeben. »Ich

konnte nicht loslassen. Da war das Geld, die

sichere Position, das Souveräne und Anerkannte.

Ich wollte mir nicht zugestehen,

etwas zu zerstören, was ich mir aufgebaut

hatte.«

Als Corona zuschlug, hielt die erste Soforthilfe

sie finanziell über Wasser. Drei Monate

lang hoffte sie, dass sich die Lage wieder normalisieren

könnte. Danach ging alles ganz

schnell. »Ich habe Corona als ein Zeichen gesehen.«

Sie fragte sich: Was machst du gern?

Reiten, bei den Tieren sein. Kannst du dir

vorstellen, das zu deinem Job zu machen? Ja.

Sie kaufte einen Transporter, für 60 000

Euro. Sie bastelte eine Website für ihren

Shuttleservice, veröffentlichte ihr Angebot,

seitdem wird sie gebucht.

Katrin Bernat hat sich einen Mädchentraum

erfüllt. Ihr neuer Beruf ist nicht so lukrativ

wie der alte, und da sind Momente, in

denen sie sich fragt, ob ihr Geschäftsmodell

funktionieren wird. Aber ein Zurück in die

Buchhaltung gibt es für sie auf keinen Fall.

Sie sagt, dann rüste sie den Transporter lieber

um zum Eiswagen.

Ohne die Coronakrise wäre Katrin Bernats Neuanfang

nicht möglich gewesen. So ist das oft.

Krisen decken Nöte auf, sie fordern den Neuanfang

heraus. Das muss nicht immer so gut ausgehen

wie bei Bernat. Ein Neuanfang kann auch

scheitern, und dann ist es oft furchtbarer als vorher,

weil neben dem Leben im Alten und Unerwünschten

noch die Illusion verloren gegangen

ist, dass es anders sein könnte.

Manchmal machen Katastrophen nicht nur

den persönlichen, sondern auch einen gesellschaftlichen

Neustart notwendig – Corona

oder der Klimawandel etwa. Ein neuer Impfstoff,

neue Technologien, neue Arbeits- und

Verhaltensweisen müssen her. Zumeist aber

20 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


TITEL

Gordon Welters / DER SPIEGEL

Katrin Bernat, 42

»Ich habe Corona als Zeichen gesehen.« Das sagt die ehemalige Buchhalterin über

ihre Entscheidung, sich ihren Jugendtraum zu erfüllen: Sie hat aus ihrer Leidenschaft

für Pferde einen neuen Beruf gemacht.

kommt der Impuls zum Neuanfang von innen,

weil ein Mensch sich entweder danach sehnt,

ein anderer zu werden, oder endlich derjenige,

der er immer schon sein wollte. Bei Katrin

Bernat wurde der Anstoß von außen verstärkt

durch einen inneren Wunsch.

Endlich den Beruf wechseln. Endlich die

interessante Frau sein. Endlich abnehmen.

Endlich aufhören zu rauchen. Endlich mit

dem Sport anfangen. Endlich den Tanzkurs

machen. Endlich den Motorradführerschein.

Endlich dorthin ziehen, wo man immer schon

leben wollte. Endlich den verlorenen Freund

um Verzeihung bitten. Endlich der intriganten

Kollegin sagen, dass man sieht, was sie tut.

Endlich Mutter werden. Sich endlich von dem

Gedanken verabschieden, dass Mutterschaft

zu einem glücklichen Leben dazugehört. Endlich

die Lebenslüge loswerden.

Silvester ist so eine Zäsur von außen, die

diese Sehnsüchte befördert. Das Wort »endlich«

gehört zu Silvester wie die perlenden

Getränke. Sehr oft bleibt es dann beim Träumen,

man sieht sich vor dem inneren Auge

an der Seite eines neuen Partners, in einem

schöneren Körper, mit einem aufgefrischten

Ich. Schon solche Traumgebilde können die

Psyche entlasten und die Lage, wie sie nun

mal ist, stabilisieren. Sehr bald mit dem neuen

Leben anfangen zu wollen, nur noch nicht

jetzt, kann auch heißen, es praktisch nie zu

tun – und trotzdem ganz gut durchs eigene

Leben zu kommen.

Doch dieses ewige Leben im Konjunktiv,

dieses Hätte-könnte-würde kann auch so bedrängend

werden, dass es zum Absprung ins

Ungewisse kommt. Der Sozialpsychologe

Harald Welzer rät in einem Bestseller dieses

Bücherherbstes, den Mut dafür aufzubringen.

Am Anfang der Coronakrise hatte Welzer

einen Herzinfarkt. Er überlebte ihn knapp.

Es war Zufall, dass mit dem Herzinfarkt

seine eigene kleine Welt stillstand, während

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

21


TITEL

die Deutschen den ersten Lockdown

erlebten. Weil seine individuelle Erfahrung

mit dem kollektiven Trauma

zusammenfiel, machte er aus der Not

eine Tugend, schrieb das Buch »Nachruf

auf mich selbst« und ruft darin

zum persönlichen und gesellschaftlichen

Neustart auf: Memento mori,

gedenke des Todes, so klingt sein Appell.

Die logische Folgerung lautet, sich

jetzt schon zu fragen: Wer möchte ich

gewesen sein, um daraufhin das Leben

zu ändern: »Es gibt ein Leben vor

dem Tod. Und nur da«, schreibt Welzer.

»Die Zeit der Veränderung ist die

Gegenwart, nicht die Zukunft.« Und:

Mit Konjunktiven komme man nicht

weiter. »Das Wort ›eigentlich‹ ist zu

vermeiden.«

Das Wort »endlich« drückt das

Wissen darum aus, dass aller Anfang

verheißungsvoll ist. Das Wort »eigentlich«

drückt die Ahnung aus, dass

aller Anfang schwer ist. Es geht beim

Neuanfang um Zauber und Elend,

Lust und Angst, Chance und Gefahr.

Das Wort »Neuanfang« ist eine Tautologie,

jeder Anfang ist neu. Vielleicht

hat man die beiden Wörter irgendwann

miteinander verbunden,

um festzuhalten, dass es hier um

einen echten Akt geht, um etwas Ungeheures,

etwas Schönes, das zugleich

auch des Schrecklichen Anfang sein

kann. Denn so kraftvoll und klar die

Wortzusammensetzung erst einmal

klingt, sagt sie eben doch etwas Doppeltes

aus: den Sprung ins Nichts, zu

dem das Zaudern dazugehört.

Den Neuanfang, den Sprung, endlich

hinter sich zu haben, so lautet

wohl die eigentliche Sehnsucht. Aber

hat man den einen Neuanfang hinter

sich, steht irgendwann der nächste an.

Selbst die Beständigen, Zufriedenen,

Glücklichen erleben regelmäßig Zäsuren.

Neuanfänge gehören zum

Leben. Geboren werden, sich lösen

aus dem Elternhaus, Kindergarten,

Schule, Ausbildung, Beziehung, Elternschaft,

Altenheim und dann: ja,

was? Das Leben nach dem Tod? Das

ist zwar nicht sehr wahrscheinlich,

aber nahezu alle Religionen erzählen

davon: Wiedergeburt, der Jüngste

Tag und was es nicht alles für Ideen

gibt.

Nicht nur das eigene Leben ist immer

wieder vom Schock und der

Chance des Neuanfangs betroffen.

Zweierbeziehungen trifft es genauso.

Der eine trennt sich, der oder die andere

muss daraufhin ebenfalls neu

anfangen, hilft ja nichts. Auch übergeordnete

Bereiche funktionieren nur

über Neuanfänge. In der Demokratie

werden sie durch Wahlen vollzogen.

Wer sich Wahlen stellt, weiß, dass das

Politiker Christian

Lindner, Annalena

Baerbock, Scholz

bei Unterzeichnung

des Koalitionsvertrags

am

7. Dezember: Start

mit Schwung

und Schmerzen

»

Die Zeit

der Veränderung

ist

die Ge ­

genwart,

nicht die

Zukunft.«

Harald Welzer,

Sozialpsychologe

Sven Döring

Erfolg haben oder zur Blamage werden

kann. Ein Koalitionsvertrag, eine

Regierungserklärung formuliert aus,

was nun für alle neu werden soll.

Selbst diejenigen, die sich an Silvester

keine Vorsätze auferlegt haben,

die nicht von Trennung träumen

oder von ihr ereilt werden, selbst diejenigen,

denen nichts ferner liegt als

der Gedanke an einen Berufswechsel,

auch diejenigen, die sich von Politik

kaum betroffen fühlen – sie alle ahnen,

dass es nach der Coronakrise

nicht so weitergehen wird wie vorher.

Wir haben uns längst verändert. Es

gibt kein Zurück ins alte Normal.

Auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt

zeigen sich durch Corona enorme

Umbrüche – vor allem wegen der

Erfahrungen im Homeoffice. Laut der

US-Statistikbehörde für Arbeit haben

noch nie so viele Menschen von sich

aus ihren Job gekündigt. Im Oktober

allein waren es gut vier Millionen.

Viele haben im Homeoffice, wo sie

nicht Minute für Minute von Kollegen,

von Chefinnen umgeben sind,

darüber nachgedacht, was sie sich von

ihrem Leben wünschen und ob es

nicht erfüllendere Aufgaben gibt.

Hinzu kommen all jene in den

schlecht bezahlten Serviceberufen,

die keine Lust mehr verspüren, sich

für wenig Geld einer Lebensgefahr

auszusetzen. Nun wächst der Druck

auf die Arbeitgeber, für bessere Bedingungen

zu sorgen und die Hireand-fire-Kultur

zu überdenken.

Zwar sind Amerikaner mehr Veränderung

gewohnt als Deutsche, sie

ziehen häufiger um, wechseln regelmäßig

ihre Jobs. Aber auch hierzulande

denken Unternehmen um und

übernehmen dafür Wörter aus dem

Amerikanischen: remote (nicht in unmittelbarer

Nähe befindlich, aber miteinander

verbunden), hybrid (mal so,

mal so, mal zu Hause, mal im Büro).

Neue Wörter, neues Leben. Und die

Marco Urban

Fantasien der Arbeitnehmer blühen

bereits. Ein Büro am Strand, am Steg

oder in den Bergen – wie schön das

wäre. Das Büro sitzt bei vielen ja sowieso

schon auf dem Schoß, in Form

eines Laptops.

Noch vor einem Jahr zu Silvester

sah es so aus, als wäre der schlimmste

Teil der Pandemie bald vorbei, der

erste Impfstoff war da. Heute ist klar,

dass das Schlimmste damals erst bevorstand.

2020 sind hierzulande

mehr als 30 000 Menschen im Zusammenhang

mit dem Virus gestorben,

in diesem Jahr waren es weit

über 70 000. Vergangenes Jahr an

Weihnachten schockierte noch eine

Sieben-Tage-Inzidenz von 196, Ende

November hatten sich die Deutschen

an knapp die doppelte Höhe gewöhnt.

Die Luftwaffe verteilt Schwerkranke

in der Republik, um überfüllte

Kliniken zu entlasten. Andere Soldaten

sind zur Unterstützung im Einsatz

am Boden. Ein Land in Not, dem

die Bundesregierung schon wieder

Kontaktbeschränkungen auferlegt.

So schnell also war der Neuanfang

nicht zu haben. Die Coronavarianten

Delta und Omikron spielen ein böses

Spiel mit den Menschen. Wir haben

uns aber auch in uns selbst getäuscht.

Etliche freuen sich nicht über das

Wunder des schnell herbeigeschafften

Impfstoffs, sondern empfinden gerade

das als unheimlich. Feindselig stehen

sich die Impfgegner und die Impfbefürworter

gegenüber. Letztere sehen

in den Impfgegnern die Zerstörer

des Neuanfangs.

Trotz der Enttäuschungen gibt es

erneut Anlass zur Hoffnung. Gerade

kommen Medikamente gegen Covid

auf den Markt, und die Impfstoffhersteller

entwickeln angepasste Impfstoffe

gegen die neuen Varianten.

Auch der erste Totimpfstoff ist seit

dem 20. Dezember in der EU zugelassen.

Der Impfstoff des Unternehmens

Novavax könnte Gegner der mRNAund

Vektor-Vakzinen dazu bringen,

sich doch noch impfen zu lassen.

Stehen wir nun also wirklich an

einem Neuanfang? Endlich? Und was

haben wir dafür in dieser Krise über

uns selbst gelernt?

Ganz sicher schon mal das eine:

dass ein rascher Wechsel vom

Schlechten ins Gute kaum möglich

ist. Menschen sind einfach zu kompliziert

dafür. Sie sind in der Lage, die

Voraussetzungen für einen Neuanfang

zu schaffen, aber danach verlieren

sie oft Zeit und stellen sich die

größten Hürden selbst. Nicht selten

können mehrere Anläufe nötig werden.

Manchmal ist es zum Verzweifeln.

Aber zu verzweifeln, das wäre

22 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


TITEL

nur die eine Option. Sich mit dem

Mechanismus von Neuanfängen zu

beschäftigen ist die andere. Sie bedeutet,

ideale Vorstellungen mit der

Realität abzugleichen. Und damit

wäre schon viel erreicht. Denn so bewahrt

man sich vor Täuschungen, vor

zu hohen Erwartungen.

In der Politik wird von neuen Anfängen

zumeist Großes erwartet. Möglichst

die Rettung. Besonders in dieser

Zeit, da sich wirklich etwas verändern

muss. Da die Erwartungen hoch

sind, sind auch jetzt schon die Enttäuschungen

über die neue Regierung

groß. Obwohl mit und nach den

Wahlen so viel Sensationelles passiert

ist.

Die im Sommer noch tot geglaubte

SPD stellt den deutschen Regierungschef.

»Scholz nutzte die Chance,

die er nicht hatte«, schrieb die

»Frankfurter Allgemeine«. Er hat die

SPD neu erfunden und eine Machtkonstellation

geschaffen, die es in der

Bundespolitik noch nicht gab: eine

Ampelkoalition. Olaf Scholz hat zum

ersten Mal ein mit Männern und

Frauen paritätisch besetztes Kabinett

durchgesetzt, zum ersten Mal mit

einem Bundesminister mit türkischem

Migrationshintergrund und

zum ersten Mal mit einer Außenministerin.

Es ist ein ungewöhnlich junges

Kabinett, der Altersschnitt liegt

bei gut 50 Jahren. Und es ist ein ungewöhnlich

junges Parlament: Der

Schnitt liegt bei 47 Jahren.

Neben allem Guten bringt dieser

politische Neuanfang auch Schwieriges

mit sich. Die Regierung startet

nicht nur in der schlimmsten Gesundheitskrise

seit dem Zweiten Weltkrieg,

sie hat auch schon für Verwirrung

gesorgt, bevor sie anfing: Sie war

für das Aussetzen der »epidemischen

Lage von nationaler Tragweite« verantwortlich,

die rechtliche Grundlage

für viele Coronabeschränkungen. Sie

kündigte eine Impfpflicht an, obwohl

sich ihre Leitfiguren zuvor dagegen

ausgesprochen hatten. Auf den Straßen

formiert sich massiver Protest

gegen die Impfpflicht, die Spaltung

des Landes vertieft sich.

Aber vielleicht müssen wir aus

dem Verlauf der Pandemie, aus diesem

Vor und Zurück, das sie uns auferlegt

hat, einfach neue Maßstäbe für

die Beurteilung von Politik akzeptieren:

Es geht nicht mehr alles glatt,

schon gar nicht, wenn eine neue Regierung

beginnt. Es fehlt ihr die Erfahrung.

Auch Bundeskanzler Olaf

Scholz ist trotz seiner langen Zeit in

der Spitzenpolitik ein Novize im

Amt.

25 %

der Abgeordneten

im neuen

Bundestag

sind jünger

als

40 Jahre.

Quelle: Deutscher

Bundestag

Armin

Grau, 62

Der Arzt und

Klinikleiter hat sich

für ein neues Leben

in der Politik

entschieden. Er sitzt

für die Grünen im

Parlament und

möchte Erfahrungen

aus seinem Beruf

nutzen, um die

Gesundheitspolitik

zu verbessern.

Vor Kritik darf ihn das nicht bewahren.

Kritik gehört zum Wesen

der Demokratie. Sie setzt an beim

Schlechten, damit es besser wird, sie

macht den Neuanfang, die Korrektur,

das Ablassen vom Falschen erst möglich.

Das unterscheidet sie von der

Argumentationsweise der Polarisierer.

Die kritisieren nicht, die lehnen

ab. Und verhindern den Neuanfang.

Viele Menschen, die sich politisch

engagieren, tun das, weil sie Kritik an

den bestehenden Verhältnissen üben

wollen.

Armin Grau zum Beispiel ist neu

im Bundestag. Für die Grünen. Er ist

62 Jahre alt. Und Mediziner. 35 Jahre

lang arbeitete er in verschiedenen

Kliniken, in den vergangenen fast

20 Jahren leitete er die Neurologische

Klinik am Klinikum Ludwigshafen.

Grau sagt zu seinem Neuanfang: »Ich

möchte die Erfahrungen, die ich in

meinem Job gesammelt habe, und

meine eigene Analyse zu den Fehlentwicklungen

dazu nutzen, Reformen

mit anzustoßen.« Jetzt ist er

Mitglied im Gesundheitsausschuss.

In seiner Arbeit dort geht es ihm besonders

um das Krankenhauswesen

und dessen Finanzierungsprobleme.

Für ihn ist »der Einfluss von Pflege

und Ärzteschaft in den Krankenhäusern

zu schwach und die Dominanz

wirtschaftlicher Überlegungen zu

groß«. Mit seinem Mandat hat Grau

einen Hebel in der Hand, um etwas

zu ändern. Sein persönlicher Neuanfang

könnte kleine Neuanfänge in

seinem Fachgebiet möglich machen.

In der neuen Regierung hat die

Kritik an der abwartenden Krisenabwehr

der Ära Merkel, hat dieser

erkennbare Überdruss am Alten

den Willen zum Neuanfang erst möglich

gemacht. Im Koalitionsvertrag

kommt er zum Ausdruck. Er setzt

voraus, dass wir alle mit Veränderungen

konfrontiert werden. Sollte das

darin festgehaltene Vorhaben wahr

werden, eine Industrienation in ein

klimagerechtes Vorzeigeland umzuwandeln,

werden das alle spüren,

werden alle umdenken müssen.

Aber was bedeutet es, wenn Politik

konkret wird? Etwa in der Ökonomie?

Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer,

Expertin für Innovationsforschung,

sagte in einem Interview

(SPIEGEL 50/2021) über den Koalitionsvertrag:

Das darin versprochene

»Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen«

sei »ein hoffnungsvolles Signal.

Die neue Regierung verspricht einen

gewissen Spirit, allein mit dem Motto:

›Mehr Fortschritt wagen‹.« Zugleich

warnt Schnitzer, dass die Veränderungen

den Menschen einiges abverlangen

werden.

Wer die Natur schützen will, wird

Windräder in Kauf nehmen müssen.

Wer die Verkehrswende befürwortet,

sollte über Sinn und Unsinn des

eigenen Autos nachdenken, jedenfalls

diejenigen, die in der Großstadt

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

23


TITEL

leben. Schon wieder: ein Neuanfang mit

Schwung – und Schmerzen.

Man sollte meinen, Deutschland, eine der

wohlhabendsten Nationen der Welt, hätte

beste Voraussetzungen für einen ökologischökonomischen

Neuanfang. Stimmt ja auch.

Allein, die innere Verfasstheit lässt zu wünschen

übrig. Wissenschaftlerin Schnitzer hat

eine Erklärung für die Zögerlichkeit der Deutschen:

»Wir kennen das Problem aus der Innovationsforschung

gut. Wenn ich ein funktionierendes

Geschäftsmodell habe, fehlt der

Anreiz, etwas neu zu machen. Beispiel Automobilbranche:

Der Verbrennungsmotor ist

ein Exportschlager. Warum also soll man auf

eine neue Technologie setzen, wenn man damit

nur andere Autos verkauft, aber nicht

unbedingt mehr? Wir haben in Deutschland

eine funktionierende Industrie. Dieser Erfolg

hat den Blick dafür verstellt, dass wir uns

weiterentwickeln müssen.«

Not macht erfinderisch. Das klingt zynisch,

trifft aber häufig zu. Aus notleidenden Ländern

kann viel Kraft kommen, wenn die wohlhabenden

Länder sie nicht in der Not versinken

lassen. Das wurde auch in der Flüchtlingskrise

häufig übersehen.

Im Spätsommer ging die Geschichte von

Syed Ahmad Shan Sadaat um die Welt: Das

Schicksal des früheren afghanischen Kommunikationsministers,

der Ende 2020 vor den

Taliban nach Deutschland floh und als Fahrradkurier

bei Lieferando in Leipzig anheuerte,

berührte viele. In Interviews schilderte Sadaat,

wie er nach seiner Kindheit im abgelegenen

Dorf Qala Shahi als junger Mann in Oxford

studierte und dann in London Karriere machte,

später nach Kabul zurückkehrte und Mitglied

der Regierung von Präsident Ashraf Ghani

wurde. Dem SPIEGEL sagte er jetzt: »Die

Härte des Lebens hat mich stark gemacht.«

Seit Kurzem hat er eine Festanstellung bei

einem Schutzmaskenhersteller im sächsischen

Markrandstädt. Im Januar soll Sadaat gemeinsam

mit seinen neuen Kollegen eine weitere

Firma aufbauen – und dort das tun, was er

schon als Minister in seiner Heimat mit großer

Leidenschaft versuchte: Funklöcher stopfen.

In ganz Deutschland, so stellt er sich das vor,

könnte die Netzabdeckung mit seiner Hilfe

verbessert werden. »Das«, sagt Sadaat, »ist

eine Aufgabe für Jahre.«

Er selbst soll mit zehn Prozent an der neuen

Firma beteiligt werden, sein Chef hält das

für eine gute Motivation. An der mangelt es

Sadaat ohnehin nicht. Er möge seinen neuen

Job und die netten Kollegen, sagt er, die Möglichkeit,

etwas Neues aufzubauen.

Sich weiterentwickeln, den Neustart wagen

– Sadaat scheint das zu gelingen, auch

weil er Not erlebt hat. Was ihm derzeit am

meisten fehlt: seine Familie. Seit er im Dezember

vor einem Jahr nach Deutschland

kam, bemühe er sich darum, sie nachzuholen.

Woher kommt eigentlich die weitverbreitete

Vorstellung, ein Neuanfang müsse leicht

sein? Warum werden die Schmerzen, die er

oft kostet, häufig ausgeblendet? Die Erklärung

liegt nahe. Wer sich die Schwierigkeiten

zu sehr klarmacht, würde vielleicht nicht

springen.

Denn wir sind geprägt von den üblichen Erzählweisen,

die linear verlaufen, einen Anfang

definieren und ein Ende. Und sowohl im Märchen

als auch im Hollywoodfilm sind wir aufs

Happy End konditioniert. Ein Neuanfang darf

schon turbulent sein, solange alles erfreulich

ausgeht. Ende gut, alles gut.

Selbst komplexe Entwicklungen werden

häufig in stimmige Muster mit klar definiertem

Neuanfang und einem fassbaren Ende gepresst.

Wir teilen den Verlauf der Menschheitsgeschichte

in solche Epochen ein. Nach der

Antike kommt das Mittelalter, nach dem Mittelalter

die Neuzeit. Nach der Klassik die Romantik.

Und so weiter. Wir reihen Neuanfang

an Neuanfang an Neuanfang. Und suggerieren

den unmittelbaren Wechsel. Es war aber ein

langer Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit.

Die frühe Neuzeit stand dem Mittelalter

in seiner Brutalität in nichts nach. Und doch

brach da etwas auf, nach und nach wurden die

Zeiten anders und in vielerlei Hinsicht besser.

Menschen neigen dazu, die diffusen Übergänge,

die zu so manchem Anfang gehören,

auszublenden. Übergänge sind kompliziert.

Zu ihnen gehört ein Vor und Zurück. Manchmal

fehlt die Geduld, sich das auszumalen.

Syed Sadaat, 50

Der frühere afghanische Kommunikationsminister

floh vor den Taliban nach Deutschland,

arbeitete hier bei Lieferando und soll

Anfang 2022 eine neue Firma mitaufbauen.

Auch etwas anderes ist für den Menschen

schwer oder gar nicht vorstellbar: Unendlichkeit

in Zeit und Raum. Deswegen brauchen

wir anscheinend unbedingt eine klare Vorstellung

vom Beginn allen Seins. In der christlichen

Erzähltradition wird der Anfang der

Welt mit dem typischen Gegensatz von Dunkel

und Hell beschrieben – symbolisch für

den Wandel vom Schlechten zum Guten. In

der biblischen Schöpfungsgeschichte heißt

es: »Im Anfang erschuf Gott Himmel und

Erde. Die Erde war wüst und wirr und

Finsternis lag über der Urflut und Gottes

Geist schwebte über dem Wasser. Gott

sprach: Es werde Licht.« So beginnt das Alte

Testament.

Im Neuen Testament wird das Dunkel-

Hell-Motiv der Schöpfungsgeschichte aufgegriffen.

Der Tod ist kein absolutes Ende, selbst

danach wird ein Neuanfang möglich, die Auferstehung.

Schon wieder: vom Dunkel ins

Licht.

Das Dunkel-Hell-Motiv taucht dann auch

in der Geschichtsschreibung auf. Die Aufklärung

– englisch: Enlightenment – steht für

einen Neuanfang im Denken: die Erleuchtung

durch wissenschaftliche Erkenntnis.

Selbst in der Zeitgeschichte neigen wir

dazu, die Grautöne, Schattierungen, die ein

Neuanfang mit sich bringt, zu ignorieren, und

beschreiben jähe Übergänge. Obwohl Zeitzeugen

erzählen können, dass es anders war.

Wie lang ist zum Beispiel der 8. Mai 1945,

die Befreiung Hitler-Deutschlands durch die

Alliierten, als »Stunde null« beschrieben worden,

als Neuanfang nach dem totalen Untergang.

Ganz so einfach war es nicht. Nazis

gelangten in der Bundesrepublik in hohe

Jasmin Zwick

24 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Positionen, es war ein Neuanfang mit

Übergängen und Grauzuständen,

ohne dass diese unbedingt als solche

wahrgenommen wurden. Das allmähliche

Bewusstsein der Schuld in

den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren

machte erst einen Neuanfang

in der Auseinandersetzung

möglich.

Die bekannten Erzählungen vom

jähen Ende des Alten und dem plötzlichen

Beginn des Neuen in der Kulturgeschichte,

in der politischen Geschichte,

in den Sagen und Mythen

haben auch die Vorstellungen davon

geprägt, wie der Neuanfang im eigenen

Leben sein sollte. Natürlich kann

man ahnen, dass gerade im Persönlichen

Übergänge Zeit brauchen, dass

sie anstrengend sind, dass sie nie

ganz – und sicher nicht ganz schnell –

die Erlösung vom Alten mit sich bringen.

Und doch verlocken einen immer

wieder die Erzählungen, die nahelegen,

dass der Wandel leicht sein

könnte, dass sich nach dem Dunklen

des Alten sofort das Helle des Neuen

einstellen würde.

Berater, Coaches und Esoteriker – das

Geschäft mit dem Neuanfang floriert;

und Geschäfte macht nur, wer Verlockendes

verheißt. Seit die Zeiten

individualistischer geworden sind, gilt

es nicht zuallererst die Erwartungen

der Gesellschaft zu erfüllen, sondern

die Erwartungen des Ichs an sich

selbst. Die Begleiter und Helfershelfer

des Neuanfangs können daran gut

verdienen: Erfülle dich, blühe auf,

wachse – so lautet heutzutage der Anspruch.

Wer noch nicht seinem Ideal

entspricht, hat sich auf den Weg zu

machen, um sich selbst zu vervollkommnen.

Von diesem Zeitgeist, von den Verheißungen

des Neuanfangs profitieren

unzählige Ratgeber. Wie gehen

die Profiteure vor?

»Lebenshilfe«-Bücher sind laut

dem Börsenverein des Deutschen

Buchhandels die zweitgrößte Gruppe

im Segment »Ratgeber«. Die Titel

ähneln sich: »Trennungsschmerz und

Neubeginn: Wie aus Abbrüchen Aufbrüche

werden«. Oder auch mal deftiger:

»Betrogen, belogen, verarscht

und verlassen – Das Mutmachbuch

für deinen Neubeginn«.

Aktuell liegt in der »Ratgeber«-

Sparte der SPIEGEL-Bestsellerliste ein

Buch auf Platz zwei, das mit der sogenannten

Ein-Prozent-Methode seinen

Lesern zu zeigen verspricht, wie

sie mit minimalen Veränderungen eine

»maximale Wirkung« erreichen – ein

totaler Neustart, mit möglichst wenig

Aufwand.

Viele der Angebote liegen irgendwo

zwischen Kant und Kalenderspruch.

Der Übergang von Wissenschaft

zu Esoterik scheint fließend –

da ist etwa der studierte Philosoph

und Soziologe Dirk Gemein, der sich

»Achtsamkeitscoach und Glückslehrer«

nennt. Er wirbt damit, dass er

unter anderem bei einem Zen-Meister

gelernt habe, der zahlreiche Bücher

geschrieben habe. »Der Weg zur Veränderung

liegt in dir«, behauptet er

auf seiner Homepage, die ihn von

Kerzen umringt zeigt, auf den Knien

sitzend, sich verneigend, als würde er

beten.

In einem Video verspricht er, mit

einem »15-Sekunden-Glücks-Test«

den Zuschauern zu sagen, ob sie einen

Fahrplan für ihr Leben haben. Der

Test besteht darin, die Augen zu

schließen, einmal tief ein- und auszuatmen

und im Kopf den Satz zu vervollständigen:

»Glück ist …« Wer

mehr will, kann im »Grundkurs Level

1 Online« die Grundlagen der Achtsamkeit

und Meditation erlernen, für

249 Euro.

Ruft man ihn an, bietet er einem

sofort das Du an. »Die Leute hören

mir zu, weil sie wissen, dass ich das

nicht an der Uni gelernt habe, sondern

selbst dieses Tal durchschritten

habe.« Er erzählt, er habe vor Jahren

ein Blutgerinnsel im Kopf gehabt, sei

ins Krankenhaus gekommen, habe

mit Depressionen gekämpft und versucht,

sich umzubringen.

Psychotherapie habe ihm nicht geholfen,

stattdessen habe er sich einen

Rucksack und ein Ticket nach Bangkok

gekauft und ein halbes Jahr in

Asien verbracht, um dort zu meditieren.

Jetzt coache er Kinder, Erwachsene

und Familien in Achtsamkeit

und Glücksfindung. Er biete seine

Kurse auch Unternehmen wie dem

ADAC, Thyssenkrupp und Creditreform

an, schiebt aber sofort hinterher:

»Ich arbeite nicht mit Firmen,

sondern nur mit Menschen.« Tausenden

Menschen habe er schon geholfen,

sagt er.

Er sei ein Achtsamkeitslehrer und

meint von sich, er mache »im Prinzip

das Gleiche wie Psychotherapie«.

Was er aber dann aufzählt, unterscheidet

sich grundlegend davon:

»Ich gebe Kurse, Vorträge, Seminare,

und das ist nichts anderes als strukturiertes

psychologisches Coaching

auf Basis von Achtsamkeit.«

Vor einigen Jahren feierte die japanische

Autorin Marie Kondo erste

Erfolge. Inzwischen verkaufte sie ihr

Buch »Magic Cleaning: Wie richtiges

Aufräumen Ihr Leben verändert«

mehr als 13 Millionen Mal, es wurde

»Wenn ich

ein funktionierendes

Geschäftsmodell

habe, fehlt

der Anreiz,

etwas

neu zu

machen.«

Monika Schnitzer,

Expertin für Innovationsforschung

Dirk Bruniecki / DER SPIEGEL

TITEL

in 44 Sprachen übersetzt. Sie erklärte

darin, wie man Ordnung in sein

Leben bringt, indem man sich von

den Dingen trennt, die einem eigentlich

egal sind.

Inzwischen gibt es Kondos Buch

auch als Netflix-Serie und Manga, es

gibt einen zweiten Teil (»Spark Joy«)

und eines, das dafür gedacht ist, auch

das Berufsleben in Ordnung zu bringen.

Die Frau, die damit erfolgreich

wurde, anderen beizubringen, wie sie

sich von Krimskrams trennen, verkauft

inzwischen selbst Krimskrams:

Aromadiffusoren, Teekannen, eine

Klanggabel und Quarzkristalle.

Kondo ist eine der bekanntesten

unter den sogenannten Ordnungscoaches.

Auch in Deutschland gibt es

solche Angebote: das eigene Leben

umzukrempeln, indem man zu Hause

ausmistet. In Onlinekursen soll

man etwa mithilfe der »3 Schubladen

Methode« (»einmalig nur 37 Euro«)

erlernen, strukturiert Ablage zu

machen.

Das Ziel ist dabei nicht allein, endlich

in einem aufgeräumten Haushalt

zu leben, sondern durch die Ordnung

des Heims zu einer inneren Ordnung

zu gelangen. Die soll dann helfen, das

Leben in den Griff zu kriegen und

geläutert in ein neues zu starten.

Das Angebot an pastellfarbenen

Websites, auf denen freundliche Männer

und Frauen versprechen, die Antwort

auf die Frage nach dem gelingenden

Neustart zu haben, scheint

unendlich. Doch die Kundenbewertungen,

die sich zu den Büchern und

Kursen finden, zeigen meist ein gemischtes

Bild. Der eine schreibt: »hat

mein Leben verändert«, die andere

ist enttäuscht: »billige Pseudowissenschaft«.

Nicht alles passt zu jedem.

Was einfach klingt, ist eben kompliziert.

Es ist ein interessantes Paradox:

Individualisierte Zeiten fordern dazu

auf, das ideale Ich zu entdecken und

zu entwickeln. Aber nimmt man Individualismus

ernst, braucht es auch

individuell zugeschnittene Rezepte.

Die zehn besten Ratschläge können

nicht für jede und jeden die besten

sein.

Manche Menschen, die ihr Leben

ändern wollen, suchen auch nicht unbedingt

nach Erleichterung, Vereinfachung.

Sie suchen die Herausforderung,

das Komplizierte. Weil sie hoffen,

sich dadurch zu entwickeln.

So wie André Nagel. Der Anfang

Dreißigjährige wohnte noch Anfang

dieses Jahres in Hamburg. Nagel hat

eine Muskelschwäche und hatte 2005

eine Herztransplantation, seitdem

sitzt er im Rollstuhl. Im Wohnheim

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

25


TITEL

LEBEN

»Viele würden gerne den

Reset-Knopf drücken«

Wer einen frischen Anfang wagen will, braucht Kraft – aber was noch?

Persönlichkeitsforscher Rainer Riemann, 66, über Schicksalsschläge, Gene

und darüber, welche Charktereigenschaften man für einen Neustart braucht.

SPIEGEL: Herr Professor Riemann,

Sie untersuchen unter anderem, wie

Gene und Charaktereigenschaften

unsere politische Orientierung beeinflussen.

Das klingt, als wären wir

Menschen ziemlich festgelegt. In

diesen Tagen hoffen viele auf einen

Neuanfang. Ist so etwas möglich?

Riemann: Wir nehmen uns immer

wieder vor, einen völligen Neustart

zu machen. Viele würden gerne den

Reset-Knopf drücken. In seltenen

Konstellationen kann das wünschenswert

sein. Doch wir Menschen

werden mit bestimmten Anlagen

geboren. Im Laufe unseres

Lebens entwickeln sie sich. Wir

schreiben eine Lebensgeschichte

unter vielfältigen Einflüssen. Wenn

wir einen Neuanfang wagen, überlebt

ganz viel aus unserer Biografie.

Es ist nicht vorstellbar, uns komplett

neu zu erfinden. Das funktioniert

nicht.

SPIEGEL: Sie halten nicht viel von

den guten Vorsätzen zum Jahreswechsel?

Riemann: Ich habe selbst vor vielen

Jahren an Silvester mit dem Rauchen

aufgehört. Aber Umbrüche

dürfen nicht von außen an uns herangetragen

werden. Häufig gibt es

im Umfeld eine Erwartungshaltung.

Ein Neuanfang ist jedoch nur dann

realistisch, wenn die Idee dazu nicht

spontan kam und wenn er nicht das

ganze Leben betrifft. Er muss sich

auf konkrete Ziele beschränken. Das

Stichwort ist »Weiterentwicklung«.

Das kann beim Essen oder Rauchen

funktionieren, auch wenn man sich

etwa vornimmt, offener auf andere

Menschen zuzugehen.

SPIEGEL: Es gibt aber doch Brüche

im Leben, die über solche Kleinigkeiten

hinausgehen.

Riemann: Das sind dann vor allem

erzwungene Neuanfänge. Etwa

nach Todesfällen, wenn zum Beispiel

der Partner oder die Partnerin

Veit Mette / DER SPIEGEL

Psychologe

Riemann

Silvesterfeier in

Stuttgart 2017: »Wir

schreiben eine

Lebensgeschichte«

verstorben ist. Da müssen wir viele

Bereiche des Lebens neu entdecken,

neue Beziehungen knüpfen. Das ist

ein Neuanfang, den man sich nicht

ausgesucht hat. Auch die Menschen,

die in der Flutkatastrophe alles verloren

haben, sind dem ausgesetzt.

Starke Brüche gibt es zudem, wenn

man seine ganze Umwelt verändert,

also etwa in ein anderes Land mit

einer anderen Kultur zieht.

SPIEGEL: Gibt es Eigenschaften, die

solche Neuanfänge begünstigen?

Riemann: Die gibt es auf jeden Fall.

In der Forschung sprechen wir von

fünf Persönlichkeitsdimensionen,

Christoph Schmidt / dpa

drei davon sind hier relevant. Das

ist zum einen die Offenheit für neue

Erfahrungen. Hinzu kommt noch

Risikobereitschaft, wie man sie etwa

haben muss, wenn man sich selbstständig

machen will. Und zuletzt

Gewissenhaftigkeit. Man kann noch

so offen und risikobereit sein, der

Erfolg eines Neuanfangs hängt auch

davon ab, wie man solche Veränderungsprozesse

angeht, wie planvoll

und motiviert.

SPIEGEL: Welche Rolle spielen unsere

Gene?

Riemann: Unsere Gene sind für uns

immer wieder entscheidend, aber

sie sind eben kein Computerprogramm,

das genaue Verhaltensweisen

vorgibt. Es stimmt zwar, dass

Gene unser Potenzial bestimmen,

unsere Reaktionsweisen. Aber das

geht nicht so weit, dass sie konkrete

Handlungen beeinflussen. Bei einem

Neuanfang geht es häufig um

etwas sehr Konkretes. In Augenblicken

wie an Silvester spielen genetische

Einflüsse eine untergeordnete

Rolle. Was ich in solchen Situationen

tue, hängt häufig von aktuellen

Erfahrungen ab.

SPIEGEL: Mit zunehmendem Alter

spielen sich Verhaltensmuster ein.

Werden Neuanfänge leichter, weil

man sich im Alter selbst besser

kennt, oder schwieriger?

Riemann: Die Forschung geht nicht

davon aus, dass Veränderungen der

Persönlichkeit mit dem Alter abnehmen,

auch wenn junge Leute vielleicht

meinen, die Älteren wären

unflexibel. Es ist eher so, dass es im

Alter – etwa mit dem Ausscheiden

aus dem Job – mehr Flexibilität gibt.

Die Persönlichkeit verändert sich

wieder stärker, auch konkrete Verhaltensweisen.

Manchmal wachsen

wir automatisch in neue Rollen

hinein, wenn wir uns auf einmal

um Enkelkinder kümmern. Hinzu

kommt, dass wir im Alter häufiger

gezwungen sind, uns mit gesundheitlichen

Problemen auseinanderzusetzen.

SPIEGEL: Braucht es für einen Neustart

manchmal professionelle Unterstützung?

Riemann: Therapeutische Hilfe

kann mitunter sinnvoll sein. Manchmal

sind auch Gespräche mit anderen

hilfreich. Für die meisten Vorsätze

zum neuen Jahr braucht es das

natürlich nicht. Aber auch da ist es

gut, sich bei Familie und Freunden

Rat zu holen. Etwas Neues muss

auch im sozialen Miteinander gelingen.

Interview: Katharina Horban n

26 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


in Hamburg war immer jemand da,

der eine Flasche aufdrehen oder beim

Kochen helfen konnte.

Nagel mochte Hamburg, trotzdem

hielt ihn nicht viel dort. 2016 starb

seine Mutter an Krebs, es wurde einsamer.

Als die Republik in der zweiten

Coronawelle versank, fasste Nagel

den Entschluss: Er wollte nach Göttingen

ziehen, zum Rest der Familie.

Und als die dritte Welle das Land regierte,

fuhr Nagel die etwa 250 Kilometer

mit dem Zug gen Süden.

»Ich fange hier ein komplett neues

Leben an«, sagt er. In Göttingen hat

er nun eine eigene Wohnung, nur

sechs Stunden in der Woche kommt

Betreuung. Niemand, der immer da

ist, außer Onkel, Tante und Großmutter

in Notrufnähe. In Göttingen geht

Nagel in eine Tagesstätte, da gibt es

Mittagessen, Ergotherapie und Freunde.

Man verlerne viel, wenn man immer

Hilfe habe, sagt er. »Ich wollte

selbstständiger werden.« Das hat er

geschafft. André Nagel ist ein besonderer

Fall, aber alle Menschen sind

auf ihre Weise besonders.

Seriöse Berater wie die Psychotherapeutin

und Coachin Petra Jagow halten

deswegen nicht viel von Selbsthilfebüchern

als alleiniges Mittel. Zumindest

nicht, wenn man ernsthaft

etwas verändern wolle. Sie coacht

Menschen, die ihr Arbeitsleben umkrempeln

möchten, und sagt: »Wenn

die zu mir kommen, haben sie schon

viele Bücher gelesen und ihren ganzen

Freundeskreis und ihre Familie

genervt, weil sie die mit ihren Problemen

vollgeredet haben.«

Jagow schätzt, dass zehn Prozent

ihrer Kundinnen und Kunden einen

radikalen Neustart wollen. »Beliebt

ist Yogalehrerin, Heilpraktikerin oder

auf einer einsamen Insel Drehbücher

schreiben«, sagt sie, vor allem bei

Leuten aus der Medienbranche. »Wer

denkt, er müsse alles radikal ändern,

um endlich glücklich zu sein, hat ein

Problem: Man nimmt sich selbst ja

mit in den neuen Job und hat dann

dort dieselben Dinge, über die man

sich ärgert.«

Sie arbeite mit den Menschen

heraus, was sie eigentlich störe – ein

nerviger Chef oder unbefriedigende

Aufgaben. Und dann versuche sie

den Menschen zu vermitteln, eine

andere Haltung dazu zu finden. »Die

allermeisten Menschen sind aus guten

Gründen in den Job gekommen,

in dem sie sind: Sie können bestimmte

Dinge sehr gut, die dort gefordert

sind.«

Doch Corona hat viele Menschen

zu einem Neuanfang gezwungen.

Sandra Ferrari etwa, 46, hat fast ihr

ganzes Leben in Restaurants verbracht.

Ihr Vater betreibt ein italienisches

Lokal in der Mainzer Innenstadt.

Dort spielte sie schon als Kind

im Keller und versalzte mal aus Spaß

die Bolognese. Nach der Schule

machte sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau,

gegen den Willen ihres Vaters.

»Du musst immer arbeiten,

wenn andere frei haben«, habe er zu

ihr gesagt. Es war ihr egal. »Ich habe

die Gastronomie geliebt.« 20 Jahre

lang arbeitete sie als Kellnerin. Dann

kam der erste Lockdown. Das Lokal

schloss.

Zwei Wochen später saß sie mit

ihrem Partner auf der Terrasse beim

Kaffee, und er fragte sie: »Was machst

du, wenn das länger dauert?« Sie googelte

»Berufe mit Menschen« und

fand »Altenpflegehelferin«. Sie suchte

weiter: »Altenpflege, was muss

man da machen?« Sie las: Menschen

waschen, ihnen beim An- und Ausziehen

helfen, sie aus dem Bett und

wieder hineinhieven. »Da habe ich

erst mal geschluckt«, sagt sie.

Aber ihr Interesse war geweckt.

Sie schrieb drei Bewerbungen. Ein

oder zwei Tage später kam die erste

Antwort, erzählt sie: Vorstellungsgespräch.

»Ich habe direkt gesagt,

dass ich null Erfahrung in dem Beruf

habe.« Ihre zukünftige Chefin fragte

nur: »Zu wann könnten Sie denn anfangen?«

Zum 1. Mai 2020 war aus

der Kellnerin eine Altenpflegehelferin

geworden.

Ihr erster Arbeitstag begann um

6.15 Uhr. »So früh war ich nicht mehr

zur Arbeit erschienen, seit ich in meiner

Ausbildung den Frühstücksservice

gemacht hatte«, sagt sie. Mit

einer Kollegin ging sie von Zimmer

zu Zimmer, weckte die Bewohnerinnen

und Bewohner. Als Erstes stehe

bei vielen das Waschen an, sagt Ferrari.

»Kannst du das, oder kannst du

das nicht?«, fragte sich Ferrari selbst.

Neben dem Bett einer Bewohnerin

stand eine Waschwanne im Zimmer.

Ferrari zog der freundlichen Frau,

weit über 80, das Oberteil aus. Sie

wusch ihr die Arme, das Gesicht, den

Oberkörper. »Die extreme Körpernähe«

sei ihr zunächst noch schwergefallen,

gibt Ferrari zu. Vom Kellnern

war sie es gewohnt, höflich und

nahbar zu sein, einen Plausch zu halten.

Hier nun hatte sie Menschen vor

sich, die ohne sie hilflos waren.

Abends holte ihr Partner sie mit dem

Auto ab. »Und?«, fragte er. »War

okay«, sagte sie, wie sie sich erinnert.

»Aber ich habe die ganze Zeit den

Geruch von Urin in der Nase.« Sie

fuhren heim. Ferrari dachte nach und

Marie Kondo,

Ordnungscoachin

Ein aufgeräumter

Haushalt

soll dabei

helfen,

geläutert

in ein neues

Leben

zu starten.

Seth Wenig / AP

4,3

Millionen

Amerikaner

kündigten

laut US-

Arbeitsministerium

allein

im Oktober

2021

ihren Job.

TITEL

merkte: »Es fühlte sich alles gut,

machbar und okay an. Und so ging es

weiter.«

Ihr Herz hänge immer noch an der

Gastronomie. »Aber ich bereue es

nicht, den Wechsel gewagt zu haben«,

sagt sie. Sie hat das Unvermeidliche

genutzt, um sich weiterzuentwickeln.

Gerade macht sie einen Fernkurs,

um sich zur Betreuerin ausbilden zu

lassen.

Es ist eine Leistung, so souverän

eine Veränderung zu meistern. Nicht

jede und jeder kann das gleichermaßen,

die Forschung zeigt das. Gene

spielen eine Rolle und biografische

Besonderheiten (siehe Interview

Seite 26).

Welche Chancen und Hürden sehen

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

beim Neuanfang? In erster

Linie, so der Biologe und Hirnforscher

Gerhard Roth (SPIEGEL

CHRONIK 2021), agierten Menschen

impulsiv und nach Gefühl. 40 Jahre

lang untersuchte er mit Kollegen, wie

Einzelne und Gruppen mit Unsicherheiten

umgehen. Sein Fazit: Der

Mensch wolle Schutz und Sicherheit.

Gefühle und impulsive Reaktionen

seien die Antwort auf Unsicherheiten.

Rationalem weist er dabei eine weniger

große Bedeutung zu. »Der Verstand

und später die Vernunft haben

sich bei hoch entwickelten Tieren und

beim Menschen als Werkzeuge entwickelt,

mit denen sich Probleme

lösen lassen«, sagt Roth. »Aber sie

befriedigen weder elementare Bedürfnisse,

noch geben sie soziale

Sicherheit.«

Festhalten ist die Illusion von Sicherheit.

Der Neuanfang setzt voraus,

dass etwas Altes, Vertrautes losgelassen

wird. Sich von Vertrautem zu lösen

ist indes keine menschliche Stärke.

Je größer das Vorhaben für den Neuanfang,

umso schwieriger wird es.

Festhalten ist Sicherheit, Loslassen

ist Stress. Das Ende einer Liebesbeziehung

ist körperlich und seelisch

mit einem Drogenentzug vergleichbar,

fand ein Team um die US-amerikanische

Forscherin Helen Fisher

heraus. Der Dopaminspiegel sinkt

oder steigt in einigen Fällen so immens,

dass Menschen noch verliebter

sind, dass sie sich an die fast verlorene

Partnerin oder den Partner klammern,

dass sie festhalten.

Um das Loslassen zu überstehen,

braucht der Mensch das, was sich Resilienz

nennt: die Dicke des Tuchs, in

das man fällt, die psychische Widerstandsfähigkeit.

Ist das Tuch dünn

oder fest gewebt und sicher? Resilienz

meint somit auch den Prozess, das

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

27


TITEL

Loslassen zu verarbeiten. Der Mensch könne

Resilienz lernen, sagen Forscher. Manche Psychologen

und Ärztinnen sind der Meinung,

dass es wichtig sei, schon als Kind schwierige

Situationen zu durchleben, als Vorbereitung.

Die amerikanische Entwicklungspsychologin

Emmy Werner begann bereits 1955 daran

zu forschen, warum manche Menschen

resilienter sind als andere. »Selbstwirksamkeit«

lautet das Stichwort. Das Ergebnis ihrer

Langzeitstudie: Resilientere Menschen erkennen

die eigenen Bedürfnisse, sind selbstbewusst,

können Verantwortung übernehmen

und Ziele verfolgen, die sie als sinnvoll bewerten.

Und: Resiliente Menschen hatten in

der Kindheit meistens mindestens eine Vertrauensperson.

Selbst hinter dem kleinsten Vorhaben

steckt ein großes Sehnen: Letztlich geht es

immer darum, ein anderer Mensch zu werden.

Wer nicht sofort zur nächsten Zigarette greift,

sondern darum kämpft aufzuhören, ist schon

ein anderer geworden. Ein bisschen jedenfalls.

Wie aber ergeht es einem Menschen, der

das auf einer ganz anderen Ebene möchte?

Der sein Geschlecht anpassen möchte?

Da operative Geschlechtsangleichungen

heute medizinisch leichter möglich sind als je

zuvor und die Gesellschaft eine andere Toleranz

entwickelt hat, wagen wohl deutlich

mehr Menschen diesen Eingriff. Im Jahr 2020

wurden in deutschen Krankenhäusern 2155

operative Geschlechtsangleichungen durchgeführt,

2012 waren es noch 883.

Der Buchhändler, Autor, Blogger und Aktivist

Linus Giese, geboren 1986, hat sein

Coming-out als transgeschlechtlicher Mann

hinter sich. Er sagt einen Satz, der zu den

meisten Neuanfängen passt: »Es war kein

Aufbruch ins Glück, das sich sofort eingestellt

hat.« Sein neues Leben begann mit fünf Buchstaben.

Sie standen auf einem Pappbecher an

einem Mittwoch im Oktober 2017. In ihm: ein

Pumpkin Spice Latte. Auf ihm: schwarze Lettern,

geschrieben mit einem Filzstift. Als er

den Kaffee bestellte, hatte der Barista ihn

nach seinem Namen gefragt. Er nannte nicht

den Namen, der ihn bis dahin begleitete, seit

31 Jahren. Der in seinem Pass stand und auf

seiner Versichertenkarte. Er nannte nicht den

Namen einer Frau, sondern »Linus«.

Kurz danach machte er ein Foto des Bechers

und lud es auf Facebook hoch. Freundinnen,

Verwandte, Kollegen, auch seine Eltern

sollten es in den kommenden Stunden

und Tagen sehen. An diesem Tag im Oktober

begann für Linus Giese das öffentliche Leben

als transgeschlechtlicher Mann.

In den Wochen zuvor hatte er zum ersten

Mal in einer Herrenabteilung Kleidung gekauft.

Er hatte sich bei einem Herrenfriseur

zum ersten Mal einen Undercut schneiden

lassen. Hatte einem Freund zum ersten Mal

offenbart, dass er sich als transgeschlechtlicher

Mann fühlt. Und dann der Welt mitgeteilt,

dass er sich Linus nennt. Lauter erste Male.

Giese sagt, er habe damals gespürt, wie ihn

sein altes Leben einengte. Und wie ihn jeder

Schritt ins neue Leben glücklicher machte.

Begonnen hat dieser vierjährige Aufbruch

aber mit einem anderen Gefühl: Angst. Linus

Giese fragte sich, wie die Menschen, die ihn

kennen, wohl darauf reagieren würden.

Wenige Wochen nach seinem Coming-out

zog er von Hanau nach Berlin. Er hatte dort

einen Job als Buchhändler gefunden, seine

neuen Kollegen nannten ihn Linus. Doch manche

Kundinnen oder Kunden sprachen ihn

weiterhin als »Frau« an. Sie sahen ihn nicht

so, wie er gesehen werden wollte. »Das war

unheimlich schmerzhaft«, erinnert er sich.

Linus Giese merkte, wie er sich als transgeschlechtlicher

Mann immer wieder erklären

musste. Beim Arzt. Bei Behörden. Bei der

Post. Sein Personalausweis passte nicht mehr

zu dem Menschen, der er jetzt war.

Und dann schlug ihm noch dieser Hass entgegen.

Linus Giese hatte wenige Monate nach

seinem Coming-out begonnen, einen Blog

über sein Leben als transgeschlechtlicher

Mann zu schreiben. Für manche Menschen

im Internet wurde er damit zur Zielscheibe.

Er las Beleidigungen auf Twitter, Hasstiraden.

Fremde riefen bei seinem Arbeitgeber an, um

ihn bloßzustellen. Sie schickten Pakete an

seine Arbeitsstelle. Fanden seine Privatadresse

heraus und überklebten sein Klingelschild

mit seinem alten Namen. Einmal stand ein

Mann vor seiner Tür, 40 Minuten lang. Giese

zog daraufhin für vier Monate zu Freunden.

Er nennt das die »schrecklichen Seiten«

seines neuen Lebens. Giese hat über seine

Geschichte ein Buch geschrieben, 224 Seiten.

Linus Giese, 35

Der Blogger hat sein Coming-out als

transgeschlechtlicher Mann hinter

sich. Er sagt, das Glück habe sich nicht

sofort eingestellt. Der Aufbruch in ein

neues Leben habe vier Jahre gedauert.

Thomas Pirot / DER SPIEGEL

Damit transgeschlechtliche Personen wissen,

was sie erwartet, wenn sie öffentlich ihr Geschlecht

leben wollen. In der Fachsprache

heißt dieser Prozess »Transition«.

Anderthalb Jahre nach seinem Coming-out

ließ Linus Giese seinen Namen und sein Geschlecht

beim Standesamt offiziell ändern. Im

selben Monat bekam er die erste Testosteronspritze.

Weitere zwei Jahre vergingen, bis

Ärzte ihm seine Brüste entfernten.

Heute kann Linus Giese sagen. »Heute

führe ich das Leben, das ich mir wünsche.«

Nicht alle Menschen in seinem Umfeld sind

ihm dabei gefolgt. Zu manchen alten Freunden

brach der Kontakt ab. Einige konnten

den Weg nachvollziehen, den Linus Giese

ging. Am stärksten musste er sich überwinden,

mit seinen Eltern darüber zu sprechen.

Im vergangenen Jahr bekam er von seiner

Mutter ein Kissen geschenkt. Er hatte es schon

einmal überreicht bekommen, als Kind, mit

einer Stickerei: seinem alten Namen. Jetzt las

er einen neuen Namen auf dem Stoff: »Linus«

stand da.

Bei Olaf Scholz ist der Neuanfang längst nicht

so ausgeprägt. Nach Jahren des Hoffens, Bangens

und Wartens hat sich nur seine Funktionsbezeichnung

geändert, er ist das geworden,

was er so unbedingt hatte werden wollen:

Bundeskanzler. Auch bei ihm könnte der

Zauber des Neuen erst einmal überschattet

werden. Anders als der Chef des Robert Koch-

Instituts empfohlen hatte, verkündete Scholz

lediglich moderate Corona-Einschränkungen

über die Weihnachtsfeiertage. Sollte sich das

als Fehler herausstellen, wird er für einen

möglichen Zusammenbruch von Teilen der

Infrastruktur verantwortlich sein, weil zu viele

Leute gleichzeitig krank werden. Was für

ein Neuanfang.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

hatte im vergangenen Jahr in seiner Weihnachtsansprache

versprochen: Wir sähen das

lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels heller

werden. Alle dürften sich darauf freuen,

das nächste Weihnachten wieder im großen

Kreis zu feiern, mit Umarmungen und Gesang.

In diesem Jahr musste er einräumen,

dass es anders gekommen ist: »Seit bald zwei

Jahren bestimmt die Pandemie unser Leben,

hier und auf der ganzen Welt. Selten haben

wir so hautnah erfahren, wie gefährdet unser

menschliches Leben und wie unvorhersehbar

die Zukunft ist.« Diejenigen, deren Aufgabe

es nun sei, »Leib und Leben zu schützen«,

täten ihr Bestes: »Und sie alle gewinnen neue

Erkenntnisse, korrigieren Annahmen, die sich

als falsch erwiesen haben, und passen Maßnahmen

an. Menschen können irren, sie lernen

aber auch.« Auch so kann man auf einen

Neuanfang schauen.

Susanne Beyer, Anika Freier, Maik Großekathöfer,

Katharina Horban, Peter Maxwill, Christopher

Piltz, Hannes Schrader, Katja Thimm

Lesen Sie auch ‣ Drei Frauen starten auf

La Palma neu – dann bricht der Vulkan aus | 66

28 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Digitales Kombiangebot

für nur 19,99 € im Monat

Jetzt

1 Monat

gratis

manager magazin+ und Harvard Business manager+ im Paket:

Alle Artikel, Reportagen und Kolumnen von m+ und HBm+

auf der Seite manager-magazin.de und in der manager-Nachrichten-App.

Inklusive der digitalen Magazine manager magazin und Harvard Business manager

mit allen Inhalten der gedruckten Ausgaben als E-Paper (PDF) zum Download.

Erster Monat kostenlos, danach zum Vorteilspreis von

nur 19,99 € statt 23,49€. Monatlich kündbar.

NEU: Zugriff auf das Archiv mit allen bereits erschienenen digitalen Ausgaben.

Starten Sie jetzt Ihren kostenlosen Probemonat!

Online: abo.manager-magazin.de/plus

manager magazin Verlagsgesellschaft mbH, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, aboservice@manager-magazin.de


DEUTSCHLAND

Der Ampel-Architekt

KARRIEREN FDP-Unterhändler Volker Wis sing setzte wegen schlechter

Erfah rungen mit der Union früh auf die Koalition mit SPD und Grünen. Der neue

Verkehrsminister und gläubige Calvinist aus der Pfalz kann Trickser nicht leiden.

Liberaler Wis sing

Zitat groß

Marginalie

hier wären

fünf Zeilen

sehr schön

Zitat Autor

Daniel Hofer / DER SPIEGEL

E

ine Woche nachdem er Minister

geworden ist, sitzt Volker Wissing

an einem runden Besprechungstisch

in dem Eckzimmer, das

er von seinem Vorgänger Andreas

Scheuer geerbt hat. Das Büro versprüht

den Charme eines ICE-Interieurs.

Der Holzton des Tischs beißt

sich mit dem des Parketts und dem

der Schränke.

Als Wis sing vor ein paar Tagen

sein neues Büro beziehen wollte,

musste er erst mal aufräumen. Überall

lagen Devotionalien von Flugzeugbauern,

Omnibusverbänden und

Eisenbahngesellschaften herum.

Wis sing steht auf und geht zu

einem Bündel aus rot-schwarz-blauem

Stoff, das auf einem Schrank in

der Ecke liegt. Es ist eine Badehose

der Berliner Verkehrsbetriebe im

Würmchenmuster der U-Bahn-Sitzbezüge.

Er hebt die Badehose in die

Höhe, als wollte er sagen: Würden Sie

Ihrem Nachfolger eine Badehose hinterlassen?

Die Amtsübergabe vom alten an

den neuen Bundesverkehrsminister

am 8. Dezember gehörte zu den wenigen

skurrilen Szenen dieses ansonsten

sehr deutschen, fast langweiligen

Regierungswechsels. Scheuer nutzte

den letzten Auftritt in seinem Haus,

um fast 20 Minuten über sich selbst

zu reden. Er gebrauchte Worte wie

»läuft«, »haben wir schon getan«,

»sind gut aufgestellt« und zählte seine

angeblichen Erfolge auf: »mehr

Mobilfunk, mehr Glasfaser, mehr

Lade infrastruktur, mehr Geld für Bus

und Bahn, mehr Radverkehr, die

Drohnen, die Flugtaxis, die synthetischen

Kraftstoffe, mehr Investitionen

in Infrastruktur als je zuvor«.

Dann ging Wis sing ans Rednerpult.

Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen,

darauf zu verweisen, was in

diesem Land nach 16 Jahren unionsgeführter

Regierungen alles nicht

funktioniert. Aber er wollte als neuer

Hausherr vor den neuen Mitarbeiterinnen

und Mitarbeitern keinen politischen

Streit austragen. Stattdessen

sagte Wis sing: »Ein Regierungswechsel

ist ein sehr würdiger Akt in einer

Demokratie. Er kann eine große Ästhetik

haben.« Dann lobte er das

Knobelsdorff-Ensemble der Staatskapelle

Berlin, das den Termin im

Verkehrsministerium musikalisch begleitet

hatte. Die Musiker hätten »diese

Ästhetik auf sehr wunderbare Weise«

betont.

Es war Wis sings Art, seinem Vorgänger

zu sagen, dass dieser ein Rüpel

sei.

Für den Liberalen ist es kein Zufall,

dass ausgerechnet ein Vertreter der

30 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Unionsparteien, die sonst gern bürgerliche

Werte betonen, bei der Amtsübergabe Anstand

vermissen ließ. Wer Wis sing in den Wochen

der Sondierungen und Koalitionsverhandlungen

begleitet hat, erfährt, dass sich

die Scheuer-Episode einreiht in eine lange

Serie von Erfahrungen, die er in den vergangenen

Jahren mit Vertreterinnen und Vertretern

von CDU und CSU gemacht hat.

Diese Begegnungen hatten einen entscheidenden

Anteil daran, dass Wis sing in

Rheinland-Pfalz als FDP-Landeschef eine

Ampelkoalition ins Leben rief und ihr am

Ende als FDP-Generalsekretär auf Bundesebene

zum Durchbruch verhalf. Nun wird er

als Minister für Digitales und Verkehr am

Dreikönigstreffen der Liberalen am 6. Januar

teilnehmen.

Als FDP-Chef Christian Lindner den promovierten

Juristen im August 2020 für den

Posten des Generalsekretärs vorschlug, waren

viele in der Partei überrascht, auch Wis sing

selbst. Er galt mit damals 50 Jahren nicht gerade

als Hoffnungsträger, er ist kein Mann der

großen Worte, manche halten ihn für einen

Langweiler.

Die Partei befand sich in keinem guten Zustand.

In den Umfragen schrammten die Liberalen

an der Fünfprozenthürde entlang und

mussten um den Wiedereinzug in den Bundestag

fürchten. Die Wahl des FDP-Manns

Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten

im Februar 2020 mit den

Stimmen der AfD hatte bei vielen Zweifel am

Kurs der Liberalen geweckt. Und Wis sings

Vorgängerin Linda Teuteberg wirkte überfordert.

Sie scheute klare Entscheidungen und

brachte ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

damit an den Rand der Verzweiflung.

Wis sing hingegen war in der Partei bekannt

als Freund schneller Entscheidungen. Der

Pfälzer hat das in seiner Zeit als Richter gelernt.

Damals vertrat er manchmal einen Kollegen,

der als Betreuungsrichter schwierige

Entscheidungen in einer psychiatrischen Klinik

treffen musste, zum Beispiel ob Patienten

fixiert oder künstlich ernährt werden durften.

Im Büro dieses Richterkollegen stapelten sich

die Akten. Wenn Wis sing für ihn einsprang,

ging es hingegen ganz schnell.

Er sei meistens in der Klinik aufgetaucht,

die vorbereiteten Beschlüsse samt Amtssiegel

schon unterm Arm, erzählt Wis sing. Dann

sah er sich den Patienten an, hörte dem Arzt

zu, entschied und unterschrieb den Beschluss.

»Ich wundere mich manchmal, wie viele Leute

in der Politik sind, die Angst vor Entscheidungen

haben«, sagt Wis sing. »Als Politiker

müssen Sie ständig entscheiden. Und auch

wenn Sie nichts entscheiden, ist das eine Entscheidung.«

Eine seiner ersten Entscheidungen als Generalsekretär

in spe war ein Tweet, der die

FDP in Aufregung versetzte. Wis sing distanzierte

sich da von der CDU, die den meisten

Liberalen noch als bevorzugter Partner galt.

»Die #CDU nach so langer Zeit abzulösen,

Aufbruchstimmung

»Welche Partei würden Sie wählen, wenn

am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?«

15%

10

5

0

Juli

2020

Aug. 2020:

Volker Wissing wird als Generalsekretär

der FDP nominiert.

Jan.

2021

FDP

Sept.:

Bundestagswahl

Juli

Dez.

S ◆Quelle: Infratest dimap; Stand: 10. Dez.;

mehr als 1000 Befragte; die statistische Ungenauigkeit

der Umfragen liegt zwischen 2 und 3 Prozentpunkten

könnte ein wichtiges Signal des Aufbruchs für

unser Land sein«, twitterte er. Anlass war ein

SPIEGEL-Text, der spekulierte, dass ein

Ampel bündnis für den SPD-Kanzlerkandidaten

Olaf Scholz eine Machtoption sein

könnte.

In den meisten Umfragen lagen die Grünen

damals vor der SPD, eine Mehrheit für Scholz

schien unerreichbar. Als neuer Generalsekretär

sollte Wis sing Ruhe in die eigenen Reihen

bringen. Stattdessen erweckte er mit seiner

ersten prominenten Wortmeldung bei vielen

Liberalen den Verdacht, er wolle die Achse

der Partei nach links verschieben. »Der Tweet

war ein politischer Aufschlag, der sehr viele

Emotionen ausgelöst hat«, erinnert sich Wissing.

»Entscheidend war, damit anschließend

vernünftig umzugehen und sich nicht betont

in ein politisches Lager zu begeben.«

Wis sing ist in Wahrheit kein Linksliberaler.

Im Bundestag machte er sich zwischen 2004

und 2013 als Finanzpolitiker mit ordnungsrechtlichem

Kompass einen Namen. Er würde

damit wohl besser zu einem Friedrich Merz

als zu einem Olaf Scholz passen. Mit seinem

markanten Seitenscheitel gibt sich Wis sing

selbst eher konservativ.

Die Wahl des Finanzexperten mit Ampelerfahrung

sollte, so Lindners Kalkül, den Kurs

der Eigenständigkeit der FDP betonen. Programmatisch

waren, damals wie heute, die

Schnittmengen mit der Union größer, das

sieht Wis sing ebenso. Aber während Lindner

und die meisten anderen in der Parteispitze

»Ich wundere mich

manchmal,

wie viele Leute

in der Politik

sind, die Angst vor

Entscheidungen haben.«

12%

DEUTSCHLAND

sich auch kulturell der CDU näher fühlten,

hat sich der Pfälzer mit der Zeit von den Konservativen

entfremdet.

An einem Morgen Ende Oktober empfängt

Wis sing, damals Generalsekretär, in seinem

Büro im Hans-Dietrich-Genscher-Haus in

Berlin. Die Sondierungen sind abgeschlossen,

am nächsten Tag sollen die Koalitionsverhandlungen

beginnen, alles lief bislang nach

Plan. Es ist ein Erfolg der drei Generalsekretäre,

aber für Wis sing ist es auch eine Bestätigung,

dass er mit seinem politischen Instinkt

richtig lag.

»Ich hatte, auch durch meine Erfahrungen

in Rheinland-Pfalz, eine frühere und präzise

Analyse des Zustandes der CDU«, sagt er.

Eine Rolle spielte dabei die rheinland-pfälzische

CDU-Chefin Julia Klöckner, bis vor Kurzem

auch Bundeslandwirtschaftsministerin.

Sie hatte nach der Landtagswahl 2016 auf eine

Jamaikakoalition mit Wis sings FDP und den

Grünen gesetzt. Wis sing aber entschied sich

für die Ampel, er wurde Superminister für

Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft, Weinbau

sowie Stellvertreter der Ministerpräsidentin

Malu Dreyer (SPD). Fortan geriet er mit

Klöckner und der Landes-CDU immer wieder

aneinander, besonderen Ärger gab es, als Wissing

dafür sorgte, dass sich Rheinland-Pfalz

bei der Abstimmung über Klöckners Düngemittelverordnung

enthielt.

Immer wieder habe er erlebt, so Wis sing,

dass CDU-Vertreter ein ziemlich lockeres Verhältnis

zur Wahrheit pflegten. Während der

Jamaikasondierungen 2017 habe er den damaligen

Kanzleramtschef Peter Altmaier gefragt,

ob man nicht doch den Solidaritätszuschlag

vollständig abschaffen könne, wie es

die FDP forderte. Auf keinen Fall, entgegnete

Altmaier. Später, in der Großen Koalition,

zeigte sich Altmaier als Wirtschaftsminister

dann als derjenige, der den Soli am liebsten

für alle abschaffen würde, aber an der SPD

scheitert.

Selbst während der Sondierungen versuchten

einige in der CDU, zwischen den Ampelparteien

Zwietracht zu sähen. Wis sing holt

sein Handy hervor und liest aus einer Whats-

App-Gruppe vor. Julia Klöckner habe sich

gemeldet, schreiben die Fachpolitiker, die

CDU-Politikerin habe gewarnt, dass Noch-

Finanzminister Olaf Scholz einen Angriff auf

die Landwirte plane. Er wolle die seit Langem

existierende Sonderregelung abschaffen, dass

Bauern unbürokratisch einen pauschalen Umsatzsteuersatz

zahlen dürfen, statt ihre Umsätze

exakt mit dem Finanzamt abrechnen zu

müssen.

Wis sing wusste von Scholz, die EU-Kommission

habe die Bundesrepublik wegen der

Bevorzugung der Bauern vor dem Europäischen

Gerichtshof verklagt. Wenn Deutschland

wie zu erwarten das Verfahren verlöre,

müssten die Landwirte rückwirkend die gesparten

Steuern an den Fiskus zurückzahlen.

Scholz wollte das Problem durch eine Gesetzesänderung

lösen, aber Klöckner stelle sich

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

31


DEUTSCHLAND

quer, hieß es im Bundesfinanzministerium

(BMF). »Lasst euch die Sache

vom BMF erläutern«, rät Wis sing den

Parteifreunden, »die spielen garantiert

ehrlich.«

Es sei schon interessant, sagt Wissing

in seinem Büro. »Da ist auf der

einen Seite Olaf Scholz, den man

noch nicht so gut kennt, und auf der

anderen Seite die CDU. Bei dem

einen ist man überrascht, wie schnell

man Vertrauen fassen kann, bei der

anderen Seite überrascht einen nichts

mehr.«

Dass Wis sing so viel Wert auf Ehrlichkeit

und Disziplin legt, hat viel

mit seiner Herkunft zu tun. Er stammt

aus einer calvinistischen Familie. Seit

früher Jugend spielt er Orgel, absolvierte

eine Kirchenmusikerausbildung,

begleitete jahrelang Gottesdienste.

32 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Verkehrsminister

Wissing, Vorgänger

Scheuer bei Amtsübergabe:

Kein Streit

vor den Mitarbeitern

»Ein Regierungswechsel

kann eine

große Ästhetik

haben.«

Christoph Soeder / dpa

Wenn es um Musik geht, verändert

sich Wis sing Sprache, da verliert der

Jurist plötzlich das Spröde und

kommt ins Schwärmen. Eines seiner

Lieblingswerke ist eine Kantate von

Johann Sebastian Bach. In dem Text

geht es um die Gewissheit, dass alles,

was die Menschen tun, vergänglich

sei. Wis sing kennt die ersten Zeilen

auswendig: »Ach wie flüchtig, ach wie

nichtig ist der Menschen Leben! Wie

ein Nebel bald entstehet und auch

wieder bald vergehet, so ist unser Leben,

sehet!«

Der Text hat Bezug zu Wis sings

Leben. Während der Sondierungen

im Oktober starb sein Vater, er war

Winzer und ordinierter Prediger. Beinahe

hätte sich Wis sing nicht von ihm

verabschieden können, weil die Sondierungen

kurz vor dem Ende standen.

»Ich lasse mich leicht in die

Pflicht nehmen«, sagt er, und es ist

nicht klar, ob er das eher als Schwäche

oder als Stärke empfindet.

In den Koalitionsverhandlungen

ging er mehrmals bis an seine Grenze.

Mitte November saß er mehrere Tage

lang mit Schüttelfrost am Verhandlungstisch,

nachdem er eine Boosterimpfung

bekommen hatte. Er schluckte

Ibuprofen, um weiterverhandeln

zu können.

Ohne ihn wäre die Ampel wohl

nicht zustande gekommen. »Ich glaube,

dass ich an der Seite von Christian

Lindner mit meinen Erfahrungen,

einer klaren Meinung und Ruhe hilfreich

war«, sagt Wis sing. Der FDP-

Vorsitzende hatte in einer Vorstandssitzung

wenige Wochen vor der

Bundestagswahl die Frage aufgeworfen,

ob die Partei eine Ampel öffentlich

ausschließen solle. »Wir haben

uns alle gefragt, inwieweit die Wählerinnen

und Wähler diesen Weg mitgehen«,

sagt Wis sing. »Ich war der

Meinung, dass es natürlich ein Risiko

gewesen ist, in die Ampelsondierungen

zu gehen. Aber sie auszuschließen

wäre auch ein Risiko gewesen.«

Zum Dank bekam er das Verkehrsressort

und die Zuständigkeit für Digitalisierung.

Von seinem Eckbüro an der Berliner

Invalidenstraße schaut Wis sing

hinüber zum Wirtschaftsministerium,

wo der grüne Vizekanzler Robert Habeck

eingezogen ist. Als sich herumsprach,

dass Habeck eine Handvoll

Abteilungsleiter abgesetzt hatte, waren

die Beamten im Verkehrsministerium

gespannt, wie ihr neuer Hausherr

wohl agieren würde. Wis sing

erzählt, dass er alle Abteilungsleiter

versammelt habe und jede und jeden

gebeten habe zu berichten, was er

oder sie sich für den jeweiligen Bereich

vorstelle. Leute zu entlassen,

nur weil sie vorher einem anderen

Minister gedient haben oder einer

anderen Partei nahestehen – davon

hält Wis sing nichts.

»Straßen oder Ladesäulen für

E‐Autos«, sagt Wis sing, »kann man

ja nicht sozialdemokratisch, grün

oder liberal bauen.«

Das sieht man bei den Grünen vermutlich

anders. Sie sind unzufrieden,

weil die FDP das für den Klimawandel

wichtige Ressort bekommen hat.

Und weil die SPD der FDP in den

Verhandlungen dabei geholfen hat.

Einen Vorgeschmack auf zukünftige

Debatten bekam Wis sing, als er in der

»Bild«-Zeitung vor Belastungen für

Dieselfahrer gewarnt hatte: »Die FDP

wird dafür Sorge tragen, dass höhere

Energiesteuern auf Dieselkraftstoffe

durch geringere Kfz-​Steuern ausgeglichen

werden.«

Eigentlich argumentierte der angehende

Verkehrsminister im Einklang

mit dem Koalitionsvertrag. Der

sieht nämlich vor, dass die höhere

Kfz-Steuer für Dieselfahrzeuge überprüft

wird, sobald die EU ihren Plan

umsetzt, dass Dieselkraftstoff und

Benzin steuerlich gleich behandelt

werden sollen. Aber die Grünen

schossen sich schnell auf ihn ein.

Dass er daraufhin, auch vom

SPIEGEL, als Anwalt der Autofahrer

bezeichnet wurde, findet er falsch. Er

wolle sich genauso für Radfahrer,

Bahnfahrer und Nutzer von öffentlichen

Verkehrsmitteln einsetzen, sagt

er. In seiner Zeit in Mainz reaktivierte

er unter anderem alte Bahnstrecken

und förderte die Wasserstofftechnik

für Lastwagen.

Wis sing sagt, er wolle nun den

Schienenverkehr mit mehr Geld ausbauen

als den Straßenverkehr, er wolle

dafür sorgen, dass mehr Radwege

gebaut werden und der öffentliche

Nahverkehr attraktiver wird. »Mein

Ziel ist es, den Umstieg auf klimafreundliche

Mobilität zu schaffen. Ich

stehe ohne Wenn und Aber hinter den

Pariser Klimaschutzzielen.«

Auch wenn im Koalitionsvertrag

kein Enddatum für die Zulassung von

Verbrennermotoren steht, sagt Wissing:

»Ich würde mir gut überlegen,

noch ein Auto mit fossilem Verbrennermotor

zu kaufen.« Daheim

in Landau fährt er seit Jahren einen

Plug-in-Hybrid – nach eigener Aussage

meistens im Elektrobetrieb.

Christoph Schult

n


DEUTSCHLAND

Tritte vors

Schienbein

PARTEIEN Die CSU schaut auf ein schlimmes

Jahr zurück. Dass Friedrich Merz bald

die CDU führt, macht es noch komplizierter

für die Bayern.

A

uch Politiker brauchen Auszeiten.

»Zwei oder drei Tage«

Pause will sich Markus Söder

in der Weihnachtszeit gönnen. Danach

werde er sich »grundlegende

Gedanken machen«, kündigte der

CSU-Chef nach der letzten Vorstandssitzung

des Jahres an.

Wahrscheinlich hätte sich Söder

als der Duracell-Hase der deutschen

Politik auch in weniger turbulenten

Zeiten nicht mehr als 72 Stunden zum

Innehalten genehmigt. Am Ende des

Jahres ist seine Rastlosigkeit allerdings

nachvollziehbar. Söders persönliche

Beliebtheitswerte befinden sich

im freien Fall. Laut einer Umfrage der

»Augsburger Allgemeinen Zeitung«

ist jeder zweite Bayer unzufrieden

mit der Arbeit des Ministerpräsidenten.

Der schlechteste Wert seit seinem

Amtsantritt im März 2018.

Eines seiner Kabinettsmitglieder

spricht von einem »Katastrophenjahr«,

das die Partei verdauen müsse.

Erst die Maskenaffäre, dann Söders

gescheiterte Kanzlerkandidatur, gefolgt

von einer verlorenen Bundestagswahl.

Außerdem hat die Pandemie

Bayern schwer gebeutelt. Söders Stellvertreter

als Ministerpräsident, Hubert

Aiwanger (Freie Wähler), sorgte

als Impfskeptiker für Schlagzeilen, was

die Koalition zwischen CSU und

Freien Wählern im Freistaat fast zum

Platzen brachte.

Als gäbe es angesichts der Katerstimmung

im Land der bayerischen

Löwen nicht schon genug Herausforderungen

knapp zwei Jahre vor der

nächsten Landtagswahl, muss sich die

CSU voraussichtlich auch noch mit

Friedrich Merz als neuem CDU-Parteivorsitzenden

arrangieren.

Die persönliche Freundschaft zwischen

Söder und Merz ist schnell beschrieben.

Es gibt sie nicht. Wie es

sich für zwei Politiker gehört, denen

die Fähigkeit zum verbalen Schien­

Verlorener

Glanz

Zufriedenheit mit

der politischen Arbeit

von Markus Söder

60%

50

40

30

Jan.

Dez.

45%

S ◆Quelle: Infratest dimap

für ARD-DeutschlandTrend;

mehr als 1000 Befragte;

die statistische Ungenauigkeit

der Umfragen liegt

zwischen 2 und 3 Prozentpunkten

beintritt nachgesagt wird, gibt es stattdessen

unzählige Beweise ihrer gegenseitigen

Abneigung. »Seine Erfahrungen,

insbesondere aus den

Neunzigerjahren, die er damals als

aktiver Politiker hatte, die helfen uns

sicher«, hatte Söder im August zu

Protokoll gegeben. Friedrich Merz

hingegen hatte Söders mangelnde

Loyalität im Bundestagswahlkampf

immer wieder kritisiert. Zuletzt in

einem Newsletter nach der verlorenen

Wahl, als er den Umgang der

Schwesterparteien untereinander als

»stillos, respektlos und streckenweise

rüpelhaft« abgekanzelt hatte.

Die bayerische Landtagswahl, verkündete

der designierte CDU-Vorsitzende

Merz kurz nach der Mitgliederbefragung,

werde nur »gelingen,

wenn das Verhältnis zwischen CDU

und CSU sehr gut« sei. Es klang wie

eine Drohung. Von der sich Markus

Söder vermutlich nur deshalb nicht

provozieren ließ, weil Merz’ Prognose

richtig sein dürfte. Man werde so

»geschlossen und konsequent zusammenarbeiten,

wie es geht«, ließ Söder

nach der letzten CSU-Vorstandssitzung

knapp wissen.

Der neue CDU-Vorsitzende mit

seinem konservativen Profil stellt die

CSU strategisch vor Herausforderungen.

Auch um als Gegenpol zur Ampelregierung

in Berlin besser wirken

zu können, muss die CSU künftig die

Stammtische der Landgasthöfe wieder

stärker bedienen, statt sich am

hippen Zeitgeist der Großstädte zu

orientieren. Sie darf ihrem eigenen

Anspruch nach aber auch nicht wirken

wie eine Kopie des konservativen

Merz-Kurses.

Vergangene Woche pries Söder

seine Partei als »liberalkonservative,

bürgerliche Kraft der politischen Mitte«

an. Im Oktober 2019 hatten die

Christsozialen in einem Leitantrag

zur Parteireform das Ziel ausgegeben,

künftig »jünger, weiblicher, digitaler«

CSU-Chef Söder

Sven Hoppe / dpa

zu werden und den Klimaschutz als

eines der »großen Themen unserer

Zeit« zu ihrem Thema zu machen.

Diesen Anspruch scheint Söder vorerst

ruhen zu lassen.

Dafür spricht auch ein Fantasie-

Interview des CSU-Generalsekretärs

Markus Blume, das dieser mit dem

verstorbenen CSU-Vorsitzenden

Franz Josef Strauß geführt hat. Unter

der Überschrift »Das beste Grün ist

Weiß-Blau!« unterhalten sich Blume

und Strauß beim »himmlischen Interview«

im CSU-Magazin »Bayernkurier«

stolze vier Seiten lang. Das ist

streckenweise ganz witzig. Nur umfasst

Strauß’ Erfahrung als aktiver

Politiker noch nicht einmal die Neunzigerjahre.

Er starb 1988.

Die »Zeitenwende«, von der Markus

Söder im selben Blatt spricht,

klingt auch nicht besonders visionär:

»Es muss klar sein, dass wir die Partei

des gesunden Menschenverstandes

sind.« Man vertrete die »Interessen

der Mittelschicht und der Fleißigen«,

schreibt Söder. In den sozialen Netzwerken

posiert er auf Bildern auf fällig

oft neben Mitgliedern verschiedener

Handwerksinnungen, wenn er sich

zum Beispiel ein »Brot der Bayern«

überreichen lässt.

2022, erklärte Söder, würden keine

neuen Milliardenprogramme aufgestellt,

sondern es breche die »Zeit für

das Umsetzen« an. Was er damit

meint, darüber dürften sich seine Kabinettsmitglieder

über die Feiertage

den Kopf zerbrechen. Die mit Söders

Ankündigung verbundene Unterstellung,

sie seien die bisherige Legislaturperiode

über untätig gewesen,

fanden nicht alle motivierend. Ein

Landesminister hat seinen Ministerpräsidenten

so verstanden, dass Söder

sich künftig mehr zurückhalten

werde und nicht jede Woche ein neues

Ideenfeuerwerk abbrenne. Vermutlich

bleibt das Wunschdenken.

Derzeit testet Söder einen neuen

Slogan: »Leberkäs und Lasern« laute

das Lebensgefühl im Freistaat, sagte

er in seinen Weihnachtswünschen im

Landtag Anfang Dezember – nicht so

weit weg vom alten Slogan »Laptop

und Lederhose«. Ohne erkennbare

Ironie wiederholte er seine neue

»Grundidee« von Bayern letzte Woche

auf der Pressekonferenz nach

der Vorstandssitzung.

Vielleicht findet Söder irgendwann

ein wenig Muße, noch mal genauer

darüber nachzudenken. Leberkäse

schmeckt zwar gut, aber kaum einer

weiß, was wirklich drin ist. Will die

CSU Volkspartei bleiben, müsste ihr

inhaltlicher Anspruch ein anderer sein.

Anna Clauß

n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

33


DEUTSCHLAND

»Es gilt der Satz:

Unsere Brandmauer

steht nach rechts

und nach links.«

Catarina dos Santos Firnhaber

»Wir müssen darüber

nachdenken, mit

der Union zusammenzuarbeiten.«

Gregor Gysi

Steffen Roth / DER SPIEGEL

»Auch wir haben ein

Problem mit unserem

Markenkern«

SPIEGEL-GESPRÄCH CDU gegen Linke, Jung gegen Alt – die Abgeordneten

Catarina dos Santos Firnhaber, 27, und Gregor Gysi, 73, über

Gemeinsamkeiten ihrer Parteien und die Frage, wie man junge

Menschen für die Politik gewinnen kann

SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber, Herr Gysi,

Sie beide trennen fast 50 Jahre Altersunterschied.

Daneben gehören Sie sehr verschiedenen

Parteien an. Aber es gibt auch eine

Überschneidung: Sie sind beide Rechtsanwälte.

Haben Sie doch mehr Dinge gemeinsam,

als man auf den ersten Blick erwarten würde?

Gysi: Der Anwaltsberuf verlangt eine bestimmte

Logik im Denken, die man nicht bereit ist

Das Gespräch führten der Redakteur Okan Bellikli und

die Redakteurin Sophie Garbe.

zu verlassen. Auch dann, wenn es eigenen

Überzeugungen widerspricht. Das ist uns

durch den beruflichen Hintergrund sicher gemein.

Das Zweite ist, dass unsere beiden Parteien

eine schwere Niederlage bei der Bundestagswahl

erlitten haben. Auch das ist eine

wichtige Gemeinsamkeit. Da ich Rechtsanwalt

bin, interessieren mich ohne hin immer Leute

und Einrichtungen mit Problemen. Zu uns Anwälten

kommen selten glückliche Menschen.

Dos Santos Firnhaber: Das trifft bei mir nicht

ganz zu. Ich habe als Rechtsanwältin vor

allem Unternehmensnachfolgen begleitet. Ich

hatte meistens glücklichere Klienten, wenn

es dann geklappt hat.

Gysi: Gut, dann ist das vielleicht keine Gemeinsamkeit.

Das Interesse an Problemen

zieht sich bei mir aber durch. Uli Hoeneß

interessierte mich erst, als es gegen ihn ein

Ermittlungsverfahren gab. Und die CDU interessierte

mich dann, als sie am Abgrund

stand (lacht). Aber meine eigene Partei steht

ja auch am Abgrund, also kann ich mich erst

mal mit ihr beschäftigen.

SPIEGEL: Jetzt, wo Sie sich für die CDU interessieren

– wollen Sie in der Opposition denn

auch mit ihr zusammenarbeiten?

Gysi: Tatsächlich gibt es ja drei Fraktionen in

der Opposition. Mit der AfD wird es aber

keine Zusammenarbeit geben, zumindest vonseiten

der Linken nicht.

Dos Santos Firnhaber: Da hat die Union ebenfalls

einen klaren Beschluss. Wir werden nicht

mit der AfD zusammenarbeiten. Die Wahrscheinlichkeit,

dass die AfD versuchen wird,

in der Opposition an die Union heranzurücken,

ist hoch. Dann hat uns die Ampel im

Parlament auch noch neben den Rechten

platziert. Sich da klar abzugrenzen – inhaltlich,

rhetorisch, im ganzen Stil – wird eine

wichtige Aufgabe für uns in den kommenden

vier Jahren sein.

Gysi: Das bedeutet aber natürlich schon,

dass wir neu darüber nachdenken müssen,

ob es nicht eine gewisse Zusammenarbeit

34 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


DEUTSCHLAND

zwischen Union und den Linken geben

muss. Keine überzogene, aber

eine gewisse. Dafür spricht, dass jetzt

die CDU-Abgeordneten in der Bezirksverordnetenversammlung

von

Lichtenberg einen Bürgermeister der

Linken gewählt haben. Das wäre früher

noch ein Skandal gewesen. Aber

ich glaube, dass sich das ein bisschen

ändert. Und es wird nach 31 Jahren

auch Zeit.

Dos Santos Firnhaber: Ich bin grundsätzlich

ein Fan davon, die Oppositionsarbeit

konstruktiv anzugehen.

Es ist ja auch nur demokratisch zu

sagen: Wir arbeiten zusammen, weil

es wichtig ist. Weil es für unser Land

wichtig ist, widmen wir uns manchen

Themen, wie Corona, eben gemeinsam.

Aber es gilt das Wort unseres

Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus:

Unsere Brandmauer steht nach

rechts und nach links.

SPIEGEL: Da wir über Gemeinsamkeiten

sprechen – CDU und Linke haben

bei der Bundestagswahl insbesondere

bei jungen Wählerinnen und Wählern

schlecht abgeschnitten. Warum?

Dos Santos Firnhaber: Es gibt keine

einfache Antwort auf diese Frage.

Gäbe es die, hätte ich das schon im

Wahlkampf vorgebracht und das

Schlimmste vielleicht verhindern

können. Es ist ein katastrophales Ergebnis,

dass die CDU nur zehn Prozent

der Erstwähler im Wahlkampf

überzeugt hat. Das ist für mich ein

riesiger Hilferuf, und dem will ich

mich auch in den kommenden vier

Jahren widmen.

SPIEGEL: Und wie?

Dos Santos Firnhaber: Ich bin mit 27

Jahren die jüngste Abgeordnete in der

Fraktion. Damit möchte ich ein Vorbild

sein, gerade für junge Menschen.

Ich bekomme schon jetzt auf Instagram

und anderen Kanälen viele

Nachrichten von jungen Frauen. Man

unterschätzt manchmal, was Vorbilder

auslösen können. Diese Rolle

möchte ich ganz bewusst nutzen und

an der Frage mitarbeiten, wie wir junge

Menschen erreichen. Die anderen

Parteien haben das mit ihren Kampagnen

im Wahlkampf offenbar besser

geschafft als wir. Dem müssen wir uns

jetzt stellen und überlegen: Welche

Gesichter sprechen zukünftig für uns?

Mit welchen Themen gehen wir raus?

Und wie schaffen wir es, junge Zielgruppen

wieder für die CDU zu begeistern?

SPIEGEL: Herr Gysi, wie schätzen Sie

das Ergebnis der Linken bei den Jungen

ein?

Gysi: Meine Partei hat mehrere Fehler

begangen. Der erste Fehler war, dass

wir leichtfertig unsere Ost-Identität

aufgegeben haben. Natürlich haben

wir jetzt mehr Mitglieder in den alten

Bundesländern als in den neuen.

Trotzdem dürfen wir den Osten nicht

der AfD überlassen. Der zweite Fehler

war, dass nicht mehr klar wurde:

Was ist eigentlich bei uns Mehrheitsmeinung

und was ist Minderheitsmeinung?

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Gysi: Es gibt Linke, die halten sich für

die besseren Menschen. Sind wir ja

auch ein bisschen, aber manche übertreiben

das. Die Auseinandersetzungen

bei uns waren deshalb katastrophal.

So hart, so unnachgiebig, so

intolerant. Es ist wichtig, dass man

unterschiedliche Positionen in einer

Partei haben kann. Aber wenn die

Wählerinnen und Wähler nicht mehr

wissen, wofür man steht, erreicht

man niemanden. Du musst dich an

eine Gruppe wenden, das haben die

Grünen vermocht. Die Grünen haben

ein Thema besetzt und damit

eine ganz bestimmte Klientel angesprochen.

Und wir haben für jeden

etwas gemacht, was aber nicht funktioniert.

Es gibt unterschiedliche Interessen

in der Gesellschaft, also

musst du dich für die Vertretung bestimmter

Interessen entscheiden. Wir

müssen uns auf bestimmte Themen

konzentrieren. Und das kann bei

Dos Santos Firnhaber,

Juristin, geboren in

Lissabon, wurde

in diesem Jahr erstmals

für die CDU in

den Bundestag gewählt.

Ihr Wahlkreis

liegt in Aachen.

Gysi,

Jurist, geboren in

Berlin, arbeitete in

der DDR als Rechtsanwalt.

1990 zog

er erstmals für die

PDS in den Bundestag

ein. Von 2005 bis

2015 war er Vorsitzender

der Linkenfraktion.

der Linken im Kern nur die soziale

Frage sein.

Dos Santos Firnhaber: Ich sehe da einige

Parallelen bei uns. Auch die

Union hat sich im Wahlkampf gestritten,

vor allem bei der Wahl des Kanzlerkandidaten.

Und streitende Parteien

werden nicht gewählt. Auch wir

hatten zudem ein Problem mit unserem

Markenkern. Dieses Sprichwort:

Ich wecke Sie um drei Uhr nachts,

und Sie müssen mir sagen, wofür die

CDU steht – das können viele wahrscheinlich

nicht mehr. Da müssen wir

dran arbeiten.

SPIEGEL: So weit also nur Gemeinsamkeiten

zwischen CDU und Linken.

Gysi: Ich sage immer, ich will keinen

Bundestag ohne CDU, weil es konservative

Interessen gibt, die ich nicht

vertrete. Also muss es ein anderer

machen. Die CDU kann aber natürlich

gerne kleiner werden.

Dos Santos Firnhaber: Da würde

ich jetzt mal nicht zustimmen, die

CDU muss natürlich wieder größer

werden!

SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,

in einem CDU-Fragebogen vor der

Wahl haben Sie geschrieben: »Wenn

wir weiter daran arbeiten, junge Menschen

abzuholen, ihre Sorgen ernst

zu nehmen und zeigen, dass ›konservativ

sein‹ weder rückwärtsgewandt

noch verstaubt ist, dann bin ich sicher,

dass wir mehr junge Menschen für

die Union gewinnen können.«

Dos Santos Firnhaber: Würde ich auch

heute noch so schreiben.

SPIEGEL: Für den CDU-Vorsitz sind

Friedrich Merz, Helge Braun und

Norbert Röttgen angetreten. Drei

Männer, keiner davon ein wirklich

neues Gesicht. Wirkt nicht genau so

etwas rückwärtsgewandt?

Dos Santos Firnhaber: Natürlich hätte

ich mir sehr gewünscht, dass eine

Frau für den CDU-Vorsitz kandidiert.

Aber die Kandidaten sind ja auch

nicht als Einzelpersonen angetreten,

sondern in Teams. Und in den Teams

Wir kennen uns aus.

Mit Baulücken und Vertragslücken.

Wenn’s ums Bauen geht, sind wir die Experten.

Seit 25 Jahren setzen wir uns für die Belange privater Bauherren

ein und bieten ihnen juristischen und technischen Rat.

Hier erfahren Sie mehr:

www.bsb-ev.de


DEUTSCHLAND

waren auch Frauen und jüngere Kandidaten

dabei.

SPIEGEL: Aber nur in der zweiten Reihe.

Dos Santos Firnhaber: Vergessen wir

mal nicht: Meine Partei hat in den

letzten 16 Jahren die Regierungschefin

gestellt. Aber natürlich stelle ich

mir in solchen Momenten die Frage:

Wird eine Frau als Generalsekretärin

nur deswegen aufgestellt, um sagen

zu können »Ich habe auch eine Frau

an der Seite«? Was genau ist die Rollenverteilung

in so einem Team? Aber

für mich ist das nicht gleich rückwärtsgewandt.

Es kommt auf die Vision

für die Zukunft der Partei an.

Rückwärtsgewandt wäre dann zu sagen:

Es bleibt alles, wie es ist, und wir

werden uns nicht bemühen, mehr

Frauen in die Partei zu bringen.

SPIEGEL: Herr Gysi, die Linke stellt

noch vor der CDU die zweitälteste

Fraktion nach der AfD. Warum wurden

nicht mehr Jüngere zur Bundestagswahl

aufgestellt?

Gysi: Man braucht eine richtige Mischung,

aber wir haben zu wenig Jüngere,

klar. Das liegt an einem Fehler,

über den ich mich immer ärgere – bei

allen Parteien: Wir haben lauter Listenaufstellungen

mit vorherigen Kungelrunden.

Da sagt die eine Truppe

dann: Wir wählen eure Leute, wenn

ihr unsere wählt, und so weiter. Da

braucht man den Landesparteitag

eigentlich gar nicht mehr durchzuführen.

Deshalb plädiere ich dafür,

dass die Wählerinnen und Wähler bei

der Zweitstimme für die Liste drei

Leute anzukreuzen haben, zum Beispiel

nehmen dann welche Listenplatz

18, 32 und 5.

SPIEGEL: Also ein sogenanntes Vorzugsstimmensystem.

Gysi: Dann würden junge Leute für

junge Leute stimmen, auch wenn die

auf Platz 18 stehen. Aber eine Partei

muss ihnen logischerweise auch selbst

bessere Chancen einräumen. Ohne

Junge hat eine Partei keine Zukunft.

Das Problem war aber zudem, dass

wir so schlecht abschnitten, dass nur

die vorderen Plätze in den Bundestag

einzogen.

SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,

Sie sind mit 27 Jahren die jüngste Abgeordnete

Ihrer Fraktion und die einzige

weibliche unter 30, während

zum Beispiel die Grünen gleich mehrere

Fraktionsmitglieder unter 25 haben.

Warum ist Jugend bei der Union

noch immer eher eine Ausnahmeerscheinung?

Dos Santos Firnhaber: Ich würde mich

jetzt nicht als krasse Ausnahmeerscheinung

sehen.

Gysi: Außerdem ist das doch schön,

eine Ausnahme zu sein.

Kopf an Kopf

Wem Erstwähler und

Erstwählerinnen ihre

Stimme bei der

Bundestagswahl

(2021) gegeben

haben, in Prozent

23 23

FDP

Grüne

15

SPD

10

CDU/CSU

8

Linke

S Quelle: infratest dimap;

an 100 fehlende Prozent:

»Sonstige«

6

AfD

»Wenn ich

Ihnen einen

Rat geben darf,

Frau dos Santos

Firnhaber.«

Gregor Gysi

»Ich geben

Ihnen gerne

einen Hinweis

zurück,

Herr Gysi.«

Catarina dos Santos

Firnhaber

Dos Santos Firnhaber: Wenn man es

so nennen will, dann bin ich gerne

jetzt die Ausnahme, um den Weg zu

ebnen. Denn ich möchte ja, dass noch

mehr junge Menschen nachkommen.

Ich bin aber keine Verfechterin davon,

zu sagen: Wir brauchen jetzt nur noch

Junge im Bundestag. Wir brauchen

auch Parlamentarier, bei denen nicht

die Büroleitung besser als der Abgeordnete

weiß, wie der Bundestag

funktioniert. Nur eine Mischung von

Ideen, Antrieben und Berufsalltagen

garantiert das Beste für das Land. Die

ist noch nicht gut genug, auch bei mir

in der Partei nicht.

SPIEGEL: Sie sind Mitglied in der

»Jungen Gruppe« von CDU und CSU,

in der sich Abgeordnete vernetzen,

die bei ihrer Wahl jünger als 35 Jahre

alt waren. Da gibt es nicht viele, oder?

Dos Santos Firnhaber: Wir sind jetzt

15, die Hälfte davon war schon vor

dieser Wahl im Bundestag. Natürlich

werden die auch älter, und wir müssen

sicherstellen, dass die Neuen hinterherkommen.

Aber dass ein 18-Jähriger

nicht unbedingt direkt ins Parlament

gewählt wird, kann ich mir

schon erklären. Viele wollen das in

dem Alter auch gar nicht. In meinem

Umfeld gibt es Leute, die sagen: Ich

könnte das nicht.

Gysi: Ich habe Kevin Kühnert geraten,

er solle nach zwei Legislaturperioden

– also acht Jahren – raus aus dem

Bundestag. Ich habe gesagt: Es ist

ganz egal, was du dann machst, nach

weiteren acht Jahren kannst du wiederkommen.

Wenn du diese Pause

nicht einlegst, dann glaubst du nach

zehn Jahren, dass die Drucksachen

des Bundestags das wahre Leben widerspiegeln,

und nach noch mal fünf

Jahren siehst du dann selbst aus wie

eine Drucksache. Da lachte er.

SPIEGEL: Und hat er Ihren Rat angenommen?

Gysi: Er meinte, er werde sich das

überlegen. Aber er wird natürlich

nicht auf mich hören, obwohl er damals

noch genickt hat. Ich weiß nicht,

ob er die Kraft dazu hat. Aber ich

sage das aus eigener Erfahrung. Meine

Stärke bestand darin, dass ich erst

mit über 40 ins Parlament kam. Das

heißt, dass ich bis dahin schon 20 Jahre

lang einen Beruf ausgeübt hatte.

Diese Erfahrung nutze ich bis heute.

Dos Santos Firnhaber: Für mich war

immer wichtig: Ich möchte eine abgeschlossene

Berufsausbildung haben,

bevor ich ein politisches Mandat annehme.

Mitglied des Bundestages zu

sein ist kein Automatismus. Es gibt

tausend Möglichkeiten, nach vier Jahren

wieder rauszufliegen. Daher war

da dieses Bewusstsein »Ich bin nicht

auf die Politik angewiesen, um meinen

Lebensunterhalt zu bestreiten«

etwas, das mich sehr geprägt hat.

Gysi: Das halte auch ich für ganz

wichtig: dass man jederzeit in einen

anderen Beruf zurückkehren kann.

Sonst wird man absolut abhängig.

Wenn ich nichts anderes kann als Politik

und ab der Jugend im Bundestag

sitze, bin ich ja darauf angewiesen.

Meine eigene Meinung wird dann immer

kleiner. Das ist gar nicht sinnvoll.

SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass Ihr

Alter Ihren Blick auf die Politik beeinflusst?

Dos Santos Firnhaber: Natürlich. Ich

habe noch keine Kinder, betrachte

also Familienpolitik zum Beispiel aus

einem anderen Blickwinkel als jemand,

der fünf Kinder hat. Trotzdem

vertrete ich selbstverständlich auch

Menschen, die Kinder haben. Denn

das heißt ja nicht, dass ich kein Bewusstsein

für so etwas habe, sondern

eben nur eine andere Perspektive.

Und das trifft sicher bei jedem Politikfeld

zu, dass wir durch unsere Hintergründe

verschiedene Perspektiven

mitbringen.

Gysi: Wenn ich Ihnen dazu einen Rat

geben darf, Frau dos Santos Firnhaber:

Man muss auch lernen, zu Einrichtungen

mit verschiedenen Perspektiven

zu gehen. Ich spreche beispielsweise

sowohl vor Immobilienmaklern

als auch vor dem Mieterbund.

Egal, welche Sichten ich teile,

ich höre sie mir an. Ich habe festgestellt,

das ist wichtiger, als ich ursprünglich

dachte.

SPIEGEL: Wieso?

Gysi: Man glaubt immer, die Probleme

zu kennen, und dann kommen die

Leute mit Sichten, auf die man gar

nicht gekommen ist. Und es gibt Politikerinnen

und Politiker, die sich immerzu

in nur einem Kreis aufhalten

und nur noch diesem Kreis gefallen

wollen. Die denken dann nicht mehr

an die Breite der Wählerinnen und

Wähler.

Dos Santos Firnhaber: Ich gebe Ihnen

gerne einen Hinweis zurück, Herr

Gysi: Schützenfeste und Kegelklubs

sind auch ein sehr realistischer Spiegel

der Gesellschaft, gerade im ländlichen

Raum.

Gysi: Ich ging mal mit meiner Tochter

kegeln, sie ist inzwischen Mitte zwanzig.

Und ich ärgerte mich. Denn in

der ersten Runde war ich besser, und

dann überholte sie mich, weil meine

Kraft nachließ – während sie, jung,

da immer noch die Kugeln problemlos

anschob.

SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,

Herr Gysi, wir danken Ihnen für dieses

Gespräch.

n

36 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Ein

Schatz

Lass deinen Pink Lady ® Apfel nicht aus den Augen.

Handarbeit und sorgfältige Pflege der Äpfel während der Wachstumsperiode,

die Ernte voll ausgereifter Früchte, Qualitätskontrollen… unsere Erzeuger leisten

handwerkliche Qualitätsarbeit für besonderen Geschmack und natürlichen Genuss.

Unsere Nachhaltigkeits-Charta findest Du auf apfel-pinklady.com

Pink Lady ® – Was kann dein Lieblingsapfel

heute für dich sein?


DEUTSCHLAND

Bis zur letzten Ähre

ENERGIE Eckardt Heukamp will seinen Bauernhof nicht dem

Kohletagebau opfern. Aktivistinnen und Aktivisten kämpfen für ihn,

selbst Greta Thunberg war schon da. Denn seine

Äcker sind zum Symbol im Streit um die Klimapolitik geworden.

D

er Bauer bewaffnet sich mit einem

Schraubenzieher, so leicht gibt er nicht

auf. Eckardt Heukamp steht an einer

Werkbank, vor ihm liegt eine kaputte Personenwaage.

»Doofes Ding«, sagt er und fummelt

mit dem Schraubenzieher darin rum. Eine

Feder springt heraus, eine Mutter fällt zu Boden.

Heukamp braucht die Waage, er würde

gern ein paar Kilogramm abnehmen. Er spielt

Tennis im Verein, im zweiten Satz geht ihm

manchmal die Puste aus. Aber die Waage kann

er wohl nicht mehr retten. »Gerade erst gekauft

und schon Schrott«, sagt er. »Mannomann.«

Eckardt Heukamp, 57, Landwirt aus Lützerath

in Nordrhein-Westfalen, kann sich über

die kleinen Ungerechtigkeiten fast genauso

aufregen wie über die großen. Er kämpft vor

Gericht um seinen Bauernhof. Es ist ein

Rechtsstreit, der nicht mehr nur Menschen

im Rheinischen Braunkohlerevier bewegt,

sondern auch die Bundesregierung. Es geht

um die Fragen, wie viel Braunkohle Deutschland

noch braucht und vor allem: wo man sie

noch aus dem Boden holen sollte.

Gut möglich, dass Heukamp bald seinen

Hof und sein Zuhause verliert. Möglich ist

auch, dass das Gericht für ihn entscheidet und

nicht im Sinne des Energiekonzerns RWE.

Das würde Heukamp wohl endgültig zu einer

Legende der Klimabewegung machen, obwohl

das nie sein Plan war.

Heukamp packt den Schraubenzieher weg

und setzt sich an einen Holztisch im Innenhof

seines Gehöfts. Es ist ein kühler Dezembermorgen,

überall auf seinem Hof stehen Fahrzeuge

herum, hier vier Traktoren, dort ein

Mähdrescher, dazwischen mehrere Pkw mit

platten Reifen oder demolierten Türen. Die

Motorhaube seines BMW-Cabrios steht offen.

Heukamp ist ein Tüftler, ein Schrauber. Er

hat inzwischen genug Zeit, Sachen zu reparieren.

Auf seinen Feldern ist der Landwirt immer

seltener, im Herbst war er zuletzt dort, um zu

ernten. Von den einst rund 100 Hektar Ackerfläche

seien ihm noch 16,75 geblieben, in einer

Ortschaft, die mehrere Kilometer von Lützerath

entfernt liege, sagt er. Die Felder rund um

seinen Bauernhof habe er fast komplett an

RWE abtreten müssen. Wo Heukamp früher

mal Kartoffeln, Rüben und Mais säte, fressen

sich jetzt die Braunkohlebagger durch den Boden.

Ihre Schaufelräder kommen seinem Hof

jeden Tag ein Stückchen näher. Er oder die

Schaufeln – wer bleibt am Ende übrig?

Lützerath liegt südlich von Mönchengladbach,

die Ortschaft grenzt direkt an den Tagebau

Garzweiler. Hier, im Rheinischen Revier,

fördert RWE jedes Jahr rund 100 Millionen

Tonnen Braunkohle, um daraus vor allem

Strom zu erzeugen.

Damit die Bagger an die Kohle unter Lützerath

kommen, werden die Einwohner des

Orts seit 2006 umgesiedelt. Knapp 100 Menschen

sind seitdem fortgezogen. Sie wurden

von RWE entschädigt, viele haben ein neues

Leben in der Nähe von Erkelenz begonnen,

ungefähr zehn Kilometer von Lützerath entfernt.

Nur Heukamp blieb zurück, als Einziger.

Vermisst er seine Nachbarn? Er habe sowieso

nie viel Kontakt zu ihnen gehabt, jetzt

seien sie »halt weg«, sagt er. »Ich bin ein Einzelgänger,

das war ich schon immer.«

Teile seines Hofs wurden 1763 gebaut und

stehen unter Denkmalschutz. Heukamp

wuchs in Lützerath auf, wurde Landwirt. Er

führt den Bauernhof in der vierten Generation.

Er hat Geschwister, doch auch die sind

längst weggezogen.

An seinem Tisch verschränkt Heukamp die

Arme. »Ich sehe es einfach nicht ein«, sagt er.

»Hier habe ich meine Ruhe, kann Kaffee trinken,

abends grillen. Warum soll ich weg? Vielleicht

stehe ich danach schlechter da als jetzt,

und das alles, damit RWE Gewinne machen

kann?« Er erzählt, wie in den vergangenen Jahren

die anderen Dörfer in der Gegend umgesiedelt

wurden. Wie die Kirche zerstört wurde,

in der er seine Firmung hatte. Wie der Friedhof

verschwand, auf dem seine Eltern begraben

Lützerath

S Karte: OpenStreetMap

Mönchengladbach

Tagebau

Garzweiler

Düsseldorf

Rhein

10 km

waren. Den Grabstein hatte Heukamp noch

gerettet, er lehnt jetzt an seiner Hauswand.

»Es lohnt sich, für seine Heimat zu kämpfen«,

sagt er. Es ist ein langer Kampf geworden.

Seit sieben Jahren verhandeln RWE und

Heukamp, es gab immer wieder Treffen, Termine

mit Gutachtern und Anwälten. Für die

Felder, die Heukamp bereits abtreten musste,

bekam er Entschädigungen. Seinen Hof wollte

er bislang nicht hergeben.

Heukamp habe »einen Dickkopf und ein

ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit«, sagt

seine Anwältin Roda Verheyen. Er sei »eine

Besonderheit« und durchaus anstrengend.

Alles laufe übers Telefon oder per Post, denn

E-Mails schreibe Heukamp nicht.

Geht es nach RWE, wird Lützerath bis

Ende 2022 als Ortschaft verschwunden sein.

So sieht es auch die Leitentscheidung der

nordrhein-westfälischen Landesregierung vor.

Das, was der Konzern vorhat, ist längst genehmigt.

Doch ist alles, was rechtens ist, auch

richtig?

Deutschland will aus der Kohleverstromung

aussteigen, so hat es noch die alte Bundesregierung

beschlossen. Und im Koalitionsvertrag

der Ampel steht, dass die neue Bundesregierung

bestimmte Dörfer im Rheinischen Revier

erhalten wolle. Es geht um Ortschaften, die

laut RWE bereits zu rund 70 Prozent umgesiedelt

sind. Doch Lützerath, so schien es bislang,

wird bald Geschichte sein.

Fragt man bei RWE nach Heukamp, hört

man, es habe »eine Vielzahl von Gesprächen

mit konkreten Angeboten« gegeben. Stimmt,

sagt Heukamp, »aber die Angebote waren

alle untauglich für mich«. Er zeigt auf den

ehemaligen Kuhstall. Vor ein paar Jahren

habe er das Dach erneuern lassen, sagt er, für

10 000 Euro. RWE habe ihm für das Gebäude

insgesamt 37 000 Euro geboten. Lächerlich,

findet der Bauer. Er sagt, ihm seien Felder

in Brandenburg angeboten worden, bei

Frankfurt (Oder). »Was soll ich damit?«

Heukamp schwärmt vom fruchtbaren

Ackerland rund um Lützerath, von »Lössschichten

und Bördeböden«, die es eben nicht

überall gebe und mit denen man auch in trockenen

Jahren eine ordentliche Ernte einfahren

könne.

Irgendwann hatte RWE genug von dem

renitenten Bauern und seinem Faible für Bördeböden.

Seitdem geht es um die Eigenheiten

des Bergrechts, der Konzern und der Bauer

streiten über »Grundabtretungsbeschlüsse«

und »vorzeitige Besitzeinweisungen«. Es ist

kompliziert geworden, Behörden und Gerichte

befassen sich mit der Angelegenheit, es gibt

mehrere Klagen und laufende Verfahren.

Wäre es ein Tennisspiel, könnte man sagen:

Heukamp hat den ersten Satz verloren und

liegt im zweiten zurück. Er ist dennoch der

Meinung, dass seine Chancen 50:50 stünden.

Einen Großkonzern, das Bergrecht und Gerichte

mag er gegen sich haben. Richtig ist aber

auch, dass Heukamp nicht mehr allein kämpft.

Er steht von seinem Holztisch auf, läuft über

seinen Hof und auf die kleine Wiese dahinter.

38 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


DEUTSCHLAND

Henning Kaiser / picture alliance / dpa

Dort stehen Dutzende Zelte, in einem

angrenzenden Wäldchen werden

Baumhäuser gezimmert. Ungefähr 70

Klimaaktivisten leben zurzeit hinter

Heukamps Hof, er hat ihnen seine

Wiese überlassen und zwei Häuser

vermietet, die er neben seinem Hof

noch besitzt. In dem Camp trifft man

Menschen in Wanderstiefeln und

Wollpullovern, die gerade zusammen

Mittagessen. »Hi, Eckardt«, rufen sie,

als sie Heukamp sehen. Manche von

ihnen waren in den vergangenen Jahren

schon im Hambacher Forst unterwegs,

andere sind neu zur Anti-Kohle-

Bewegung hinzugestoßen.

Die Aktivistinnen und Aktivisten

haben Heukamps Einsatz gegen RWE

politisch aufgeladen, Lützerath und

sein letzter Bauer sind für sie zum

Symbol geworden. Über dem Eingang

zu Heukamps Hof hängt ein gelbes

Transparent: »1,5°C heißt: Lützerath

bleibt!« Für die Aktivisten ist das

Dörfchen der Praxistest für den Pariser

Vertrag. Wenn es die Politik mit

dem 1,5-Grad-Ziel ernst meint, dürfe

Lützerath nicht weggebaggert werden,

so sehen sie es.

vor die Gerichte habe bislang knapp

90 000 Euro gekostet, so erzählt es

zumindest Heukamp. Einen Teil davon

habe er über Spenden abdecken

können. Geld, das von den Aktivisten

akquiriert worden sei. Im Gegenzug

lässt sich Heukamp von ihnen zur

Ikone machen. Man könnte auch sagen,

er lässt sich instrumentalisieren.

Kurz hinter dem Camp beginnt das

Abbaufeld. Heukamp blickt auf die

Bagger, sie wühlen sich durch die Felder,

die einst ihm gehörten. Man sieht

Männer in gelben Westen. Es sind

Sicherheitsleute von RWE, sie sollen

verhindern, dass Aktivisten auf das

Gelände kommen und Maschinen besetzen.

»Die Aufpasser«, sagt Heukamp

und lacht.

Er wirkt nicht verbittert, eher

gleichmütig. Falls er vor Gericht recht

bekommt, hat er zwar vermutlich

vorerst seinen Hof gerettet. Doch wie

es für ihn als Landwirt weitergeht,

woher er neues Ackerland bekommt,

wisse er auch noch nicht, sagt er. Und

falls er vor Gericht verliert? »Es ist

klar, dass man das Bäuerchen nicht

mehr so einfach vom Hof tragen

kann«, sagt er. Sein Gehöft, sein Dorf

seien »ein Faustpfand« geworden.

Erst war Heukamp ein Mann, der

keine Lust hatte, sich verscheuchen

zu lassen, ein Neinsager aus Prinzip.

Dann kamen die Aktivisten, die Bedeutung

und die Popularität, die ihm

schmeicheln. Jetzt merkt Heukamp,

dass er Macht hat, dass der Preis für

seinen Hof gestiegen ist. Heukamp

Auf Twitter und Instagram posten Landwirt Heukamp, erzählt, manche der Polizisten, die

sie mehrmals täglich Fotos und Parolen

aus dem Camp, es gibt Presse-

Thunberg, Braun­

ihn für seine Standhaftigkeit loben.

Klimaschützerinnen am Tagebau im Einsatz seien, würden

Luisa Neubauer,

mitteilungen und ein Videoblog. kohletagebau nahe Bei RWE heißt es, man sei weiter

Heukamp ist zum Zentrum einer PR- Lützerath: Praxistest für »eine einvernehmliche Lösung«

Kampagne geworden, die der eines für den Pariser Vertrag offen. Heukamp sagt, eine Einigung

Dax-Konzerns kaum nachsteht. Im

September schaute Greta Thunberg

vorbei, im Oktober demonstrierten

in Lützerath mehrere Tausend Menschen

gegen den Kohleabbau. Dem

Großteil der Aktivisten reicht es, in

Menschenketten zu stehen. Andere

stürmen immer wieder in den Tagebau,

besetzen Bagger und Gleise.

Was hält er davon, dass ihn die Aktivisten

zum Helden machen? »Ich bin

da nicht scharf drauf, aber ich brauche

die Öffentlichkeit«, sagt Heukamp. Ist

er selbst Aktivist? »Nein, mir geht es

um meinen Hof. Ich bin aber auch

überzeugt, dass der Wandel nötig ist.

Es gibt genügend Argumente gegen

die Kohle.« Was sagt er dazu, dass

manche Aktivisten Straftaten begehen?

»Ich finde das nicht gut, es bringt

uns nichts. Das sage ich denen auch.«

Er und die Aktivisten sind eine

sei »nicht ausgeschlossen«, das Angebot

müsse »akzeptabel« sein. Vielleicht

ist es am Ende wie so oft nur

eine Frage des Geldes. Doch was würden

die Aktivisten sagen, wenn er sich

doch noch kaufen ließe?

»Ich weiß nicht, ob ich an seiner

Stelle diesen Stress ertragen würde«,

sagt Anwältin Verheyen. »Er bekommt

von allen Seiten Druck. RWE

möchte, dass er aufgibt. Die Aktivisten

wollen, dass er weiterkämpft. Die

Journalisten wollen Interviews. Er

selbst würde wahrscheinlich einfach

gerne mal wieder Landwirt sein.«

Eckardt Heukamp deutet vom

Tagebaurand auf ein Stück Acker.

Obwohl es inzwischen RWE gehöre,

habe er dort kürzlich Weizen eingesät,

sagt er. »Auf Verdacht.« Sollten

die Bagger nicht schnell genug sein,

könne er ihn im Sommer ernten.

Symbiose eingegangen. Sein Gang Lukas Eberle n

Dominik Asbach / laif

Jochen Tack / picture alliance / dpa

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

39


DEUTSCHLAND

Der Weg

zum Geld

SUBVENTIONEN Wollte das Staatstheater

Darmstadt die Bundesagentur für Arbeit

um fast eine Million Euro erleichtern? Staatsanwälte

ermitteln, ihr Verdacht: Betrug.

I

m Märchen »Aladin und die

Wunderlampe« ist der Weg zum

großen Geld einfach: Kurz an

einem Öllämpchen reiben, schon ist

man alle materiellen Sorgen los.

Das Staatstheater Darmstadt, wo

das Stück zu Weihnachten noch auf

dem Spielplan stand, hat es im echten

Leben schwerer. Das landeseigene

Opern- und Schauspielhaus wird seit

Jahren von Krisen und roten Zahlen

geplagt, trotz hoher Zuschüsse der

Stadt Darmstadt und des Landes Hessen.

2019 musste es sogar eine Haushaltssperre

verhängen.

Im Coronajahr 2021 ersannen die

Geschäftsführung und der Intendant

einen Plan, der beinahe so wunderbar

erschien wie Aladins Zauber – der

aber nun die Darmstädter Staatsanwaltschaft

ins Spiel brachte. Frisches

Geld, so die Idee, könne doch die

Bundesagentur für Arbeit (BA) liefern.

Dort waren Milliarden an Kurzarbeitergeld

zu verteilen, um die Folgen

der Pandemie abzufedern.

Die Staatsbühne beantragte im Herbst

Kurzarbeitergeld für den Monat Juli.

516 Beschäftigte seien in diesem Monat

von Folgen der Krise betroffen,

heißt es im Antragsformular. Insgesamt

seien 924 404 Euro und 76 Cent

zu erstatten – inklusive Erstattung

von Sozialversicherungsbeiträgen.

Verwertbare Urlaubsansprüche, mit

denen die Kurzarbeit im Theater vermieden

werden könnte, gebe es nicht

mehr.

In Wirklichkeit, so berichten Theaterleute,

hätten sich viele Beschäftigte

im Juli sowieso in ihren Jahresurlaub

verabschieden wollen. Vom

4. Juli bis 17. August sollten ursprünglich

Theaterferien sein, in denen der

Spiel- und Probebetrieb ruht. Der

Zeitraum war schon 2020 verkündet

worden. Hinzu kam: Wegen der niedrigen

Inzidenzwerte waren die Beschränkungen

in Hessen Ende Juni

Intendant Wiegand,

Gelände vor

dem Staatstheater

Darmstadt: Von

roten Zahlen geplagt

stark gelockert worden. Die Pandemie

hätte den Theaterbetrieb kaum

noch einschränken müssen. Intendant

Karsten Wiegand wies diesen Einwand

gegenüber der Arbeitsagentur

zurück: »Ein Staatstheater kann nicht

so kurzfristig auf den Wegfall der Coronabedingungen

reagieren«, schrieben

er und eine Vizedirektorin. Ein

Haus mit mehr als 500 Beschäftigten

müsse erst »hochgefahren« werden.

Tatsächlich stand das Theater im

Sommer noch vor einem anderen

Problem. Es hatte die Pandemiezeit

für eine umfangreiche Sanierung nutzen

wollen, doch die Arbeiten kamen

nicht wie geplant voran. Mitte Juni

alarmierte eine Baumanagerin den

Intendanten über massive Verzögerungen

bis in den Herbst.

Die Theaterleitung zeigte sich »geschockt«

von den »Hiobsbotschaften«,

wie sie kurz darauf in einer

Nachricht an die hessische Kunstministerin

Angela Dorn (Grüne) schrieb.

Wegen der Baumaßnahmen sei der

Proben-, Arbeits- und Spielbetrieb

nicht wie geplant ab Mitte August

möglich, erfuhr die Ministerin. Die

Gründe dafür seien, neben Lieferverzögerungen

und Materialknappheit,

zum Teil in der Landesverwaltung

selbst zu suchen, nämlich »späte Vergaben

im Zuge der Freigabe des Landeshaushalts

im Februar dieses Jahres

und ähnliches«.

In derselben E-Mail lieferten der

Intendant und seine Geschäftsführer

Rolf Oeser

Dietmar Scherf / ullstein bild

der Ministerin eine Lösung: Man werde

die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

des Theaters ab Anfang Juli »sehr

weitgehend in Kurzarbeit schicken«,

schrieben die Theaterleute unter anderem.

Die Theaterferien würden einfach

um einen Monat verschoben, in

Abstimmung mit dem Personalrat.

Dieser stimmte zwar zu, aber das

Gremium plagten offenbar Bedenken.

Eine Fachanwältin für Arbeitsrecht,

die der Personalrat einschaltete,

warnte: Weder die übliche Sommerpause

noch die technischen Arbeiten

rechtfertigten den Bezug von Kurzarbeitergeld.

Es handle sich vielmehr

um eine »vermeidbare Schließung

ausschließlich aus betriebsorganisatorischen

Gründen«.

So ähnlich sehen es auch Sachbearbeiter

der Bundesagentur. Nachdem

sie von Theater-Insidern informiert

worden waren, stoppten sie vorläufig

die Auszahlung. Ein Anspruch auf

Kurzarbeitergeld bestehe nur, wenn

der Ausfall »nicht auf branchenüblichen,

betriebsüblichen oder saisonbedingten

Gründen« beruht, so eine

Sprecherin der Agentur. Wer dazu

falsche Angaben mache, trage ein

»großes Risiko«.

Mehr als 250 Fälle habe die BA bis

Ende Oktober an Staatsanwaltschaften

und Polizei weitergeleitet. Auch

der mutmaßliche Staatstheater-Fall

landete dort: Die Staatsanwaltschaft

Darmstadt hat nach einer Vorprüfung

ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts

auf Subventionsbetrug eingeleitet,

bestätigt ein Sprecher.

Das Theater ließ auf SPIEGEL-Anfrage

eine Anwaltskanzlei erklären,

der Vorwurf entbehre »jeder Grundlage«.

Die Bauverzögerungen seien

keine betriebsorganisatorischen Versäumnisse,

sondern hätten, wie etwa

die Rohstoffknappheit, mit Corona

zu tun. Der Antrag sei »nach bestem

Wissen und Gewissen geprüft« worden

und gerechtfertigt. Es gebe auch

keinen kausalen Zusammenhang

zwischen den Umbauverzögerungen

und dem Antrag auf Kurzarbeitergeld;

die Verlagerung der Resturlaubsbestände

sei im Antrag schon

berücksichtigt gewesen.

Ministerin Dorn wiederum teilte

mit, ihr Haus habe damit so gut wie

nichts zu tun: Es sei »in die konkrete

Antragstellung auf Kurzarbeitergeld

nicht einbezogen« gewesen, so ein

Sprecher. Überdies handle es sich um

ein laufendes Verfahren der BA, das

noch nicht entschieden sei.

Im neuen Jahr steht »Aladin«, zumindest

bisher, nicht mehr auf dem

Spielplan des Theaters.

Matthias Bartsch

n

40 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Frühplaner

sind klar im Vorteil!

15%

*

Frühplaner-Vorteil auf dein

Projekt ab 500 €.

Mit der heyOBI App!

So sicherst du dir deinen Vorteil!

heyOBI App downloaden und registrieren

Projekt mit deinem Berater im teilnehmenden OBI Markt oder in

der heyOBI App planen und Aktionscode erhalten

Aktionscode in der heyOBI App unter › Profil › Meine Coupons

› Aktionscode eingeben und einen 15 %-Rabattcoupon* für dein

Projekt ab 500 € Einkaufswert erhalten

* Aktionscode und Rabattcoupon gültig bis zum 27.02.2022 auf dein geplantes Projekt ab einem Einkaufswert von 500 €. Aktionscode nur in

teilnehmenden Märkten oder in der digitalen Beratung von heyOBI erhältlich. Download und Registrierung in der heyOBI App sind erforderlich.

Aktionscode und Rabattcoupon nur mit der heyOBI App einmalig im teilnehmenden Markt einlösbar. Nicht online einlösbar. Bitte beachte die

heyOBI Coupon-Bedingungen in der App. Mehr Informationen und teilnehmende Märkte findest du auf obi.de/fruehplanervorteil.

Eine Werbung der OBI Partner, erstellt und verantwortet durch die OBI GmbH & Co. Deutschland KG, Albert-Einstein-Straße 7–9,

42929 Wermelskirchen. Auflistung eurer OBI Märkte unter obi.de/partner.


DEUTSCHLAND

Stadtansicht von Erbach 2012

Stadtmarketing Erbach / dpa

»Gestapo go home«

AGGRESSIONEN In einem idyllischen Städtchen müssen zwei Cafés schließen, weil Corona-Auflagen

missachtet wurden. Kurz darauf beschimpfen »Querdenker«

Polizisten, der Bürgermeister und seine Familie werden bedroht. Was ist nur los im Land?

E

s ist Montagvormittag, der 29. November,

als in einer Telegram-Gruppe dazu

aufgerufen wird, den Bürgermeister der

hessischen Kleinstadt Erbach, Peter Traub,

und seine Familie zu bedrohen.

Jörg L.: »Jetzt sollte es an der Zeit sein,

dem Traub die Stirn zu bieten. So nicht! Wie

auch immer man es macht, er muss den Druck

spüren.«

»Wie?«

Jörg L.: »Wie ich sagte: Demo vor seiner

Haustür – er muss bedrängt werden. Die Familie

fühlt sich dann nicht mehr sicher. Auch

mal die eine oder andere laute Drohung.«

»Yeees!«

Jörg L.: »Der darf keine ruhige Minute

mehr haben. Das Haus muss im Prinzip tagtäglich

›belagert‹ sein. Natürlich vorher nicht

anmelden.«

Ein Abgeordneter des Stadtrats habe ihm

am Abend die Nachrichten auf seinem Handy

gezeigt, erzählt Traub. »Da wurde mir schon

mulmig«, sagt der Bürgermeister. Er benachrichtigte

die Polizei.

Peter Traub, 65, ist seit drei Jahren Bürgermeister

von Erbach, einem Städtchen im

Odenwald. Knapp 14 000 Menschen leben

hier, vier Polizisten gibt es im Ort. In normalen

Zeiten ist Erbach für sein Schloss und das

Deutsche Elfenbeinmuseum darin bekannt.

In diesen Tagen ist Erbach noch etwas anderes:

eine Art Wallfahrtsort für »Querdenker«. Und

ein Menetekel für das ganze Land. Denn in

dem Städtchen zeigt sich, wie tief die Spaltung

der Gesellschaft schon ist, selbst in der Idylle.

Der inzwischen offen rechtsextreme Attila

Hildmann hat die Stadt auf Telegram erwähnt,

und auch der Mediziner Bodo Schiffmann,

auf den sich viele Coronaleugner berufen,

teilte die Nachricht aus Erbach. Als

Politiker Traub

Dirk Zengel / pics4news.de

wäre hier ein Hort des Widerstands gegen ein

Unrechtsregime.

Politiker und Verfassungsschützer warnen

seit Längerem vor einer Radikalisierung der

»Querdenken«-Szene. Sie wird inzwischen

vom Verfassungsschutz beobachtet. Im September

erschoss ein Mann einen Angestellten

einer Tankstelle in Idar-Oberstein, weil der

ihn gebeten hatte, eine Maske zu tragen.

So weit ist es in Erbach nicht gekommen.

Aber die Geschichte des Städtchens ist die

einer Eskalation. Sie endet mit dem Aufruf,

einen Bürgermeister und seine Familie einzuschüchtern.

Und beginnt bei einem Bäcker.

Alexander Knierim betreibt im Ort zwei

Bäckereien mit Cafés. Auf seiner Website wirbt

er mit dem guten alten Handwerk, alle Produkte

werden »in der Backstube direkt vor Ort«

hergestellt. Was es lange nicht in der Bäckerei

von Knierim gab: Hygienekonzept, Masken

oder die Bereitschaft, die Regeln zu achten.

In den eigenen Geschäften habe der Bäcker

nie Maske getragen, sagt Traub, sein Personal

ebenso wenig. Die Inhaber anderer Geschäfte

hätten sich beschwert, nach dem Motto:

Wie kann es sein, dass wir uns an die Regeln

halten müssen und der nicht?

Ab Anfang Oktober kontrolliert das Gesundheitsamt

immer wieder das Café, führt

42 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


o2.de/netz

Eine Wiederholung,

die nie langweilig wird

wurde im connect Netztest zum zweiten Mal

in Folge mit sehr gut ausgezeichnet.

* connect Mobilfunk und 5G-Netztest, Heft 1/2022: „sehr gut“ (874 Punkte); insgesamt wurden vergeben: 3x „sehr gut“ (944, 913 und 874 Punkte).

Telefónica Germany GmbH & Co. OHG, Georg-Brauchle-Ring 50, 80992 München, WEEE-Reg.-Nr. DE 10160685


DEUTSCHLAND

Gespräche mit Knierim. Man macht ihm

klar, dass seine Cafés geschlossen würden,

sollte er so weitermachen. »Er hat alle Hinweise

demonstrativ provokant ignoriert«, sagt

Traub.

Knierim wehrt sich schriftlich gegen die

Maßnahmen. Er zweifelt die Autorität der

Polizei und des Gesundheitsamts an und fordert

sie auf, ihre »Legitimation« nachzuweisen.

In einem Schreiben schwurbelt er etwas

von »Hochverrat«.

»Der Mann bedient sich klassischer Reichsbürger-Gedanken«,

sagt Bürgermeister Traub.

»Er stellt die Legitimation der Institutionen

grundsätzlich infrage.« Der SPIEGEL hat

Knierim um eine Stellungnahme gebeten,

allerdings keine Antwort erhalten.

Am 25. November handelt das Gesundheitsamt.

Gegen Mittag wird Knierim verboten,

Waren zu verkaufen und das Café

zu betreiben. Die Tür wird mit einem

rot-weißen Flatterband gesperrt, Stadtpolizisten

stellen sich vor den Eingang. Erst

wenn Knierim ein Hygienekonzept vorlege

und sich an die Corona-Auflagen halte, dürfe

er wieder öffnen.

Die Nachricht verbreitet sich in der »Querdenken«-Szene

– per Telegram. Das Café sei

geschlossen worden, »weil es sich mit dem

System angelegt hat und Menschen nicht diskriminiert

hat«, heißt es in einem »Querdenker«-Kanal.

Diese Nachricht teilt der in der

Szene bekannte Arzt Bodo Schiffmann in

seiner Telegram-Gruppe, die 156 000 Menschen

abonniert haben. Auch ein Foto des

Cafés wird dort gezeigt.

In der Telegram-Gruppe »FREEodw« tummeln

sich Erbachs Impfskeptiker und Gegner

der Coronamaßnahmen. Etwa 200 Mitglieder

hat die Gruppe zu dem Zeitpunkt. Auch dort

veröffentlicht jemand ein Bild von der Schließung.

»Erinnert das nicht langsam doch an

gewisse Zeiten?«, fragt eine Nutzerin.

Im Kanal wird eine »Spontan-Versammlung«

angekündigt. »Solidarität mit unserem

Bäcker vom ›Café Zeitlos‹!! Heute um 18 Uhr.«

Ein Bild der Polizisten, die vor dem Café stehen,

kommentiert ein Nutzer mit den Worten:

»Da sind sie groß die SS-Söldner vom Matiaske.«

Frank Matiaske ist der Landrat des

Odenwaldkreises.

Ein Nutzer namens »Alex K.«, womöglich

der Betreiber des Cafés, bedankt sich für die

Unterstützung: »ihr seid Spitze, vielen Dank

dafür«, schreibt er, garniert mit drei Kuss-

Smileys. In den nächsten Stunden kommentieren

diverse Nutzerinnen und Nutzer in der

Gruppe die Ereignisse. »Das ist Faschismus

pur«, schreibt einer. Ein anderer: »Gestapo

go home«.

Noch am selben Abend versammeln sich

vor dem Café Demonstrantinnen und

Demonstranten. Die Menschen betreten das

Café, Bilder auf Twitter zeigen, wie sie ohne

Maske darin sitzen, an der Tür hängt ein Zettel:

» … wenn Unrecht zu Recht wird – wird

Widerstand zur Pflicht!!! … Solidarität für

Alex«. Auf Videos sind Menschen zu sehen,

»Es könnte

Trittbrett fahrer geben,

die sich

motiviert fühlen.«

die vor dem Café stehen und im Licht der

Polizeiwagen singen: »Ohne Knüppel, ohne

Helme seid ihr nichts.«

Am kommenden Tag kehren Leute des Gesundheitsamts

zurück zum Café und schließen

es mit einem amtlichen Siegel.

Am Vormittag des 29. November teilt

eine Nutzerin ein Foto eines Beitrags der

Lokalzeitung »Odenwälder Echo« zur

Schließung. Darin wird Bürgermeister Traub

zitiert: »Ich bedauere die jüngsten Entwicklungen.«

Er verweist auch darauf, dass man

sich an die Regeln halten müsse. Die Reaktion

in der Telegram-Gruppe ist deutlich.

Eine Nutzerin reagiert mit acht Mittelfinger-

Emojis und schreibt: »Fascholaden«. Dann

tippt Jörg L. seine Drohung in die Gruppe,

Traub und seine Familie sollen bedrängt

werden.

Einige in der Gruppe sind ver ärgert über

diese Eskalation. »Die Familie von dem

Mann hat damit nichts zu tun«, schreibt einer.

Jörg L. antwortet: »Geh Tanzen und werfe

mit Gänseblümchen – davon ist das Regime

bestimmt beeindruckt und die ziehen alles

zurück.«

Eine andere Nutzerin schreibt später, sie

sei erschrocken über den rauen Ton in der

Gruppe. »Wo bleibt der gegenseitige Respekt?«

L. findet mit seinem Aufruf wenig

Anklang, einige Mitglieder der Gruppe kritisieren

ihn scharf.

Bürgermeister Traub sagt, nach der Drohung

habe er mit den Initiatoren der Gruppe

gesprochen. Die hätten ihm gesagt, dass sie

diese Art von Nachrichten verurteilten und

L. aus der Gruppe ausgeschlossen hätten.

Traub sorgt sich dennoch. »Die Vernetzung

geht heute so schnell bundesweit. Es könnte

bei so etwas Trittbrettfahrer geben, die sich

motiviert fühlen.«

Telegram

Der Nutzer, der sich bei Telegram Jörg L.

nennt, kürzt zu diesem Zeitpunkt den Nachnamen

nicht ab. Dem SPIEGEL liegt ein

Screenshot der Nachricht vor. In der Nähe

von Erbach lebt ein Mann, der genauso heißt

wie dieser Nutzer.

Bürgermeister Traub hat keinen Zweifel,

dass L. derjenige ist, der die Drohung gegen

ihn und seine Familie verfasst hat.

Dieser Jörg L. ist kein Unbekannter im Ort:

Er saß mal – damals noch unter einem anderen

Namen – für die AfD im Kreistag. Auf

Facebook beschimpfte er Sozialdemokraten

als »rote Ratten« und Grüne als »Biomüll«.

Er schrieb auch: »Ich würde gern was ehrenamtlich

tun, Henker, Scharfrichter oder so.«

L. teilte auf Facebook mehrfach mit, was

er von den Coronamaßnahmen hält, und

schrieb etwa über Angela Merkel: »Das

Murksel traut sich wesentlich mehr als Erich

und Adolf je gewagt hätten!« L. gehört außerdem

wohl der »Reichsbürger«-Szene an: Er

bezeichnet sich selbst als Bürger des »Deutschen

Reichs«.

Kurz nachdem L. bei Telegram dazu aufruft,

den Bürgermeister zu bedrohen, löscht

er den Aufruf wieder. Er ändert seinen Profilnamen

in »Jörg der Löwe« und sein Profilbild,

auf dem nun keine Person abgebildet ist.

Doch auf Telegram kann weiterhin das alte

Profilbild eingesehen werden, das Jörg L.

zeigt.

Der SPIEGEL hat Jörg L. angefragt, ob er

sich zu dem Sachverhalt äußern wolle, allerdings

keine Antwort erhalten.

Am 1. Dezember veröffentlicht der Odenwaldkreis

eine Pressemitteilung auf seiner

Website. »Erbacher Café kann wieder öffnen«

ist dort zu lesen. »Der Betreiber hat ein Abstands-

und Hygienekonzept vorgelegt, das

vom Gesundheitsamt geprüft wurde.«

Der Sprecher des Landkreises betont

mehrfach, wie »konstruktiv« der Austausch

mit Bäcker Knierim gewesen sei. Auf Telegram

wird die Wiedereröffnung als Triumph

gefeiert. »Ich würde sagen Punktsieg für den

Bäcker« steht in einer Nachricht, die in der

Odenwald-Gruppe geteilt wird.

Es ist eine kuriose Dissonanz – für das Gesundheitsamt

geht es um einen Verwaltungsakt.

Für die »Querdenker«-Community geht

es um viel mehr.

Die Polizei in Erbach fährt weiterhin regelmäßig

am Haus des Bürgermeisters vorbei.

Am Nikolaustag, erzählt Traub, seien Polizisten

in sein Haus gekommen und hätten untersucht,

wie es um den »Objektschutz« bestellt

sei. »Es ist schon ein irritierendes Gefühl,

wenn man sein Haus nach solchen Kriterien

angeguckt bekommt«, sagt Traub. Und die

Polizei habe ihm einen Tipp gegeben: Bevor

er sich morgens in sein Auto setzt, erzählt er,

geht er jetzt einmal um das Fahrzeug.

Er sei wachsam, sagt Traub. Aber Angst

habe er nicht. »Wenn ich Angst hätte, würde

ich vielleicht nichts mehr sagen. So weit ist

es nicht.«

Telegram-Chat-Ausschnitt Hannes Schrader n

44 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


75 JAHRE DER SPIEGEL

1947 — 2022

18

SEITEN

JUBILÄUMS-

SPEZIAL

SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein,

Redakteur Conrad Ahlers 1965

mit einer Meldung über das Aus

des Strafverfahrens gegen sie

in der SPIEGEL-Affäre

75 JAHRE DER SPIEGEL

AUGSTEINS SCHWESTER ÜBER IHREN BRUDER • DIE SPIEGEL-AFFÄRE •

FÄLSCHER RELOTIUS • DIE GRÖSSTEN SCOOPS

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

45


Marcus Wiechmann / DER SPIEGEL

Originalversion des

SPIEGEL-Statuts von 1949


75 JAHRE DER SPIEGEL

»Nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch.«

D

iesen Satz hat Rudolf Augstein im SPIEGEL-Statut verankert,

zwei Jahre nach Gründung des Magazins. Der Satz prägt unseren

Journalismus bis heute. Jede gute Geschichte hat Protagonisten,

an denen sie entlangerzählt wird: Helden oder Staatsfeinde, Hasardeure oder Wunderkinder,

Mächtige oder Hilflose. Der SPIEGEL muss aktuell sein und neuigkeitsstark, heißt

es im Statut, die Artikel müssen ein allgemeines Interesse bedienen, hintergründig,

detailreich und fesselnd sein. »Der SPIEGEL darf erkennen lassen, wo seiner Meinung

nach das Schwergewicht der Argumente liegt«, schrieb Augstein, aber nicht mit erhobenem

Zeigefinger daherkommen.

Wenn man das so liest, 75 Jahre nach Gründung, ist das erstaunlich aktuell. Natürlich

sind wir heute längst mehr als nur ein Magazin. Wir bündeln unter der Marke SPIEGEL auch

Videos und Podcasts, machen Konferenzen und Live-Talks, haben unser Themenangebot erweitert:

um Rubriken wie »Leben« und »Start«, Beilagen wie »Bestseller« und »Geld«. Und

unseren Rhythmus bestimmt nicht mehr die Woche, sondern SPIEGEL.de. Die Website gibt

den Takt vor, sie ist die Nachrichtenmaschine und erreicht jeden Tag Millionen Menschen.

Ob wir uns denn selbst immer noch als »Sturmgeschütz der Demokratie« bezeichnen,

wurde ich unlängst gefragt. So militärisch würden wir es nicht mehr formulieren. Aber

die SPIEGEL-Affäre von 1962 hat sich eingebrannt ins Markenversprechen. »Vor keiner

Autorität zu kuschen« blieb laut Augstein der eiserne Grundsatz. Bis heute stehen wir

mit dem SPIEGEL für unabhängigen, unerschrockenen und unbeugsamen Journalismus, für

das Aufdecken von Missständen und Affären, das Einordnen komplexer Zusammenhänge,

das kritische Hinterfragen wohlfeiler Floskeln – und natürlich: das aufregende Erzählen,

detailgetreu und nah dran, im Heft wie im Digitalen.

Das alles lässt sich auf einen kurzen, großen Satz bringen: »Sagen, was ist.« Das

Augstein-Zitat hängt im Foyer unseres Verlagshauses und erinnert uns in Zeiten von zunehmendem

Aktivismus und gezielten Falschnachrichten an unseren Auftrag.

»Alle Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen«, heißt es

im Statut von 1949 – ein Grundsatz, gegen den wir mit den Fälschungen unseres damaligen

Reporters Claas Relotius massiv verstoßen haben, trotz aller Sicherungssysteme. Doch

wir haben Lehren daraus gezogen, haben unsere Erzähl-, Recherche- und Verifikationsstandards

überarbeitet und uns in einem neuen Leitfaden auf die alten Tugenden zurückbesonnen.

Die nächsten 75 Jahre können also kommen. Zumal wir mit dem SPIEGEL in der digitalen

Transformation wieder genau da aufsetzen, wo wir vor 75 Jahren gestartet sind:

bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Wir machen den SPIEGEL nicht für Anzeigenkunden,

Mäzene oder Mächtige, sondern für Sie. Und ganz im Sinne Augsteins machen wir ihn so,

wie wir ihn selbst gern lesen würden.

David Maupilé

Steffen Klusmann

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

47


Augstein-Schwester

Villwock im

Atrium des Hamburger

SPIEGEL-Gebäudes


75 JAHRE DER SPIEGEL

SPIEGEL-GESPRÄCH

»Er wollte geliebt

werden«

Ingeborg Villwock ist die Schwester des SPIEGEL-Gründers

Rudolf Augstein. Hier redet sie erstmals offen über den Mann,

der ihr noch immer ein Rätsel ist – und

die Frage, ob er sein Magazin heute mögen würde.

Die promovierte Biologin Villwock, 92,

arbeitete bis zu ihrem Ruhestand an

der Universität Hamburg. Als Studentin

jobbte die jüngste der sieben Augstein-Geschwister

in der SPIEGEL-

Dokumentation, heute gehört sie dem

Kuratorium der Rudolf Augstein Stiftung

an. Einmal im Monat trifft sie

sich in der SPIEGEL-Kantine mit Brigitte

Wulzinger, die im Wirtschaftsressort

des Magazins arbeitet und in

Augsteins letzten Lebensjahren dessen

Vorleserin war. Bei zweien der besagten

Mittagessen entstand dieses Gespräch,

das Wulzinger gemeinsam mit

Redakteur Alexander Kühn führte.

SPIEGEL: Frau Villwock, haben Sie

das Gefühl, Ihrem Bruder nahe zu

sein, wenn Sie hierher zum SPIEGEL

kommen?

Villwock: Ach, das ist mir zu pathetisch.

Die Besuche sind mir ein Anliegen,

so würde ich es ausdrücken. Ich habe

mich in meinem Leben über den

SPIEGEL gefreut, mich über ihn geärgert,

mich um ihn gesorgt – und finde

es schön, hier willkommen zu sein.

SPIEGEL: Wie viel von Rudolf Augstein

steckt noch in diesem Haus?

Villwock: Wenig. Mein Bruder hat das

heutige SPIEGEL-Gebäude ja gar

nicht mehr kennengelernt. Als Sie hier

2011 einzogen, war er bereits neun

Jahre tot.

SPIEGEL: Würde er das Haus mögen?

Villwock: Ich glaube, nicht. Es hat

etwas schrecklich Nüchternes, finden

Sie nicht auch? Nun ließe sich einwenden,

Rudolf hätte diese Kälte gar nicht

gespürt, weil er dafür zu wenig feinfühlig

war. Aber das Großspurige, das

Geschwister

Augstein, Villwock

2001: »Danach

dachte ich,

er enterbt mich«

hätte ihn gestört. Es wäre ihm hier zu

unübersichtlich, man verläuft sich ja.

SPIEGEL: Im Atrium hängt in großen

Lettern der berühmte Satz Ihres Bruders

»Sagen, was ist«, darunter seine

Unterschrift. Gefiele ihm das?

Villwock: Ja, und er würde sich darüber

ganz schön wundern. Gegen

Ende seines Lebens sagte er einmal:

Wenn ich weg bin, bin ich weg. Er war

schon sehr krank und merkte, dass

die hier nicht mehr so ticken wie er.

In seinen letzten Jahren hat die Chefredaktion

den SPIEGEL bereits ohne

ihn regiert, manchmal auch gegen ihn.

Seine Kommentare wurden überarbeitet,

bevor sie in Druck gingen –

zum Glück, muss man sagen. Als er

einmal anordnete, Magda Goebbels

aufs Titelbild zu nehmen, weil er gerade

ein Buch über sie und weitere

Nazi-Frauen gelesen hatte, weigerte

Chefredakteur Stefan Aust sich. Was

war Rudolf da empört!

Marc Darchinger

SPIEGEL: Dennoch begegnete man ihm

bis zum Ende mit Respekt. In der großen

Montagskonferenz wurde sein

Platz stets freigehalten, selbst wenn er

nur noch alle paar Monate teilnahm.

Villwock: Ich erinnere mich aber auch

an ein Interview, das junge SPIEGEL-

Redakteurinnen und -Redakteure anlässlich

seines 70. Geburtstags mit

ihm führten. Sie fragten ihn, warum

er so selten im Haus sei, welchen Nutzen

der SPIEGEL noch von ihm habe,

und bezeichneten ihn als »ressentimentgeladenen

Provokateur«. Das

war von einer Despektierlichkeit, die

fand ich unerhört. Immerhin waren

das seine Leute.

SPIEGEL: Die taten doch lediglich, was

er ihnen immer auferlegt hatte: ohne

Angst vor Autoritäten zu fragen. Nur

dass die Autorität in dem Fall er selbst

war.

Villwock: Er hatte es ihnen vorgelebt,

da mögen Sie recht haben. Unverschämt

fand ich es trotzdem. Ich meine,

wem von denen wäre es gelungen,

mit 23 Jahren so eine Zeitschrift zu

gründen?

SPIEGEL: Sie sind 92 Jahre alt und haben

sich über Ihren Bruder bislang

kaum öffentlich geäußert. Warum tun

Sie es jetzt?

Villwock: Ich spüre, wie sehr er mich

noch immer beschäftigt. Über niemand

anderen denke ich so oft nach

wie über Rudolf. Er wird mir zunehmend

rätselhafter, und ich finde keine

Ruhe. Mit meinen anderen fünf Geschwistern

kann ich leider nicht mehr

über ihn sprechen, sie sind alle tot.

SPIEGEL: Was macht ihn für Sie zu

einem Rätsel?

Foto: Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

49


75 JAHRE DER SPIEGEL

Villwock: Er besaß immens viel Bildung,

genoss ein so hohes Ansehen.

Ihm war bewusst, wie viel Glück er

in seinem Leben hatte. Dennoch zählt

er zu den traurigsten Menschen, die

ich kennengelernt habe. Ich behaupte:

Er ist nicht einmal in seinem Leben

etwas länger glücklich gewesen.

SPIEGEL: Trotz seiner Erfolge?

Villwock: Rudolf war vielschichtig,

voller Widersprüche. Da war die Aggression

in seinen Texten. Da war die

Lust, hart über andere zu urteilen,

Menschen mitunter zu vernichten. Er

spürte früh, dass er Furore machen

kann mit dieser Art von Journalismus.

Als die britische Militärregierung ihm

Ende 1946 die vorläufige Lizenz zur

Gründung eines Nachrichten-Magazins

erteilte, ergriff er das Glück und

nutzte die Macht, die man ihm gab.

Er war zu jung, um diesem Rausch

nicht zu erliegen. Aber wissen Sie, all

das entsprach nicht seiner Natur. Der

Rudolf, den ich vor dem Krieg kannte,

war ein anderer.

SPIEGEL: Wie haben Sie ihn vor dem

Krieg wahrgenommen?

Villwock: Mein Bruder war der friedlichste

Vertreter, den sich eine Familie

vorstellen kann. Ein Mensch, der

kaum auffiel und sich durch nichts

hervortat. Häufig absentierte er sich,

er saß dann allein da und las. Selbst

im Flegelalter hat Rudolf nie revoltiert,

er raufte sich nie mit Kameraden,

verbreitete keinerlei Häme über

sie. Vor allem unser Vater war sehr

stolz auf sein Rudolflein, er verlangte

die besten Noten, Rudolf hat sie

geliefert. Anders als unser älterer

Bruder Josef und ich, weshalb wir

beide, die nichts taugten, ins Internat

kamen. Josef wurde vom Vater geschlagen,

er nie. Rudolf wollte das

Wohlgefallen seiner Eltern.

SPIEGEL: Aus Furcht vor Züchtigung?

Villwock: Nein, er wollte geliebt werden,

das war zeitlebens seine Triebfeder.

Deshalb später die vielen Frauengeschichten,

deshalb seine fünf Ehen,

er raste von einer Liebschaft zur

nächsten. Auch wenn er manche Frau

behandelte wie eine trockene Zitrone:

Er war auf der Suche nach der Geborgenheit,

die ihm zu Hause vorenthalten

worden war.

SPIEGEL: Das klingt fast tragisch.

Villwock: Es war aber so. Unser Elternhaus

war sehr verstandesbedingt.

Als Leitmotiv galt: fördern statt verwöhnen.

Ich habe meine Eltern geachtet

und geehrt, doch wenn ich

zurückdenke, muss ich sagen: Es fehlte

an Herzlichkeit. Es gab Dienstmädchen,

die sich um uns kümmerten,

Rudolf hatte sogar eine eigene

Kinderfrau, die er sehr gern hatte.

»Rudolf

hatte

Charme und

verstand

es, Leute

für sich

einzunehmen.«

Augstein-Geschwister

Margret, Ingeborg,

Rudolf, Irmgard,

Anneliese, Josef 1933

Aber ich kann mich nicht erinnern,

dass meine Mutter uns jemals in den

Arm genommen hätte. Nur wenn

man krank war, hat sie sich um einen

gekümmert. Rudolf hat das ausgenutzt.

Er hat sogar Krankheiten simuliert.

SPIEGEL: Ihre Familie war sehr

gläubig.

Villwock: Die katholische Kirche bestimmte

unseren Alltag. Wir mussten

vor und nach dem Mittagessen beten,

jeden Sonntag ging es zur Messe.

Kam ich aus dem Internat zu Besuch

oder fuhr dorthin zurück, bekreuzigte

sich meine Mutter. Als Kind hatte

ich ständig Angst, ins Fegefeuer zu

kommen. Mariae unbefleckte Empfängnis,

die Himmelfahrt Jesu, all

dieses Zeug nahmen wir wörtlich.

Rudolfs späterer Hass auf die katholische

Kirche rührte aus dieser Zeit.

Wir haben gelitten unter diesem bigotten

Verhalten, ihm ist das nur

eher klar geworden als mir. Rudolf

fühlte sich betrogen, bis ins Mark. Er

trat allerdings erst 1968 aus der Kirche

aus, nachdem unsere Mutter gestorben

war. Dass er so ein kompliziertes

Wesen geworden ist, liegt

sicherlich auch daran, dass er seine

Opposition gegen das Elternhaus nie

ausgelebt hat.

SPIEGEL: Später trat Ihr Bruder umso

bestimmter auf.

Villwock: Er war nicht das, was er

nach außen darstellte. Er hatte ein

vermindertes Selbstbewusstsein. Ein

Grund mag sein frühes Scheitern als

Dramatiker gewesen sein, sein einziges

Stück »Die Zeit ist nahe« wurde

sogar vom SPIEGEL verrissen und

seit der Premiere 1947 nie wieder

auf geführt. Ein weiterer Grund, weshalb

er mit sich haderte, war sein

Aussehen.

SPIEGEL: Er sah doch ganz gut aus.

Villwock: Unser Bruder Josef, der Anwalt,

war ein schöner Mann. Groß,

von strahlendem Auftreten. Rudolf

war nicht hässlich, aber er war klein

Privat

und sah eher aus wie ich, bis hin zu

unserem leichten Schielen.

SPIEGEL: Sind Sie da nicht zu ungnädig,

auch mit sich selbst?

Villwock: Sprechen wir nicht über

mich, ich muss ja kein Model mehr

werden. Als Rudolf ein Kind war, hatten

die Eltern an der Wand ein Zentimetermaß

eingezeichnet. Dort wurde

er jeden Sonntag rangestellt. Weil

unser Vater es mit dem Messen weniger

genau nahm als unsere Mutter,

kam es vor, dass Rudolf an manchem

Sonntag kleiner war als an dem davor.

Er litt dann sehr, und dieses Gefühl

zieht sich durch sein Leben. Ihren

Charakter können Sie verbergen, sofern

Sie ein guter Schauspieler sind,

Ihre Größe nicht.

SPIEGEL: Kleine Männer, die Komplexe

mit Machtwillen kompensieren –

ist das nicht ein Klischee?

Villwock: Nein, für Rudolf war es eine

Triebfeder. Unser Vater war ein Zwei-

Zentner-Mann, ein Kerl wie ein Geldschrank,

und unsere Mutter das genaue

Gegenteil. Wenn Rudolf ihn

besuchte, sagte er jedes Mal: »Vater,

ich nehme es dir wirklich übel, dass

du so eine kleine Frau geheiratet

hast.« Und wer ihn beobachtete,

wenn er – häufig verspätet – zu Festlichkeiten

erschien, hatte das Gefühl:

Rudolf schämt sich, da aufzutreten.

Er hatte keine Angst vor Menschen,

aber er suchte sie nicht. Das mag auch

mit einem weiteren Erbe zu tun haben,

das er aus unserer Familie mitbekommen

hatte: etwas, das in Richtung

Autismus geht. Großvater Augstein,

ein Weinhändler aus Bingen,

hatte viel davon, der hat nicht einmal

seine eigenen Kinder wirklich wahrgenommen.

Rudolf muss ebenfalls

einen Schuss davon abbekommen

haben.

SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?

Villwock: Er tat sich schwer damit,

sich in andere Menschen hineinzuversetzen.

Stattdessen dachte er sie

sich so, wie er sie sich wünschte. Wie

wenn man sich einen Nikolaus aus

Hefeteig backt. Manche Menschen

verdorrten an seiner Seite, ohne dass

er es wahrnahm.

SPIEGEL: Sie urteilen sehr hart über

Ihren Bruder.

Villwock: Schauen Sie: Ich will ihn

bestimmt nicht miesmachen, das

wäre das Letzte. Andererseits wollen

wir ihn auch nicht zur Ikone erheben,

nicht wahr? Rudolf hatte ein gutes

Herz, auch das war eine Seite an ihm,

wenngleich er sie häufig verbarg. Er

hatte Charme und verstand es, Leute

für sich einzunehmen. Etwa den Verleger

John Jahr, der eine Zeit lang sein

Nachbar war, nachdem Rudolf 1952

50 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


75 JAHRE DER SPIEGEL

mit der Redaktion von Hannover nach Hamburg

gezogen war. Jahr beteiligte sich nicht

nur mit 50 Prozent am SPIEGEL, sondern lieh

Rudolf auch seine Esszimmerstühle, wenn

der mal wieder Gäste hatte. Er selbst sah es

zu der Zeit nämlich nicht ein, sich so viele

Stühle anzuschaffen, nur weil gelegentlich

Besuch kam. Jahr wiederum war stolz, ihn

zum Freund zu haben. Rudolf wusste auch

mit seinen Redakteuren umzugehen. Er konnte

zu Karasek gehen …

SPIEGEL: … dem langjährigen SPIEGEL-Kulturressortleiter

Villwock: … und sagen: »Hellmuth, da hast du

wieder einen Mist geschrieben.« Und der antwortete:

»Rudolf, wenn es weiter nichts ist,

ich schreib’s neu.«

SPIEGEL: Ihr Bruder soll einmal gesagt haben:

Alles, was er für den SPIEGEL brauchte, habe

er im Krieg gelernt.

Villwock: Dieses Zitat kenne ich nicht. Richtig

ist: Rudolf kam zurück als Fremder. Er war

nach dem Krieg ein anderer.

SPIEGEL: Inwiefern?

Villwock: Er war reservierter, zugleich aufsässiger.

SPIEGEL: Hat er jemals mit Ihnen darüber

geredet, was er an der Ostfront erlebt hat?

Villwock: Nie.

SPIEGEL: Haben Sie ihn danach gefragt?

Villwock: Nein.

SPIEGEL: Weil sich das nicht gehörte?

Villwock: Wahrscheinlich aus Angst, eine Antwort

zu bekommen, die mich verletzt. Ich

wollte nicht wissen, ob er jemals seine Knarre

eingesetzt hat gegen einen Menschen. Hätte

sich herausgestellt, dass er jemanden umgebracht

hat, dann hätte ich das nicht gut

verwunden. Wie bedrückend wäre es, wenn

jemand, den man gernhat, sich als Mörder

oder Totschläger herausstellt. Obwohl ich genau

weiß: So ist das nun mal im Krieg, du

musst dich wehren, sonst trifft es dich selbst.

SPIEGEL: Auf die Frage, welche militärischen

Leistungen er am meisten bewundere, gab Ihr

Bruder einmal an: »Meinen Rückzug aus der

Ukraine.«

Villwock: Solche Albernheiten gab er gern

von sich. Was der Krieg in ihm angerichtet

hatte, verbarg er hingegen.

SPIEGEL: Gelegentlich erzählte er, wie er aus

dem Krieg nach Hause geritten war: auf einer

trächtigen Stute, die sich nur in Bewegung

setzte, wenn er ihr an einem Stock eine Runkelrübe

vors Maul hielt.

Villwock: Ooch, das glaube ich alles nicht! Ich

habe diese Geschichte oft gehört, aber man

muss sie wohl infrage stellen. Rudolf neigte

zum Ausschmücken.

SPIEGEL: Gehört dazu auch seine Erzählung,

dass er 1944 um ein Haar von einem Granatwerfergeschoss

getötet worden wäre?

Villwock: Das wiederum stimmt, auch wenn

er davon bisweilen etwas zu dramatisch geredet

hat. Er konnte schon sehr wehleidig sein.

Dabei musste er sich später lediglich Splitter

aus dem Arm entfernen lassen. Er hatte ja

kein Bein verloren oder so.

BU mit Schmuckund

Sachzeile in

dieser Länge, kann

gern etwas umfangreicher

Zeitzeugin Villwock: »Wir wollen ihn nicht zur Ikone erheben, nicht wahr?«

SPIEGEL: Jetzt wirken Sie fast so zynisch, wie

Sie Ihren Bruder darstellen …

Villwock: … da würde ich widersprechen …

SPIEGEL: … der von sich selbst sagte, durch

Sarkasmus mache er sich sein Leben »erträglich

bis fröhlich«.

Villwock: Ich bin nicht sarkastisch, ich sehe

nur die Wirklichkeit.

SPIEGEL: Mit 27 Jahren soll Ihr Bruder gesagt

haben, er habe in seinem Leben alles erreicht.

Villwock: Ich fand es erschütternd, als ich davon

zum ersten Mal hörte. Das heißt doch,

man hat nichts mehr vor oder glaubt, nichts

mehr bewirken zu können.

SPIEGEL: Der SPIEGEL hat Ihren Bruder nicht

nur zu einem einflussreichen, sondern auch

sehr wohlhabenden Menschen gemacht. War

ihm das wichtig?

Villwock: Luxus hat ihm nichts bedeutet. Er

wollte es warm und trocken haben und nicht

aus dem Blechnapf fressen, alles andere hat

er nie wirklich begehrt. Rudolf schätzte es,

im Komfort zu reisen, wie er es nannte. Aber

ich vermute, dass er die schönen Häuser

in Hamburg, auf Sylt und in Saint-Tropez

eher seinen Frauen zuliebe unterhielt. Ich

weiß zum Beispiel gar nicht, wie oft er die

Schwimmbäder, die er in einigen dieser Häuser

hatte, überhaupt betreten hat.

SPIEGEL: Haben Sie Ihren Bruder für seine

publizistische Macht bewundert?

Villwock: Darf ich Ihnen etwas gestehen?

SPIEGEL: Bitte.

Villwock: Lange Zeit dachte ich, Rudolf müsste

zu etwas Höherem berufen sein, als nur

eine Zeitschrift mit Krawall und Affären herauszugeben.

Ich sah ihn eher in der Philosophie

oder als Verleger einer Kunst- und

Literaturzeitung. Die Trauerrede, die Joachim

Fest beim Staatsakt im Hamburger Michel

Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

51


75 JAHRE DER SPIEGEL

auf ihn hielt, hat in mir viel ausgelöst.

Fest sprach davon, »dass das Land

ohne ihn und sein Wirken ein anderes

Aussehen hätte«. Ein großes Wort. Ich

hätte das nie ausgesprochen, es nicht

einmal gedacht. Vielleicht war ich zu

dämlich, um Rudolfs Leistung zu begreifen.

Ich habe die Rede gestern

noch einmal gelesen. Sie berührt

mich. Zugleich ergeben sich für mich

neue Fragen.

SPIEGEL: Nämlich?

Villwock: Hatte Rudolf wirklich schon

in jungen Jahren hehre Ziele? Hat er

gehandelt aus Sorge, die Deutschen

könnten von der Verkommenheit der

Nazis noch so beeinflusst sein, dass

sie nicht zu einer aufrechten Demokratie

fähig sind? Oder ließ er sich

einfach treiben? Ich hielt ihn damals

nicht für einen Idealisten. Andere

Leute in dem Alter wollen die Erdachse

aufrichten, damit sie mehr Sonne

bekommen. So sah ich ihn nicht.

Vielleicht habe ich ihm unrecht getan,

ich weiß es nicht.

SPIEGEL: 1962 wurde Rudolf Augstein

verhaftet, es war der Beginn der

SPIEGEL-Affäre. 103 Tage lang saß

er in Untersuchungshaft. Auslöser

war ein Artikel im SPIEGEL, der die

mangelhafte Ausrüstung der Bundeswehr

beschrieben hatte und die atomare

Strategie von Verteidigungsminister

Franz Josef Strauß infrage

stellte. Haben Sie Ihren Bruder im

Gefängnis besucht?

Villwock: Das war nicht erlaubt. Unser

Bruder Josef, der ihn verteidigte, hielt

den Kontakt.

SPIEGEL: Hatten Sie Angst um Rudolf?

Villwock: Nein, denn ich vertraute in

den Rechtsstaat. Es war aber das erste

Mal, dass Rudolf Angst hatte. Der

SPIEGEL hatte in den Jahren zuvor

immer wieder gegen Strauß geschossen.

Manchmal sagte ich: Rudolf, du

bewegst dich auf dünnem Eis. Er tat

dann so, als wüsste er nicht, was ich

meine. Strauß war sein Antipode,

zugleich hat Rudolf ihn um seine

Macht beneidet, ihn insgeheim sogar

verehrt. Der Minister war mehrmals

bei ihm zu Hause, auch er saß auf

John Jahrs Stühlen. Ich hielt Strauß

für einen Widerling, war mir aber

sicher: Nur wegen eines Artikels

wird Rudolf nichts passieren. Zunächst

dachte ich sogar, die SPIEGEL-

Affäre wäre für Rudolf eine Lachnummer.

SPIEGEL: Obwohl ihm Bundeskanzler

Konrad Adenauer Landesverrat vorwarf?

* Mitarbeiterin Brigitte Wulzinger und Redakteur

Alexander Kühn vor einem Augstein-Foto

in Hamburg.

»Als er

zum Haftprüfungstermin

erschien,

war ich erschüttert,

wie fertig

Rudolf

aussah.«

Villwock, SPIEGEL-

Team*

Villwock: Ich dachte, wenn das einer

wegsteckt, dann er. Meine Einschätzung

wurde dadurch befeuert, dass

Josef anfangs recht lustig erzählte, wie

Rudolf versucht hatte, Akten aus der

Redaktion verschwinden zu lassen.

Als er jedoch zum Haftprüfungstermin

erschien, war ich erschüttert, wie

fertig Rudolf aussah. Aus SPIEGEL-

Sicht muss man allerdings sagen: Es

hat sich gelohnt, dank der SPIEGEL-

Affäre verdoppelte sich die Auflage.

Mein Bruder sagte später, das hätte er

sonst nie geschafft.

SPIEGEL: Auf die Frage, ob er den

SPIEGEL liebe, sagte er einmal:

»Nein, das kann man von mir nicht

verlangen!«

Villwock: Es gab Zeiten, da fühlte er

sich dem SPIEGEL nicht sonderlich

verbunden.

SPIEGEL: Der SPIEGEL war doch sein

Kind.

Villwock: Er hing an diesem Magazin

nicht, wie ein Vater es tut. Sonst hätte

er nicht zwischendurch überlegt,

den SPIEGEL zu verkaufen, als die

Redaktion ihm auf den Geist ging. Er

hätte um 1960 herum nicht versucht,

dem Magazinjournalismus zu entfliehen

durch das Bemühen, eine

Wochenzeitung zu gründen. Und er

hätte den SPIEGEL 1972 nicht schlagartig

verlassen, um in die Politik zu

gehen, als FDP-Bundestagsabgeordneter.

SPIEGEL: War das eine Midlife-Crisis,

kurz vor seinem 50. Geburtstag?

Villwock: Es war der Versuch, den

Moment zu erhaschen, noch etwas

anderes zu machen im Leben. Ach

Gott, wenn er in seinem katholischen

Wahlkreis Paderborn mit Nonnen

über den Paragrafen 218 diskutieren

musste oder Bürgern mal eben eine

Umgehungsstraße in Aussicht stellte –

da habe ich mich schon ein bisschen

geschämt. Rudolf war für die Politik

nicht gemacht, er war kein Großsprecher,

gab nie populistische Sätze von

Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL

sich. Einer, der so viel Verstand hatte

wie er, hätte das wissen müssen.

SPIEGEL: Hatten Sie ihn gewarnt?

Villwock: Oh nein, er war sehr empfindlich,

was Kritik betraf. Ich habe

es nur zweimal gewagt, etwas infrage

zu stellen. Einmal, als mir ein Vortrag

von ihm nicht gefiel, schon damit kam

er schwer klar. Und dann im Jahr

2000, als er den Ludwig-Börne-Preis

für sein Lebenswerk erhalten sollte.

Rudolf wollte unbedingt nach Frankfurt

reisen, um die Auszeichnung in

der Paulskirche persönlich entgegenzunehmen,

dabei war er bereits zu

krank und auch zu weit weg vom logischen

Denken. Ich bin mit seinem

Arzt zu ihm gefahren, um ihm das

auszureden. Er protestierte, notfalls

werde er sich auf einer Trage hinbringen

lassen. Dann bin ich zum SPIEGEL

und habe zu Aust gesagt: »Ihr müsst

verhindern, dass er fährt.« Am Ende

haben wir erreicht, dass die Veranstaltung

fürs Erste abgesagt wurde.

Danach dachte ich, er enterbt mich.

SPIEGEL: Eingangs sagten Sie, dass

Sie mit dem SPIEGEL auch gelitten

haben. Wann denn zuletzt?

Villwock: Im Großen natürlich, als Sie

die Affäre hatten mit Herrn Relotius

und seinen erfundenen Reportagen.

Und im Kleinen immer wieder. Wenn

Sie Larifarithemen im Heft haben, die

man auch überall anders lesen kann,

wie diese Titelgeschichte Anfang des

Jahres, warum Haustiere uns glücklich

machen. Oder als Sie die Grünen-

Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock

erst in den Himmel lobten, von

wo Sie sie ein paar Wochen später

wieder herunterholen mussten. Bei

wichtigen Themen vergleiche ich immer,

wer sie besser aufbereitet: die

»Zeit« oder Sie. Und freue mich,

wenn Sie es sind.

SPIEGEL: Würde Ihr Bruder den

SPIEGEL, wie er heute ist, mögen?

Villwock: Ich glaube, er sähe ihm zu

bunt aus. Andererseits war Rudolf

auch froh, wenn jemand anders das

Blatt weiterentwickelte. Einmal sagte

er selbstironisch, wenn es nach ihm

ginge, hätte der SPIEGEL immer noch

das Layout von 1947: viel Text, kleine

Bilder, alle in Schwarz-Weiß. Sie

sehen, auch darin war er widersprüchlich.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie das

Rätsel Rudolf Augstein noch lösen

werden?

Villwock: Ich gehe nicht davon aus,

zumal mir dafür nur noch begrenzt

Zeit bleibt. Aber dass ich so sehr über

ihn grüble, zeigt mir zumindest eines:

dass er mir nicht egal war.

SPIEGEL: Frau Villwock, wir danken

Ihnen für dieses Gespräch. n

52 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


laden günstig,

wenn alle schlafen

Mit E.ON SmartStrom Öko

und der passenden Wallbox lädt

Thomas sein E-Auto jetzt nachts

besonders günstig – und mit

100 % Ökostrom. So spart er gleich

doppelt: Geld und CO 2 . Und je mehr

wir alle auf E-Mobilität setzen, desto

mehr freut sich auch die Umwelt.

Gemeinsam für ein besseres Morgen.

Das WIR bewegt mehr.

eon.de/emobility


Jahre DER SPIEGEL

1947 erschien die erste von mittlerweile 3931 Ausgaben.

Rund 400.000 Artikel wurden seitdem im Heft veröffentlicht.

Ein Rückblick.

1947

Der erste SPIEGEL

erschien am

4. Januar mit einer

Auflage von 15.000

Exemplaren, Chefredakteur

und

Herausgeber ist

Rudolf Augstein.

DER SPIEGEL 27/1948

»Gebundene Hände –

Louise Schroeder soll

vier Herren dienen«

DER SPIEGEL 50/1958

1962

Der Artikel »Bedingt

abwehrbereit« löst die

SPIEGEL-Affäre aus, die

mit einer Hausdurchsuchung

in den Redaktionsräumen

beginnt, Augstein wird

verhaftet.

Demonstranten am 31. Oktober 1962

vor der Gefängnisbehörde in Hamburg,

in der Augstein in Untersuchungshaft sitzt.

DER SPIEGEL 45/1962

»Rudolf Augstein«

DER SPIEGEL 1/1947

»Mit dem Hut in der Hand …

wird man ein befreites Land.

Österreichs Gesandter

Dr. Kleinwächter vor

dem Weißen Haus«

1948

Mit der Berliner

Oberbürgermeisterin

Louise

Schroeder ist zum

ersten Mal eine

Politikerin auf

dem Titelbild

zu sehen.

1958

Zweimal verzichtete

der SPIEGEL

auf jegliche

Schrift auf dem

Titel: zum geteilten

Berlin

und zum Attentat

auf John F.

Kennedy 1963.

DER SPIEGEL 48/1963

Unterzeichnung des

Mitarbeitervertrages

am 8. November 1974

im Büro Augsteins (links)

1974

Augstein schenkt die

Hälfte des Unternehmens

der Belegschaft. Heute

besitzen die stimmberechtigten

Mitarbeiter

50,5 Prozent. Die übrigen

Anteile gehören dem Verlag

Gruner + Jahr und den

Augstein-Erben.

Eingerahmt

Am häufigsten auf dem SPIEGEL-Titel war …

Nachgefragt

Die meisten SPIEGEL-Gespräche waren mit …

Helmut Kohl 80 Wolfgang Schäuble

59

Angela Merkel 46 Joschka Fischer

46

F. J. Strauß 45 Gerhard Schröder

46

Willy Brandt 44 Willy Brandt

40

Adolf Hitler 44 Oskar Lafontaine

34

Helmut Schmidt 41 Helmut Schmidt

30

Gerhard Schröder 32 Horst Seehofer

25

Der Papst* 28 Angela Merkel

24

Donald Trump 25 F. J. Strauß

24

Konrad Adenauer 22 H.-D. Genscher

23

Diskutiert

Leserdialog in Zahlen

103.000

Leserbriefe

wurden seit 1947 schätzungsweise

im SPIEGEL abgedruckt.

11.860 redaktionelle Leserbriefe sind

im Jahr 2020 im Verlag eingegangen,

davon sind 1090 Briefe erschienen.

Etwa 35.000 Kommentare werden

täglich von SPIEGEL.de-Nutzerinnen

und -Nutzern verfasst.

S ◆Auswertung gemäß Verschlagwortung im hausinternen Archiv: Titelbilder nach Abbildung, SPIEGEL-Gesprächspartner und Länder nach Nennung in der gedruckten Ausgabe

54 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


75 JAHRE DER SPIEGEL

1981

Der SPIEGEL enthüllt

Erkenntnisse von

Ermittlern über illegale

Parteispenden und

Steuerhinterziehung

des Flick-Konzerns.

DER SPIEGEL 48/1982

»Wohin flossen die Flick-Millionen?«

DER SPIEGEL 38/2001

»Der Terror-Angriff:

Krieg im 21. Jahrhundert«

2001

Die bestverkaufte SPIEGEL-Ausgabe

aller Zeiten erscheint unmittelbar

nach den Terroranschlägen in den

USA (1.446.325 Exemplare).

2015

Der SPIEGEL berichtet

über Indizien, dass

bei der Entscheidung

über die Vergabe der

Fußball WM 2006 an

Deutschland Bestechungsgelder

geflossen sein

könnten.

Frank Müller-May, Kai Greiser, SPIEGEL TV

1994

Der SPIEGEL geht

am 25. Oktober

als erstes Nachrichten-Magazin

weltweit online.

DER SPIEGEL 43/2015

»Das zerstörte Sommermärchen.

Schwarze

Kassen – die wahre Geschichte

der WM 2006«

SPIEGEL ONLINE,

1996

Maria Gresz

bei einer

der ersten

Sendungen

1988

Am 8. Mai wird

zum ersten Mal das

SPIEGEL TV Magazin

ausgestrahlt,

TV-Chefredakteur

wird Stefan Aust.

DER SPIEGEL 27/2013

»Allein gegen Amerika –

Edward Snowden:

Held und Verräter«

2013

Der SPIEGEL und wenige

andere Medien erhalten

exklusiven Zugang zu

den geheimen Unterlagen

des US-Whistleblowers

Edward Snowden.

DER SPIEGEL 52/2018

»Sagen, was ist –

In eigener Sache:

Wie einer unserer

Reporter seine

Geschichten fälschte

und warum er damit

durchkam«

2018

Der SPIEGEL

macht öffentlich,

dass Reporter

Claas Relotius

seine Geschichten

weitgehend erfunden

hat. Eine

unabhängige Kommission

untersucht

den Fall

und legt 2019

einen Abschlussbericht

vor.

2019

Nach rund 25

Jahren fusionieren

die

Print- und

die Onlineredaktion.

Seit 2020

erscheinen

alle Geschichten

unter der

Marke

DER SPIEGEL.

Berichtet

Über welche Länder außer der Bundesrepublik am häufigsten geschrieben wurde, nach Dekade

1

2

3

4

5

USA

Ital.

1947–

1949

Sowjetunion/Russland

DDR

Frankreich

Großbritannien

Iran

Großbritannien

China

1950er 1960er 1970er 1980er 1990er 2000er 2010er 2020–

2021

Recherchiert

SPIEGEL-Redaktion**

492

Redakteurinnen und Redakteure

sind in Deutschland und

19 ausländischen Redaktionsvertretungen

tätig.

Der Frauenanteil beträgt rund

42 Prozent, der Altersdurchschnitt

liegt bei etwa 44 Jahren.

An der ersten Ausgabe im Jahr 1947

haben vier Redakteure mitgearbeitet.

* amtierend oder ehemalig ** ohne SPIEGEL TV, Stand: Dez. 2021 Grafik: Anna-Lena Kornfeld, Bernhard Riedmann, Patrick Stotz

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

55


75 JAHRE DER SPIEGEL

ZEITGESCHICHTE

Um Kopf und Kragen

In der SPIEGEL-Affäre von 1962 rangen der deutsche Obrigkeitsstaat, die Medien und die liberale

Gesellschaft um die Pressefreiheit. Die Nachwirkungen sind bis heute spürbar.

V

orgesetzte beschrieben den

Bundesanwalt Dr. Albin

Kuhn, 52, als unauffällig, bescheiden,

pflichtbewusst. Ein Jurist

und promovierter Staatswissenschaftler

aus der bayerischen Provinz mit

freundlich blickenden Augen. Nur das

Fehlen von vier Fingern, abgefroren

an der Ostfront, fiel auf.

Im »Dritten Reich« hatte der

ehemalige Nationalsozialist am Sondergericht

Würzburg an sechs Todesur

teilen mitgewirkt, was einer Nachkriegskarriere

jedoch nicht entgegenstand.

In der Bundesanwaltschaft in

Karlsruhe leitete Kuhn das Arbeitsgebiet

Landesverrat. Landesverrat

beging, wer »vorsätzlich ein Staatsgeheimnis

… öffentlich bekannt macht

und dadurch das Wohl der Bundesrepublik

Deutschland … gefährdet«,

Höchststrafe 15 Jahre Zuchthaus.

Für Journalisten ein gefährlicher

Paragraf, vor allem wenn jemand wie

Kuhn ihn anwandte.

Am 8. Oktober 1962 sprach ihn

eine Angestellte in der Sitzungspause

eines Prozesses an. Im SPIEGEL sei

gerade ein »fundierter militärischer

Artikel« erschienen. Seit Längerem

verfolgte Karlsruhe voller Misstrauen

die immer aufmüpfiger werdende

Presse, die Missstände im Staat –

etwa in der jungen Bundeswehr – anprangerte.

Deutschland war geteilt, ein Atomkrieg

jederzeit möglich. Noch kurz

zuvor hatten sich am Checkpoint

Charlie in Berlin amerikanische und

sowjetische Panzer gegenübergestanden.

Ausdrücklich hatte Kuhns Behörde

die Journalisten des Landes

davor gewarnt, das »Wohl der Bundesrepublik

zu beeinträchtigen«. Den

respektlosen SPIEGEL hatten Kuhn

und Kollegen besonders auf dem

Kieker, zumal Herausgeber Rudolf

Augstein – scharfer Kritiker des Verteidigungsministers

Franz Josef

Strauß (CSU) – immer wieder Geschichten

über die Bundeswehr drucken

ließ.

So wie in Ausgabe 41/1962, die

Kuhn sich nun anschaute. Eine 17-seitige

Titelgeschichte zum desaströsen

Zustand der westdeutschen Streitkräfte,

denen es an fast allem mangelte:

Soldaten, Gerät, Waffen. Nach

dem gerade abgelaufenen Nato-

Manöver »Fallex 62« hatte die Bundeswehr

die schlechteste aller Noten

bekommen. Überschrift der SPIEGEL-

Geschichte: »Bedingt abwehrbereit«.

Es war eine mühsame Lektüre,

wie Hauptautor Conrad Ahlers selbst

einräumte. Der Bundesgerichtshof

urteilte später, es handle sich um

»keine bedeutende geistige Leistung«.

Für Experten enthielt der Text

kaum Neues. Aber Staatsanwalt

Kuhn war kein Experte, und so nahm

das Verhängnis seinen Lauf.

Ausgerechnet im Verteidigungsministerium,

das in dem SPIEGEL-

SPIEGEL-Titelbild

41/1962

Herausgeber

Augstein vor dem

Bundesgerichtshof

in Karlsruhe 1963:

»Wesenselement des

freiheitlichen Staates«

picture-alliance / dpa

Artikel scharf kritisiert wurde, ließ

Kuhn ein Gutachten einholen. Die

Strauß-Leute ergriffen die Chance, es

dem Hamburger Magazin heimzuzahlen.

»Bundesanwaltschaft und

Verteidigungsministerium hatten beide

ein großes Interesse daran, gegen

den SPIEGEL vorzugehen, und das

machten sie in Kooperation«, so die

Wissenschaftler Friedrich Kießling

und Christoph Safferling, die im Auftrag

der Bundesanwaltschaft kürzlich

deren Geschichte erforscht haben.

Der damalige Justizminister, der Bundesanwaltschaft

vorgesetzt, wurde

nicht informiert.

Die entscheidenden Infos lieferte

ein Referent aus dem Führungsstab

der Bundeswehr, ein glühender

Strauß-Bewunderer. Das »streng geheime«

Gutachten listete schließlich

41 Passagen auf, die angeblich »geheimhaltungsbedürftig

im Sinne des

§ 99,1 StGB« waren: Landesverrat

also. Und Kuhn glaubte wirklich, es

gebe eine »weit verzweigte, gegen die

Verteidigungspolitik gerichtete Verschwörung«.

Verräter aus Regierung,

Parlament und Armee stächen brisante

Interna an den SPIEGEL durch

oder verkauften sie gar.

Knapp drei Wochen nach Erscheinen

des Artikels, am 26. Oktober,

schlug die Staatsmacht zu.

Polizisten, Beamte des Bundeskriminalamts

und Soldaten des Militärischen

Abschirmdienstes durchsuchten

die SPIEGEL-Zentrale im Hamburger

Pressehaus sowie das Hauptstadt büro

in Bonn; sie drangen in Privatwohnungen

von SPIEGEL-Mitarbeitern

ein und verhafteten schließlich Herausgeber

Augstein und sechs Redakteure

und Verlagsmitarbeiter. Titelautor

Ahlers wurde im Urlaub in Spanien

festgesetzt.

Die Beamten suchten Schriftstücke,

»deren Inhalt über die Bundeswehr

schlechthin und über getätigte

Zahlungen an irgendwelche Informanten

Auskunft« gibt, wie ein Kripo-

Mann in einem Vermerk festhielt. Mit

56 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


dem Bestechungsverdacht ließ sich das gesetzlich

verankerte Redaktionsgeheimnis aushebeln:

Journalisten dürfen Unterlagen zurückhalten,

um Informanten zu schützen – es sei

denn, sie haben diese bestochen.

Wochenlang konnte die SPIEGEL-Redaktion

ihre Räume und auch das umfangreiche

Archiv nicht oder nur eingeschränkt nutzen.

Am längsten blieb Augstein in U-Haft, für

103 Tage.

Die Vorwürfe gegen den SPIEGEL waren

laut der Historikerin Ute Daniel »beispiellos«

– und die Reaktion der Öffentlichkeit

entsprechend. Professoren, Literaten, Intellektuelle,

Studenten protestierten, in der Bundespressekonferenz

kam es zu tumultartigen

Szenen, als der Pressesprecher Fragen empörter

Journalisten nicht beantwortete. Vor

dem Hamburger Untersuchungsgefängnis, in

dem Augstein einsaß, demonstrierten Tausende

und riefen: »SPIEGEL tot – die Freiheit

tot.« Man könne das öffentliche Interesse

kaum überschätzen, kabelte ein US-Diplomat

nach Hause.

Aufmerksam verfolgte das Ausland,

wie es die Deutschen 17 Jahre nach dem

Untergang des »Dritten Reichs« mit der

Pressefreiheit hielten. Die Londoner »Daily

Mail« beorderte ihren Sonderkorrespondenten

aus dem Himalaja, wo gerade Krieg

herrschte, nach Bonn. Der SPIEGEL war jetzt

wichtiger.

Schon bald wurde aus der Polizeiaktion

eine Krise der schwarz-gelben Regierung

unter Bundeskanzler Konrad Adenauer

(CDU). Verteidigungsminister Strauß hatte

persönlich durch einen nächtlichen Anruf bei

einem Bekannten an der deutschen Botschaft

in Madrid dafür gesorgt, dass Ahlers festgenommen

wurde. Er hatte sich damit »objektiv«

der Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung

schuldig gemacht, wie die Staatsanwaltschaft

Bonn später feststellte. Um seine Rolle

zu vertuschen, belog Strauß das Parlament,

was jedoch aufflog.

Adenauer redete sich im Bundestag ebenfalls

um Kopf und Kragen. Als ob es keine

Unschuldsvermutung gäbe, nahm er das Ergebnis

der Ermittlungen vorweg: »Wir haben

einen Abgrund von Landesverrat im Lande.«

Zwischenruf der SPD: »Wer sagt das?«. Adenauer:

»Ich sage das.« Und legte nach: »Wenn

von einem Blatt, das in einer Auflage von

500 000 Exemplaren erscheint, systematisch,

um Geld zu verdienen, Landesverrat getrieben

wird …« Der Rest des Satzes ging im

lautstarken Protest der Sozialdemokraten

unter.

Am Ende wurden zwei Staatssekretäre geschasst.

Alle FDP-Minister traten zurück, um

ein neues Kabinett zu erzwingen, dem Strauß

nicht mehr angehörte. Und der greise Kanzler

Adenauer, der bereits grundsätzlich zugesagt

hatte, im Laufe der Legislaturperiode das Amt

aufzugeben, musste sich nun festlegen, auf

den Herbst 1963.

Vergessen wurde dieser Ausgang nie. Ins

kollektive Gedächtnis hat sich eingegraben,

AP

Demonstranten in Frankfurt am Main 1962: Auflehnung gegen Autoritätshörigkeit

dass die Staatsmacht nicht so einfach gegen

die Presse vorgehen kann, sondern hohe juristische

Hürden nehmen muss.

Und dennoch haben Historiker in den

vergangenen Jahren gemahnt, die Bedeutung

der SPIEGEL-Affäre nicht zu überschätzen.

Sie sei nicht jener Urknall, aus dem die wilden

Sechzigerjahre hervorgegangen sind, an

deren Ende die Studentenbewegung und die

Kanzlerschaft Willy Brandts standen. In der

Tat hatte es schon zuvor eine kritische Öffentlichkeit

gegeben, wie Historikerin Daniel

argumentiert. Sie half dem SPIEGEL ja in der

Krise.

Auch war der westdeutsche Obrigkeitsstaat

mit dem Ende der Affäre keineswegs

verschwunden. Die Bundesanwaltschaft etwa

tat, als wäre nichts gewesen. Im Januar 1963

eröffnete sie ein Ermittlungsverfahren gegen

den Hamburger Senator und späteren Kanzler

Helmut Schmidt (SPD), den sie fälschlicherweise

für einen Informanten des Magazins

hielt. Dass kein SPIEGEL-Mitarbeiter

verurteilt wurde, der Bundesgerichtshof vielmehr

die Eröffnung eines Hauptverfahrens

gegen Augstein und Ahlers ablehnte, weil die

Verratsvorwürfe so nicht zu halten waren,

hielt die Staatsanwälte nicht von weiteren

Ermittlungen ab. Erst die Drohung des vorgesetzten

Justizministers mit einer Dienstanweisung

beendete 1966 den Spuk.

»SPIEGEL tot –

die Freiheit

tot.«

75 JAHRE DER SPIEGEL

Unbestritten bleibt, dass die Affäre in Politik

und Gesellschaft einen »kräftigen Liberalisierungsschub«

auslöste, wie es der Historiker

Heinrich August Winkler ausdrückte. Mit

dem Protest wuchs die Bereitschaft, insbesondere

der jüngeren Generation, sich gegen

die verbreitete Autoritätshörigkeit wilhelminischer

Prägung aufzulehnen.

Für den SPIEGEL ging die Geschichte

glücklich aus. Die Unterstützung anderer Verlage

in der Medienhauptstadt Hamburg –

SPIEGEL-Leute durften etwa Büros des

»Stern« oder der »Zeit« nutzen – half über

die ersten Wochen. Die Auflage stieg rasant

an, der SPIEGEL etablierte sich als Leitmedium.

Ausgerechnet der dröge Artikel von

Conrad Ahlers dürfte der wohl wirkmächtigste

Text sein, der je im Heft erschienen ist. Bis

heute profitiert der SPIEGEL davon, im entscheidenden

Moment für die Pressefreiheit

eingestanden zu haben.

Festgeschrieben wurde die historische Bedeutung

der SPIEGEL-Affäre schließlich am

5. August 1966. Augstein hatte gegen das Vorgehen

der Staatsmacht Verfassungsbeschwerde

eingelegt, und das Bundesverfassungsgericht

verkündete sein Urteil. Zwar wies das

Gericht die Beschwerde bei Stimmengleichheit

zurück, doch in den allgemeinen Ausführungen,

die alle Richter mittrugen, wurde

erstmals eine freie Presse zu einem »Wesenselement

des freiheitlichen Staates« erklärt.

Der Staat müsse »in seiner Rechtsordnung

überall, wo der Geltungsbereich einer Norm

die Presse berührt, dem Postulat ihrer Freiheit

Rechnung tragen«.

Mit dem Urteil legte das Verfassungsgericht

den »Grundstein für einen hohen Schutz

der Pressefreiheit«, wie später Wolfgang Hoffmann-Riem

schrieb, von 1999 bis 2008 selbst

Richter in Karlsruhe. Noch heute verweisen

Gerichte auf die Ausführungen von damals.

Ruf der Demonstranten vor dem

Untersuchungsgefängnis in Hamburg,

in dem Augstein einsaß Klaus Wiegrefe n

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

57


75 JAHRE DER SPIEGEL

RELOTIUS-SKANDAL

Der Schock

Vor drei Jahren erschütterten die Fälschungen des Reporters

Claas Relotius den SPIEGEL und stellten die Glaubwürdigkeit des

Magazins infrage. Was folgte daraus? Von Brigitte Fehrle

Fehrle, 67, ist

ehe malige Chef -

re dak teurin der

»Berliner Zeitung«.

Sie arbeitet als freie

Journalistin in Berlin.

A

m 19. Dezember 2018 sah sich

der SPIEGEL gezwungen,

einen bis dahin in dieser Form

nie da gewesenen Fälschungsfall zu

veröffentlichen. Der junge Reporter

Claas Relotius hatte über Jahre hinweg

Texte geschrieben und veröffentlicht,

von denen die meisten zwar

einen wahren Kern hatten, zum großen

Teil aber frei erfunden waren.

Seine Geschichten waren fast immer

außergewöhnlich, einzigartig,

spektakulär. Sie spielten in unzugänglichen

Kriegsgebieten, in der

amerikanischen Provinz oder hinter

den Mauern von Gefängnissen. Die

vermeintlichen Fakten in seinen Texten

komponierte er geschickt, nutzte

damalige Lücken im System und

überlistete Kolleginnen und Kollegen

aus Redaktion und Dokumentation,

die ihm zu sehr vertrauten.

Relotius bekam für diese Texte –

meist Reportagen – viel Lob und

zahlreiche renommierte Journalistenpreise.

Im Dezember 2018 war er

nach Jahren der freien Mitarbeit beim

SPIEGEL fest angestellt und stand am

Beginn einer, wie man damals vermuten

konnte, großen Karriere. Die

Geschichte, die ihn schließlich enttarnte,

trug den Titel »Jaegers Grenze«.

Eine Story über eine Bürgerwehr,

die in Selbstjustiz illegale Migranten

an der Grenze aufspürt.

Für die Redaktion des Nachrichten-Magazins,

die am Mittag des

19. Dezember von der Chefredaktion

informiert wurde, war die Enthüllung

ein Schock. Zumal es nicht die Redaktion

selbst war, nicht aufmerksame

Ressortleiter oder Chefredakteure,

die Relotius enttarnt und damit

gestoppt hatten. Es war ein Kollege,

der unfreiwillig mit dem Starreporter

für eine Recherche über Flüchtlinge

an der Grenze zwischen den USA

und Mexiko zusammengespannt

worden war.

Juan Moreno, ein erfahrener Reporter,

stellte offenbar als Erster an

einen Text von Relotius die Frage:

Kann das sein? Ist diese drehbuchhaft

stimmige Geschichte tatsächlich so

passiert? Moreno recherchierte auf

eigene Faust Relotius’ Story nach,

suchte Orte und handelnde Personen

auf und stellte fest: frei erfunden.

Es dauerte einige Wochen, bis man

Juan Moreno beim SPIEGEL glaubte.

Er lief damals, wie er später selbst

formulierte, »gegen Wände«. Moreno

war freier Mitarbeiter, Relotius sah

man als den talentierten, aufstrebenden

Kollegen. Man vermutete Konkurrenz

und Eifersucht als Motiv

für Morenos Anschuldigungen. Aber

das ist eine eigene, für den SPIEGEL

nicht rühmliche Geschichte in der

Geschichte.

Der Fall Relotius führte zu einer

intensiven öffentlichen Debatte über

die Glaubwürdigkeit des Journalismus.

Zu Recht wurde die Frage aufgeworfen,

wie sicher sich Leserinnen

oder Leser sein könnten, dass die

Informationen und die erzählten Geschichten

stimmten, wenn schon in

einem Medium wie dem SPIEGEL mit

seiner umfangreichen Dokumentationsabteilung,

die jeden Text im Heft

auf Faktentreue prüfte, ein Fälscher

über Jahre hinweg unentdeckt bleiben

konnte.

Auch die zahlreichen Ausrichter

von Journalistenpreisen, deren Jurys

mit namhaften Chefredakteuren und

erfahrenen Reportern und Rechercheuren

besetzt sind, mussten sich

fragen, warum ihnen gerade diese

Texte so gut gefallen haben, dass sie

Preis um Preis vergaben. Und da es

Reportagen waren, für die Relotius

ausgezeichnet worden war, stellte sich

die Frage, ob dieses Genre, das wie

kein anderes aus der oft nicht nachprüfbaren

Beobachtung entsteht, besonders

anfällig ist für Fälschungen.

Dass der Skandal um Relotius für

den SPIEGEL nicht nachhaltig zu

einem Verlust von Image und Glaubwürdigkeit

führte, hatte auch mit dem

Wechsel der Chefredaktion zu tun.

Steffen Klusmann war im Dezember

2018 zwar schon im Haus, aber noch

nicht im Amt. Es war also nicht sein

Fälschungsskandal, es war der Skandal

seiner Vorgänger. Ein glücklicher

Zufall also, der es Klusmann leichter

gemacht hat, sich für Offenheit und

konsequente Aufarbeitung zu entscheiden.

Eine eigene Aufklärungskommission,

deren Mitglied ich war, sollte

den Fall aufarbeiten.

Die dreiköpfige Kommission,

außer mir waren das der gerade frisch

eingestellte Nachrichtenchef Stefan

Weigel und der langjährige SPIEGEL-

Mann Clemens Höges, bekam drei

Aufgaben: Alle Texte von Relotius

auf Fälschung hin zu überprüfen. Die

Frage zu beantworten, ob und wie die

Strukturen innerhalb des Hauses

dazu beigetragen haben, dass Relotius

so lange nicht enttarnt wurde.

Und Vorschläge zu machen, wie dies

künftig verhindert werden kann.

Die erste Aufgabe war aufwendig,

aber im Ergebnis eindeutig. Sämtliche

Texte von Claas Relotius wurden mithilfe

der Dokumentation und der Redaktion

auf Richtigkeit nachgeprüft.

Das Resultat war so klar wie niederschmetternd:

Fast alle Texte waren

fehlerhaft bis komplett gefälscht. Herauszufinden,

ob die redaktionellen

Strukturen mit dazu beigetragen haben,

dass der Fälscher Relotius so

lange nicht entdeckt wurde, war die

ungleich schwierigere Aufgabe.

M

ir begegneten im Januar 2019,

als wir mit der Recherche im

Haus begannen, überwiegend

Redakteurinnen und Redakteure, die

buchstäblich die Welt nicht mehr verstanden.

Ein Fälscher beim SPIEGEL!

Bei einem Nachrichten-Magazin.

Dem Nachrichten-Magazin. Oft hörte

ich die ungläubige Frage: Wieso

fälscht jemand in einer Redaktion,

die weder Geld noch Mühen scheut,

die ihre Journalisten bis ans Ende

der Welt fliegen lässt, um Informationen

zu beschaffen? Viele nahmen

es auch sehr persönlich, fühlten

sich betrogen, hintergangen, ja missbraucht

und sahen sich in einer Opferrolle.

Am schwersten fiel es den meisten,

den Gedanken zuzulassen, dass

nicht allein die besonders raffinierten

Fälschungen von Relotius verantwortlich

waren für die Blindheit der

Redaktion.

Am anderen Ende der Gefühlsskala

bin ich Menschen begegnet, die

auf mich wirkten, als empfänden sie

eine klammheimliche Freude über

den Skandal. Aus ganz unterschiedlichen

Motiven, wie ich vermute:

Eifersucht auf einen erfolgreichen

58 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


75 JAHRE DER SPIEGEL

Kollegen; Neid, weil das Reportage-

Ressort Privilegien hatte, die man sich

selbst auch wünschte; oder Genugtuung,

weil man den publizistischen

Kurs nicht teilte, für den einer wie

Relotius stand, der Preise mit schön

geschriebenen Texten gewann.

Zumindest in den ersten Monaten

unserer Recherchen stieß ich überall

auf großes Aufklärungsinteresse. Es

schien den meisten klar zu sein, dass

Vertuschen oder taktisches Manövrieren

mit der Wahrheit dem SPIEGEL

und dem Ansehen des Journalismus

schaden würde. Ein paar ganz wenige,

die dann auch eher wortkarg waren,

wünschten sich wohl alte Zeiten

zurück, in denen der SPIEGEL Kritik

von außen mit Abwehr oder hermetischem

Schweigen quittierte.

D

er allgemeine Aufklärungseifer

schwand naturgemäß, als das

öffentliche Interesse am Fall

Relotius nachließ und wieder Alltagsroutine

einkehrte. Aber da hatten wir

als Kommission unsere Recherchen

schon weitgehend abgeschlossen.

Es mag zynisch klingen, aber zum

Glück hatte Relotius nicht nur im

SPIEGEL gefälscht. Zum Glück, denn

so konnten andere seriöse Redaktionen

in Deutschland nicht den Staatsanwalt

spielen. Überall mussten sich

Chefredakteure, Ressortleiterinnen

und Ressortleiter fragen: Hätte mir

das auch passieren können? Mit Ja

antwortete, wer ehrlich war. Damals

trafen die Gründe, die im SPIEGEL

zu der Blindheit hinsichtlich der

Fälschungen führten, in unterschiedlicher

Weise auch auf andere Redaktionen

zu:

‣ die Überbewertung des Genres Reportage,

der vermeintlichen »Königsdisziplin«

des Journalismus, die zu

dramaturgischen Kompositionen,

Ausschmückungen und – wie im Fall

Relotius – zum Erfinden verführt.

‣ die mangelnde Transparenz und

Nachprüfbarkeit von Recherchen,

die es Leserinnen und Lesern nicht

ermöglichen, Hintergrund und Umfeld

zu verstehen, in denen ein Text

entsteht.

‣ eine schwach ausgeprägte Fehlerkultur

im Reporter-Ressort, die

gegenseitige Kontrolle als Misstrauen

fehlinterpretiert.

Die Redaktion des SPIEGEL hat

aus dem Fälschungsskandal weitreichende

Konsequenzen gezogen. Nach

einem langen Diskussionsprozess gab

sich die Redaktion neue, strengere

Regeln für Recherche, Dokumentation

und Texte. Leserinnen und Lesern

soll es so leichter gemacht werden,

die Entstehung von Texten nachzuvollziehen.

Auch die Reporterinnen

und Reporter müssen ihre Recherchen

umfangreicher und nachprüfbarer

dokumentieren.

Ein Fall Relotius, der Vorgesetzte

und Kollegen mit erfundenen Personen,

Orten und Dokumenten täuschen

konnte, ist unter Einhalten

dieser Regeln eigentlich nicht mehr

möglich. Pessimisten könnten sagen:

Fälschen ist deutlich aufwendiger geworden.

Damit, wie im Fall Relotius geschehen,

Zweifel von Leserinnen und Lesern

am Wahrheitsgehalt von Texten

nicht untergehen, wurde im SPIEGEL

eine Ombudsstelle geschaffen. Hier

gehen der Leiter der Rechtsabteilung,

eine Dokumentarin und der Nachrichtenchef

des SPIEGEL Hinweisen

konsequent nach.

Es ist also einiges geschehen, nicht

nur im SPIEGEL. Auch in anderen

Medien hat der tatsächliche oder mindestens

drohende Glaubwürdigkeitsverlust

durch die Fälschungen zu ähn-

Ausrisse gefälschter

Relotius-Artikel

[M] DER SPIEGEL

lichen Diskussionen und Konsequenzen

geführt. Als Leserin oder Leser

kann man also inzwischen im besten

Fall mit mehr Transparenz und Genauigkeit

in Texten rechnen.

Claas Relotius hat vor vielen Jahren

einmal bei einer Veranstaltung

mit jungen Journalisten gesagt, er erwarte

von seinen Lesern, dass sie ihm

vertrauen. Man wünschte, er hätte

nicht recht. Aber ohne das Vertrauen

in die Rechtschaffenheit der Redaktionen

geht es trotz guter Regeln,

mehr Transparenz und neuer Beschwerdestellen

nicht. Gerade weil

die Leserinnen und Leser vertrauen

müssen, weil für sie eben nicht alles

nachprüfbar ist, darf sich ein Fall Relotius

nicht wiederholen, egal wie unbedeutend

oder in welcher Gestalt er

daherkommt.

Dieser Satz ist natürlich richtig.

Und doch scheint er für eine vergangene

Zeit geschrieben.

Als im Dezember 2018 der Fall

Relotius öffentlich wurde, geschah

dies in einem medialen Umfeld, das

heute fast harmlos wirkt. Es gab zwar

Fake News, der damalige US-Präsident

versuchte mit plumpen Mitteln

durchaus perfide, die Öffentlichkeit

zu manipulieren, russische Trolle

spielten mit. Aber dies schien eine Art

abweichendes Verhalten, ein Phänomen,

von dem man noch hoffte, dass

es vorübergehend sein würde, vertrauend

auf die Medienkompetenz

der Menschen und die Qualität und

Präzision der Gegeninformation –

der echten Fakten.

H

eute, nur drei Jahre später, erleben

wir eine Globalisierung

der neuen Art. Sie folgt nicht

den Wirtschaftskreisläufen oder den

Finanzströmen. Ja, nicht einmal dem

Klimawandel. Sie reist mit dem Virus.

Die böswilligen Verschwörer haben

erstmals ein weltumspannendes Thema

gefunden. Menschen rund um

den Globus sind für ein und dasselbe

zu agitieren.

Die Leugner der Pandemie konnten

die Schranken von Reich und

Arm, von Kultur und Religion überspringen.

In Echtzeit mit der Verbreitung

des Virus sind weltweit radikale

Gruppen entstanden, die sich jeder

politischen oder sozialen Einordnung

entziehen und demokratische Regeln

missachten. Die Völker hören jetzt

tatsächlich die Signale, aber ganz andere,

als die Vordenker des Sozialismus

sich das erhofft hatten.

Für Medien, die sich der Wirklichkeit

und Wahrhaftigkeit verpflichtet

fühlen, ist der Kampf um Gehör in

deren Welt wohl verloren. n

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

59


»SAGEN, WAS IST«

Die größten

Enthüllungen und

Skandale

Seit 75 Jahren steht der SPIEGEL für

investigative Recherche – und macht

dabei weder vor der Politik noch vor

Unternehmen halt.

1948 (Heft 35/1948)

NS-Vergangenheit eines Prinzen

Der SPIEGEL berichtet, dass Prinz Bernhard der

Niederlande SS-Sturmführer war.

1950 (Heft 39/1950)

Bestechung bei der Wahl der

Bundeshauptstadt?

Bestechlichkeitsvorwürfe gegen Abgeordnete

bei der Abstimmung über den

provisorischen Regierungssitz der BRD.

1952 (Heft 28/1952)

Die Schmeißer-Affäre

Adenauer soll dem französischen Nachrichtendienst

geheime Informationen zugespielt haben.

1953 (Heft 33/1953)

NS-Vergangenheit des Politikers Rudolf Vogel

Der SPIEGEL enthüllt, dass der CDU-Politiker

Rudolf Vogel glühender Anhänger Hitlers war.

1957 (Heft 51/1957)

Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland

Der SPIEGEL macht antisemitische Beschimpfungen

eines Studienrats publik.

1958 (Heft 8/1958)

Saufgelage von Verfassungsschützern

Der Generalbundesanwalt ermittelt, weil der

SPIEGEL über Interna der Geheimdienstler

berichtet.

1961 (Heft 23/1961)

Die Fibag-Affäre

Verteidigungsminister Franz Josef Strauß will

einem Freund einen Bauauftrag vermitteln.

1962 (Heft 41/1962)

»Bedingt abwehrbereit« – die SPIEGEL-Affäre

Der SPIEGEL deckt Schwachstellen der

Bundeswehr und der Verteidigungspläne auf.

1966 (Heft 5/1966)

Die »Starfighter«-Affäre

In dem Artikel »Ein gewisses Flattern«

wird die Pannenserie des Jagdbombers

Lockheed F-104 beschrieben.

1972 (Heft 3/1972)

Heinrich Bölls provokanter Meinhof-Essay

Der Schriftsteller nimmt Ulrike Meinhof und

die RAF gegenüber der »Bild« in Schutz.

1972 (Heft 11/1972)

Die Paninternational-Affäre

Nach einem Flugzeugabsturz mit 22 Toten berichtet

der SPIEGEL über Korruptionshinweise.

1972 (Heft 16/1972)

NS-Vergangenheit von Hans Filbinger

Der SPIEGEL outet den CDU-Ministerpräsidenten

als ehemaligen Marinerichter der Wehrmacht.

1977 (Heft 10/1977)

Verfassungswidriger Lauschangriff

Der Manager Klaus Traube wurde widerrechtlich

abgehört, weil er Kontakt zu

Linksextremisten gehabt haben soll.

1978 (Heft 1+2/1978)

Manifest aus dem Osten

DDR-Dissidenten kritisieren im SPIEGEL die

»Arschkriecher und Speichellecker« in der SED.

1979 (Heft 10/1979)

DDR-Spionage-Chef enttarnt

Der SPIEGEL druckt auf dem Titel ein Foto von

Markus Wolf, dem »Mann ohne Gesicht«.

1982 (Heft 2/1982)

Die Flick-Affäre

Der Konzern hat verdeckt hohe Summen an alle

etablierten Parteien gespendet.

1982 (Heft 6/1982)

Bei Mietern abkassiert

Manager des Wohnungsbaukonzerns

Neue Heimat haben über Tarnfirmen in

die eigene Tasche gewirtschaftet.

1984 (Heft 3/1984)

Die Kießling-Wörner-Affäre

Der SPIEGEL über die Entlassung eines Generals

wegen vermeintlicher Homosexualität.

1987 (Heft 38/1987)

Der Barschel-Skandal

Mutmaßliche Kampagne des CDU-Ministerpräsidenten

gegen seinen SPD-Rivalen.

1990 (Heft 13/1990)

Rumäniens Todeshaus

SPIEGEL und SPIEGEL TV enthüllen katastrophale

Verhältnisse in einem Kinderheim.

1991 (Heft 2/1991)

Die Traumschiff-Affäre

Bericht über die gesponserten Auslandsreisen

des BW-Ministerpräsidenten Lothar Späth.

1993 (Heft 21/1993)

Industriespionage bei Opel

VW-Manager José Ignacio López soll von seinem

Ex-Arbeitgeber Geheimpapiere entwendet haben.

Fotos v.l.n.r.: Presse-Foto Agentur Schüller Fosch; UPI / SZ Photo; ZUMA Wire / IMAGO; Cornelia Gus / picture-alliance / dpa; Tim Brakemeier / picture-alliance / dpa; Joel Saget / AFP; GlobalImagens / IMAGO

60 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


75 JAHRE DER SPIEGEL

1994 (Heft 14/1994)

Affäre um »Bäderkönig« Eduard Zwick

Wie der bayerische Ministerpräsident Strauß

sich vom Thermalbadbetreiber bestechen ließ.

1995 (Heft 17/1995)

Plutonium-Schmuggel beim BND

Im Auftrag von V-Leuten des BND wird auf

einem Flug aus Moskau hochgiftiges Plutonium

nach Deutschland geschmuggelt.

1995 (Heft 34/1995)

Fundamentalkritik von Marcel Reich-Ranicki

Der Literaturkritiker verreißt im SPIEGEL den

Günter-Grass-Roman »Ein weites Feld«.

1996 (Heft 24/1996)

Steuerskandal bei Steffi Grafs Vater

Der SPIEGEL berichtet über schwarze Konten,

Briefkastenfirmen und Bargeldverstecke.

1999 (Heft 29/1999)

Spendenaffäre bei der Hessen-CDU

Der SPIEGEL konfrontiert die Partei mit einer

schwarzen Kasse im Ausland.

2003 (Heft 21/2003)

Missbrauch von Heimkindern

Der SPIEGEL enthüllt, wie Kinder in kirchlichen

Heimen misshandelt und missbraucht wurden.

2004 (Heft 15/2004)

Spesenskandal bei der Bundesbank

Bankchef Ernst Welteke ließ einen privaten

Berlin-Aufenthalt von der Dresdner Bank bezahlen.

2007 (Heft 18/2007)

Doping beim Team Telekom

Im SPIEGEL beschuldigt der Masseur

Jef D’hont sein einstiges Team, das

Dopingmittel Epo eingenommen zu haben.

2008 (Heft 23/2008)

Spitzelaffäre der Deutschen Telekom

Die Telekom ließ systematisch Betriebsräte und

Gewerkschaftsfunktionäre überwachen.

2008 (Heft 41/2008)

Brisanter Datenklau

T-Mobile werden die Daten von Millionen Kunden

gestohlen, das Leck wird erst mal vertuscht.

2009 (42/2009)

Skandal bei der HSH Nordbank

Der SPIEGEL berichtet, wie die HSH Nordbank mit

dubiosen Geschäften ins Trudeln geriet.

2009 (Heft 9/2009)

Der Fall Thomas Middelhoff

Der SPIEGEL berichtet über Untreue und

Steuerhinterziehung des Arcandor-Managers.

2010 (Heft 10/2010)

Afghanistan-Leaks

Mit Medienpartnern analysiert der SPIEGEL

Dokumente zur geheimen US-Spezialeinheit 373.

2010 (Heft 43/2010)

Die WikiLeaks-Irak-Protokolle

Der SPIEGEL berichtet mit anderen Medien

über die Grausamkeiten des Kriegs im Irak.

2012 (SPIEGEL ONLINE 22.8.2012)

Der Prunk-Bischof von Limburg

Erste-Klasse-Flüge und ein Protzbau bringen

Franz-Peter Tebartz-van Elst in Bedrängnis.

2013 (Heft 44/2013)

Lauschangriff auf Merkels Handy

Der SPIEGEL berichtet, dass der US-Geheimdienst

jahrelang ein Handy der Kanzlerin

überwachte.

2014 (Heft 40/2014)

Verbrauchsskandal bei deutschen Autokonzernen

Der SPIEGEL zeigt, wie VW & Co. CO 2 -Ausstoß und

Verbrauch ihrer Fahrzeuge geschönt haben.

2015 (Heft 17/2015)

Das Innenleben des »Islamischen Staats«

Auf Basis exklusiver Dokumente beschreibt der

SPIEGEL die Struktur der Terrororganisation.

2015 (Heft 43/2015)

Das zerstörte Sommermärchen

Vor der Austragung der Fußball-WM 2006 in

Deutschland floss Geld an Fifa-Funktionäre.

2016 (Heft 49/2016)

Football Leaks

Mithilfe der Plattform Football Leaks

deckt der SPIEGEL zahlreiche Fußballskandale

auf.

2017 (Heft 28/2017)

Das deutsche Autokartell

Durch geheime Absprachen hebelten unter anderem

VW, Daimler und BMW den Wettbewerb aus.

2019 (Heft 21/2019)

Die Ibiza-Affäre

Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache

wird dabei ertappt, Medien steuern zu wollen.

2019 (Heft 50/2019)

Der Berliner Tiergartenmord

Der SPIEGEL und Bellingcat zeigen, dass ein

Georgier im Auftrag Russlands ermordet wurde.

2020 (SPIEGEL.de 14.12.2020)

Drahtzieher des Giftanschlags enttarnt

Enthüllungen über die mutmaßlichen

Hintermänner des Attentats auf Alexej Nawalny.

2020 (Heft 25/2020)

Philipp Amthor und Augustus Intelligence

Das CDU-Bundestagsmitglied nutzte

sein Amt, um Lobby-Arbeit für das Unternehmen

zu betreiben.

2021 (Heft 11/2021)

Die Maskenaffäre der Union

Der SPIEGEL berichtet, dass Politiker in

zweifelhafte Maskendeals verwickelt waren.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

61


75 JAHRE DER SPIEGEL

GRATULATION

Das Beste von damals,

nur anders

Für Barbara Junge war der SPIEGEL immer eine Instanz, aber auch

ein schwer erträgliches Herrenmagazin. Inzwischen hat sich

vieles verändert, aber die Aufgabe bleibt: bissig, unbequem und bloß nicht

beliebig zu sein. Und den Mächtigen auf die Finger zu schauen.

Junge, 53, ist seit

Mai 2020 eine

der beiden Chefredakteurinnen

der »taz«. Davor

arbeitete sie beim

Berliner »Tagesspiegel«,

wo sie

zuletzt als USA-Korrespondentin

das

Washingtoner Büro

leitete. Ihr Mann war

einige Jahre beim

SPIEGEL angestellt.

Anja Weber

A

riane Barth war 25 Jahre alt,

als sie 1967 zum SPIEGEL

stieß, eine der ersten Frauen

überhaupt in der Geschichte des Blattes.

Der Tabubruch war ein doppelter,

weil sie nicht nur weiblich war, sondern

auch eine verheiratete Mutter.

Als Ehefrau mit Kind sei sie fehl am

Platz in der Redaktion, das hätten ihr

ihre Kollegen damals deutlich gemacht,

erinnert sie sich heute im Gespräch.

Auch ihre Chefs sprachen so,

gerade sie, die großen Namen, die

Ariane Barth so bewunderte.

Barth verarbeitete den brutalen

Druck auf ihre Art. Morgens, wenn

sie mit dem Auto von Eilbek aus die

gut 15 Minuten in die Redaktion fuhr,

damals noch an der Brandstwiete,

hielt sie oftmals auf halbem Weg zur

Redaktion an einer Ampel. Auf der

Höhe einer Beate-Uhse-Filiale öffnete

sie die Fahrertür – und erbrach sich

aus Angst vor dem, was sie in der

Redaktion erwartete. Barth erzählt

diese Geschichte heute mit einem bittersüßen

Tonfall, sie wurde trotzdem

eine begnadete Reporterin, 35 Jahre

blieb sie dem SPIEGEL treu.

Was sagt das über eine Redaktion,

wenn sich eine so große Journalistin

wie Ariane Barth allmorgendlich so

klein fühlte, dass sie sich aus Angst

übergeben musste?

Es ist, zunächst, ein Ausdruck davon,

dass der SPIEGEL der ersten

Jahrzehnte ein mitunter schwer erträgliches

Herrenmagazin war. Über

Jahrzehnte hießen die SPIEGEL-Leute

Conrad, Michael oder Joachim,

ihre Chefs Erich, Hans Werner, später

Stefan und, natürlich, Rudolf. Nur ab

und zu verirrte sich eine Michaela

oder Britta in die illustre Runde der

Ressortleiter. Einem Yassin, einer Özlem

oder einer Samira öffneten sich

die Türen des SPIEGEL erst viel später,

lange nach dem Mauerfall.

Die Wucht des autoritären innerredaktionellen

Umgangs traf allerdings

nicht nur Frauen. Der SPIEGEL

war mehr als nur ein Nachrichten-

Magazin, dahinter stand ein Prinzip,

das größer war als jeder Einzelne seiner

Mitarbeitenden. Ein Prinzip, das

hervorragend dazu geeignet war,

Autorinnen wie Ariane Barth kleinzumachen.

Als »Arbeitsredakteure«

hätten sie sich damals gegenseitig bezeichnet,

erinnert sich Barth heute.

Hellmuth Karasek, der langjährige

Feuilleton-Chef des SPIEGEL, hat dieses

Prinzip in seinem Roman »Das

Magazin« über den fiktiven jungen

SPIEGEL-Redakteur Daniel Doppler

boshaft genau beschrieben. Als

Doppler beim SPIEGEL anfängt, erfährt

er von einem Kollegen, wie es

in dem Laden zugeht: »Normalerweise

sind die Redakteure hier noch kleiner.

So groß mit Hut … Klein, das

heißt, dass dein Scheißartikel so lange

redigiert wird, bis er nicht mehr

dir gehört. Die Chefredaktion praktiziert

da die Synonym-Redigiererei.

Schreibst du ›riesig‹, redigieren sie

›gigantisch‹, schreibst du ›gigantisch‹,

verbessern sie zu ›riesig‹, bloß um

dich fühlen zu lassen, dass du in

Wahrheit der letzte Dreck bist und

nur von ihren Gnaden lebst.«

Zumindest in den ersten Jahrzehnten

war der SPIEGEL nicht nur ein

Herrenmagazin, sondern auch so

herrlich exklusiv, dass er beim Diversitätscheck

gnadenlos durchgefallen

wäre, und nur deshalb so lange damit

durchkam, weil es in der alten Bundesrepublik

normal erschien, dass in

den Redaktionen westdeutsche weiße

Männer über westdeutsche weiße

Männer in der Politik schrieben.

Der SPIEGEL war damit, wie andere

Redaktionen auch, Abbild einer

mittlerweile untergegangenen Zeit.

Einer Zeit, in der Pressefreiheit in

Deutschland bedeutete, das zu drucken,

was rund 20 Millionärsverleger

gern gedruckt sehen wollten (die

»taz«, dieser Schlenker sei mir erlaubt,

wurde 1978 gegründet, um

ebenjenes Oligopol reicher Männer

zu durchbrechen). Rudolf Augstein

war einer dieser Multimillionäre, und

vielleicht verklären wir heute bei aller

historischen Leistung Augsteins ein

wenig, dass sein Blatt nicht immer so

liberal und aufgeklärt war, wie es gern

dargestellt wird. Auch linksliberale

Männlichkeit kann toxisch sein. Um

bei Ariane Barth zu bleiben: Manchmal

war der SPIEGEL schlicht zum

Kotzen.

Es gibt aber auch eine andere Seite

des Prinzips SPIEGEL, das zugegeben

nicht nur bei mir eine Mischung aus

Faszination und Bewunderung auslöst.

Der SPIEGEL war immer schon

mehr als nur eine Redaktion. Er war,

in der alten Bundesrepublik, eine

eigene Instanz. Die vom SPIEGEL,

das waren die Erwachsenen im

Raum, an denen sich die anderen Medien

orientierten. Ich mag das Gerede

von der vierten Gewalt nicht

sonderlich, weil es uns Journalistinnen

und Journalisten überhöht und

wichtiger nimmt, als es uns zusteht.

Aber für den SPIEGEL traf dies fraglos

zu: Sein Einfluss war gigantisch

(also: riesig), er nahm die Rolle einer

vierten Gewalt im bundesrepublikanischen

Staat ein.

Weil das Prinzip SPIEGEL größer

ist als jeder Einzelne, erschienen Artikel

lange Zeit ohne Namen. Es war

nicht wichtig, wer etwas geschrieben

hatte; was zählte, war, was geschrieben

wurde. Im Zeitalter des Instagram-Ichs

hat der Gedanke an eine

namenlose Kollektivität etwas Herzerwärmendes.

Und zum Kleinmachen durch den

SPIEGEL zählte eben auch: das Kleinmachen

der Halunken und der Hintermänner

in Politik und Wirtschaft.

Das Konfrontieren der Mächtigen,

die sich sonst kaum jemand zu konfrontieren

traute, nicht nur in der

SPIEGEL-Affäre. Das ist das eigentliche

Verdienst des SPIEGEL für die

Demokratie, und dafür kann man ihm

gar nicht oft genug danken.

Dass die Versuchung groß gewesen

sein muss, Kontrolle der Macht mit

eigener Bedeutung zu verwechseln,

ist dabei eine vielleicht unvermeidliche,

zugegeben aber auch desillusionierende

Begleiterscheinung. Nur

so lässt sich erklären, dass manch

SPIEGEL-Chefredakteur sich im Flieger

die Buchungsklasse »First« vorbehielt,

in der ein Transatlantikflug

locker 8000 Mark kosten konnte.

62 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


75 JAHRE DER SPIEGEL

Man war ja auf Augenhöhe mit den

Mächtigen, warum also sollte ein

SPIEGEL-Chef schlechter reisen als

ein Dax-Vorstand? Und wenn die Recherchen

besonders drängten, wurde

schon mal ein Privatjet gechartert.

Dann geschahen zwei Dinge: Die

Mauer fiel, Deutschland wurde größer.

Und jemand kam auf die Idee,

dass man Journalismus auch im Internet

machen kann, sogar ganz gut (zu

denen, die das schnell verstanden,

gehörte der SPIEGEL, ein großes

Glück für das Haus). Eine neue, andere

und unerwartete Form von Diversität

entstand: eine diversifizierte

Medienlandschaft, die dem SPIEGEL

einiges seiner Dominanz nahm.

Wenn dem SPIEGEL heute vorgeworfen

wird, er sei nicht mehr das,

was er mal war, ist das ein bisschen

wahr, vor allem aber wohlfeil (und

wird vorzugsweise von Mitbewerbern

oder Politikern vorgetragen, die sich

schlecht behandelt fühlen). Das Prinzip

SPIEGEL, furchtlosen Journalismus

angelsächsischer Prägung mit

scharfer politischer Kritik und herausragender

Erzählkunst zu kombinieren,

hat den Journalismus in Deutschland

verändert. Andere haben aufgeholt

(auch die »taz« hat sich einiges

vom SPIEGEL abgeschaut).

Wie sollte der SPIEGEL also sein,

was er mal war, in einer so gewandelten

Welt? Und wäre das wirklich gut,

wenn er sich nicht verändert hätte?

Die Mobilität, Spontaneität und

Pionierstimmung des Onlinejournalismus

jedenfalls hat die Hermetik des

gedruckten SPIEGEL aufgebrochen.

Im Vergleich zur journalistischen

Aristokratie der Printkollegen, bei

denen das ungeschriebene Gesetz

galt: je höher das Büro an der Brandstwiete

und je mehr Fensterachsen,

desto wichtiger der Redakteur und

desto fetter das Bankkonto – im Vergleich

dazu also nahmen sich die

Onlinekollegen und -kolleginnen aus

wie Hungerlöhner am Fließband

einer malaysischen Manufaktur. Sie

waren, wenn auch im Branchenvergleich

nicht wirklich schlecht bezahlt,

das journalistische Prekariat in der

Klassengesellschaft des SPIEGEL.

Der Bluthochdruck-Journalismus

von SPIEGEL ONLINE hat fraglos

manche SPIEGEL-Qualität verwässert,

angefangen bei der Qualitätskontrolle

der Texte (wo ist eigentlich

die legendäre SPIEGEL-Dokumentation?)

bis hin zum Kolumnenjournalismus,

der Meinung im Dutzendpack

billiger macht. Etwas

nachlässig im Stil sei der SPIEGEL

heute, findet Ariane Barth, dafür sei

die Kon formität verschwunden.

Man kann nicht alles haben. Die

wechselsei tige Befruchtung und die

2019 vollzo gene Fusion der Redaktionen

von Print und Online haben

dem Haus jedenfalls wohltuende

Frischluft zugeführt.

Zugleich wirkten das Blatt und die

Website in den vergangenen Jahren

mitunter so, als hätte sie eine mittelschwere

Identitätskrise erfasst, und

zwar schon bevor mit Claas Relotius

die Schwindelei Einzug hielt. Als

wäre nicht mehr ganz klar, wofür der

SPIEGEL heute steht.

Wofür also sollte er stehen? Es

mag aus der Feder einer »taz«-Chef-

SPIEGEL-Redaktionskonferenz

1988

Kritische

Schärfe

kann diesem

Land

mit all

seinen

Verwerfungen

und

merkeligem

Scholzismus

nur

guttun.

Monika Zucht

redakteurin merkwürdig klingen,

aber die Antwort lautet: für das

Beste von damals, nur anders. Heute

gilt ein modernes, geweitetes Verständnis

von Macht, das nicht nur

politischen und ökonomischen Einfluss

umfasst, sondern auch gesellschaftlichen.

Macht besitzen nicht

nur politische Alphafiguren und

Konzernvorstände, nicht nur Annalena

Baerbock, Markus Söder und

Herbert Diess. Macht besitzen auch

Dieter Wedel, Jérôme Boateng und

die katholischen Priester, die Myriaden

unschuldiger Jugendlicher missbraucht

haben. Machtstrukturen

verlaufen ökonomisch und sozial,

anhand von Herkunft, zwischen Geschlechtern

und Identitäten. Das Leben

ist unübersichtlich geworden,

und sosehr uns das nerven und überfordern

mag, so zentral ist es doch

für ein Leitmedium wie den SPIEGEL,

diesen erweiterten Machtbegriff nicht

zu ignorieren.

Bedeutet das, einer Gegenwartsströmung

nachzugeben, die nur die

eigene Befindlichkeit in den Mittelpunkt

der Debatte stellt? Bitte nicht.

Wach zu sein – »woke« hieß das,

bis der Begriff zum Instrument ideologischer

Auseinandersetzungen wurde

– bedeutet , immer wieder zu hinterfragen,

wer Macht ausübt, und

dieser hinterherzurecherchieren, sie

im besten demokratischen Sinne zu

kon trollieren. Augsteins »Im Zweifel

links« bedeutet immer auch: im Zweifel

für die Schwachen und Wehrlosen.

Das »Im Zweifel links«-Diktum umfasst

übrigens auch die Klimakrise,

deren Verursacher und Verharmloser

angeprangert gehören wie korrupte

Konzernbosse oder lügende Politikerinnen.

Danke, lieber SPIEGEL, dass

du das Anschreiben gegen die Klimakrise

so ernst nimmst.

Im SPIEGEL arbeiten die meisten

der besten Journalistinnen und Journalisten

des Landes, und ich sehe das

als Verpflichtung. Die Demokratie

braucht den SPIEGEL, um den Mächtigen

auf die Finger zu schauen, das

war gestern so und wird morgen so

sein. Weich sind andere zur Genüge.

Kritische Schärfe kann diesem Land

mit all seinen Verwerfungen und

merkeligem Scholzismus nur guttun.

Das können nicht viele, und nur der

SPIEGEL kann es wie der SPIEGEL.

Wenn diese Wächterfunktion noch

etwas empathischer und diverser, etwas

weniger herrschaftlich-unerbittlich

und dafür unbestechlich präzise,

bissig, aber nicht verbissen ausgeübt

würde: Dann käme der SPIEGEL meinem

Traummedium noch näher, als

er es ohnehin schon ist.

n

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

63


Reporter

Die Geschichten hinter den Geschichten –

der besondere Rückblick

Mit Esel und Pony

NR. 32/2021 »Last Warning« – Der Terminator will die Welt retten, diesmal vor dem Klimawandel.

Wie genau das gehen soll? Marc Hujer hat das Arnold Schwarzenegger in seinem Haus in Los Angeles gefragt.

I

m

Sommer, drei Monate vor der Weltklimakonferenz

in Glasgow, besuchte

ich Arnold Schwarzenegger auf seinem

Anwesen in Los Angeles, wo er zusammen

mit vier Tieren lebt: dem Schlittenhund

Dutch, den er nach seiner Rolle im Film

»Predator« genannt hat, seinem Yorkshireterrier

Cherry sowie Whiskey, dem Pony,

und Lulu, seinem Esel. Schwarzenegger, der

von 2003 bis 2011 Gouverneur von Kalifornien

war, redete über seine neue Rolle als

Klimaaktivist; seit fünf Jahren veranstaltet

Schwarzenegger eine eigene Klimakonferenz,

den Austrian World Summit in Wien,

auf dem auch Greta Thunberg aufgetreten

ist. In seinem Haus in Los Angeles plädierte

Schwarzenegger für einfachere Sprache und

mehr Optimismus in der Klimadebatte, nur

so könne man Menschen mitnehmen, die

sich von wissenschaftlichen Berichten nicht

erreichen ließen. Statt über »Klimawandel«

solle man lieber über »Verschmutzung reden«,

sagte Schwarzenegger, das sei eingängiger,

man könne sie sehen, wie sie aus den

Schornsteinen komme. »Verschmutzung ist

es, was die Menschen tötet. Verschmutzung

ist der Feind Nummer eins, Verschmutzung

lässt die Korallenriffe sterben, lässt die Eisberge

schmelzen, wenn wir die Verschmutzung

in Griff kriegen, lösen wir auch alle

anderen Probleme. Warum also reden wir

immer über Klimawandel?« Er habe dafür

immer wieder geworben, aber verändert,

sagt Schwarzenegger im Dezember, fast ein

halbes Jahr später, habe sich nicht viel; es

gebe zwar in Kalifornien ein paar Leute, die

jetzt auch von »Verschmutzung« sprächen,

aber auf der Weltklimakonferenz habe er

von einem Wandel nichts gemerkt. »Wenn

man sich die Kommunikation in Glasgow

anschaut«, sagt Schwarzenegger, »war das

ein Desaster.«

Schleppende

Aufklärung

NR. 46/2021 »Niemand soll

erleben, was ich erlebt habe« –

Was passiert, wenn Kinder

in ein System gelangen, in dem

keiner auf sie achtet, hat

Frauke Hunfeld recherchiert.

Dass »unsere Kinder Tyrannen

werden«, hatte der Bonner

Kinderpsychiater Michael

Winterhoff über Jahre behauptet

und war damit berühmt

geworden. Was öffentlich

nicht bekannt war: dass

er über Jahrzehnte Kindern ab

drei Jahren massenweise

Psychopharmaka verordnete.

Vor allem die vielen Heimkinder,

die er behandelte, fühlten

sich machtlos. Viele, die

der SPIEGEL in diesem Jahr

traf, leiden bis heute unter

Nachwirkungen der Behandlung.

Die Recherche war auch

eine Reise in das System der

Jugendhilfe, das Schutzbedürftige

nicht ausreichend schützt

und Machtmissbrauch nicht

verhindert. Inzwischen ermittelt

die Staatsanwaltschaft.

Michael Winterhoff hat seine

Praxis seit Mitte Dezember

geschlossen. Trotzdem geht

die Aufklärung nur schleppend

voran, fast alle involvierten

Behörden verweisen auf Nichtzuständigkeit,

auf Datenschutz,

auf Unkenntnis. Womit

die Frage, warum

geschehen konnte, was geschehen

ist, zum Teil auch schon

beantwortet wäre.

64 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL


Plakate in Hanau

#saytheirnames

NR. 7/2021 »Die Hanau-

Protokolle« – Özlem Gezer und

Timofey Neshitov haben

Über lebende und Angehörige

der Opfer des Attentats von

Hanau monatelang begleitet

und interviewt.

Ferhat Unvar

Hamza Kurtović

Said Nesar Hashemi

Vili-Viorel Păun

Boateng,

Lenhardt 2020

»Die Trauer ist

unbeschreiblich«

NR. 34/2021 »Eine moderne

Hexenjagd« – Nora Gantenbrink,

Isabell Hülsen und Antje

Windmann recherchierten

nach dem Tod des Models Kasia

Lenhardt die Hintergründe.

Warum wollte Kasia Lenhardt

sterben? Diese Frage

stellten sich Anfang dieses

Jahres Redakteurinnen des

SPIEGEL. Im Februar hatte

sich das Berliner Model das

Leben genommen. Dem Suizid

vorausgegangen war eine

Hetzjagd in den sozialen Medien,

ausgelöst durch ein

Interview, das ihr Ex-Freund,

der Profifußballer Jérôme

Boateng, der »Bild«-Zeitung

gegeben hatte. Darin hatte er

Lenhardt auch vorgeworfen,

ihn zu der Beziehung erpresst

zu haben. Dutzende Chat- und

Sprachnachrichten sowie Dokumente,

die dem SPIEGEL

vorliegen, zeichneten ein anderes

Bild. In dem Text, der

im Spätsommer erschien, äußerten

sich Vertraute des ehemaligen

Paares. Auch Adrianna

Lenhardt, Kasias Mutter,

sprach zum ersten Mal nach

dem Tod ihrer Tochter. Boateng

hatte sich zu den SPIEGEL-

Recherchen nicht äußern wollen.

Mittlerweile spielt er

bei Olympique Lyon in Frankreich.

Im September verurteilte

ein Münchner Gericht den

33-jährigen Fußballprofi zu

einer Strafe von 1,8 Millionen

Euro wegen Körperverletzung

an Sherin S., der Mutter seiner

Töchter. Sowohl Boatengs Anwalt

als auch Nebenklage und

Staatsanwaltschaft haben

dagegen Berufung eingelegt.

Adrianna Lenhardt nach Erscheinen

des Artikels: »Mir hat

es viel bedeu tet, dass nicht

mehr nur noch die eine Seite

der Geschichte in der Öffentlichkeit

kursiert. Ich hatte den

Glauben an Gerechtigkeit

schon verloren. Dennoch bringt

mir all das mein Kind nicht

mehr zurück. Ich würde lügen,

wenn ich sage, es ginge uns

gut. Die Trauer ist un beschreiblich.

Kasias Ge schwister

vermissen ihre Schwester, und

Kasias Sohn vermisst seine

Mama. Eine Leerstelle in unseren

Herzen wird für immer

bleiben.«

Mercedes Kierpacz

Kaloyan Velkov

Fatih Saraçoğlu

Sedat Gürbüz

Gökhan Gültekin

Neun junge Menschen, ermordet

am 19. Februar 2020 in Hanau,

von einem rechtsextremen

Attentäter aus rassistischen

Motiven.

#saytheirnames

ddp socialmediaservice

Milos Djuric / DER SPIEGEL

»Banane im Kopf«

NR. 29/2001 »Der Trip« –

Der Berliner Unternehmer Carl

Philipp Trump verkaufte legal

ein Derivat der Droge LSD.

Max Polonyi begleitete ihn.

Im Juli berichtete der

SPIEGEL über Carl Philipp

Trump, der in Berlin eine Gesetzeslücke

nutzte: Trump hatte

einen Millionenumsatz mit

der Forschungschemikalie

»1CP-LSD« gemacht, die bei

Konsum einen zwölfstündigen

Rausch aus Wahnvorstellungen

versprach. Ende Juni wurde

sein Produkt verboten. Nur

wenige Wochen später eröffnete

Trump neu, mit einer

Nachfolgesubstanz namens

»1V-LSD«, die laut Trump

eine identische Wirkung haben

soll wie ihre Vorgängerin.

Drei Monate lang verkaufte

Trump wie zuvor – ohne Altersbeschränkung

und mit

Umsätzen von bis zu 50 000

Euro pro Woche. Ende September

schloss die Berliner

Polizei sein Geschäft, »zum

Zwecke der Verhinderung und

Fortsetzung weiterer Straftaten

und Ordnungswidrigkeiten«.

Der Laden ist jetzt amtlich

versiegelt, Trump darf ihn

nicht mehr betreten.

Keineswegs

greisenhaft

NR. 37/2021 »Die ganzen

Filme sind auch Schreie nach

Liebe« – Am 10. Dezember

2021 wurde Georg Stefan Troller

hundert Jahre alt. Hauke

Goos und Alexander Smoltczyk

haben ihn besucht.

Er ist eine Legende und dazu

noch bei bester Gesundheit.

Aber wie ein Interview führen

mit jemandem, der selbst ein

Meister dieses Fachs ist? Der

schon alle kritisch und liebevoll

vernommen hat, von

Coco Chanel und Romy

Schneider bis Muhammad Ali

und Alain Delon? Wir hatten

Troller bereits früher, für

unser SPIEGEL-Buch »Ein

Sommer wie seither kein anderer«,

in Paris getroffen.

Nein, es sei kein Problem,

noch einmal zu kommen, sagte

Troller am Telefon, keineswegs

greisenhaft, sondern mit

einer leicht wienerisch gefärbten

tiefen Katerstimme: »Nur

eine Bedingung: Wir reden

nicht über die alten Dinge,

Jugend in Wien, Krieg, Befreiung

von Dachau.« Das habe

er schon zu oft erzählt, und

das Leben eines Hundertjährigen

ist zu kurz für Wiederholungen.

So trafen wir uns

zwei Tage lang in der Normandie,

im Garten von Trollers

Bauernkate. Auf dem Tisch

standen Kaffee und Kuchen

und Foxy, der Kater. Wir sprachen

über Träume und Albträume,

über nicht Erledigtes,

Versäumtes und vor allem

über die Kunst, Menschen zu

beschreiben, ohne ihnen wehzutun

und ohne dabei die eigene

Aufrichtigkeit zu betrügen.

Es war ein beglückendes

Gespräch, und manchmal, so

möchten wir uns einbilden,

ein Gespräch unter Reporterkollegen.

»Danke, Kinder,

aber jetzt werde ich mich ein

wenig hinlegen«, sagte Troller

zum Abschied.

Trump

Trump sagt, ihm fehlten nun

Tausende Euro Einnahmen pro

Woche. Seinen Onlineshop

betreibt er wie gehabt. Er ist

überzeugt von Qualität und

Legalität seines Produkts, er

selbst konsumiere davon jeden

Morgen zehn Mikrogramm.

Trump blickt optimistisch in die

Zukunft, er suche nach Immobilien

in Hamburg und München,

um weitere Läden zu eröffnen.

Allein die Ankündigung der

Ampelkoalition, Cannabis zu

legalisieren, bereite ihm Sorgen.

Trump hält Cannabis für gefährlicher

als sein LSD. Vor

Kurzem habe er sich von einem

seiner Mitarbeiter trennen

müssen. Dieser habe begonnen

zu kiffen und sei im Büro zu

nichts mehr zu gebrauchen gewesen.

»Das Zeug macht dich

total Banane im Kopf«, sagt

Trump.

Milos Djuric

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

65


REPORTER

Tanz auf dem Vulkan

KATASTROPHEN Fast drei Monate lang spuckte der Cumbre Vieja auf La Palma Lava und Gas,

zerstörte Häuser, veränderte Leben. Unterwegs mit Auswanderinnen,

die einst Deutschland verließen, um auf den Kanaren neu anzufangen. Und die nun noch einmal

neu anfangen müssen. Von Barbara Hardinghaus

66 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Spanish Institute of Oceanograph / ddp

E

s hatte sich früh angekündigt,

schon um die Jahreswende

2017/18, mit vielen kleinen Beben

in wenigen Stunden. Der Anfang,

viele Jahre vor dem Ausbruch.

Katharina, Fotografin, geboren

1958 in Hersbruck bei Nürnberg,

wusste noch nicht, dass ein Vulkan

ihr Leben verändern würde, sie arbeitete

damals in einem Hotel bei Nürnberg

als Animateurin.

Barbara, Hebamme, geboren 1965

in Oranienburg, hatte wieder mal

alles aufgegeben. Sie hatte in der

Schweiz ihren Renault vollgepackt

und ein Ticket für die Fähre nach La

Palma gebucht. Silvester 2017/18 saß

sie in Montpellier in einem Airbnb-

Zimmer, allein am Fenster, vor ihr die

Nacht.

Carla, Künstlerin, geboren 1952 in

Hannover, war schon auf der Insel,

als der Vulkan sich vorbereitete. Sie

habe sich keine Sorgen gemacht,

ohnehin könnte man sagen, sie ist

unerschütterlich. Mit 54 Jahren hatte

sie Spanisch gelernt, erst »buenos

días«, dann »por favor«, und ein neues

Leben begonnen.

Drei deutsche Neuanfängerinnen.

Drei Frauen, die sich auf den Weg

gemacht hatten, um ein neues Leben

zu beginnen, auf La Palma, der

nordwestlichsten der Kanarischen

Inseln, 45,2 Kilometer lang, 27,3 Kilometer

breit, rund 86 000 Einwohner.

Eine Insel, die es nur gibt,

weil vor knapp zwei Millionen Jahren

ein Vulkan sie aus dem Meer

emporsteigen ließ.

Seit vielen Wochen leben die

drei nun mit der Lava, der Asche.

Anfang 2021 hatte der Cumbre Vieja,

der »Alte Gipfel«, erneut viele

kleine Erdbeben vorausgeschickt.

Am 19. September um 15.12 Uhr

Ortszeit brach er schließlich aus,

Asche regnete nieder, eine Lavafront

rollte mit mehr als zehn Metern pro

Stunde über Häuser. Explosionen

ließen Fensterscheiben brechen.

Ende September erreichte die Lava

den Atlantik.

Barbara Bresgott, die Hebamme,

lebt seit fast vier Jahren auf der

Insel. Sie trägt die grauen Haare

kurz, einen Ohrring rechts, und

steht an einem Abend Ende November,

mehr als zwei Monate nach dem

Beginn des Ausbruchs, am Haus

ihres Freundes Diego, wo sie Kisten

ins Auto packt. Avocados, Orangen,

Bananen.

Der Himmel hinter ihr ist rot eingefärbt

vom Licht der Lava, die unterhalb

des Hauses am Hang gegenüber

durch das Tal läuft. Die Bananenstauden

sind von Asche bedeckt.

Ladenbesitzer

in Los Llanos beim

Aschefegen: Die

Erde bebt bis

zu 200-mal am Tag

Soldaten

warfen an

Allerheiligen

von einem

Helikopter

aus Blumenblüten

auf

den

Friedhof.

Barbara steht in Tajuya, einem Teil

von El Paso. Auf der einen Seite La

Palma, wie man es kennt: hügelig,

kräftig, grün, beliebt bei Touristen, die

dort wandern, baden, selbst im Winter.

Auf der anderen Seite die Lava.

Ihr Blick geht über die Lava ins

schwarze Nichts, unter dem Häuser

liegen, Weiden, Felder und auch der

Campingplatz, der wie ein Zuhause

war.

Am 12. Januar 2018 hatte Barbara

La Palma erreicht, sie wusste zunächst

nicht, wo sie leben würde, wo

sie arbeiten würde, sie konnte die

Sprache nicht. Sie kellnerte im La

Pergola und zog ins Aridane-Tal an

der Westseite von La Palma. Es war

das am dichtesten besiedelte Tal der

Insel, dort lebten viele deutsche

Auswanderer. Heute ist es das am

schwersten betroffene Tal, 7000 Menschen

wurden evakuiert.

Die Erde hat sich hier neu sortiert,

an manchen Stellen bis zu 80 Meter

hoch aufgebaut, sie liegt in Wellen,

bildet flache Ausläufer, steile Wände.

Im November ist alles noch im

Werden, der Vulkan noch immer

aktiv, die Erde bebt bis zu 200-mal

am Tag, die Ursache der Beben liegt

bis zu 40 Kilometer tief unter der

Erdoberfläche, der Vulkan schießt

Schwefeldioxidfontänen aus, Zehntausende

Tonnen Gas am Tag.

Barbara sagt, sie habe schon kurz

nach dem Ausbruch die Idee gehabt,

den Menschen nach ihren Verlusten

zu helfen. Sie holte Bananen von

ihrem Freund Diego, der Bananenbauer

ist. Holte Seifen aus einem Laden

in Los Llanos, weil dorthin kaum

noch Kunden kommen. Holte Hefe,

Anna Tiessen / DER SPIEGEL

REPORTER

Chutneys, Milch von Sandra, die

einen Bioladen führte, den es nicht

mehr gibt. Heute hat sie 19 Kilogramm

Kartoffeln im Wagen, von

Sybille, die Physiotherapeutin ist und

einen Garten hat.

Barbara fährt gerade zum sechsten

Mal ihren kleinen mobilen Markt

um die Insel, macht fünf, sechs Stationen,

insgesamt 170 Kilometer

Strecke, um Waren zu denen zu bringen,

die gerade nur wenig haben. Sie

sagt, sie könne es nicht ertragen,

nichts zu tun.

Sie schließt die Heckklappe, lacht

Diego kurz an, es liegen kleine graue

Partikel auf ihrer Stirn, Asche auf ihrem

Haupt, Partikel aus feinstem Glas.

Nachdem sie auf die Insel gekommen

war, hatte sie eine Anzeige geschaltet:

»Deutsche Hebamme und

Sozialarbeiterin bietet Betreuung an«.

Sie wurde Lehrerin für schwer erziehbare

Kinder, half bei einer dementen

Frau, arbeitete als Altenpflegerin.

Ihr Leben sei schon immer in Bewegung

gewesen, sagt sie. Drei Kinder,

Trennung. Chor gegründet, Klavierunterricht

gegeben, Jugendklub

aufgemacht, städtische Angestellte in

Festanstellung, Weiterbildung, Sprechstundenhilfe,

wieder selbstständig,

wieder Hebamme, Expertin für Veränderung.

Ein Mensch auf der Suche.

Jemand, der Neuanfänge nicht scheut,

sondern sie zulässt.

Barbara sagt solche Sätze wie:

»Augen auf und durch!« Sie gründete

zu Beginn der Pandemie einen Gruppenchat,

lud Menschen ein, rief einen

Verein ins Leben. Sie schuf einen

Platz für die Vereinstreffen, mit

einem großen Tisch und Bänken

unter einem Maulbeerbaum, unten

im Aridane-Tal, mit Bar, Bambus,

hippiemäßig, auf dem Campingplatz.

All das liegt jetzt unter der Lava, als

wäre es nie gewesen.

Am Abend vor dem Ausbruch,

dem Samstag, hätten sie ihre erste

Party gefeiert, sagt Barbara, mit Musik,

Wein, Nüsschen, geviertelten

Eiern auf dem Salat. Diego spielte

Gitarre; da ruckelte die Erde schon

ordentlich, die Behörden warnten,

Gefahrenstatus »orange«.

Sie hätten gewusst, dass es wieder

losgehen würde, aber keiner habe es

so richtig geglaubt, sagt Barbara.

Carla Helga Culemann, die Künstlerin,

die schon lange hier ist, hat wilde

graue Locken, trägt ein rotes Tuch,

hat rote Lippen. Sie hat sich ein wenig

hübsch gemacht, Katastrophe hin

oder her.

Sie hatte auf dem Campingplatz

ihr Atelier und eine kleine Casita zum

Schlafen. Carla, die eh eher der re-

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

67


REPORTER

laxte Typ ist, dachte noch am Tag des Ausbruchs:

»Ihr spinnt doch!«, als ihr Leute sagten,

sie solle besser etwas einpacken und den

Campingplatz verlassen.

Sie war am Morgen noch im Meer geschwommen

und hatte auf dem Flohmarkt

Blumen gekauft für das Atelier. Sie hatte mittags

Pasta mit Tomatensoße gekocht und wollte

eine Siesta einlegen, als sie um 15.13 Uhr

die Rauchwolke sah und dann doch schnell

einpackte: zuerst den Aktenordner mit Pass

und den Autoversicherungsunterlagen, den

Computer, einen Schlafanzug.

Carlas Leben war seinen Gang gegangen,

irgendwann war dann ihr großer Ausbruch

gekommen, ohne Vorbeben, die ihn angekündigt

hätten. Sie hatte Kunst studiert, einen

Demeter-Landwirt geheiratet, drei Kinder

bekommen, 18 Jahre Schwäbisch Hall. Dann

kam La Palma.

Sie wohnt jetzt oberhalb des Aussichtspunkts

El Time, bei einer Freundin in einem

kleinen Zimmer mit einem Bett und einem

Stuhl, er ist das einzige Möbelstück, das Carla

geblieben ist.

Was nimmt man noch mit, wenn man nur

zehn Minuten hat?

Wolldecken, die teuren Farben, Tassen, die

sie an etwas oder jemanden erinnern, und

eben den Stuhl, aus Holz, leinenbespannt,

blau lasiert.

Warum genau den?

Sie sagt: »Er ist ein Erinnerungsstück noch

aus meiner Ehe. Mein Schwiegervater war

Architekt, er hatte ihn entworfen, wir haben

ihn bauen lassen.«

Ein Einzelstück.

Andere packten ein: eine Badehose. Einen

Gummitrog.

Millisekunden-Entscheidungen, so verschieden,

wie die Menschen es sind.

Katharina Hubner, die Fotografin, war am

20. März 2018 im Flugzeug auf die Insel gekommen.

Sie war 40 Jahre alt, als sie und ihr

Mann sich trennten. Bis dahin war sie wohlbehütet,

sehr gut versorgt gewesen. Firma,

Porsche, Jaguar, Haus, mal schnell auf die

Kanaren fliegen. Das war nach der Trennung

plötzlich alles weg. Sie hatte sich in die Insel

verliebt, in die Esskastanien, die Steineichen,

die alten Drachenbäume und die Vielfalt. Regengegenden,

Nebelgegenden. Wärme.

Katharina lebte zur Zeit des Ausbruchs

drei Kilometer Luftlinie vom Vulkan entfernt,

in Tajuya, in einer kleinen Casita. Sie hatte

die »Casa Monarca«, ihr vorheriges Zuhause

mit den prächtigen Obstbäumen, den Hühnern

und der Monarchfalterzucht, gerade erst

verlassen, alles sollte verkauft werden, doch

ihr Herz hing noch dran.

Ihr neues Heim wurde evakuiert und auch

das alte, wo sie vergaßen, die Hühner freizulassen.

Jetzt lebt Katharina in einem Raum mit

einem noch kleineren Raum daneben, wo ihr

Bett steht, das Ganze ist mehr ein Verschlag,

mit einem kleinen Fenster, von dem aus sie

das Meer sieht.

Barbara, die Hebamme, wartet an einem

Morgen Mitte November am Busbahnhof von

Los Llanos de Aridane, hinter dem Kreisel

bei Lidl. Sie hat sechs Brote gebacken und

mit ihren Kindern telefoniert. In der Nacht

hat wieder die Erde gebebt. Noch immer rieseln

kleine schwarze Partikel auf sie hinab

durch die Sonnenstrahlen. In der Stadt fegen

die Menschen ihre Markisen ab, ihre Windschutzscheiben

befreien sie mit den Scheibenwischern,

bevor sie losfahren, Straßenreiniger

räumen die Gehwege, an manchen Stellen

mit Räumfahrzeugen wie im Skigebiet; sie

fegen jeden Tag 200 Tonnen Asche zusammen

in Los Llanos. Der zerstörte Streifen ist

so groß wie 1700 Fußballfelder, nur 1,7 Prozent

der Inselfläche sind direkt betroffen, aber

die Asche findet ihren Weg.

Einige klagen über Kopfschmerzen, ihre

Augen brennen. Manche nahmen ihre Sachen

und fuhren in den Norden. Einige wohnen da

jetzt, das sind die, die nichts mehr sehen oder

hören wollen. Wenn man dort ist, ist es, als

wäre nichts gewesen.

Andere bleiben da, wie aus Trotz oder aus

Liebe.

Sie sehen ständig nach ihm, nach dem alten,

cholerischen Bekannten, dem Vulkan.

Was macht er heute?

Er nimmt den Menschen das Licht, wirft

riesige Schatten auf sie, türmt Rauchsäulen

auf, seine Lava sucht sich immer neue Wege,

verästelt sich.

Es ist noch früh an diesem Novembermorgen,

aber Barbara, die Hebamme, hat sich

schon warm geredet. Sie spricht immer viel,

als würde sie sich die Dinge im Leben noch

»Schon kurz nach dem

Ausbruch hatte ich die Idee,

den Menschen zu helfen.«

Barbara Bresgott, Hebamme

Anna Tiessen / DER SPIEGEL

mal selbst erklären. Der schwerste Neuanfang?

Ihre Jungs waren 2008 alle drei innerhalb

von einer Woche ausgezogen.

Wie das war?

»Schlimm«, sagt sie.

Sie schaut, bevor sie ihre Tour startet, kurz

in den Himmel und sagt: »Was bedeutet schon

Sicherheit? Für wen ist sie? Für was? Warum?

Und für wie lange?«

Barbara steuert das bepackte Auto aus Los

Llanos in Richtung El Paso, in eine Wohngegend

mit Villen, höher gelegen. Dort trifft

sie Uli und Elke, die bei Freunden eingezogen

sind nach dem Ausbruch, weil ihr Haus auch

unter der Lava liegt, seit 41 Tagen jetzt.

D

ie erste Explosion, so erzählen es

die Menschen auf der Insel, sei klein

gewesen, der Knall fast unmerklich,

bis zu 25 Kilometer tief unter der Erdoberfläche

dehnten sich die Gase aus, die Magmaströme

brauchten Zeit, bis sie oben ankamen.

Ein Lärm wie am Flughafen, dann

ein Donnern.

Schließlich kam die Lava. Der Strom suchte

sich seinen Weg, in Richtung Westen, Richtung

Meer. Lava besteht aus geschmolzenen

Steinkristallen und Gasen, während sie an

der Oberfläche fließt, kühlt sie ab, entgast,

wird langsamer, stockt.

Am zweiten Tag hatte der Strom die Grenze

zu Todoque erreicht, die Landstraße LP 2

überschritten, er stoppte kurz an der Hauptstraße,

rollte auf die Kirche San Pio X zu. Es

gibt die Kirche nicht mehr.

Die Lava begrub Häuser, manche brannten,

Mauern glühten, sie begrub die Weinbar, die

Autovermietung, das Yogastudio, den Supermarkt.

Die Lava floss weiter auf die Küste zu,

arbeitete sich voran mit 120 Metern pro Stunde,

brüllend, launisch, rollte über alles Gewesene.

Am 19. Oktober war das Atelier von

Carla dran.

Was sie nicht mitgenommen hat?

Schreinerschrank, Sofa, Bildhauerwerkzeug,

Klavier, Trichter.

Am selben Tag war auch der Campingplatz

komplett weg, der Vereinsort, Bar, Kino, Wolkenhaus,

hellblau und weiß, für die Kinder.

»Is weg«, sagen die Deutschen hier.

Laut Katasteramt fehlen nun mehr als

1345 Wohnhäuser von 2329 gemeldeten Personen,

weitere 5000 Menschen haben immer

noch keinen Zugang zu ihren Häusern, die

teils zerstört oder beschädigt sind. Insgesamt

438 Evakuierte musste die Inselregierung

zunächst in Hotels, Schulen, Sporthallen

unterbringen. Stromleitungen müssen erneuert

werden, Wasserleitungen, 73 Kilometer

Straßen sind nicht nutzbar. Der geschätzte

Schaden: rund 900 Millionen Euro.

Barbara war gerade auf einer ihrer ersten

Markttouren nach dem Vulkan ausbruch im

Auto, als jemand ein Video in ihrer Chatgruppe

postete und schrieb: »Brennt hier die Bananenpackerei

neben dem Campingplatz?«

»Das sieht so aus«, antwortete Barbara nur

kurz.

68 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


REPORTER

Sie wurde als ältestes von vier Kindern

geboren, ihr Vater war Pfarrer,

sie war keine Pionierin und durfte in

der DDR kein Abitur machen. Sie

wurde Hebamme an der Charité,

arbeitete in Ludwigslust in einem

Stift, wo sie im Kreißsaal das Anpacken

lernte. Ihre erste große Veränderung

im Leben, sagt sie, war die

Wiedervereinigung, die zweite, als sie

ihren Mann verließ, mit 27.

Sie spricht schnell, fröhlich, hat ihr

Handy auf dem Tisch mit dem Foto

der Enkelkinder.

Als ihre Jungs weg waren, ging sie

in die Schweiz und machte eine Ausbildung,

Pränatal- und Geburtstraumatherapie,

sie heiratete ein zweites

Mal, wohnte bald wieder allein.

Irgendwann machte sie Urlaub auf

La Palma, merkte, »hier könnte ich

leben!«, und brach wieder auf. Diesmal

für immer, »dieses Mal komme

ich nach Hause«, dachte sie bei sich,

als sie 2017 den Renault packte.

Die erste Nacht auf La Palma

schlief sie in Todoque, dem Dorf, das

es heute nur noch auf Karten gibt und

im Internet.

Nichts ist für die Ewigkeit, vielleicht

nur Vulkane.

Unter dem Streifen der Zerstörung

liegen auch: 1000 Hektar Land,

340 Hektar Anbaufläche, davon

wiede rum 206 Hektar Bananenplantagen,

60 Hektar Weinberge, 26 Hektar

Avocadoplantagen.

Mit Drohnen haben Tierschützer

in El Paraíso vier Hunde mit Wasser

und Futter versorgt, die eingeschlossen

waren, an einer anderen Stelle

fütterten sie eine Katze.

Zu Allerheiligen warfen spanische

Soldaten von einem Helikopter aus

Blumenblüten auf den Friedhof von

Las Manchas.

Carla, die Künstlerin, auf die Insel

gekommen vor 15 Jahren, hatte vor

ihrem ersten Neuanfang mit 51 Jahren

bei ihrem Coach in Schwäbisch

Hall gesessen, der sie gefragt habe:

»Willst du den Rest deines Lebens in

der Kleinstadt verbringen?«

Sie ging dann erst mal auf Reisen,

begann eine Coachingausbildung in

den USA, ein vierwöchiges Training

absolvierte sie auf den Bahamas in

einem Hotel am Strand, wo sie am

Abend im Sand tanzte. Dann: New

York, Hawaii, Berlin, Ibiza.

Im Juli 2006 fuhr sie nach La Palma

in den Urlaub, übernachtete

günstig auf dem Campingplatz, lernte

den Platzwart, Hannes, kennen.

Half ihm mit den Blumen und kehrte

dann im November zurück, die Haare

hennarot, ohne Rückflug ticket,

und zog in einen der Wohnwagen.

Anna Tiessen / DER SPIEGEL (2)

»Ich wollte

gerade eine

Siesta machen,

als ich

die Rauchwolke

sah.«

Carla Helga Culemann,

Künstlerin

Katharina, die Fotografin, sagt, sie

spüre die Erdbeben schon, bevor sie

da sind, ein Dröhnen, aus der Tiefe.

Dann schläft sie nicht mehr weiter.

Sie erzählt das am Hang in der Nähe

ihres neuen Hauses mit den Katzen,

Mogli ist dabei, ihr Lieblingstier, gerettet.

Sie hat schon alles durch, war reich,

war arm. Sie war liiert und ist jetzt

seit 13 Jahren Single.

Von ihrem weißen Schreibtisch aus

schaut sie mehrmals am Tag mit dem

Laptop im Internet nach, wohin die

Lava fließt, nach den vergangenen

Erdbeben, welche Stärken sie hatten.

3,5. 4,7. Die Zahlen geben ihr Auskunft

über die Kraft der Natur und

auch darüber, wann sie zurückkann

in ihre kleine Casita.

»Vielleicht sind es Senkungsbeben«,

sagt sie und erklärt. Wenn

schon viel Magma raus ist, sackt der

Untergrund zusammen. Lässt der

Vulkan es also schon gut sein?

»Schaun mer mal«, sagt sie, als

spräche sie über den nächsten Regen.

Sie ist gern draußen, sie mag keine

Enge. Sie läuft hoch zu den Bienenstöcken

oder in die Wälder, es scheint,

als wäre die Natur über die Jahre ein

Stück bei ihr eingezogen. In ihrer

neuen Unterkunft ist alles klein,

voll mit Asche, der Wind vom Meer

trägt sie hinein, auf ihr Bett, in die

Küche.

Sie hat an die Wände selbst gemalte

Bilder geklebt, eine Sonne, die

»Spirale des Lebens« in Gelb und

Violett. Sie verdient als Fotografin

gerade nichts und baut mit Photoshop

ein Katzenorakel, das sie verkaufen

will, 42 Karten.

Die Trennung von ihrem Mann

damals sei hart gewesen, sagt sie. Das

ging von ihm aus, und sie musste damit

leben. Sie hat dann eine Massageausbildung

begonnen und eine weitere

als Gesundheits- und Ernährungsberaterin.

Sie wurde selbstständig.

Sie ist schon mal aus der Asche auferstanden,

wenn man so will.

Sie sagt, es habe seinen Preis, dieses

Leben, ein Rückhalt fehle ihr an

manchen Tagen. Das ehrlichere Leben

sei manchmal das einsamere.

Man müsse es aushalten können.

Dennoch: Wenn sie in Deutschland

ist und die gepflegten Vorgärten

sieht, denkt sie daran, dass die Scheidung

ihr ein neues Leben ermöglicht

hat, und sagt Danke.

Jetzt wartet sie nachts auf La Palma

darauf, dass die Erde wieder wackelt,

oder sie schaut, was die anderen

auf Facebook dazu schreiben.

»Rumpel-Rumpel alle wach?«

Oder: »Guten Morgen! Noch alle

Tassen im Schrank?«

Carla, die Künstlerin, war am

Nachmittag mit ihrem roten Subaru

unterwegs, sie will zeigen, wo ihr Atelier

stand, sie will so dicht ranfahren,

wie es geht. Überall sind aber Absperrungen,

spanische Polizisten in

gelben Westen, es stehen Pick-ups

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

69


REPORTER

bereit für diejenigen, die noch mal, begleitet,

an ihr evakuiertes Haus dürfen.

Sie kurbelt das Fenster runter und fragt

freundlich nach, mit einem Honiglächeln. Der

Polizist mit Walkie-Talkie erwidert unter der

Schirmmütze: »Wenn Ihre Adresse nicht mehr

da ist, haben Sie keinen Zugang mehr.«

Sie fährt ein Stück in eine andere Richtung

bis an das Schild »La Laguna«, Durchfahrt

verboten. Es kommen Menschen an diese

Stelle, die sich an den Armen halten und weinen

wie an einem Grab.

Carla, die ihr Atelier verloren hat, ihr großes

Werkzeug, malt in ihrem kleinen Zimmer

jetzt kleine Aquarelle. Sie beugt sich über

den Tisch und streicht über das Papier, als

wäre es lebendig. Im neuen Zuhause hat sie

ein Ikea-Regal aufgebaut, Bücher hineingestellt,

Jackson Pollock, und das Foto ihrer

Mutter. Sie hat mit ihrem Coach gesprochen,

der sagte: »Geh auf Reisen mit dem Wohnmobil!«,

aber das ginge ihr jetzt doch zu

schnell.

Sie überlegt, noch ein Buch zu schreiben.

Das erste Buch heißt »Die mit dem Glück

tanzt«. Das zweite Buch soll heißen: »Die auf

dem Vulkan tanzt«. Sie lacht selbst lange und

herzlich, wenn sie das erzählt.

S

ie wollte nach dem ersten Ausbruch den

Vulkan nur noch ein einziges Mal sehen

und fuhr an die Aussichtsplattform El

Time, an der die Touristenbusse jetzt halten.

Schaute kurz, überlegte es sich anders, ging

in das Café nebenan, setzte sich an das Klavier

und spielte »Fly Me to the Moon«.

An diesem Nachmittag fährt Barbara jetzt

an El Time vorbei, mit ihren Kisten. Sie will

noch ein Stück weiter. In Puntagorda, im Zentrum,

wartet Melanie, 71, die vor elf Jahren

losgezogen ist, die Rente war klein, die Kinder

groß. Sie steht da ziemlich gut gelaunt mit

roten Chucks, Strohhut.

Sie kauft Öl von Sandra aus dem Bioladen

und Schokomüsli, sagt: »Das Leben geht seinen

Weg, und ich folge ihm.«

Eine Station weiter: Gabriela, 56, vier Kinder:

»Es gibt noch ein Leben nach den Kindern.«

Gabriela wohnt mit Blick aufs Meer,

bei einer Witwe, die 82 ist und der sie hilft.

Um das Haus am Hang wachsen Mandelbäume,

Strelitzien, Weihnachtssterne. Im Auto

zurück schwärmt Barbara von dem Garten

und sagt, so könne sie auch leben. 56 Jahre

war die ältere Dame mit ihrem Mann verheiratet.

Sie haben sich gemeinsam etwas aufgebaut,

auch diesen Garten, in dem alles gewachsen

ist, jahrzehntelang.

»56 Jahre. Hochachtung«, sagt Barbara,

»aber das wirft auch Fragen auf.«

Vielleicht ist das so für Menschen, die weiterziehen,

dass lange Verbindungen sie skeptisch

machen.

Die Palmeros, die Inselbewohner, wünschen

sich ihr Dorf zurück, Todoque soll wiederaufgebaut

werden. Barbaras Eltern haben

dort bereits gewohnt, ihre Großeltern. 1971

war der Cumbre Vieja an der Südspitze der

»Ich halte nichts davon,

Todoque einfach

wiederaufzubauen.«

Katharina Hubner, Fotografin

Anna Tiessen / DER SPIEGEL

Insel ausgebrochen, weit weg von Todoque.

Ein Ereignis, das mit diesem vergleichbar

wäre, liegt mehr als 340 Jahre zurück.

Barbara, Carla und Katharina halten nichts

davon, Todoque wiederaufzubauen. Es könne

sich natürlich gutes Neues ergeben, aber

nicht an derselben Stelle.

Barbara sucht einen neuen Ort für ihren

Verein, an dem sie sich alle wieder treffen

können. Carla sucht nach einem neuen Platz,

in der Nähe von Puerto Naos hat sie etwas in

Aussicht, einen großen Wohnraum mit Garten

in La Bombilla.

Katharina will zurück in die kleine Casita,

aus der sie evakuiert wurde und über die sie

mittlerweile denkt, dass sie doch ein schöner

Platz sei, zwar anders als die »Casa Monarca«,

aber auch mit alten Bäumen.

Sie macht das Kartenspiel fertig und kauft

ein neues Auto.

Es ist Abend geworden, in einer Kirche

steht die Tür offen, es scheint hell heraus,

18.11 Uhr, Barbara ist auf dem Rückweg in

der Dämmerung. Sie will zu Diego, die Kisten

zurückbringen.

Diego ist auch Palmero, er hat die Bananen-Finca

von seinem Vater übernommen, er

steht da und klopft die Asche vom Basilikum,

von den Tomaten. Viele Pflanzen sind tot. Die

Folie über den Bananenstauden hält nicht, sie

liegt laternenpfahlhoch über den Bananen,

sinkt ab, hat Löcher.

Diego beugt sich über die Asche, greift in

die Erde, er wühlt. Asche mache den Boden

dynamisch und damit fruchtbar, sagt er.

Draußen sitzt Barbara auf einer Mauer. Sie

ist an diesem Tag einmal um die Insel gefahren.

»Miteinander und Füreinander«, heißt

die Chatgruppe, die sie gegründet hat. Was

macht sie, wenn sie müde ist?

»Mich zurückziehen, an einen schönen

Ort«, sagt sie. Aber den einen Ort für immer

suche sie noch.

Wie geht Veränderung?

»Es zu tun!«, sagt Barbara.

»Braucht Mut!«, sagt Katharina.

»Das Herz fragen!«, sagt Carla.

Es gibt keine Sicherheit, das haben sie mal

wieder gelernt.

Was sie vermissen?

»Es sind viele Dinge, die mit Erinnerungen

aus meinem Leben verbunden sind«, sagt

Barbara.

»Meinen friedlichen Lebensplatz, wo ich

mich frei und ungestört bewegen kann«, sagt

Katharina.

»Das Klavier und den Arbeitsplatz im Atelier«,

sagt Carla.

Michael und Karin aus Hannoversch Münden

lebten auch in Todoque, 21 Jahre lang.

Sie hatten sich gerade wieder alles schön gemacht

in ihrem Haus, die antiken Fässer der

Bodega restauriert, die Wände gestrichen.

Michael ist Fischer, sie haben Wein angebaut,

Zimmer vermietet, saßen gern im Licht

des Sonnenuntergangs in der kleinen Bar

hinter der Kirche von Todoque. Früher in

Deutschland hatte Michael als Fliesenleger

und Klavierspieler gearbeitet, Karin hatte

einen Supermarkt geleitet.

Als der Vulkan ausbrach, flohen sie sofort.

Ihr Haus war zuerst nur eingeschlossen von

der Lava links und rechts. Und dann, an Tag

zwei, war es weg.

Sie wohnen jetzt in einem Apartment in

Tazacorte, das sie gemietet haben. Karins

Vater, der über 80 ist, lebt bei ihnen. Michael

erträgt den Stillstand nicht. Er muss dann weg,

schnappt sich sein Boot und fährt weit hinaus.

Am Abend kehrt er zurück und sieht im Dunkeln

durch die Scheibe die Insel, die vor ihm

liegt wie ein Wimmelbild in der Ferne; links

noch die Lichter, unten die Promenade, rechts

der Streifen Lava, der glühend ins Meer fließt.

300 Meter neues Land sind am unteren

Saum von La Palma durch den Vulkan entstanden,

heißt es.

Im Dezember wird sich der Vulkan beruhigen.

Zum ersten Mal seit Langem hören sie

auch im Süden der Insel dann wieder die Vögel

zwitschern. 85 Tage und 18 Stunden nach

dem ersten Ausbruch schließlich, an Weihnachten,

erklärt die spanische Regierung den

Ausbruch offiziell für beendet.

Michael hatte im November gesagt, in seinem

Boot, er gebe niemandem die Schuld.

Wem auch? Der Erde?

Bevor er und Karin ihr Haus verließen,

hatten sie gepackt, was sie konnten, in einen

Fahrradanhänger. Hundebox, Werkzeug,

Angelschnüre. Auch 1000 Vakuum tüten.

Warum? Er weiß es nicht.

Sie sind um die 60 und hatten ihr Leben

anders geplant. »Aber klar«, sagt Michael.

»Fangen wir eben wieder von vorn an.« n

70 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


REPORTER

Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL

Kann man seinen

Computer töten?

HOMESTORY Das Navi, die Spülmaschine, das Handy – Technik soll unser Leben

eigentlich einfacher machen. Warum klappt das nicht, fragt sich Frauke Hunfeld.

I

ch sitze im Auto, wieder ein neues

Navi. Warum muss in jedem

Mietauto ein anderes Navigationsgerät

sein? Wenn man es gerade

bedienen kann, nützt es einem schon

nichts mehr. Ich hacke auf die Tasten,

ich reiße an den Knöpfen, ich drehe

Regler rauf und runter. Die Welt

bleibt schwarz. Es gibt eine Hotline,

aber die kann ich nicht anrufen. Das

Handy hat in der Tiefgarage des Flughafens

keinen Empfang. Und wenn

es Empfang hätte, würde ich nur eine

Maschine erreichen und müsste 1000-

mal »Ja«, »Nein« und »weiter« ins

Mikro brüllen, bis ich die Nummer

meines Mietwagenvertrags aufsagen

darf. Eine gedruckte Bedienungsanleitung

ist nirgendwo zu finden.

Eine Landkarte auch nicht. Dass ich

überhaupt danach suche, ist für die

Generation nach mir wahrscheinlich

ein Witz. Ich bin schon erschöpft, bevor

ich einen Meter gefahren bin.

Das Navi geht nur an, wenn ich

den Motor laufen lasse, was man nicht

darf, Kohlenmonoxid, sofort jault irgendein

Alarm los, das ist so eingestellt.

Sonst passiert nichts. Niemand

kommt angerannt, niemand fragt, ob

ich Hilfe brauche oder überfallen

wurde, nur der Alarm heult und ich

gleich auch. Das Radio ist zu laut,

aber wenn ich es leise stelle, wird

auch die Stimme aus dem Navi zu leise.

Ich hatte das Problem schon mal,

vor Wochen, andere Stadt, anderes

Auto, anderes Navi. Ich hab vergessen,

wie es ging. Das Radio macht

mich aggressiv.

Mein Handy hat viele Funktionen,

aber ich benutze maximal 20 Prozent.

Die, die ich brauche. Und die, die ich

verstehe. Ich habe gerade meine Kreditkarte

auf dem Telefon installiert,

aber wenn ich damit zahlen will,

erscheint sie nicht. Warum bin ich zu

blöd, ein Smart TV korrekt zum Laufen

zu bringen, eine Soundbar zu programmieren

und dafür zu sorgen, dass

unser bescheuertes Küchenradio

nicht immer um 3.24 Uhr morgens

von allein angeht? Warum streiten

wir immer sofort, wenn etwas am

Computer nicht funktioniert? Warum

machen uns diese Geräte so wütend?

Wir haben uns eine Welt geschaffen,

der wir nicht gewachsen sind. Sie

funktioniert besser ohne uns. In der

Küche einer Freundin steht eine Spülmaschine,

die sieht aus wie ein Raumschiff

und war auch fast so teuer. Aber

man kann von außen nicht erkennen,

ob sie läuft. Irgendwo im Internet gibt

es eine Bedienungsanleitung, aber das

Problem ist nicht aufgeführt. Man

muss sich hinknien und horchen, ob

sie brummt, bevor man seine Tasse

reinstellt, weil sonst das Wasser rausspritzt.

Neulich ist das wieder passiert.

Und ich habe gesehen, wie ihr

Mann die superteure Spülmaschine

einfach in die Seite getreten hat.

Kein Einzelfall. 62 Prozent aller

PC-Nutzer, so eine ältere Studie, haben

ihren Computer schon mal angeschrien,

31 Prozent die Maus geschlagen

oder auf den Boden geworfen,

15 Prozent gegen das Gehäuse

62 Prozent

aller PC-

Nutzer haben

ihren Computer

schon mal

angeschrien,

31 Prozent

die Maus

geschlagen.

getreten. Und vermutlich sind diese

Zahlen in den vergangenen zwei Jahren

genauso deutlich angestiegen wie

unsere Abhängigkeit von und unsere

Ohnmacht angesichts der Technik.

Ein IT-Fachmann des eigenen Hauses

hat mir kürzlich erzählt, dass er öfter

mal mit der Faust mitten in die Tastatur

schlägt. In Colorado hat ein

Mann vor einigen Jahren seinen

Computer erschossen. Achtmal hat

er mit einer Neun-Millimeter-Pistole

abgedrückt. Overkill nennt man

so etwas unter Kriminalisten, ein

klares Indiz dafür, dass jemand von

Wut, Verzweiflung und Ohnmacht

überwältigt wurde.

Die Logik der Maschinen hat sich

längst auf die Logik der Prozesse

übertragen. Im neuen Regierungsprogramm

steht Digitalisierung ganz

oben. Im Großen bin ich natürlich

dafür. Im Alltag denke ich manchmal:

bitte nicht. Die Digitalisierung soll

alles einfacher machen und schneller.

Ich frage mich oft: für wen? Und

wann? Wenn ich endlose Nummern

in Formulare für die Paketnachverfolgung

eintrage und am Ende doch

durch die Nachbarschaft irre, um meine

Sendung zu finden? Wenn ich für

eine Karte im Freiluftkino ein Konto

»im System« anlegen muss, noch

eines zu den vielen anderen Konten,

die ich in anderen Systemen angelegt

habe? Wenn das Kino-Konto mit

einem Code bestätigt werden soll,

aber der erst mal im Spam-Ordner

landet und dann die vorgesehene

Antwortzeit abgelaufen ist?

Ich mache mit, weil es nicht anders

geht. Ich klicke und drücke, ich bestätige

und speichere, ich sende. Was

ich damit genau in Gang setze, weiß

ich meistens nicht – ein großes Mysterium,

ein Nebel, ein Rätsel.

Was wir zu sehen bekommen von

unserer Wirklichkeit ist nur noch die

Benutzeroberfläche, nicht mehr die

Wirklichkeit selbst. Ursache und Wirkung

sind nicht mehr nachvollziehbar,

man kann keinen mehr fragen,

verantwortlich ist immer »das System«.

Wir drücken Knöpfe, wir klicken

Links, aber was dahinter geschieht:

keine Ahnung. Wir sind wie

die Kinder im Kasperletheater, die

mit dem Kasperle mitfiebern und

schreien, wenn sie das Krokodil sehen.

Die meisten von uns ahnen zwar,

dass da hinter dem Vorhang einer sitzen

muss, der die Puppen führt. Aber

wer genau das ist und was er bezweckt

und wie man im Notfall an ihn

rankommt, wissen wir nicht. Können

wir nicht wissen. Hauptsache, das

Stück funktioniert und hat ein Happy

End. Und das Kasperle überlebt. n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

71


Wirtschaft

Die Geschichten hinter den Geschichten –

der besondere Rückblick

Die »Bild«-Affäre

NR. 43/2021 »Der Schöngeist und das Biest« – Isabell Hülsen über Ex-Chefredakteur Julian Reichelt

und seinen Vorwurf einer Kampagne

J

ulian

Reichelt, 41, ehemaliger Kriegsreporter

und bis vor Kurzem Chefredakteur

der »Bild«, kennt nur Freund

oder Feind. So gesehen ist es bloß konsequent,

dass er seinen Rauswurf Mitte Oktober

als Ergebnis eines politisch motivierten

»Vernichtungsfeldzuges« gegen ihn deutete,

wie er der »Zeit« verriet. An der Spitze dieses

vermeintlichen Feldzugs: der SPIEGEL.

Wahr daran ist nur, dass der SPIEGEL als

erstes Medium Reichelts mutmaßliches

Fehlverhalten im Job öffentlich machte, das

schließlich zu seinem Karriereende beitragen

sollte: Der »Bild«-Chef hatte sexuelle

Beziehungen mit jungen Mitarbeiterinnen,

Auszubildende am Anfang ihrer Karriere.

Im März berichteten wir, dass der Axel-

Springer-Verlag die Kanzlei Freshfields mit

einem Compliance-Verfahren beauftragt

hatte, um Vorwürfen des Machtmissbrauchs

nachzugehen. Reichelt wurde freigestellt –

durfte aber nach wenigen Wochen zurück

auf seinen Posten. Ja, es habe Fehlverhalten

gegeben, räumte Springer ein, aber keinen

Machtmissbrauch. Reichelt triumphierte

und zog gegen den SPIEGEL vor Gericht.

Einerseits, weil wir vor der Veröffentlichung

die Springer-Pressestelle konfrontiert

hatten, nicht ihn persönlich. Andererseits,

weil wir nach Reichelts Meinung über das

Verfahren gar nicht hätten berichten dürfen,

weil an den Vorwürfen nichts dran sei. Das

Gericht folgte ihm, was die Konfrontation

anging, der Text wurde erst mal von der

Seite genommen – anders, als Reichelt heute

behauptet, jedoch nicht, weil der SPIEGEL

Sachverhalte »erfunden« hätte. Wir haben

gegen die Entscheidung Beschwerde eingelegt.

Die Gründe für seinen Rausschmiss

lieferte der »Bild«-Chef am Ende selbst.

Während Springer-Boss Mathias Döpfner

von Hintermännern fabulierte, die Reichelt

zu Fall bringen wollten, pflegte der weiter

eine Beziehung zu einer jungen Kollegin.

Mitte Oktober publizierte erst die »New

York Times« Details zu Reichelts Verquickung

von Bett und Beruf. Den Kollegen

und Kolleginnen des Ippen-Verlags untersagte

der eigene Verleger, Dirk Ippen, eine

Berichterstattung. Und so war es der

SPIEGEL, der seine Recherchen und die von

Ippen zu einem Text verband. Wenige

Stunden vor der Veröffentlichung gab

Springer Reichelts Rauswurf bekannt.

72 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL


Joop im Shitstorm

Reportergold in

Juristendeutsch

NR. 46/2021 »Die dunkle Seite

von SAP« – Tim Bartz ist

kein Fan von Gutachten, doch er

macht Ausnahmen.

Juristische Gutachten sind

selten vergnügsam – nur Masochisten

tun sich so etwas freiwillig

an. Ein ausnahmsweise

unterhaltsames, vor allem aber

aufschlussreiches Exemplar

hielten Christian Bergmann,

Kollege und Kooperationspartner

vom Mitteldeutschen Rundfunk,

und ich dieses Jahr in den

Händen. Schon der Name des

Dokuments verspricht Entertainment:

»Golden Eye«, wie

der Bond-Film. Auch der Inhalt

des von Topanwälten der Wirtschaftskanzlei

Linklaters im

Jahr 2010 verfassten Papiers hat

Thriller-Format. Es geht um

Machenschaften des SAP-Konzerns

in den Jahren 1997 ff., die

im Kern darauf hinauslaufen,

dass sich die Softwareschmiede

unter anderem mit üblen Tricks

an die Weltspitze gekämpft hat.

Geheimlabors, falsche Visitenkarten,

dubiose Zuwendungen:

Joop

NR. 46/2021 »Wenn einer sich

schlampig anzieht, denkt er auch

schlampig« – Martin U. Müller

und Tobias Rapp über ein Interview,

bei dem sie hartnäckiger

hätten nachfragen können

Wolfgang Joop war in Plauderlaune,

als wir ihn zum Gespräch

darüber trafen, was Corona

mit der Modewelt gemacht

hat. Zugleich schien er in sentimentaler

Verfassung, wollte

erzählen, wie rasant sich die

Branche verändert hat. Er habe

bei Karl Lagerfelds Tod geweint,

weil damals eine Ära zu

Ende gegangen und »diese Welt

so wunderbar frivol und frigide«

gewesen sei. Dann fielen

die Sätze, die später für Empörung

sorgten, in sozialen Netzwerken,

in Medien und in persönlichen

Gesprächen: »Alles

war käuflich. Die Agenturen gaben

die Schlüssel zu den Zimmern

der Models, die nicht so

viel Geld brachten, an reiche

Männer. Und wenn sich ein

Mädchen beschwerte, hieß es:

Wir können auch auf dich verzichten.«

Als reiner Text mussten

diese Sätze verstörend wirken.

Beim SPIEGEL führte die

Passage intern zu hitzigen Diskussionen.

Im Rückblick ist zu

sagen: Wir hätten an der Stelle

hartnäckiger nachfragen, Belege

für die Behauptungen fordern

können. Aber als wir Joop gegenübersaßen,

hatten wir den

Eindruck, dass er die Vergangenheit

nur beschrieb, nichts daran

verteidigte oder gar zurückwünschte.

Doch ein gedrucktes

Interview kann eine Atmosphäre

nur sehr eingeschränkt

wiedergeben. Joop entschuldigte

sich später und bezeichnete

die Geschehnisse in der Branche

als das, was sie waren: ein

respektloser und missbräuchlicher

Umgang mit Models.

Was die Linklaters-Advokaten

da im Auftrag des SAP-Aufsichtsrats

über interne Geschäftsvorgänge

schwungvoll

aufgeschrieben hatten, war

pures Reportergold. Seinen

speziellen Charme entfaltete die

Enthüllung auch vor dem

Hintergrund der angeblich so

porentief reinen Aufstiegsgeschichte

der SAP-Überväter

Dietmar Hopp und Hasso Plattner.

Die Konzerngründer sonnen

sich gern im Glanz ihrer

mildtätigen Gaben für Kinder,

Kunst und Wissenschaft, doch

ihre Milliardenvermögen gründen

offenbar auch auf finsteren

Methoden. Dass der SAP-Aufsichtsrat,

gegen den Rat der

Linklaters-Anwälte, keinen der

damals Verantwortlichen absetzte

und einer von ihnen,

Gerhard Oswald, heute sogar

im Kontrollgremium sitzt,

wundert schon fast nicht mehr.

Ebenso wenig wie die Reaktion

des Konzerns auf unsere Nachfragen:

Die Ereignisse seien

ewig her und aufgearbeitet.

Überhaupt lege SAP beim Thema

Integrität höchste Standards

an. Amen.

Eva Tuerbl / DER SPIEGEL

Rupert Oberhäuser / IMAGO

Hildmanns

Radikalisierung

NR. 45/2021 »Querdenker vom

Amt« – Max Hoppenstedt fragt

sich, wann man Rechtsex tremen

die falsche Bühne bietet.

Wer jahrelang über die Aktionen

des Hacker-Kollektivs Anonymous

berichtet, ist Überraschungen

gewohnt. Was jedoch

Mitte September auf einer

virtuellen Pressekonferenz

geschah, war auch für mich unerwartet:

Der 22-jährige Kai

Enderes, Mitglied der verschwiegenen

Hacker-Gruppe,

packte darüber aus, wie er monatelang

als IT-Administrator

an der Seite des ultrarechten

Gegners von Coronamaßnahmen

Attila Hildmann unterwegs

war. So etwas hatte es hierzulande

noch nicht gegeben.

Gleichzeitig bekamen

SPIEGEL und SPIEGEL TV Zugang

zu mehr als zwei Terabyte

an internen E-Mails, Chats und

Daten des ehemaligen Vegan-

Kein Wort des

Bedauerns

NR. 44/2021 »Die Milliarden-

Abzocke« – Frank Dohmen über

die Recherche eines Skandals

und das Schweigen danach

Es begann mit einem Telefonat,

wie sie Journalisten zu

Hunderten führen. Ein Mann

aus einer großen Institution

wollte seine Besorgnis ausdrücken

ȟber diese Sache mit der

Scheibenpacht« und dass normale

Stromkunden von der Industrie

um Milliarden »beschissen«

würden. Nun kenne ich

mich ein wenig in der Strombranche

aus, aber von Scheibenpacht

hatte ich noch nie

gehört. Das sollte sich ändern.

Bayer-Chempark in

Leverkusen

Kochs. Sie zeigen, wie er schon

vor der Pandemie Ärger mit

Polizei und einer Lebensmittelkontrolle

hatte und auch geschäftlich

in Schieflage war.

Manche Leserinnen und Leser

kritisierten uns: Wir sollten

Hildmann doch bitte keine Bühne

bieten. Das ist oft ein wichtiger

Einwand, doch bei dieser

Recherche sehe ich es anders.

Die Enthüllung gab neue Einblicke

in Hildmanns Radikalisierung

und seine Nähe zu Rechtsextremen.

Sie widersprach zudem

seinem Narrativ, dass es

nur die Coronamaßnahmen

gewesen seien, die ihn in einen

Konflikt mit dem Staat getrieben

hätten. Schließlich wurde

eine Querdenkerin in der Generalstaatsanwaltschaft

Berlin enttarnt,

die einen Haftbefehl an

Hildmann durchgesteckt haben

soll. Es zeigte sich, dass sie auf

Telegram sogar zum Sturm aufs

Kanzleramt aufgerufen hatte.

Ich finde, all das gehört unbedingt

in die Öffentlichkeit.

Nach vielen Gesprächen, der

Lektüre etlicher Protokolle und

Gerichtsurteile wurde klar, dass

es sich um einen gewaltigen Betrug

handelt. Konzerne wie

Evonik, Bayer, Currenta oder

Daimler hatten mithilfe von Anwälten

und Politik rund zehn

Milliarden Euro auf Kosten normaler

Stromzahler eingesackt.

Sie konnten sogar eine Amnestie

durch das Parlament schleusen.

Seit der SPIEGEL über das

Treiben berichtete, ist die Zahl

der Amnestieanträge sprunghaft

angestiegen. Ansonsten: kein

Wort der Verteidigung, kein

Wort der Erklärung oder gar

des Bedauerns. Man will den

zweifelhaften Erfolg in letzter

Minute nicht aufs Spiel setzen.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

73


WIRTSCHAFT

Wer will da noch bauen?

IMMOBILIEN Die Wohnungsnot wird zur ideologischen Streitfrage, bis hin zu Enteignungen.

Die neue Bundesregierung verspricht Abhilfe – doch allein ist sie machtlos.

Mietpreisentwicklung in deutschen Großstädten

zwischen 2011 und 2021, Veränderung in Prozent

Berlin

Leipzig

München

+59 %

56

58

Stuttgart

54

Köln

47

Frankfurt am Main

41

Dresden

34

Hamburg

26

S ◆Quelle: Empirica; jeweils 3. Quartal

Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL

74 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


D

as Problem mit den Mieten,

sagt Jenny Stupka, 32, verstehe

man am besten, wenn man mit

ihr um ihren Häuserblock gehe. In

Berlin-Wedding, direkt oberhalb des

S-Bahn-Rings, der Berlin in innen und

außen trennt, die Mietpreise in bezahlbar

und unbezahlbar teilt. Zumindest

sagte man das einmal so.

Heute, sagt Stupka, gehöre der Kiez,

in dem mehr Menschen Transferleistungen

beziehen als sozialversicherungspflichtig

arbeiten, zu denen mit

dem höchsten Verdrängungsdruck

Berlins.

Verdrängungsdruck klingt bürokratisch.

Was das Wort bedeutet, ist

sehr konkret: rasant steigende Mieten,

bis sich die Bewohnerinnen und

Bewohner die Wohnung nicht mehr

leisten können und wegziehen müssen.

Stupka selbst lebt im Wedding in

einem Altbau, Wohngemeinschaft.

Ihre Staffelmiete steige seit acht Jahren

jährlich um fast sieben Prozent.

Sie läuft am türkischen Kulturzentrum

vorbei. »Uns kommt unsere

eigene Stadt abhanden«, sagt sie und

zeigt auf ein neues Apartmentgebäude,

neben einem Spätkauf. Voll möblierte

Wohnungen für Kurzzeitmieter

werden hier angeboten. 32 Quadratmeter

für knapp 3000 Euro im

Monat.

Stupkas Horrorvorstellung ist eine

Stadt, die immer mehr auseinanderdriftet,

deren Einheit zerfällt. Innen

nur Büroflächen und Wohnungen für

Menschen mit Vermögen. Außen die

Mittel- und Unterschicht. Die könnte

irgendwann noch weiter hinausgetrieben

werden, wie der schwedische

Großvermieter Roger Akelius es einmal

in einem Interview beschrieben

hat, in eine Schwesterstadt: 20 Kilometer

außerhalb, ein Ausweichquartier

für 400000 Personen. »Ein Albtraum«,

sagt Stupka.

Mit ihren Mitstreitern hatte Stupka

einen spektakulären Volksentscheid

auf den Weg gebracht, der in

ganz Deutschland für Furore sorgte:

Ende September stimmten die Berlinerinnen

und Berliner darüber ab, ob

Immobilienkonzerne mit mehr als

3000 Wohnungen enteignet werden

sollen. Warum dieser radikale Schritt?

»Wohnen ist ein Grundbedürfnis«,

sagt sie. »Riesige Unternehmen sol -

len das nicht ausnutzen können, um

ihren Aktionären Dividenden auszuschütten.«

Als Mieterin mag sie eine Betroffene

sein – politisch hat Stupka eine

Menge erreicht. Der Frust über kaum

noch bezahlbaren Wohnraum, die

Wut über eine Stadtregierung, die das

Problem nicht in den Griff bekommt,

Mieterin Stupka:

Traum von ruppigen

Berlinern und

linken Aktivisten

»Die Blockadehaltung

in

den Behörden

trägt zur

Wohnungsnot

bei.«

Jens Kahl,

Vorstand Berliner

Baugenossenschaft

Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL

WIRTSCHAFT

das Ohnmachtsgefühl vieler Mieterinnen

und Mieter haben dazu geführt,

dass 59,1 Prozent für die Enteignungspläne

gestimmt haben – trotz

Unmengen an juristischen Fallstricken,

trotz der Aussicht, dass jahrelange

Rechtsstreitigkeiten folgen

könnten und die Unternehmen mit

enormen Summen entschädigt werden

müssten. Und obwohl das Vorhaben

schätzungsweise eine zweistellige

Milliardensumme kosten würde,

Geld, das an anderer Stelle fehlen

könnte: etwa für den Bau von neuen

Wohnungen.

Die Wohnungsnot ist längst kein

rein ökonomisches Problem mehr,

keine Frage mehr nur von Markt und

Marktversagen. Die Misere ist eine

durch und durch politische – mit dem

Hang zur Ideologie. Wer Lösungen

verspricht, kann sicher sein, dass ihm

die Stimmen von Millionen Wählerinnen

und Wählern zufliegen.

Auch Olaf Scholz (SPD) und die

neue Ampelregierung haben auf dieses

Thema gesetzt. Der Bundeskanzler

hält sich viel auf die Wohnungsbaupolitik

in seiner Hamburger Zeit

zugute und würde diesen Imageerfolg

gern auf den Bund ausdehnen. Sein

Mantra: bauen, bauen, bauen. Im ersten

Regierungsjahr sollen 400 000

neue Wohnungen entstehen, davon

100 000 Sozialwohnungen. So steht

es im Koalitionsvertrag.

Scholz hat ein eigenes Bauministerium

geschaffen – das hat es seit

1998 nicht mehr gegeben. Die Ressortleiterin

Klara Geywitz (SPD) ist

in der Baupolitik zwar bisher nicht

aufgefallen. Dafür hat sie einen engen

Draht zu Kanzler Scholz, gemeinsam

kandidierten sie vor zwei Jahren für

den SPD-Parteivorsitz. Geywitz gilt

als nüchterne Analytikerin, was in

den hochemotional geführten Debatten

eine Stärke sein kann. Von Enteignungen,

machte sie gleich klar, hält

sie nicht viel. Dadurch entstünde keine

einzige neue Wohnung, sagte sie

dem »Tagesspiegel«, es ändere sich

nur die Eigentümerstruktur.

Doch reichen die Rezepte aus

Scholz’ Hamburger Regentschaft aus,

um die Probleme der kommenden

Jahre zu lösen? Zumal auch noch der

Klimaschutz hinzukommt. Der verlangt,

dass in den nächsten Jahren

unzählige Gebäude saniert werden

müssen – das wird Mieten und Wohnungspreise

weiter treiben. Zudem

müssen alle, die weiter mit fossilen

Energieträgern heizen, mit steigenden

Kosten rechnen, was die Nebenkosten,

die sogenannte zweite Miete,

erhöhen wird.

Für mehr Klimaschutz müssen die

Bauvorschriften strenger werden. Um

mehr Wohnungen zu bauen, müsste

die Regulierungswut eigentlich eingedämmt

werden. Ein schier unlösbares

Dilemma.

Die Zahl der Bauvorschriften hat

sich laut Angaben des Branchenverbands

Zentraler Immobilien Ausschuss

(ZIA) in den vergangenen

30 Jahren auf 20 000 vervierfacht.

Das Bauministerium könnte sich

die Niederlande zum Vorbild nehmen:

Dort hat die Regierung vor

einigen Jahren das Baurecht grundlegend

entrümpelt. Heute kommt das

niederländische Baugesetzbuch mit

25 Prozent weniger Regeln aus als

früher.

Eine Baustelle im Zentrum des

kleinen Ortes Michendorf, 43 Kilometer

südwestlich von Berlin. Jens

Kahl, Vorstand der Berliner Baugenossenschaft,

sitzt in einem grauen

Baucontainer und sagt: »Zum ersten

Mal seit Jahren bauen wir wieder im

Umland, weil es hier deutlich einfacher

ist als in Berlin.«

Er erzählt von seiner letzten Erfahrung

aus Tempelhof-Schöneberg,

der Genehmigung eines Dachausbaus.

Statt teurer Penthäuser, wie sie

wohl ein privater Investor beantragt

hätte, wollte er zusätzlich zu den

Wohnungen mehrere Dachgärten als

Gemeinschaftsfläche errichten. »Das

wäre ein zeitgemäßer und klimafreundlicher

Ansatz gewesen«, sagt

Kahl. Nachdem sein Unternehmen

das Bauvorhaben den Genehmigungs-

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

75


WIRTSCHAFT

Viel, aber nicht genug

SPD-Politiker Geywitz, Scholz im September: Bauen, bauen, bauen

Baufertigstellungen von Wohnungen*

in Deutschland, in Tausend

300

150

0

306

2001 2010 2020

* in Wohn- und Nichtwohngebäuden (weniger als die Hälfte der

Gesamtnutzfläche wird für Wohnzwecke genutzt)

S ◆Quelle: Destatis

behörden vorgestellt hatte, äußerten die Beamten

unzählige Bedenken. Etwa, dass ein auf

dem Dach installiertes Treppenhäuschen

nicht ins städtebauliche Konzept passe. »Für

mich wirkte es so, als ob die Behörde nach

Problemen suchte, anstatt lösungsorientiert

zu denken«, sagt Kahl. Am Ende verzichtete

die Genossenschaft darauf, einen Bauantrag

zu stellen.

Das sei nach seinen Erfahrungen in Berlin

kein Einzelfall, sondern die Regel. Statt

Bauen zu ermöglichen, würden Vorhaben

blockiert, so Kahls Eindruck. Dass man ausgerechnet

gemeinwohlorientierten Genossenschaften,

die sozial verträgliche Mieten anböten,

das Leben schwer mache, könne er

nicht verstehen. »Die Blockadehaltung in den

Behörden trägt zur Wohnungsnot bei«, sagt

er. Im ersten Halbjahr 2021 brachen die

Baugenehmigungen in Berlin um fast 30 Prozent

ein.

Den Berliner Mietendeckel sieht Kahl als

besten Beleg für eine investorenfeindliche

Politik. »Der hätte uns wirtschaftlich eingeschränkt

und damit auch zukünftige Bauvorhaben

massiv erschwert.«

Doch auch der Widerstand der Bevölkerung

steht Neubauten immer wieder im Weg.

Da erkämpfte eine Bürgerinitiative auf dem

Gelände eines ehemaligen Friedhofs einen

Park; eine Gartenbaufirma weigerte sich in

Friedrichshain, Bäume zu fällen, damit die

Bauarbeiten für eine längst genehmigte Nachverdichtung

beginnen können. Im günstigen

Fall verzögert das den Wohnungsbau nur,

häufig aber strecken die Investoren schon vorher

die Waffen. Bekanntestes Symbol des

Widerstands ist das Tempelhofer Feld, ein 355

Hektar großes Areal gut sechs Kilometer vom

Brandenburger Tor entfernt, das seit 2010 als

Park- und Freizeitfläche dient.

In Michendorf haben Kahl und seine Genossenschaft

keine Widerstände zu befürchten.

Dort errichten sie jetzt rund 100 Wohnungen

im Zentrum eines Brandenburger

Dorfs, verteilt über sieben mehrstöckige Häuser.

Nachdem die Genossenschaft Kontakt

zur Gemeinde aufgenommen hatte, vergingen

nicht mal anderthalb Jahre bis zur Grundsteinlegung.

»In Berlin hatten wir schon Projekte,

wo solche Prozesse acht Jahre gedauert

haben«, sagt Kahl.

Nach Ausbruch der Pandemie hatten viele

Experten damit gerechnet, dass der jahrelange

Immobilienboom enden würde. Ein

Anstieg der Arbeitslosigkeit würde für niedrigere

Immobilienpreise und damit sinkende

Mieten sorgen, so die damalige Prognose. Es

kam anders. Vielerorts klettern die Mieten

weiter.

Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung

aus diesem Sommer kann »Wohnen arm

machen«. Knapp 1,1 Millionen Haushalten

mit mehr als zwei Millionen Menschen bleibe

nach Abzug der Miete und der Heiz- und

Nebenkosten sogar weniger als das im Sozialrecht

festgelegte Existenzminimum übrig.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Preise

seit Monaten stark steigen. Im November

Clemens Bilan / epa

lag die Inflationsrate bei 5,2 Prozent – der

höchste Wert seit 1992. Wenn Lebensmittel,

Strom und Benzin teurer werden, bleibt weniger

Geld für die Miete. Wer einen sogenannten

Indexmietvertrag abgeschlossen hat, hat

doppelt Pech: Denn diese Verträge orientieren

sich an der Teuerungsrate. Vielen drohen

jetzt Mieterhöhungen.

Selbst bei Gutverdienern komme die Wohnungsnot

inzwischen an, sagt Reiner Braun

von Empirica. Wer in Deutschland heute umzieht,

muss laut dem Forschungsinstitut für

eine neue Bleibe in den kreisfreien Städten

im Schnitt 40 Prozent mehr Miete bezahlen

als noch vor zehn Jahren.

Warum bekommt die Politik den Markt

nicht in den Griff?

Als Hamburger Bürgermeister hatte Scholz

mit seinem »Bündnis für Wohnen« für deutlich

mehr Neubauten in der Hansestadt gesorgt.

Der größte Vermieter in Hamburg ist

kein Immobilienhai, sondern das kommunale

Wohnungsunternehmen Saga. Auch deshalb

hätte in der Stadt ein Enteignungsbegehren

kaum eine Chance.

Nur lassen sich diese Erfolge auf Bundesebene

wiederholen? »Ein Bundesbauministerium

kann mitnichten zentralistisch durchregieren,

wie es Olaf Scholz damals im Stadtstaat

Hamburg gemacht hat«, sagt Andreas

Schulten, Generalbevollmächtigter beim Analyseunternehmen

Bulwiengesa. Der Bund

könne zwar Geld bereitstellen und einzelne

Rahmenbedingungen verbessern, genehmigen

oder bauen aber müssten die Länder und

Kommunen selbst.

Bundesweite Neubauoffensiven sind in der

Vergangenheit schon öfter gescheitert. 2018

hatten sich Bundesregierung, Ministerpräsidenten

und Verbände zu einem großen Wohngipfel

im Kanzleramt getroffen. Ressortchef

Horst Seehofer (CSU) kündigte den Neubau

von 1,5 Millionen Wohnungen an und prägte

den oft zitierten Satz, die Wohnungsfrage sei

»die soziale Frage unserer Zeit«.

Seine Zielmarke verfehlte er dennoch: In

der vergangenen Legislaturperiode kamen

nur 1,2 Millionen Wohnungen neu hinzu. Laut

einer Untersuchung des IW Köln allerdings

nicht dort, wo es eigentlich nötig gewesen

wäre, also in den sieben größten Städten Berlin,

Hamburg, München, Köln, Düsseldorf,

Frankfurt am Main und Stuttgart. Stattdessen

wird in schrumpfenden Regionen viel zu viel

gebaut. Das pauschale Ziel der neuen Bundesregierung,

400 000 Wohnungen zu schaffen,

halten die Autoren deshalb »für zu hoch angesetzt«.

Es könnten abseits der Ballungsräume

zu viele Einheiten gebaut werden, die

dann später leer stehen.

Mieterverbände und linke Ökonomen

reagieren inzwischen genervt auf das ewige

»Bauen, bauen, bauen«. Denn selbst wenn

es gelänge, in den Städten mehr Wohnungen

zu errichten: Es werden Jahre vergehen, bis

sich das neue Angebot spürbar auf die Mieten

auswirkt. Sie fordern deshalb eine Regulierung

auf Bundesebene, die den Mietern eine

76 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


WIRTSCHAFT

sofortige Atempause verschafft, bis neuer

Wohnraum geschaffen ist. Die SPD hat in

ihrem Wahlprogramm ein Moratorium in

angespannten Wohnlagen vorgeschlagen, das

künftige Mietsteigerungen nur in Höhe der

Inflationsrate vorsieht. Die Grünen beabsichtigten,

die Betrachtungszeiträume der Mietspiegel

auf 20 Jahre auszuweiten, was de

facto einem Mietenstopp gleichgekommen

wäre. Das Problem: All das konnte die FDP

verhindern.

Den Rest erledigt der deutsche Föderalismus.

So wie in München, der Stadt mit der

größten Wohnungsnot und den höchsten

Miet- und Immobilienpreisen in Deutschland.

Münchens Oberbürgermeister Dieter

Reiter (SPD) würde im Kampf gegen die rasanten

Mietsteigerungen gern richtig loslegen.

Doch seine eigene Landesregierung lässt

ihn hängen.

Es war noch die Große Koalition, die im

Frühjahr nach langem Streit das Gesetz mit

dem sperrigen Namen »Baulandmobilisierungsgesetz«

verabschiedete, Seehofer hatte

es auf Druck der SPD gegen seine eigene Fraktion

durchgesetzt. Es sieht vor, dass Kommunen

die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen

erschweren oder Baugebote an

Eigentümer von baureifen Grundstücken aussprechen

können.

Denn immer wieder hocken Spekulanten

jahrelang tatenlos auf Baugrundstücken, in

der Hoffnung auf noch höhere Kauf- oder

Mietpreise in der Zukunft. Das Problem: Die

bayerische Landesregierung hat den Erlass

einer entsprechenden Verordnung bislang

verschleppt. Reiter kann die Instrumente

nicht anwenden.

»Es ist fatal, dass die Landesregierung Mieterschutz

nicht ernst nimmt und Reformen

verhindert«, sagt er. Vor Monaten schon hat

er einen persönlichen Brandbrief an Ministerpräsident

Markus Söder (CSU) geschrieben.

Er fürchtet, dass sich die Wohnungsnot noch

verschlimmern könnte.

Reiter blieb zuletzt nichts anderes übrig,

als auf die sozial gerechte Bodennutzung zurückzugreifen,

kurz: Sobon. Sie besagt, dass

sich Investoren an den Kosten für Infrastruktur

in Neubaugebieten beteiligen müssen,

zum Beispiel an Grünanlagen oder Kindergärten.

Außerdem müssen sie nach einem komplexen

Punktesystem neuerdings bestimmte

Kriterien erfüllen, um das volle Baurecht zu

bekommen. Die Stadt geht davon aus, dass

Investoren deshalb künftig rund 80 Prozent

Mietwohnungen bauen, drei Viertel davon

preisgedämpft. Ob das reicht, die Mietexplosion

in München zu beenden?

Es gibt jedenfalls Politiker, die beim Kampf

gegen steigende Mieten noch weiter gehen.

Als erster Baustadtrat Deutschlands hat Florian

Schmidt (Grüne) in seinem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg

das sogenannte Vorkaufsrecht

in großem Stil angewandt. Bei rund

800 Wohnungen hat Schmidt in den vergangenen

fünf Jahren dafür gesorgt, dass die

Bleiben Sie in Kontakt

mit Ihren Liebsten.

Und mit der Straße.

Sicherheit entwickelt in Deutschland. Verlassen Sie sich auf uns,

wenn sich andere auf Sie verlassen.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

77

continental-reifen.de


WIRTSCHAFT

»Das gesamte

Bodenrecht

muss neu

gedacht

werden.«

Stephan Reiß-

Schmidt, ehemaliger

Stadtdirektor

Berliner

Baustadtrat Schmidt:

Vorkaufsrecht

in großem Stil

angewandt

Marlene Garwisch / WELT / ullstein bild

Häuser nicht an den eigentlichen Interessenten

verkauft wurden, sondern

in den Besitz städtischer Gesellschaften,

Genossenschaften oder privater

Eigentümer übergingen. Und 1200-

mal konnte er Investoren unter Androhung

dieser Option dazu bringen,

sogenannte Abwendungsvereinbarungen

zu unterzeichnen. In diesen

erklären sich Eigentümer bereit,

Mietwohnungen nicht in Eigentumswohnungen

umzuwandeln oder luxuszusanieren.

Letzteres praktizieren Investoren

in Berlin häufig: Die Käufer modernisieren

aufwendig und legen einen

Teil der Kosten auf die Miete um. Die

Folge: Gentrifizierung.

»Wir gehen als Bezirk voran und

zeigen, was möglich ist«, sagt Schmidt

stolz. Er hat natürlich ebenfalls für

die Enteignung der Wohnungskonzerne

gestimmt. Seine Politik belege,

dass die Stadt vor profitgierigen Immobilienspekulanten

durchaus zu

retten sei. Kürzlich hat der selbst ernannte

»Stadtaktivist« ein Buch veröffentlicht,

in dem er seine Erfahrungen

schildert. Der Titel lautet: »Wir

holen uns die Stadt zurück.«

Bei einem Spaziergang zeigt er

auf dem Kreuzberger Mehringdamm

auf zwei direkt aneinandergrenzende

Wohnblöcke: Das eine

Wohnhaus habe die Stadt Investoren

überlassen müssen, mit den üblichen

Folgen: neue Stahlbalkone,

vergoldete Klingelschilder, 25 Euro

den Quadrat meter. Die Altmieter

seien ausgezogen.

Für das daran angrenzende Wohnhaus,

das ein wenig in die Jahre gekommen

ist, hat der Bezirk das Vorkaufsrecht

ausgeübt. »Hier kosten die

Mieten nicht einmal halb so viel«,

sagt Schmidt. Alle Altmieter seien

noch da.

Was er damit illustrieren möchte:

Ohne ihn würde es in seinem Kiez

nur so von goldenen Klingelschildern

wimmeln.

Schmidts Idylle ist allerdings akut

gefährdet. Anfang November schob

das Bundesverwaltungsgericht seiner

Praxis einen Riegel vor. Allein die

Befürchtung, ein Mehrfamilienhaus

könnte in Eigentumswohnungen aufgeteilt

werden, reicht dem Urteil zufolge

nicht aus, um ein Vorkaufsrecht

zu begründen.

Nach dem Fiasko um den Mietendeckel

die zweite Klatsche für die

Berliner Baupolitik. Die neue Bürgermeisterin

Franziska Giffey (SPD) ist

jedenfalls gewarnt, den Enteignungsvolksentscheid

will sie nicht in ein

Gesetz gießen: Berlin dürfe sich kein

weiteres negatives Urteil beim Bundesverfassungsgericht

holen. »Ich

kann nur vor zunehmenden Regulierungen

warnen«, sagt Andreas Mattner,

Präsident des Zentralen Immobilien

Ausschusses. »Denn damit

vertreiben wir Investoren aus den

Städten.«

Stephan Reiß-Schmidt war 20 Jahre

lang Stadtdirektor und Leiter der

Stadtentwicklungsplanung in München.

Er glaubt, dass es einen grundlegenden

Wandel in der Politik

braucht. Nur dann könnten gemeinwohlorientierte

Vermieter noch mit

Bauflächen versorgt werden; egal ob

in Berlin oder in München.

»Die Gesetze des freien Marktes

funktionieren beim Boden nicht«,

sagt er. Das zeige sich etwa bei Neubauten.

Der Bodenpreis mache dort

bis zu 80 Prozent der Kosten aus, deshalb

rentierten sich nur noch Luxuswohnungen.

Gerade für Genossenschaften

seien solche Projekte nicht

darstellbar.

»Das gesamte Bodenrecht muss

neu gedacht werden«, sagt er. Denn

hier liege die wahre Ursache des

Problems. Grund und Boden seien

keine normale Ware, die beliebig vermehrt

werden könnte. Es handle sich

vielmehr um ein Gemeingut wie Luft

und Wasser, das der Allgemeinheit

dienen sollte. Über die vom Finanzmarkt

getriebenen Baulandpreise

werde viel zu wenig gesprochen. Der

neue Koa litionsvertrag bringe da

wenig Entlastung, so Reiß-Schmidt.

»Die beschlossenen Maßnahmen

werden die Situation kaum entschärfen.«

Und wenn, dann brauchten

sie Jahre, bis sie ihre Wirkung entfalteten.

Er fordert Maßnahmen, »die sofort

wirken«. Etwa einen Bodenpreisdeckel,

der in überhitzten Märkten

Preissteigerungen bei Grundstücken

nur noch in Höhe der Lebenshaltungskosten

erlaubt. Oder die Einführung

eines sogenannten Planungswertausgleichs,

mit dem sich Wertsteigerungen

rausrechnen lassen, für

die der Eigentümer selbst nichts getan

hat. Beispielsweise, wenn eine Kommune

überhaupt erst Bauland ausweist.

»Das würde Bodenspekulation

unattraktiver machen«, sagt Reiß-

Schmidt. Die Einnahmen könnten

direkt in den geförderten Wohnungsbau

investiert werden.

Solche Forderungen sind nicht

neu. Hans-Jochen Vogel, einst Oberbürgermeister

in München und später

Justizminister, hatte bis zu seinem

Tod im Jahr 2020 für eine Bodenrechtsreform

gekämpft. Er konnte

sich damit in der SPD-Fraktion nicht

durchsetzen. Reiß-Schmidt und seine

Mitstreiter vom »Bündnis Bodenwende«

fordern nun eine Enquetekommission,

die Lösungsvorschläge auf

Bundesebene erarbeiten soll.

Auch das Land Berlin sucht sein

Heil inzwischen in einem Arbeitskreis.

Da der Volksentscheid kein

konkretes Gesetz zum Inhalt hatte,

ist die Regierung nicht gezwungen,

das Ergebnis umzusetzen. Bei den

Koalitionsverhandlungen zwischen

SPD, Grünen und Linken einigten

sich die in der Frage der Enteignung

zerstrit tenen Parteien erst einmal

darauf, eine Kommission zu bilden.

Sie soll in den ersten 100 Tagen entstehen

und rund ein Jahr später Ergebnisse

liefern.

Aktivistin Jenny Stupka befürchtet,

dass das Problem so lediglich verschleppt

wird. Mitte Dezember sitzt

sie auf einem Podium in der Berliner

Volksbühne. Das Thema: »Keine Enteignung

ist auch keine Lösung«. Der

Moderator hat »Das Kapital« von

Karl Marx dabei.

In der Fragerunde meldet sich eine

junge Frau aus dem Publikum: »Wie

sollen wir denn unseren Schwung behalten,

wenn es so langsam vorangeht?

Im Sommer waren wir so viele.

Jetzt holt uns der Alltag wieder ein.«

Stupka antwortet: »Wir müssen in

längeren Zeithorizonten arbeiten.

Uns noch besser vernetzen.« Sie träume

von einer Allianz: ruppige Berliner,

die die Schnauze voll haben, und

linke Aktivisten. Plätze besetzen,

demonstrieren, Druck machen. »Ziviler

Ungehorsam, aber mit Kaffee

und Kuchen.«

Die akute Wohnungsnot kann allerdings

auch das nicht lindern.

Henning Jauernig, Janne Knödler,

Michael Kröger

n

78 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Für die ganze Vielfalt

des Journalismus.

JETZT

EINREICHEN

Ein Preis für alle

Journalist:innen.

Für Formate aus Print, TV,

Radio oder aus dem Web.

Für fotografische und

crossmediale Arbeiten.

Einsendeschluss

31. Januar 2022

Alle Infos unter

nannen-preis.de

veranstaltet vom

2022


WIRTSCHAFT

»Endlich haben wir die

richtige politische Führung«

GELDPOLITIK Andrea Orcel, 58, Chef der italienischen Großbank

UniCredit, über das Comeback seiner Heimat, die Fähigkeiten von Premier

Draghi und die Angemessenheit seiner 68-Millionen-Euro-Abfindung

Touristen in Einkaufspassage in Mailand

SPIEGEL: Herr Orcel, jahrelang galt Italien als

Europas kranker Mann, aber 2021 gelang

Ihrem Land das Comeback. Die Italiener sind

Fußballeuropameister, ihre Wirtschaft wächst

schneller als die deutsche, sie haben eine der

höchsten Impfquoten in Europa und sogar

den Eurovision Song Contest gewonnen. Erkennen

Sie Ihr Land wieder?

Orcel: Absolut. Italien hatte immer eine Menge

Potenzial. Und jetzt haben wir auch endlich

die richtige politische Führung, um daraus

etwas zu machen. Es tut gut, das zu sehen.

SPIEGEL: Wie viel davon geht auf Ministerpräsident

Mario Draghi zurück?

Orcel: Für so eine Entwicklung kommen mehrere

Faktoren zusammen, aber Draghi ist

der, der alles zusammenführt und hinter dem

sich die Italiener versammelt haben. Das ist

gut für uns, Europa und Deutschland, so eng,

wie unsere Länder miteinander verflochten

sind.

SPIEGEL: Draghi war Investmentbanker, Sie

auch. Sind Manager in Krisenzeiten die besseren

Anführer als Berufspolitiker?

Orcel: Das lässt sich nicht verallgemeinern.

Eine Volkswirtschaft ist letztlich wie eine riesige

Organisation, mit all ihren Schwierigkeiten.

Regierungen, nicht nur in Italien, müssen

harte Entscheidungen treffen, um Dinge

zu bewegen. Draghi zeigt eindrucksvoll, dass

er das kann. Ich bin fest davon überzeugt,

dass seine Einstellung und sein internationales

Ansehen für Italiens weitere Entwicklung

entscheidend sein werden.

SPIEGEL: Einen wichtigen Wunsch haben Sie

ihm trotzdem nicht erfüllt. UniCredit sollte

dem Staat die Monte dei Paschi di Siena

(MPS) abnehmen. Die Bank ist das größte

Risiko für Italiens Finanzsystem und musste

mit Milliarden Euro gerettet werden. Da hätten

Sie Ihren Patriotismus beweisen können.

Orcel: Ganz so einfach ist eben nicht. Wir haben

mit dem Finanz- und Wirtschaftsministerium

darüber gesprochen und klare Leitlinien

vereinbart. Aber es war beiden Seiten

immer klar, dass das kompliziert werden würde.

Am Ende hat es nicht gereicht.

SPIEGEL: Weil die Regierung Ihnen keine milliardenschwere

Mitgift geben wollte.

Orcel: Daran lag es nicht. Wir hatten gemeinsam

einen klaren Rahmen für eine mögliche

Vereinbarung abgesteckt. Letztlich war es

aber nicht möglich, innerhalb dieses Rahmens

zu einer Einigung zu kommen.

Beata Zawrzel / NurPhoto / Getty Images

SPIEGEL: Die Europäische Zentralbank, Draghis

alte Wirkungsstätte, kämpft mit der Inflation.

Hoffen Sie als Banker darauf, dass die

EZB die Leitzinsen anhebt? Zumindest behaupten

die Geschäftsbanken, dass sie unter

Null- und Negativzinsen leiden.

Orcel: Natürlich hoffen wir, dass sich das ändert.

Wir haben uns inzwischen zwar fast daran

gewöhnt, dass die Leitzinsen bei null Prozent

liegen und Geschäftsbanken Strafzinsen

zahlen müssen, wenn sie Kundengelder bei

der EZB parken wollen. Aber das ist nicht

normal. Derzeit ist alles noch sehr fragil, wegen

der Pandemie und der Inflation. Aber das

wird sich beruhigen. Und wenn die EZB die

Leitzinsen aus dem Grund anhebt, dass Europas

Wirtschaft wieder deutlich wächst, wäre

das für alle ein gutes Zeichen.

SPIEGEL: Geschäftsbanken können sich in

Frankfurt frische Liquidität mit 1,0 Prozent

Rabatt abholen und dort zu 0,5 Prozent Strafzins

wieder parken. Bleiben 0,5 Prozent Gewinn,

risikolos. Ein Bombengeschäft, Ökonomen

nennen das einen »free lunch«, und

den dürfte es definitionsgemäß nicht geben.

Orcel: Das sind nun einmal die Regeln. Aber

glauben Sie mir: Sie werden keinen Banker

finden, der die Situation nicht eintauschen

würde gegen eine Welt, in der die Zinsen wieder

positiv sind und der Markt funktioniert.

SPIEGEL: Auch UniCredit war in der Krise,

inzwischen läuft es besser. Der Aktienkurs

hat seit Ihrem Amtsantritt um mehr als die

Hälfte zugelegt, und gerade erst haben Sie

angekündigt, bis 2024 rund 16 Milliarden

Euro an die Aktionäre ausschütten zu wollen.

Das sind neue Töne für eine kontinentaleuropäische

Bank. Sind Sie Fantast?

Orcel: Ich möchte zeigen, dass Dinge möglich

sind, wenn man diszipliniert und fokussiert

ist. Wenn sich das Umfeld, vor allem in Bezug

auf die Pandemie, normalisiert, wir die Erträge

bis 2024 jährlich um zwei Prozent steigern

und die Kosten um 500 Millionen Euro

senken, dann können wir es schaffen. Wir

schauen uns alles an. Wenn ein Bereich der

Bank weniger als zehn Prozent Rendite erwirtschaftet,

optimieren wir ihn. Wir müssen

im Interesse unserer Aktionäre mit unserem

Eigenkapital einfach effizienter umgehen.

SPIEGEL: Für Ihre deutschen Mitarbeiterinnen

und Mitarbeiter könnte das zynisch klingen.

Bei der früheren HypoVereinsbank sollen

wieder einmal Stellen wegfallen, 1100 von

11 500. Ist Ihr Deutschlandableger der kranke

Mann im UniCredit-Imperium?

Orcel: Absolut nicht. Wir sind auch dieses Jahr

wieder zu einem der beliebtesten Arbeitgeber

in Deutschland gewählt worden, so schlecht

können wir also nicht sein. Aber es ist so, dass

wir in Deutschland einfach mehr machen

müssen, um die Kosten zu senken. Nicht in

den Filialen oder den kundennahen Bereichen.

Es sind insbesondere die Zentralfunktionen,

in denen wir noch deutlich effizienter

werden können. Das gibt uns die Möglichkeit,

wieder zu investieren, insbesondere in den

Ausbau der Digitalisierung und unserer Tech-

80 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


WIRTSCHAFT

nologie. So stärken wir unser Deutschlandgeschäft

im Interesse unserer

Kunden.

SPIEGEL: UniCredit hat mehr als andere

Banken einen paneuropäischen

Ansatz, ist traditionell stark in Mittelund

Osteuropa. Macht Ihnen die politische

Entwicklung dort Sorge?

Orcel: Sie können nicht alle Länder

über einen Kamm scheren, das wird

der Situation nicht gerecht. Die

Transformationsländer haben wirtschaftlich

enorm aufgeholt, auch zum

Vorteil von UniCredit, aber sie sind

noch nicht so weit wie Deutschland,

Italien oder Österreich.

SPIEGEL: Ganz so geschmeidig scheint

es nicht zu laufen. Aus der Türkei,

bis vor Kurzem einer von UniCredits

Kernmärkten, ziehen Sie sich zurück.

Ministerpräsident Erdoğan fährt

einen wirtschaftlichen Harakiri-Kurs

und lässt die Inflation explodieren.

Orcel: Diese Entscheidung wurde vor

meinem Amtsantritt getroffen, aus

einer Reihe von Gründen. Wir konzentrieren

uns jetzt auf die für uns

wichtigsten Märkte, dabei bleibt es.

SPIEGEL: Es heißt, Europa brauche

große, starke Banken, um endlich der

Wall Street Paroli bieten zu können,

das sei auch wirtschafts- und machtpolitisch

enorm bedeutsam. Aber die

Europäer bekommen nicht einmal die

Kapitalmarkt- und Bankenunion hin,

die die Voraussetzung für grenzüberschreitende

Bankfusionen wäre. Ist

der Zug nicht längst abgefahren und

die Kapitalmarktdominanz der Amerikaner

auf ewig zementiert?

Orcel: Leider spielt der Kapitalmarkt

in Europa eine viel geringere Rolle

als in den USA oder auch Großbritannien.

Vereinfacht gesagt: Wenn

Unternehmen Geld brauchen, gehen

sie zu ihrer heimischen Hausbank und

nicht an die Börse, wie im angelsächsischen

Raum. Das ist ein Problem,

und vielleicht muss sich hier auch die

Denkweise ändern, wenn der europäische

Kapitalmarkt wachsen soll.

Auch wir werden in den 13 Ländern,

in denen wir präsent sind, nicht als

paneuropäische Bank wahrgenommen,

die wir ja tatsächlich sind. Auch

das muss sich ändern.

SPIEGEL: Sie könnten sich zumindest

in Deutschland verstärken und die

neue Bundesregierung von einer Last

befreien, indem sie die Commerzbank

kaufen. Die Ampel braucht

Geld und wird ihren 15-Prozent-Anteil

loswerden wollen, UniCredit ist

mit der HVB bereits in Deutschland

vertreten. Wann schlagen Sie zu?

Orcel: Es gab hierzu immer viele

Gerüchte, aber so etwas ist auch eine

Frage des Timings. In Bezug auf stra-

Banker Orcel: »Ich

bin froh, dass meine

Ansprüche anerkannt

wurden«

Katapultstart

Börsenwert von

Unicredit seit Antritt

von Orcel im Vergleich

zur Konkurrenz, Veränderung

gegenüber

15. April in Prozent

60

40

20

0

Unicredit

Commerzbank

Deutsche Bank

Intesa Sanpaolo

Apr.

2021

Aug.

Dez.

tegische Übernahmen haben wir sehr

klare Kriterien, aber gleichzeitig gilt

es jetzt, unseren strategischen Plan

umzusetzen. Wir wollen schließlich

unsere Aktionäre nicht enttäuschen.

SPIEGEL: Die Commerzbank ist jetzt

zu haben und nicht in ein paar Jahren.

Orcel: Es bleibt dabei, dass wir erst

einmal unseren strategischen Plan

umsetzen.

SPIEGEL: Vielleicht kauft ja ein Finanzinvestor

die Commerzbank. Immer

öfter steigen Private-Equity-Fonds bei

Banken ein oder kaufen sie gleich

ganz. Sind »Heuschrecken«, wie sie

früher hießen, politisch und gesellschaftlich

akzeptiert?

Orcel: Das ist fraglos ein spannendes

Thema. Ich glaube, das hängt von der

Größe der Banken ab. Generell sind

Finanzinvestoren akzeptierter als früher,

auch weil viele nicht mehr so aggressiv

auftreten wie früher. Aber bei

einer großen Bank von nationaler

oder internationaler Bedeutung sähe

die Sache anders aus.

SPIEGEL: Finanzinvestoren haben

nicht den besten Ruf, Banker auch

nicht. Sie sollten 2019 Santander-

Chef werden, die Verträge waren

unterschrieben. Dann entschied sich

die spanische Großbank um, und Sie

pochten auf Auszahlung der vereinbarten

Gehälter und Boni. Die Sache

landete vor Gericht, das Ihnen soeben

68 Millionen Euro Kompensation zugesprochen

hat, auch wegen des »moralischen

Schadens«, den Sie erlitten

hätten. Glauben Sie nicht, dass so

etwas das öffentliche Bild des gierigen

Bankers festigt?

Orcel: Das ist eine persönliche Sache,

mir blieb keine andere Wahl. Die Verträge

waren nun einmal unterschrieben,

und nun hat das Gericht entschieden.

Ich bin froh, dass meine

Ansprüche anerkannt wurden.

SPIEGEL: Dann lassen Sie uns über Ihr

Image sprechen. Sie waren jahrzehntelang

Investmentbanker und Dealmaker

und gelten als jemand, der wie

kaum ein anderer Mitarbeiter über

ihre Belastungsgrenzen treibt. Zuletzt

aber haben Sie sich dafür ausgesprochen,

dass auch Banker auf ihre Work-

Life-Balance achten sollten. Wo her

der Sinneswandel?

Orcel: Ich glaube nicht, dass ich mich

gewandelt habe. Ich habe mich bei

bestimmten Themen vielleicht nur

stärker zu Wort gemeldet, weil es

wichtig ist, sie anzusprechen.

SPIEGEL: Ist das eine gute oder

schlechte Nachricht?

Orcel: Schauen Sie: Wer für die deutsche

Nationalmannschaft spielen will,

muss hart trainieren. Das fällt umso

leichter, wenn man liebt, was man tut,

und etwas gewinnen will. Das ist im

Beruf genau dasselbe.

SPIEGEL: Das klingt hübsch, aber unkonkret.

Orcel: Jeder hat doch die Wahl: Will

ich weniger arbeiten, weil mir andere

Dinge wichtiger sind? Oder mehr,

weil ich Karriere machen möchte?

Jeder Arbeitgeber sollte mir die Möglichkeit

geben, diese Wahl zu treffen,

gerade auch als Lehre aus der Pandemie.

Bei einem meiner Ex-Arbeitgeber

kamen meine Mitarbeiter auf

mich zu und fragten, ob das Wochenende

schon am Freitagnachmittag

beginnen könne. Ich habe sie gefragt:

Wie gehen wir damit um, wenn unsere

Kunden am Freitagmittag etwas

von uns wollen? Am Ende haben wir

uns darauf geei nigt, dass jeder einen

halben Tag pro Monat komplett zur

freien Verfügung hat und machen

kann, was er will. Natürlich nach Absprache,

sodass immer jemand für

unsere Kunden da ist. Ich bin also

nicht dogmatisch. Aber ich denke, es

ist unsere Aufgabe, unsere Kun den

bestmöglich zu unterstützen, und das

erfordert manchmal Flexibilität.

SPIEGEL: Wegen Ihres Aussehens werden

Sie auch der »Ronaldo des Bankings«

genannt, angelehnt an den

portugiesischen Fußballstar. Gefällt

Ihnen das eigentlich?

Orcel: Nicht wirklich. Meine Frau ist

Portugiesin. Für ihre Familie gibt es

nur einen Ronaldo, und der spielt

Fußball.

jeweils Freitagswerte

S ◆Quelle: Refintiv DatatreamInterview: Tim Bartz n

UniCredit

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

81


Wunschprämie für Sie

Jetzt eine neue Leserin oder einen neuen Leser werben

und Ihre Prämie sichern!

TechniSat DIGITRADIO 370 CD BT

DAB+/UKW-Stereoradio mit CD-Player, Audiostreaming per

Bluetooth und USB-Anschluss. Ohne Zuzahlung.

Wagenfeld-Tischleuchte WG 24

Aus vernickeltem Metall, Klarglas und Opalglas.

Höhe: ca. 36 cm. Zuzahlung: € 199,–.

€ 110,– Prämie

Bei Bestellung bis 10.1.2022 erhalten Sie

€ 110,– als Prämie. Schnell sichern!

110 € Amazon.de Gutschein

Bei Bestellung bis 10.1.2022 erhalten Sie einen

Gutschein über € 110,– für Bücher, DVDs und mehr.


Polar-Fitnessuhr Ignite 2

GPS-Fitnessuhr mit Schlaftracker und Unterstützung von

130 Sportarten u. v. m. Gewicht: 35 g. Ohne Zuzahlung.

Philips GoZero Wassersprudler

Jederzeit frisches Mineralwasser. Fassungsvermögen

Flasche: 1 l. 1 Kartusche inklusive. Ohne Zuzahlung.

Thule Revolve 55-cm-Bordtrolley

Hartschalen-Handgepäckkoffer mit TSA-Schlössern.

In Schwarz. Maße: 55 × 35 × 23 cm. Ohne Zuzahlung.

Einfach jetzt bestellen:

abo.spiegel.de/p22

oder telefonisch unter: 040 3007-2700

DER SPIEGEL zum Vorzugspreis von nur € 5,60

statt € 5,80 je Ausgabe.

SP22-101


WIRTSCHAFT

E-Autos an Ladestation in Berlin

Jens Kalaene / picture alliance / dpa

Ladehemmung

ELEKTROMOBILITÄT E-Autos boomen, doch der Aufbau des Stromtankstellennetzes kommt kaum voran.

Politik und Industrie schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Derweil baut Tesla seine Vorherrschaft aus.

M

anchmal ist auch der mächtigste

Lobbyverband der

Republik nicht stark genug.

Der Verband der Automobilindustrie

(VDA), bekannt für seine kurzen

Drähte ins Kanzleramt, müht sich

seit Jahren vergebens an der Aufgabe

ab, eine Ladesäule für Elektroautos

an seiner Zentrale in der Berliner

Behrenstraße aufzustellen. Der

Betreiber des dortigen Parkhauses

lehnt das Ansinnen ab. Der VDA

darf nicht einmal eine eigene Anlage

installieren. Selbst die Nutzung der

vorhandenen Steckdosen ist ihm

untersagt – angeblich aus Haftungsgründen.

Die Symbolik ist mehr als peinlich:

VDA-Präsidentin Hildegard Müller

fährt ein Hybridauto, und kann es an

ihrem Arbeitsplatz nicht mit Strom

betanken. Dabei würde sich Deutsch-

1

Million

Ladepunkte

sollen 2030 in

Deutschland

öffentlich

zugänglich

sein. Aktuell

sind es

gut 50 000.

Quelle: Bundesnetzagentur

lands Leitindustrie so gern als grüne

Vorreiterin präsentieren.

Wenn es bloß Symbolik wäre! Tatsächlich

illustriert die Episode ein

Grundproblem der Mobilitätswende.

Wie soll Deutschland die Diesel- und

Benziner-Ära beenden, wenn es an

ausreichender Infrastruktur für Elektroautos

fehlt? Während die Nachfrage

nach Stromern geradezu explodiert,

schleppt sich der Ausbau der

Ladepunkte dahin. Immer mehr

Autos müssen sich eine öffentliche

Säule teilen. Kamen vor einem Jahr

auf einen frei zugänglichen Ladepunkt

noch 13 E-Autos und Plug-in-

Hybride, sind es heute bereits 22.

Die Energiewirtschaft verweist

zwar gern darauf, dass rund 80 Prozent

der Ladevorgänge zu Hause oder

am Arbeitsplatz stattfänden, öffentliche

Säulen also gar nicht so wichtig

seien wie bei Verbrennern die Tankstellen.

Doch um die Verkehrswende

zu schaffen, reicht es ja nicht, dass

Eigenheimbesitzer auf E-Autos umsteigen.

Um die geplante Zielmarke

von einer Million Ladepunkte bis

2030 zu erreichen, müsse sich »die

derzeitige Geschwindigkeit beim Ausbau

der Ladeinfrastruktur verachtfachen«,

sagt VDA-Präsidentin Müller.

Die Leidtragenden sind Kundinnen

und Kunden, die frühzeitig auf

E-Autos umgestiegen sind. Sie müssen

sich mit einem Wirrwarr aus Anbietern,

Preis- und Bezahlmodellen

herumschlagen – sofern sie überhaupt

eine freie Säule finden.

Im überwiegenden Rest Europas

ist das Ladenetz noch lückenhafter.

Zwar haben die Staaten der Gemeinschaft

mittlerweile rund 300 000 öffentliche

Ladesäulen an ihre Strom-

84 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


WIRTSCHAFT

netze angeklemmt. Das dürfte allerdings bei

Weitem nicht ausreichen. Allein zwischen

Januar und September wurden in der EU fast

570 000 Elektroautos und 640 000 Plug-in-

Hybride neu zugelassen.

Hinzu kommt: Fast zwei Drittel der Ladepunkte

stehen in Deutschland, Frankreich und

den Niederlanden. Die übrigen Länder präsentieren

sich den Autofahrern als Elektrowüste,

in der sie weite Strecken zurücklegen

müssen, bevor die nächste Oase zum Auftanken

kommt. In zehn EU-Staaten gibt es

weniger als eine Säule pro 100 Autobahnkilometern,

und nur ein Bruchteil davon sind Expressautomaten,

mit denen die Batterien binnen

30 Minuten wieder auf volle Leistung

gebracht werden können. An dem Desaster

will niemand schuld sein. Die Autohersteller

verweisen auf die Parkplatzbetreiber; die

Stromkonzerne auf die Regierung in Berlin;

die wiederum auf Brüssel. Was fehlt, ist ein

gemeinsamer Masterplan. Und wieder einmal

zeigt sich, wie schwer sich die Nation damit

tut, Megatrends wie Elektrifizierung oder Digitalisierung

durchzusetzen – obwohl am

Ende alle davon profitieren könnten und der

Wohlstand des Landes daran hängt.

Dabei wurde das Thema in Deutschland

sogar rechtzeitig erkannt. Seit 2010 mühten

sich Politik, Industrie und Wissenschaft in der

sogenannten Nationalen Plattform Elektromobilität,

den Absatz von Batterieautos und

Ladesäulen anzukurbeln. Unter der Leitung

des Ex-SAP-Chefs Henning Kagermann trafen

sich rund zwei Dutzend Konzernbosse,

Spitzenpolitiker und Forscher zu regelmäßigen

»Elektrogipfeln« im Kanzleramt, um sich

mit entschlossenen Mienen vor Elektroautos

aus deutscher Produktion ablichten zu lassen.

Auch an Arbeitsgruppen fehlte es nicht.

Eine Geschäftsstelle, ein Lenkungskreis und

ein Redaktionsteam wurden eingerichtet. Ein

halbes Dutzend Kommissionen produzierte

»Fortschrittsberichte« zu »Marktvorbereitung«

und »Markthochlauf«. Doch nach achtjähriger

Arbeit an Förderprogrammen und

Forschungsprojekten kam das Gremium 2018

zu einem ernüchternden Ergebnis: Die geplante

Million Elektromobile im Jahr 2020

sei leider nicht auf die Straßen zu bringen.

Tesla-Chef Musk

Brendan Smialowski / AFP

Unterversorgt

E-Autos pro öffentlichem Ladepunkt

EU

2016

2021

Deutschland

2016 4

2021

Ladepunkte nach Bundesländern,

Stand: 1. Dezember 2021

372

5

278

8270

1578

1839

2848

7235

4613

11

1292

821

708

9096

S ◆Quellen: EAFO, VDA, Bundesnetzagentur

463

1281

914

1717

22

Was nicht geht, geht eben nicht? Oder war

der Leidensdruck einfach nicht hoch genug?

Tatsächlich wollten die Bosse von Daimler,

BMW und Volkswagen noch vor wenigen

Jahren nur wenig von einer E-Wende wissen.

Und selbst nach dem Abgasskandal protegierten

sie zunächst weiter ihren alten, gewinnträchtigen

Exportschlager mit Verbrennungsmotor.

»Nichts deutet auf einen Tod des

Diesels hin«, tönte der damalige BMW-Chef

Harald Krüger im Jahr 2017. Sein damaliger

Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich behauptete

noch 2019, es gebe »keine Nachfrage

von Kunden nach batterieelektrischen

Fahrzeugen«.

Entsprechend gering ausgeprägt war die

Bereitschaft der Konzerne, eine eigene Ladeinfrastruktur

aufzubauen. Jede Verantwortung

wischte man lässig beiseite mit dem Hinweis,

man betreibe ja auch keine Tankstellen.

Und während sich die deutschen Autobosse

damit begnügten, das Problem auf Politik und

Steuerzahler abzuschieben, hatte ein Rivale

aus Kalifornien längst einen mutigeren Weg

eingeschlagen.

Die Revolution begann im Oktober 2013

am Autohof Jettingen-Scheppach, irgendwo

an der A 8 zwischen Augsburg und Ulm. Ein

US-Unternehmer ließ dort seinen bundesweit

ersten »Supercharger« aufstellen – eine futuristisch

anmutende Säule, an der seine Kunden

Strom zapfen konnten, zunächst sogar

kostenlos. »Wir machen eine Wette in

Deutschland«, verkündete der damals noch

weitgehend unbekannte Investor. Sein Name:

Elon Musk.

Schon bald wolle er in der Autonation

1000 Elektroautos der Marke Tesla verkaufen

– pro Monat. Dass er dafür gleich die

nötige Infrastruktur mitlieferte, war für den

Unternehmer selbstverständlich. Seine Kunden

sollten beim Umstieg von Verbrenner auf

Stromer keinerlei Komforteinbußen erleiden.

»Wenn die Reichweite eines Elektroautos

groß genug ist und es ein Netz von Schnellladestationen

gibt«, erklärte Musk 2014 im

SPIEGEL-Gespräch, »besteht absolut kein

Grund mehr für einen zusätzlichen Antrieb.«

Es war eine Kampfansage an die etablierte

Autoindustrie, die Bosse indes nahmen davon

kaum Notiz. In der VW-Zentrale in Wolfsburg

spottete man noch Jahre später über den »Ankündigungsweltmeister«.

Musks Wette ist aufgegangen. Mittler weile

hat er allein in Deutschland 1250 Ladepunkte

aufgestellt, Teslas Model 3 gehört zu den

meistverkauften E-Fahrzeugen der Republik.

Die einheimische Konkurrenz kommt nicht

hinterher, trotz milliardenschwerer E-Offensiven.

Auch mit vereinten Kräften schaffen es

die etablierten Autokonzerne bislang nicht,

dem Kalifornier Paroli zu bieten. 2017 gründeten

BMW, Daimler, Ford und Volkswagen

die Ladesäulenfirma Ionity. Seither haben die

Partner rund 1500 Schnellladepunkte entlang

europäischer Autobahnen aufgestellt. Das

entspricht ungefähr der Anzahl der Stationen,

die Tesla allein in den vergangenen acht Monaten

installiert hat: Seit März wuchs das

Tesla-Netz in Europa von etwa 6000 auf mehr

als 7300 Supercharger.

Am Ladekomfort des Ionity-Netzes wird

Kritik geübt – aus den eigenen Reihen. In

seinem Sommerurlaub am Gardasee meldete

sich VW-Boss Herbert Diess wutentbrannt

per Karrierenetzwerk LinkedIn. Es gebe in

der Nähe der Ladestation kein WC und keinen

Kaffee. Eine der Säulen sei kaputt. »Das

ist alles andere als ein Premium-Ladeerlebnis,

Ionity!«, lautet Diess’ vernichtendes Urteil.

Die EU-Kommission will die Ladelücke

nun schließen und hat dafür sogar einen Plan.

Für jedes verkaufte Elektroauto, so sieht es

der jüngste Vorschlag vor, sollen die Mitgliedstaaten

künftig ein Kilowatt Ladekapazität

bereitstellen. Alle 60 Autobahnkilometer ist

zudem eine Expresssäule vorgesehen, an der

bequem mit jeder Kreditkarte bezahlt werden

kann. So will die Behörde für ein »dichtes und

weitgespanntes Netz von Infrastrukturen«

sorgen, in dem sich Elektromobile »problemlos

bewegen« können.

Die europäische Autoindustrie trägt indes

nur wenig dazu bei, diese Strategie in die Tat

umzusetzen. Statt den Ausbau der Ladekapazitäten

entschlossener voranzutreiben, setzen

die Konzerne den Mangel als politisches

Druckmittel ein. Solange es in Europa zu wenig

Ladesäulen gebe, dürften die Emissions-

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

85


WIRTSCHAFT

grenzwerte für Benzin- und Dieselautos nicht

weiter verschärft werden, argumentieren ihre

Lobbyisten in Brüssel. Auch gegen ein generelles

Verbrennerverbot ab 2030, vom

Ex-Mitglied Großbritannien längst verabschiedet,

stemmen sich die Autobauer unter

Verweis auf die lückenhafte Infrastruktur.

»Die Hoffnung, dass dann alle nur noch elektrisch

fahren, wird sich nicht erfüllen«, sagt

etwa BMW-Chef Oliver Zipse, »in erster Linie,

weil die dazu nötigen Rahmenbedingungen

fehlen.«

Es ist ein typischer Fall von Henne-Ei-Ausrede,

mit der die Bosse den Notstand noch

verschärfen. Warum sollten die Regierungen

im Süden und Osten Europas Ladesäulen aufstellen,

wenn die Hersteller signalisieren, dass

sie dort noch jahrelang vornehmlich Dieselund

Benzinautos verkaufen wollen? Entsprechend

reserviert reagieren viele Mitgliedstaaten.

In ihrer jetzigen Form, so stellte die

slowenische Ratspräsidentschaft nach wochenlangen

Beratungen fest, würden die Brüsseler

Pläne kaum eine Mehrheit finden.

Die grüne EU-Abgeordnete Jutta Paulus

wirft der Industrie ein »dreistes Ablenkungsmanöver«

vor. Sie plädiert dafür, »die Autohersteller

in die Pflicht zu nehmen« und die

Flotten-Grenzwerte schneller anzuheben.

»Wenn wir den Umstieg auf die Elektromobilität

beschleunigen«, sagt sie, »machen

wir zugleich die Installation und den Betrieb

von Ladesäulen lukrativer.«

So sehen das auch EU-Staaten wie Dänemark

oder die Niederlande. Und die Experten

der deutschen Denkfabrik Agora Verkehrswende

haben bereits ausgerechnet, was möglich

ist. Sie schlagen vor, dass die europäische

Autoflotte in zehn Jahren 75 Prozent weniger

Treibhausgase ausstoßen dürfe als heute. Bislang

ist lediglich ein Rückgang von 55 Prozent

geplant. »Je klarer die Industrie signalisiert,

dass sie auf Elektromobilität setzt, desto

schneller kommt auch der Aufbau der Ladekapazitäten

voran«, sagt Agora-Experte Günter

Hörmandinger.

Immerhin: Der Wettbewerb wird allmählich

schärfer, was gut ist für die Kundinnen

und Kunden. Tesla hat angekündigt, sein Netz

für Dritte zu öffnen. Versuche laufen bereits

in den Niederlanden. Und auch Ionity gelobt

Besserung. Mithilfe des neuen Großinvestors

Blackrock sollen in den kommenden Jahren

700 Millionen Euro in den Ausbau des

Schnellladenetzes fließen. Volkswagen hat

Verträge mit Netzbetreibern wie BP, E.on oder

Enel abgeschlossen. VW-Kunden können jetzt

mit einer einzigen Ladekarte europaweit auf

270 000 öffentliche Säulen zu greifen. Damit

komme jeder Urlauber pro blemlos von Dänemark

nach Südeuropa, verspricht der Konzern.

BMW macht ähnliche Angebote.

Selbst die Stromriesen sind aufgewacht.

Mitte Dezember hat der Energiekonzern

EnBW einen der größten Schnellladeparks in

Europa eröffnet, auf einem Parkplatz nahe

dem Kamener Kreuz. Sechsspurig ausgebaut

verbindet der Autobahnknoten bei Dortmund

EnBW-Schnellladepark bei Kamen

»Ein krasser Fall von

Marktversagen.«

Markus Adam, Chefjustiziar bei Lichtblick

EnBW Energie Baden-Württemberg / EnBW

die beiden ältesten Trassen des Landes. Man

kann von dort aus auf der A 1 durchbrausen

bis nach Heiligenhafen oder Köln, auf der A 2

bis nach Oberhausen und fast bis Berlin. Acht

Millionen Fahrzeuge rauschen jeden Monat

vorbei. Europaweit ein Spitzenwert. Künftig

lässt sich dort Strom tanken.

52 Ladepunkte, ein jeder geeignet, binnen

20 Minuten Energie für 400 Kilometer in

einen Pkw zu pumpen. EnBW will künftig

Jahr für Jahr 100 Millionen Euro in Ladestationen

investieren, viele weitere Millionen

gehen in die Technik dahinter. Bis 2025 werde

EnBW ein Netz bauen, so dicht wie das

heutige konventionelle Tankstellennetz, verkündet

Konzernchef Frank Mastiaux. Was

ihn nervt, ist die »Überregulierung« durch

die Politik. Allein die Verpflichtung, Kreditkartenterminals

an den Säulen anzubringen,

koste EnBW viele Millionen. »Da wird eine

Bezahlform der Vergangenheit in die Zukunft

perpetuiert«, ätzt der Konzernboss.

Tatsächlich sei die Ladesäulenverordnung

der alten Bundesregierung ein »bürokratisches

Monster«, kritisiert auch Verkehrsforscher

Andreas Knie. EC-Karten-Lesegeräte

hätten im Zeitalter der Digitalisierung nichts

mehr verloren, so der Leiter der Forschungsgruppe

»Digitale Mobilität und gesellschaftliche

Differenzierung« am Wissenschaftszentrum

Berlin. Zumal Tesla auch hier weiter ist.

Musks Kunden müssen nicht mit irgendwelchen

Karten hantieren, sondern nur den Stecker

einstöpseln, die Abrechnung erfolgt dann

automatisch. Die deutschen Hersteller bieten

das sogenannte Plug-and-Charge erst schrittweise

in ihren neuen Modellen an.

»Wenn Politik und Industrie die Technologie

nicht schleunigst auf den Weg bringen«,

warnt Knie, »ist das der endgültige Beweis,

dass Deutschland an der Digitalisierung gescheitert

ist.« Effektiv wäre außerdem eine

Verpflichtung für Tankstellen, endlich Ladesäulen

aufzustellen. Die Idee verschwand

immer wieder im Giftschrank der Regierungsbeamten.

Auch faire Wettbewerbsbedingungen

für Stromanbieter fehlen bis heute.

Stattdessen gibt es viele regionale Monopole,

die zu einem verlangsamten Ausbau und

überhöhten Preisen führen, wie Markus

Adam, Chefjustiziar des Hamburger Ökostromanbieters

Lichtblick, kritisiert.

In Städten wie München, Dortmund, Hamburg

und Hannover beherrschen regionale

Stromanbieter teils 90 Prozent der Ladesäulen.

Am Urlaubsparadies Timmendorfer

Strand kontrolliert die E.on-Tochter Innogy

den Markt gar komplett. Ein »krasser Fall von

Marktversagen«, meint Adam. An Schnellladesäulen,

so die Lichtblick-Analyse, müssten

die Kunden bis zu 140 Prozent mehr bezahlen

als für herkömmlichen Haushaltsstrom.

Für Strom von Drittanbietern, die

eigentlich günstigere Angebote machen wollen,

verlangen die Monopolisten sogar Aufschläge

von 25 bis 300 Prozent. Aus Adams

Sicht sind das »kartellrechtswidrige Preisdiskriminierungen

von Drittanbietern«.

Die neue Bundesregierung belässt es in

ihrem Koalitionsvertrag bei vagen Absichtsbekundungen.

Sie wolle den Ausbau der

Schnellladepunkte fördern, und wo der Markt

versage, sollen Versorgungsauflagen helfen.

Für Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)

zählt das Ladenetz zur Daseinsvorsorge, den

Aufbau solle der Staat mit unterstützen. Er

möchte die Deutsche Bahn um Hilfe bitten,

um die Schnellladepunkte mit Strom zu versorgen:

Entlang seiner Gleise verfüge der

Staatskonzern schließlich über die erforderlichen

Trassen. VDA-Präsidentin Müller fordert

von der Ampelkoalition einen branchenübergreifenden

Ladenetzgipfel: Tankstellen,

Gebäudewirtschaft, Parkplatzbetreiber, Kommunen

und Energieversorger sollten endlich

»einen konkreten Plan entwickeln, wie der

Ausbau beschleunigt und Laden für die Menschen

einfacher sowie schneller wird«.

Wie es geht, demonstrieren die Niederlande.

Dort sind fast 22 000 Ladesäulen mehr

am Netz als in der Bundesrepublik, obwohl

die Fahrzeugflotte des Nachbarlands sehr viel

kleiner ist. Auch das Öko-Musterland Norwegen

demonstriert seit Jahren, wie sich mit

dem Absatz von E-Autos die Installation von

Ladesäulen steigern lässt. In Großstädten wie

Oslo oder Bergen haben es sich die Kommunalverwaltungen

zur Aufgabe gemacht,

öffentliche Parkplätze oder Einkaufszentren

elektrokompatibel zu gestalten.

Während Europa und seine Autokonzerne

noch zaudern, setzt Elon Musk seinen Eroberungszug

fort. So wie einst Deutschland

nimmt er nun die letzten Benziner- und

Diesel paradiese in den Blick: Märkte wie

Ungarn, Tschechien oder Slowenien versorgt

er pa rallel mit E-Autos und der passenden

Infrastruktur. Diesmal spottet kein deutscher

Autoboss mehr über den Amerikaner.

Simon Book, Simon Hage, Michael Sauga,

Gerald Traufetter

n

86 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


MEDIEN

»Angela Merkel hat mir

immer misstraut«

SPIEGEL-GESPRÄCH Claus Kleber, 66, nach fast 19 Jahren »heute journal«

über einen Abschied ohne Floskeln und Interviews ohne Antworten

SPIEGEL: Herr Kleber, wir beginnen das Interview

mit drei Minuten Verspätung. Wären

wir im ZDF live auf Sendung, hätten Sie jetzt

ein Problem.

Kleber: Ich bin im »heute journal« tatsächlich

berüchtigt dafür, dass ich meine Moderationen

furchtbar spät abliefere. Manchmal muss

ich im letzten Moment ins Studio sprinten,

hin und wieder schreibe ich noch während

der Beiträge. Das klingt vielleicht cool, ideale

Arbeitsbedingungen für die Redaktion sind

das aber nicht. Ich bin schon öfter am Rande

des Unfalls entlanggeschlittert.

SPIEGEL: Ihre Kollegin Gundula Gause rettet

Sie da nicht?

Kleber: Wir hatten eine halbwegs ernst gemeinte

Abmachung, dass sie einspringt, wenn

ich es nicht rechtzeitig schaffe. Ein paarmal

wurde es knapp, aber ich musste ihre Treue

zum Glück nicht mehr testen.

SPIEGEL: Sie moderieren in diesen Tagen Ihr

letztes »heute journal«, nach fast 19 Jahren.

Als Sie dieses Jahr den Abgang von Angela

Merkel anmoderiert haben, dachten Sie da

auch an Ihren Abschied?

Kleber: Natürlich denkt man einen Moment

darüber nach. Je nachdem, wie lange so eine

Regierungsbildung dauert, hätte es ja sein

können, dass ich sie beim Abschied noch

überhole. Aber für größere Parallelen ist der

Unterschied zwischen unseren Jobs zu groß,

und mir fehlt die persönliche Nähe. Ich fragte

mich eher, ob es jetzt irgendwann mal möglich

sein wird, mit ihr ein unbefangenes Gespräch

zu führen.

SPIEGEL: Warum?

Kleber: Angela Merkel hat mir immer misstraut,

wie überhaupt dem journalistischen

Stand. Einmal sagte ich vor einer Schalte zu

ihr: »Frau Merkel, ich will Sie heute wirklich

nicht kontrovers stellen, ich bin ehrlich daran

interessiert, wie Sie die Sache sehen.« Ich

dachte, dadurch könnte sie sich öffnen.

SPIEGEL: Hat es funktioniert?

Kleber: Sie meinte nur: »Das weiß ich schon

von Ihnen, Herr Kleber. Sie kommen so

freundlich daher – und dann kommt die

Kinke.« Ein merkelscher Ausdruck, aber ich

wusste, was gemeint war: Sie kam aus der

Das Gespräch führten die Redakteure Marc Hujer und

Anton Rainer.

Thomas Pirot / DER SPIEGEL

Journalist Kleber

Verteidigungshaltung nicht heraus. Damit war

ein unbefangenes Gespräch über die eigentliche

Sache unmöglich.

SPIEGEL: Merkel hat 16 Jahre lang kaum Interviews

gegeben. Olaf Scholz redet viel, sagt

aber nichts. Eine deutsche Tradition?

Kleber: Ja, bei Merkel war es fast eine royale

Attitüde: »Der Herrscher wird schon anrufen,

wenn er was mitzuteilen hat.« Olaf Scholz

wiederum hat erkennbar eine diebische

Freude daran, Fragen nicht zu beantworten.

Beides ist in meinen Augen Arbeitsverweigerung.

All diese Medientrainer, die der Politik

eingeredet haben, dass man ein Gespräch gewinnt,

wenn man möglichst wenig sagt,

sollten gefeuert und durch Menschen ersetzt

werden, die etwas von inhaltlichen Argumenten

verstehen. Man darf die Leute nicht für

dumm verkaufen, die merken doch, wenn

jemand ständig ausweicht.

SPIEGEL: Die Strategie scheint aber aufzugehen,

Olaf Scholz ist Kanzler.

Kleber: Langfristig ist es keine gute Strategie.

Wer Fragen nicht beantwortet, hat in den

Augen des Publikums entweder keine Ahnung

oder dunkle Absichten. Beides sind keine

schmeichelhaften Attribute.

SPIEGEL: Ihre Möglichkeiten als Interviewer

waren begrenzt. Alles, was Sie tun können,

ist, eine Frage wieder und wieder zu stellen.

Kleber: Oder ein bisschen anders, kreativer.

Bei Friedrich Merz wusste ich zuletzt zum

Beispiel, dass er mir die Frage nicht beantworten

wird, ob er Ralph Brinkhaus ablösen

und als CDU-Chef den Fraktionsvorsitz beanspruchen

will. Also fragte ich ihn, was

eigentlich dagegenspricht, das zu tun. Vielleicht

hätte er ja gesagt, es wäre nicht unbedingt

schön, so brutal vorzugehen wie Angela

Merkel seinerzeit mit ihm.

SPIEGEL: Und?

Kleber: Seine Antwort war leider dieselbe wie

immer, ein Nullsatz.

SPIEGEL: Eine ziemlich aussichtslose Lage.

Kleber: Es ist schlimmer geworden mit den

Jahren, die gucken das alle voneinander ab.

Und es ist ein merkwürdiges Wettrennen darum

entstanden, in Interviews möglichst wenig

preiszugeben und sich dann mit einem

triumphierenden Lächeln zu verabschieden.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

87


MEDIEN

Es gibt eine auffällige Ausnahme: Robert

Habeck. Er gesteht in Interviews

Schwächen ein, denkt über Fragen

nach, sagt auch mal: »Wissen wir

nicht, müssen wir noch rausfinden.«

Auch amerikanische Präsidenten wie

Barack Obama und Bill Clinton gaben

selbst mir gegenüber, einem Fremden,

mehr von sich preis als Angela Merkel

oder Olaf Scholz.

SPIEGEL: Dabei finden sich in den

USA, wo Sie jahrelang als ARD-Korrespondent

gearbeitet haben, mit Sicherheit

mehr Medientrainer.

Kleber: Aber es gibt eine Tradition in

der Beziehung von Journalisten und

Politikern. Man ist höflich und anständig,

sagt »Sir« und »Mister President«,

begegnet sich aber auf Augenhöhe.

Jeder akzeptiert, dass man

das Ziel hat, erbarmungslos bis zum

Kern der Nachricht vorzudringen.

Mittlerweile gibt es leider auch dort

Charaktere wie Donald Trump. Er

war der erste Präsident, den zu interviewen

ich nicht die geringste Lust

hatte. Es würde nichts bringen.

SPIEGEL: Für den Interviewstil Ihrer

Kollegin Marietta Slomka gibt es ein

eigenes Verb: Fällt ein Verhör besonders

hart aus, wird der Gesprächspartner

»geslomkat«. Was bedeutet

es, wenn jemand »geklebert« wird?

Kleber: Das kann ich nicht beurteilen.

Ich weiß nur, dass es nicht ans Original

heranreicht. Wer »geslomkat«

wird, wird durch gute Nachfragen so

auseinandergenommen, dass er oder

sie sich nicht mehr davon erholt. Marietta

gelingt das immer wieder, mir

nur selten. Das gebe ich neidlos zu.

SPIEGEL: Die Deutsche Welle hat Sie

einmal so beschrieben: »Seriosität,

Standesbewusstsein, Nüchternheit,

journalistischer Erfolg, gepflegtes Äußeres

und ein Feuereifer für die Sache«.

Die perfekten Eigenschaften

eines Anchorman?

Kleber: Für einen Grabstein ist es ein

bisschen lang. Aber es wäre schön,

wenn ich diese Ansprüche einigermaßen

erfüllt hätte.

SPIEGEL: Wie würden Sie die formulieren?

Kleber: Ein Anchorman muss eine

Regel befolgen: Was man nicht erklären

kann, hat man auch nicht

verstanden. Man muss die Materie

durchdringen und den Kern herausarbeiten.

Und es braucht eine gewisse

Ausstrahlung. Ich versuche den

Menschen zu sagen: »Sie können mir

vertrauen, ich lege Sie nicht rein.

Während Sie den ganzen Tag Häuser

gebaut, Autos repariert und Menschen

gepflegt haben, habe ich mich

informiert, und das ist mein Ergebnis.

Geben Sie mir 28 Minuten.«

»Manchmal

wirkt man

besserwisserisch,

wenn

man es

tatsächlich

besser weiß.«

Moderator Kleber

mit US-Prä sident

Obama 2014

Lawrence Jackson / ZDF / picture alliance / dpa

SPIEGEL: In den vergangenen 18 Jahren

wurde das Mediensystem auf den

Kopf gestellt. Nur der Anchorman

musste sich nicht verändern?

Kleber: Kaum, die Rolle ist eher noch

wichtiger geworden. Der Fels, der

schon immer im Nachrichtenstrom

stand, muss jetzt sehr viel stärker sein

– denn der Strom ist massiv geworden.

Eine vertrauenswürdige Instanz

muss die Kakofonie von Meinungen,

von Fakten und Behauptungen professionell

sortieren. Verändert hat

sich allerdings meine Einstellung zur

Welt. Ich habe viel von meinem Optimismus

verloren, ich mache mir

mehr Sorgen als je zuvor.

SPIEGEL: In den USA klagen Medien

über einen Niedergang der Debattenkultur,

in der die nüchterne Nachricht,

anders als in Deutschland, keine

Chance mehr hat.

Kleber: Ich bin in einer Zeit nach Amerika

gekommen, Anfang der Achtziger,

als es umgekehrt war. In meiner

Jugend standen sich hierzulande die

Lager erbittert gegenüber, man stritt

über das Verhältnis zu Russland, über

Willy Brandt, über Paragraf 218 und

die Notstandsgesetzgebung. Es war

teilweise hasserfüllt. In den USA fühlte

sich die Gesprächskultur dagegen

fast sportlich an, zwischen konservativen

Knochen und liberalen Städtern

gab es einen Konsens, ich habe das

bewundert. Diese Eleganz der Debatte

ist völlig verloren gegangen. Heute

verlaufen Trennlinien überall.

SPIEGEL: Ist es die Aufgabe des »heute

journals«, derartige Spaltungen zu

verhindern?

Kleber: Nein. Aber die Aufgabe eines

Moderators ist es, alle Menschen zu

erreichen, unabhängig von ihrer Einstellung.

Als es 2018 in Chemnitz zu

den rassistischen Ausschreitungen

und Demonstrationen kam, war es

mir wichtig, schon in der Begrüßung

zu sagen, wie alles angefangen hat –

nämlich mit der Ermordung von Daniel

H., Täter waren allem Anschein

nach ein Syrer und ein Iraker. Wer das

vergisst und nach wenigen Sekunden

des Mitgefühls nur noch über die Auswirkungen,

die Proteste, die verderblichen

Einflüsse der AfD spricht, verliert

die Menschen auf dem Weg.

SPIEGEL: Ihre Moderationen wurden

über die Jahre immer wieder kritisiert,

wegen verkopfter Formulierungen,

aber auch wegen Ihrer eindeutigen

Haltung. Der Kolumnist Jan

Fleischhauer warf Ihnen einmal »Erziehungsjournalismus«

vor.

Kleber: Manchmal wirkt man besserwisserisch,

wenn man es tatsächlich

besser weiß – ich versuche das eigentlich

zu vermeiden. Ich habe insgesamt

2977 Sendungen moderiert, da ist es

bestimmt hin und wieder misslungen,

diesen Unterton wegzulassen. Es ist

nicht meine Aufgabe, meine persönliche

Sicht der Dinge zu verbreiten.

Egal wie sehr sich die Leute dafür interessieren,

es geht nicht um mich.

SPIEGEL: Die meistgesehenen Nachrichtensendungen

in den USA laufen

nicht beim trockenen CNN, sondern

bei Fox News und Sendern, die sich

einem Lager verschrieben haben.

Kleber: Umgekehrt ist die »Washington

Post« zu einem Anti-Trump-

Kampfblatt geworden. Parteiisch für

Trump zu sein ist nicht wesentlich

schlechter als parteiisch gegen ihn

sein. In Amerika regiert das Geld den

Markt. Sender wie Fox News haben

festgestellt, dass sich Einseitigkeit,

Hass und Spaltung auszahlen. Das

kleine öffentlich finanzierte Fernsehen

kommt dagegen nicht an. Das

schauen nur die ohnehin verteufelten

liberalen Eliten. In Deutschland liefern

die Öffentlich-Rechtlichen einen

Standard, an dem sich Fox-News-

Varianten orientieren müssen.

SPIEGEL: Welche wären das?

Kleber: »Bild TV« schickt sich an, in

diese Richtung zu marschieren. Die

aufgebauschte Information hat dort

mehr Chancen als ein fundierter

Bericht.

SPIEGEL: Warum sollten sich Politiker

dem »heute journal« stellen, wenn sie

bei parteiischen Medien oder gar

ihren eigenen Parteimedien verhätschelt

werden?

Kleber: Komischerweise suchen die

Leute, die da so erfolgreich sind, immer

noch ihren Platz im »heute journal«.

Nichts ist so reizvoll wie die

Kontroverse, es ist eine Bewährungsprobe,

der sich ein Politiker stellen

muss. Wenn sich der AfD-Abgeordnete

Brandner auf Facebook von der

eigenen Parteifreundin interviewen

lässt, die in jeder Frage jubelnd zum

Ausdruck bringt, wie sehr sie seiner

88 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


MEDIEN

Meinung ist, merken sogar seine Fans, dass

das niemandem etwas nützt.

SPIEGEL: Das trockene Ablesen von Nachrichten,

haben Sie selbst einmal gesagt, gebe

es nur noch im nordkoreanischen Fernsehen

und um 20 Uhr im Ersten. Ist die Zeit der

nüchternen Nachrichtensendung vielleicht

einfach vorbei?

Kleber: Der Korea-Satz ging in der ARD rum,

als ich dort noch gearbeitet habe. War ein

Spaß. Als ich ihn dann als ZDF-Mann bei

einer Podiumsplauderei wiederholt habe,

fanden die »Tagesschau«-Kollegen und -Kolleginnen

ihn nicht mehr lustig, ich im Nachhinein

auch nicht.

SPIEGEL: Sie schreiben Ihre Texte selbst, in

der »Tagesschau« werden hingegen vorgeschriebene

Moderationen vorgelesen. Das

könnte auch ein Bot übernehmen.

Kleber: Die Bots werden noch lange brauchen,

bis sie an die Professionalität der »Tagesschau«-

Redaktion rankommen. Und auch dann würde

das niemand sehen wollen. Wir Menschen

interessieren uns nun mal am allermeisten für

andere Menschen. Und wenn jemand jeden

Abend um 20 Uhr im Wohnzimmer auftaucht,

entwickelt man automatisch eine Beziehung

zu dieser Person. Wir wissen aus unserer Medienforschung,

dass Zuschauer des »heute

journals« ein festgefügtes Weltbild über die

Beziehung zwischen Gundula und mir haben.

SPIEGEL: Was soll das heißen?

Kleber: Die Menschen glauben, genau zu wissen,

wie gut wir uns gerade verstehen und welche

Atmosphäre im Studio herrscht. Sogar zur Frage,

was unsere jeweiligen Ehepartner davon

halten, gibt es festgefügte Vermutungen. Dabei

sind wir nur viermal pro Sendung für ein paar

Sekunden gemeinsam zu sehen. Das reicht trotzdem

als Basis für ein Weltbild, weil sich Menschen

für das Verhalten anderer interessieren.

SPIEGEL: Von dem früheren »Tagesthemen«-

Moderator Hajo Friedrichs gibt es das berühmte

Zitat, dass sich ein Journalist mit keiner

Sache gemeinmachen soll, auch nicht mit

einer guten. Es wird oft als Appell gegen Aktivismus

verstanden, dabei ging es ihm in erster

Linie um Emotionen vor der Kamera. Wie

haben Sie den Rat verstanden?

Kleber: Als Jurist und früherer Anwalt fand

ich es immer wichtig, die Argumentation der

Gegenseite so zu verstehen, dass man in der

Lage ist, sie mit einer Überzeugung wiederzugeben,

als wäre es die eigene. Erst dann

kann man neutral berichten.

SPIEGEL: Das hielt Sie nicht davon ab, Emotionen

vor der Kamera zu zeigen. 2015 lasen

sie die Ansprache eines Busfahrers vor, der

in gebrochenem Englisch Flüchtlinge an Bord

willkommen hieß. Man konnte hören, wie Sie

vor Rührung mit den Tränen kämpften.

Kleber: Diese schöne Meldung kam während

der Sendung rein, ich hatte sie vorher nicht

gesehen. Und sie war ein Lichtblick in einer

damals aufgepeitschten Debatte. Mir hat es

wieder gezeigt, dass ich bei schönen Dingen

emotionaler bin als bei hässlichen. Und ich

habe nicht geweint, der Frosch in meinem

Anchorman Kleber

Thomas Pirot / DER SPIEGEL

Hals war eher eine Kaulquappe. Ich bin sicher,

Hajo Friedrichs hätte mir verziehen.

SPIEGEL: Junge Generationen suchen ihre Information

oft in der Unterhaltung, etwa bei

Comedians wie John Oliver und Satirikern

wie Jan Böhmermann. Ist das Journalismus?

Kleber: Ich bin ein großer Fan dieser Sendungen,

gerade wenn sie wie bei Böhmermann

richtige journalistische Kapitel haben. Aber

wir und die spielen nach unterschiedlichen

Regeln. Das »heute journal« ist in erster Linie

der Wahrheit verpflichtet, Jan Böhmermann

der Zuspitzung.

SPIEGEL: Der Wahrheit nicht?

Kleber: Man kann die Wahrheit so auf die

Spitze treiben, dass sie Satire wird. Und man

kann Fakten, die nicht ganz auf festen Beinen

stehen, als Erkenntnis verkaufen. Böhmermann

darf das, wir im »heute journal« dürfen

das nicht – und ich finde, beides gehört in den

medialen Mix.

SPIEGEL: Glaubt man Böhmermann, muss

man sich für viele Gespräche schämen, weil

man die falschen Leute einlädt. Die ständige

Präsenz des Virologen Hendrik Streeck etwa

würde für eine »false balance« von Minderheitenmeinungen

sorgen.

Kleber: »False balance« ist eine ständige

Gefahr, das bestreite ich nicht. Es ist aber

genauso gefährlich, wenn man, um der Balance

aus dem Wege zu gehen, gewisse Interpretationen

von Fakten nicht mehr zulässt.

Hendrik Streeck ist kein Verschwörungstheoretiker,

er hält die Erde nicht für flach

und Elvis nicht für lebendig. Natürlich kann

und soll man ihn nach seiner Meinung zu

Coronamaßnahmen fragen. Unabhängig

davon, dass ihm Christian Drosten beim Verstehen

der Viren vermutlich turmhoch überlegen

ist. Aber ich bin weder der Schiedsrichter

in diesem Wissenschaftsstreit noch der

Obervirologe.

SPIEGEL: Als 2001 das World Trade Center in

New York angegriffen wurde, waren Sie Washington-Korrespondent

und haben sich beklagt,

dass ARD und ZDF keine Live-Sendung

machen wollten.

Kleber: Das ist falsch, ich habe mich nicht beklagt.

Ich war stinksauer.

SPIEGEL: Fast 20 Jahre später stürmten

Trump-Fans das Kapitol. Sie mussten auf

Twitter dazu aufrufen, CNN einzuschalten.

Kleber: Auch da waren wir nicht schnell genug.

Ich habe an dem Tag, wie an vielen anderen,

zu denen gehört, die sofort rausgehen

und senden wollten. Übrigens auch, als in

Paris Notre Dame gebrannt hat. Aber Kollegen

und Kolleginnen, die ich sehr respektiere,

haben anders entschieden. Im Haus ist das

bis heute umstritten.

SPIEGEL: Wie erklären Sie Kritikern des Rundfunkbeitrags,

dass sie künftig trotzdem mehr

bezahlen müssen?

Kleber: Mit einer Preis-Leistungs-Rechnung.

Wer sich einmal ansieht, was man für die wenigen

Groschen am Tag bekommt, kann gar

nicht ernsthaft darüber diskutieren, ob sich

das lohnt oder nicht.

SPIEGEL: Für manche Familien sind 18 Euro

im Monat mehr als nur ein paar Groschen.

Kleber: Haushalte, denen der Rundfunkbeitrag

wirklich wehtut, müssen ihn meistens

nicht bezahlen. Wir wissen, dass ein hoher

Prozentsatz der Menschen, die aus sozialen

Gründen davon befreit sind, nebenbei Sky

abonniert haben. Ich halte das Geldargument

für eine vorgetäuschte Debatte.

SPIEGEL: Sie haben kurz vor der Rente damit

begonnen, in Moderationen zu gendern. Sie

hätten diese Debatte aussitzen können.

Kleber: Warum sollte ich? Ich habe in privaten

Diskussionen gelernt, dass es valide Argumente

dafür gibt, es in meine Moderationen

einfließen zu lassen. Ich mache es meistens

dann, wenn ich damit etwas transportieren

kann. Wer immer nur von Truckern spricht

und nie von Truckerinnen, vergisst eher mal

die Gefahren, denen Fernfahrerinnen nachts

auf überfüllten Parkplätzen ausgesetzt sind.

SPIEGEL: Manche haben das Gefühl, Sie würden

ihnen eine Art zu sprechen vorschreiben.

Kleber: Dabei ist es umgekehrt. Diese Menschen

wollen mir eine Sprache vorschreiben

und mir genderneutrale Formulierungen verbieten.

Ich habe noch nie jemanden dafür

kritisiert, dass er nicht gendern wollte.

SPIEGEL: Mit welchem Satz verabschieden Sie

sich von Ihren Zuschauern?

Kleber: Hoffentlich ohne Floskel, ich habe die

immer vermieden, das ist fast eine Manie bei

mir. Beim ZDF hatte ich mich ein Jahr lang

intensiv darum bemüht, die Floskel »Alle Angaben

ohne Gewähr« nach den Lottozahlen

zu streichen. Natürlich sind sie ohne Gewähr,

nennen Sie mir eine Situation, wo uns jemand

verklagen könnte! Am Ende gab es einen dicken

Aktenordner mit meiner Beschwerde,

der durch alle Abteilungen ging – und die

Formulierung ist immer noch da. Nur einer

meiner vielen Fehlschläge.

SPIEGEL: Herr Kleber, wir danken Ihnen für

dieses Gespräch.

n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

89


Ausland

Die Geschichten hinter den Geschichten –

der besondere Rückblick

Jenseits von Kabul

NR. 40/2021 »Der Landraub der Taliban« – Nach der Machtübernahme der Islamisten ist Christoph Reuter per

Bus durch afghanische Provinzen gereist, um die neue Unordnung im Land zu erleben und zu beschreiben.

D

iese

Geschichte handelt davon, wie

sich die Taliban in einem der abgelegensten

Winkel Afghanistans gemeinsam

mit einem brutalen Landbesitzer

Grundstücke unter den Nagel reißen wollten

– und wie es war, darüber zu berichten.

Die Taliban hatten nicht damit gerechnet,

dass einige Tausend Menschen in den

schwer zugänglichen Tälern sich wehren

würden. Auf Facebook. Hier kommt ein Ex-

Dorfschuldirektor ins Spiel: Ghulam Hazrat

Mohammadi. Er versammelte Menschen

für ein Protestvideo, schlug sich über

Schleichwege nach Kabul durch und startete

eine Social-Media-Kampagne. Wir Reporter

fanden Mohammadi, sprachen andere

Geflohene, brachen auf nach Daikundi.

Google Maps gibt 7:47 Stunden Fahrtzeit

von Kabul bis in die Provinzhauptstadt

an. Nur hat niemand Google Bescheid gegeben,

dass die Straße über weite Teile von

Erdrutschen weggerissen wurde. Auf der

Umgehungsstrecke kollabiert das Auto. Im

Schritttempo landen wir in einem Kaff,

tun selbst den Taliban am Posten leid, die

sich für die Straßen entschuldigen.

Im »Flying Coach«, einem hochgelegten

Kleinbus mit der gefühlten Motorleistung

eines Schützenpanzers, geht es weiter, am

Abend des zweiten Tages gelangen wir im

nächsten »Flying Coach« in der Dunkelheit

über kaum sichtbare Pisten zu den Dörfern.

Zum Sonnenaufgang vor einer spektakulären

Gebirgskulisse bricht die Achsfederung.

Einer der Männer rennt eine Bergkuppe

hoch, schafft es zu telefonieren, dann rast

ein Motorradfahrer heran, auf dem Gepäckträger

eine Blattfeder balancierend.

Die anschließende Geschichte über Willkür

und Vertreibung der Bauern trifft bei

der Taliban-Führung in Kabul auf einen

wunden Punkt: ihr Bemühen, sich dem

Westen als geläuterte Herrscher zu präsentieren.

Wider Erwarten erlässt einer der

obersten Taliban-Richter Wochen später ein

Dekret, dass die Enteignungen rückgängig

gemacht werden müssten.

Doch dann zeigt sich die neue Unordnung

Afghanistans: Die lokale Führung akzeptiert

zwar das Diktum, lässt die Geflohenen

zurückkehren, aber nur, um sie erneut

zu vertreiben. Der Grundbesitzer habe Einspruch

eingelegt. Mohammadi ist inzwischen

nach Iran geflohen, andere Bauern

protestieren weiter. Der Grundbesitzer ruft

beim SPIEGEL an: Wir sollten aufhören,

uns einzumischen. Er werde jeden Bauern

aus dessen Haus vertreiben, »und wenn

der und seine Kinder dann auf der Straße

erfrieren, haben sie das verdient!«

90 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL


Erschütterndes Leid

NR. 26/2021 »Tötet sie« –

Afrikakorrespondent Fritz

Schaap traf Frauen aus der

Kriegsregion Tigray, ihre

Erzählungen und Erlebnisse

wird er nicht vergessen.

Es war eine Reise in eine Region

der Angst, voller Geschichten,

die uns Frauen in stickigen

Zimmern, an versteckten Orten

mit leisen, tränenerstickten

Stimmen erzählten. Geschichten

von Vergewaltigungen, so

grausam, dass auch ich keines

der Interviews ohne Tränen in

den Augen beendete. Die Frauen

erzählten, wie ihnen heiße

Eisenstäbe eingeführt wurden,

wie ganze Gruppen von Soldaten

über sie herfielen. Man

wolle ihre Blutlinie reinigen,

wurde ihnen gesagt. Eine Frau

konnte nicht mehr liegen vor

Schmerzen. »Ich brauche Hilfe«,

flehte sie uns an. Krankenschwestern

erzählten von Familien,

die gezwungen wurden zuzusehen,

während ihre Töchter

vergewaltigt wurden.

Die Uno ging im April von

mindestens 22 500 solcher Fälle

»You have to leave!«

NR. 45/2021 »Der gefährlichste

Rentner der Welt« – USA-Korrespondent

René Pfister ist bemüht,

Politik mit professioneller

Distanz zu betrachten. Bei einer

Kundgebung von Trump-Fans

aber war er mittendrin.

Dass ich auffiel, merkte ich

nach den ersten Schritten. Ich

trug ein weißes Hemd und Sakko

und setzte mich direkt vor

die Bühne – zwischen Männer,

die T-Shirts trugen, auf denen

stand: »Don’t blame me, I voted

for Trump«. Seit ich im Sommer

2019 in die USA kam, habe ich

Dutzende Veranstaltungen von

Trump-Fans besucht, nie habe

ich um meine Sicherheit gefürchtet.

Aber diese hier in Tampa,

Florida, war anders. Sie hieß

»Reopen America« und war

eine Art Open-Air-Gottesdienst

für Menschen, die glauben, dass

Trump der Wahlsieg gestohlen

worden ist. Journalisten durften

nicht hinein, weswegen ich mir

für 250 Dollar ein Ticket kaufte.

Neben mir saßen blonde Zwillinge,

um die 40, sie trugen Minikleider

in Stars-and-Stripes-

aus. Es sind monströse Zahlen,

hinter denen erschütterndes

Leid steht. All diese Menschen

können wir seit unserer Abreise

nicht mehr erreichen. Denn die

äthiopische Regierung hält eine

De-facto-Blockade von Tigray

aufrecht, und weder Telefonnoch

In ternetdienste funktionieren.

Nachdem tigrayische

Soldaten Zentral- und Osttigray

zurückerobert und die eritreischen

Truppen sich weitgehend

zurückzogen haben, gingen die

Berichte über Misshandlungen

zurück. Dass die Opfer ausreichend

behandelt werden, ist unwahrscheinlich.

Die medizinische

Infrastruktur in Tigray ist

zerstört. »Ich weiß nicht, was

die Zukunft bringen wird. Ich

sehe nur Hunger und Tod«, sagte

uns eine der Frauen. ​

Betende Frau in

Mekelle, Tigray

Optik. Wir plauderten, bis eine

der Schwestern fragte, ob ich

ein Fan »unseres Präsidenten«

sei. Sie meinte Trump, nicht Joe

Biden. »I’m not so sure about

that«, antwortete ich.

Daraufhin schlug die Stimmung

um. »I don’t want to sit

next to you! You have to leave!«,

kreischte die Frau. Als die Zuschauer

hinter mir begannen,

gegen meinen Stuhl zu treten,

blieb mir nichts anderes übrig,

als mich unter dem Gejohle der

Menge nach hinten zu verziehen.

Dann führte mich ein

Wachmann mit Sturmgewehr

zur Veranstaltungsmanagerin.

Sie fragte, ob ich Journalist sei.

Ich antwortete, dass sie dies

nichts angehe. Sie könne mich

nicht zwingen, sagte sie, aber

ihr Rat sei, schnell zu verschwinden

– was ich tat. Es war

das erste Mal, dass ich am eigenen

Leib spürte, wie es ist,

einem aufgepeitschten Mob gegenüberzustehen.

Ich war nicht

ernsthaft in Gefahr. Aber man

blickt anders auf Trump und

seine Fans, wenn man erlebt, wie

dünn der Firnis der Zivilisation

bei ihnen ist.

Daniel Etter / DER SPIEGEL

Tee und Torte

Der Pfau, er lebt

NR. 24/2021 »Die mutigen

Frauen von Minsk« – Knapp

1000 politische Gefangene

sitzen in Belarus in Haft. Korrespondentin

Christina Hebel

traf Frauen, die dennoch gegen

Machthaber Lukaschenko

protestieren.

Es ist schon spät an einem

Novemberabend in Minsk,

als Olesja fragt: »Nimmt man

uns in Deutschland überhaupt

noch wahr?« Ich bin gerade zurückgekommen

aus dem Grenzgebiet

nahe Grodno, wo ich mit

Flüchtlingen gesprochen habe.

Diktator Alexander Lukaschenko

hatte sie zu Tausenden mit

Touristenvisa ins Land locken

und an die Grenze schaffen lassen,

um Druck auf die EU auszuüben.

Nun hat Polen die

Grenze dichtgemacht.

Ich weiß nicht recht, was ich

antworten soll. Seit Monaten

habe ich das Gefühl, dass wir

Journalistinnen und Journalisten

nicht mehr hinterherkommen

bei den immer düster werdenden

Nachrichten aus Belarus

über Festnahmen von Regimekritikern.

Ich hatte Olesja und vier weitere

Aktivistinnen im Juni das

erste Mal getroffen. Damals

führten sie mich in ein verlassenes

Waldstück, wo wir unentdeckt

waren, und erzählten von

ihrem Protest. Sie sehen müder

aus als im Sommer, viele ihrer

Freunde sind ins Exil gegangen.

»Noch hat Lukaschenko uns

nicht zu Flüchtlingen gemacht,

wir bleiben«, ruft eine, die anderen

lachen. Es ist trotz allem

eine fröhliche Runde in dieser

Nacht, bei Torte und Tee. Sie

schenken mir eine schwarze

Tasse, die sich durch die Wärme

verfärbt. Zum Vorschein kommt

das Emblem der Opposition:

ein Reiter mit Schwert auf weißrot-weißem

Grund. Eine Partisanen-Sonderanfertigung.

Ich

solle sie nicht vergessen, bitten

die Frauen zum Abschied.

NR. 36/2021 »Das Wunder

von Yunnan« – Korrespondent

Georg Fahrion über einen

unerschrockenen Studenten, der

den Bau eines Staudamms in

China verhinderte

In China liegt die wahre Geschichte

oft ganz anders, als es

zunächst den Anschein hat.

Beim Grünen Pfau lauteten die

Meldungen etwa so: Aktivisten

klagen gegen Umweltzerstörung,

die Gerichte geben ihnen

recht, die Baufirma muss den

Staudamm einstampfen – ein

Beleg dafür, dass der chinesische

Rechtsstaat funktioniert.

Dass sich hinter dieser Oberfläche

aber eine ganz andere

Dynamik vollzogen hat, nämlich

offenbar der oberste Pekinger

Machtzirkel zugunsten des

Artenschutzes intervenierte,

erfuhren wir erst durch unsere

Recherchen vor Ort.

In anderen Ländern sind solche

Erkenntnisse Journalistenalltag,

in der Volksrepublik sind

sie ein Ausnahmefall. Denn viele

Chinesen vermeiden es, mit ausländischen

Journalisten zu reden.

Im Ranking der Pressefreiheit

liegt das Land auf Platz 177

von 180. Der Druck der Kommunistischen

Partei auf Gesprächspartner

ist seit dem Beginn

der Pandemie noch gestiegen.

Umso mehr freuten wir uns,

dass sich der Held der Geschichte

davon nicht einschüchtern

ließ. Gu Bojian entschloss sich,

mit uns durch Yunnan zu reisen,

an die Stätten seines Kampfes.

Ob er das Auto bemerkt hat, das

uns folgte, weiß ich nicht. Konsequenzen

hatte seine Redebereitschaft

für ihn nicht.

Gu schreibt in Shanghai seine

Doktorarbeit, die sich mit Schutzmaßnahmen

für den Grünen

Pfau befasst. Mittels Videokameras

beobachtet er die Vögel,

im Frühjahr sah er sogar ein frisch

geschlüpftes Pfauenküken.

Fahrion, Gu

Gilles Sabrie / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

91


AUSLAND

»Es ist noch nicht vorbei«

USA Der Polizist Harry Dunn war im Dienst, als vor einem Jahr Hunderte Trump-Anhänger das Kapitol

in der Hauptstadt Washington stürmten. Er wurde rassistisch beschimpft, er leidet

noch immer unter den Folgen des Angriffs – der heute das ganze Land spaltet. Von Alexandra Rojkov

E

r sagt, er hätte es ahnen müssen. Als der

Polizist Harry Dunn am Morgen des

6. Januar zur Arbeit fährt, sieht er die

Vorboten der Ereignisse, die Amerika verändern

sollen.

Es ist ein kalter, grauer Mittwoch, das

Thermometer zeigt wenige Grad über null.

Die Pandemie hat das Leben in den USA weitgehend

stillgelegt: Viele Geschäfte sind geschlossen,

die Innenstadt von Washington,

D. C., ist eigentlich verwaist. Doch als Dunn

an diesem Morgen gegen 6 Uhr zu seiner

Schicht fährt, sind die Straßen voller Leute.

Dunn sieht Hunderte Männer und Frauen,

die sich in Richtung des Kapitols schieben,

der Herzkammer der amerikanischen Demokratie.

Sie haben Flaggen dabei, auf denen

Trump zum »wahren« US-Präsidenten erklärt

wird, und Plakate, auf denen sie fordern, den

vermeintlichen »Stimmenklau« der Demokraten

zu beenden. Die offizielle Kundgebung,

zu der US-Präsident Donald Trump

aufgerufen hat, ist für 11 Uhr angesetzt, doch

bis dahin sind es noch fünf Stunden, und

schon jetzt sammeln sich viel mehr Menschen

auf den umliegenden Plätzen, als Dunn erwartet

hat. »Im Rückblick gesehen war es

unheimlich«, sagt er heute.

Doch Dunn hat in seinen 14 Jahren als Polizist

Hunderte Proteste erlebt, und immer

waren sie friedlich geblieben. »Klar, es gab

schon mal ein paar Festnahmen«, sagt er.

»Aber in meinen wildesten Träumen hätte ich

nicht mit dem Ausmaß an Gewalt gerechnet,

das folgte.«

Harry Dunn, 38 Jahre alt, wirkt wie ein

Mensch, den so schnell nichts erschüttern kann.

Er hat die Figur eines Giganten und den Humor

eines Teenagers, zwei Eigenschaften, die ihn

umgeben wie ein Schutzschild. Seine Größe

lässt Dunn felsenfest wirken, seine Scherze,

vorgetragen in kantigem Slang, entwaffnen die

Realität. Doch je länger Dunn erzählt, was er

am 6. Januar 2021 erlebte, desto spärlicher

werden seine Witze, desto weniger Standhaftigkeit

strahlt seine Statur aus. Am Ende des

Gesprächs wirkt er wie jemand, der tief verletzt

wurde. Eine Verletzung, die auch heute,

ein Jahr später, nicht ganz verheilt ist.

Am 6. Januar 2021 stürmte ein Mob das

Kapitol in Washington, D. C. Die Demonstranten

brachen durch Barrikaden und verschafften

sich einen Weg ins Gebäude, wo der

Zeuge Dunn bei Anhörung

Jim Bourg / ZUMA Wire / IMAGO

Kongress gerade den Wahlsieg von Joe Biden

bestätigen sollte. Die Zeremonie musste abgebrochen,

die Politikerinnen und Politiker

mussten in Sicherheit gebracht werden. Sie

versteckten sich in Räumen, die einst für den

Fall eines Terrorangriffs geschaffen wurden –

jetzt mussten sie vor ihren eigenen Bürgern

fliehen.

Der Angriff dauerte nicht einmal fünf Stunden,

doch seine Folgen sind bis heute spürbar.

Für die Polizisten, die damals im Dienst waren.

Und für Amerika.

»Dort oben begann mein Tag«, sagt Harry

Dunn. Er zeigt mit dem Finger auf die Stufen

des Kapitols, eines Gebäudes, so riesig, dass

es mehr als 500 Räume fasst. Am Morgen

treffen sich Dunn und seine Kollegen hier zu

einer kurzen Vorbesprechung, dann beziehen

sie ihre Posten für den Tag. Dunn und ein

Kollege sollen den Ostflügel des Kapitols

sichern.

Trotz der Kälte und des trüben Wetters

füllt sich die Wiese vor dem Gebäude mit

jeder Stunde weiter. »Es wurden immer mehr

Leute«, sagt Dunn – Menschenmengen, wie

er sie noch nie gesehen hatte. Aber seine Vorgesetzten

wirkten bei der Besprechung am

Morgen entspannt, und er verlässt sich auf

ihre Einschätzung. »Sie sagten: Es wird ein

langer Tag, vielleicht länger als eure acht

Arbeitsstunden. Aber sie gaben mir keinerlei

Grund zur Beunruhigung.«

Während Dunn auf der Ostseite des Kapitols

Wache schiebt, beginnt etwa drei Kilometer

entfernt, in der Nähe des Weißen Hauses,

die offizielle Kundgebung. Donald Trump

hat seine Anhänger dazu aufgerufen, »Amerika

zu retten«, so das Motto. Aus dem ganzen

Land folgen die Menschen seinem Ruf: Rentner

aus Pennsylvania fahren stundenlang

durch die Nacht, Bürgerwehren aus Florida

sammeln sich auf der Grünfläche. Aus Wisconsin,

Texas und Minnesota reisen ganze

Familien an. Als Trump um etwa 11.50 Uhr

Ortszeit die Bühne betritt, jubeln ihm mehrere

Tausend Menschen zu.

Trump wiederholt die Lüge, die US-Wahl

sei gestohlen worden. Wahlhelfer, Gerichte,

sogar viele von Trumps Parteimitgliedern

haben da schon festgehalten, dass Joe Biden

der rechtmäßige Präsident ist. Trump bleibt

noch eine letzte Waffe: seine Anhänger.

»Wenn ihr nicht wie verrückt kämpft, dann

werdet ihr kein Land mehr haben«, ruft er

den Demonstranten zu. »Wir gehen ins Kapitol.«

Viele Teilnehmer verstehen das als

Appell: Stoppt die Stimmenauszählung, die

Trumps Niederlage zementieren wird. Um

jeden Preis.

Auf seinem Posten vor dem Kapitol bekommt

Harry Dunn davon nichts mit. Noch

immer glaubt er, dass die Menge, die sich um

das Gebäude zusammenzieht wie eine Gewitterfront,

friedlich bleiben wird. Erst als ihn

zwei Notrufe erreichen, versteht er, »dass

etwas Schreckliches passiert«.

Zunächst verbreitet sich über Funk die

Nachricht, zwei Rohrbomben seien gefunden

worden. Kurz darauf hört Dunn die Stimme

eines Kollegen und Freundes, der auf der

Westseite des Kapitols Wache hält. »Wir brauchen

Hilfe«, schallt es aus Dunns Funkgerät.

»Sie haben die Polizeilinie durchbrochen.«

Fast ein Jahr später, an einem kalten Dezembertag,

erzählt Dunn, wie er die folgenden

Stunden erlebte. In einem Ton, der mal

voller Sarkasmus ist und mal voller Zorn, erinnert

er sich, wie er seinen Posten aufgibt

und um das Kapitol herumrennt, um seinem

Kollegen zu helfen. Als er um die Ecke biegt,

steht Dunn plötzlich vor einem »Meer von

Menschen«. Tausende Demonstranten stürmen

auf das Gebäude zu. Dunn sieht, wie

einige Dutzend Polizisten versuchen, die

Übermacht zurückzuhalten: Sie werden geschlagen,

zu Boden gedrückt, mit Pfefferspray

besprüht. Mindestens ein Beamter wird von

den Demonstranten mit Stromschlägen trak-

92 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


AUSLAND

Brent Stirton / Getty Images

tiert. Es gibt Videos davon, die so

schmerzhaft anzusehen sind, dass sie

mit einem Warnhinweis versehen

werden mussten.

Besonders verstört Dunn der Rassismus,

der ihm an diesem Tag entgegenschlägt.

Irgendwann findet er

sich in der Krypta des Kapitols wieder,

einer Halle mit Sandsteinsäulen und

Kronleuchtern. Dort stehen zwölf Statuen

von berühmten Ameri kanern:

Samuel Adams, einem Revolutionär,

Robert L. Li vingston, einem der Gründerväter

der Vereinigten Staaten. Als

Dunn dort ankommt, sieht der Raum

aus »wie eine Studentenparty«:

Demonstranten lehnen sich gegen die

Statuen, brüllen herum wie auf einem

Ver bindungstreffen. Mindestens einer

schwenkt eine Konföderiertenflagge,

ein Symbol für die angebliche »Überlegenheit

der weißen Rasse«.

Trump-Anhänger bei

Angriff auf das

Kapitol: Tausende

Demonstranten

stürmen auf das

Gebäude zu

»Ist das Amerika?

Wie zur

Hölle konnte

so etwas

passieren?«

Harry Dunn war Mitte zwanzig,

als er zur »Capitol Police« stieß. Er

hatte eigentlich Gesundheitswesen

studiert, aber als man ihm die Stelle

auf einer Jobmesse anbot, sagte er

auch zu, weil sie symbolisch bedeutsam

war: Das Kapitol war einst auch

von schwarzen Sklaven erbaut worden,

und Dunn sagt, ihm habe der

Gedanke gefallen, dass er – ein

Schwarzer – es nun schützen würde.

Dass er sehen musste, wie es am

6. Januar in die Hände von Rassisten

fiel, traf ihn tief.

Mehrfach, so erzählt es Dunn

heute, beschimpfen ihn Demonstranten

in jenen Stunden mit dem

N-Wort. »Noch nie hat mich jemand

so genannt, während ich eine Uniform

trug«, sagt Dunn. »Das zu erleben,

warf mich an einen dunklen

Ort.«

Es dauert etwa vier Stunden, bis

es der Polizei gelingt, die Randalierenden

aus dem Gebäude zu drängen:

Um 17.50 Uhr wird das Kapitol für

»sicher« erklärt. In den Minuten danach

setzt Dunn sich auf eine Bank

und wartet, bis sich das Adrenalin des

Tages verflüchtigt. Es macht der Erschöpfung

Platz – und der Traurigkeit.

Dunn kommen die Tränen, er

schluchzt, brüllt um sich, so erzählt

er es heute. »Ist das Amerika?«, habe

er geschrien. »Wie zur Hölle konnte

so etwas passieren?«

Dunn ist mit dieser Frage nicht allein:

Die halbe Welt blickt an diesem

Tag mit Schrecken auf die USA. Und

mit Erstaunen. Warum hat niemand

eine solche Menschenmasse vorhergesehen?

Wieso waren nur so wenige

Polizisten im Einsatz? Und wie ist es

möglich, dass ein wütender Mob, im

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

93


AUSLAND

mächtigsten Land der Welt, den Staat

überrennt?

Ein Jahr später sind die meisten

dieser Fragen noch immer nicht beantwortet.

Zwar hat das US-Repräsentantenhaus

einen Ausschuss eingesetzt,

der klären soll, warum es geschehen

konnte. Doch die Untersuchung

wird nur von einem Teil der

US-Politik getragen: Zwar setzt sich

neben den Demokraten auch die prominente

Republikanerin Liz Cheney,

Tochter des früheren US-Vizepräsidenten,

für umfassende Aufklärung

ein. Doch die meisten Republikaner

im Kongress lehnen den Untersuchungsausschuss

ab. Sie folgen damit

dem Willen der Menschen, die sie gewählt

haben: Ein Teil der amerikanischen

Gesellschaft verehrt Donald

Trump noch immer und glaubt, dass

Biden sich die Präsidentschaft ergaunert

habe. Für diese Menschen sind

die Aufständischen des 6. Januar

Helden.

Mehr als 700 Randalierer wurden

inzwischen angeklagt, die Vorwürfe

reichen vom illegalen Betreten des

Kapitols bis zu schwerer Körperverletzung.

Trotzdem tun viele Re publikaner

so, als wäre es kein Putschversuch

gewesen. Sondern ein

friedlicher Protest, der irgendwie missverstanden

wurde.

Für die Polizisten, die an jenem

Tag an vorderster Front kämpften,

fühlt es sich an wie Hohn. Manche

Beamte standen vielen Dutzend

Demonstranten allein gegenüber: Sie

wurden beschimpft, bedroht und körperlich

angegriffen. Nun will ein Teil

der Öffentlichkeit ihnen weismachen,

dass es diese Attacken nie gab.

Vier Beamte, die damals im Dienst

waren, haben sich seit dem 6. Januar

das Leben genommen – eine »außergewöhnlich

hohe Zahl«, wie John

Violanti, Professor an der State University

of New York at Buffalo, bestätigt.

Violanti forscht seit Jahrzehnten

zur psychischen Belastung von

Polizisten, eine solche Häufung an

Suiziden in so kurzer Zeit hat er selten

erlebt. Er erklärt sie mit der doppelten

Traumatisierung der Beamten.

»Einmal durch die Todesangst, die

sie erlebten. Und einmal durch die

mangelnde Unterstützung der Öffentlichkeit,

die sie jetzt erfahren.«

Harry Dunns Dienst geht am

6. Januar bis weit in die Nacht. Am

Morgen danach schiebt er wieder vor

dem Kapitol Wache. »Du kannst dir

als Polizist nicht einfach freinehmen«,

sagt er. »Wenn alle das tun, wer macht

dann die Arbeit?« Doch Dunn merkt,

wie der Angriff etwas in ihm zerbrochen

hat.

»Ich wurde

verletzt.

Ich brauche

Unterstützung.«

Harry Dunn

Polizist Dunn (l.) bei

Begehung des

Kapitols: Amerika

kann sich nicht

einmal einigen, ob

den Beamten

Dank gebührt oder

Verdammung

In den folgenden Tagen und Wochen

verliert Dunn den Glauben

an sein Land und die Lust am Leben.

Er sei kein Mensch mehr gewesen,

sagt er, sondern nur noch eine »leere,

depressive Hülle«. Schon einfache

Gespräche überfordern ihn, er

will Freunde und Familie nicht mehr

sehen. Dunn geht weiter zur Arbeit,

aber er ist dünnhäutig, gereizt. Auf

ein einfaches »Wie geht’s?«, so erzählt

er es, habe er mit einem wütenden

»Lass mich in Ruhe« geantwortet.

Vielen Kollegen scheint es ähnlich

zu gehen. Allein in der »Capitol

Police«, Dunns Einheit, quittieren

in den Monaten danach mehr als

130 Mitarbeiter ihren Dienst.

Nach den Anschlägen vom 11. September

2001 stellte sich eine ganze

Nation hinter die Polizisten und

Feuerwehrleute, die an jenem Tag im

Einsatz waren. Zwanzig Jahre später

kann sich Amerika nicht einmal darauf

einigen, ob der 6. Januar nun ein

Angriff auf die Demokratie war oder

eine friedvolle Demonstration. Ob

die Beamten, die das Kapitol beschützt

haben, dafür Dank verdienen.

Oder Verdammung.

Im Sommer 2021 wird Dunn gebeten,

vor dem Ausschuss auszusagen,

der die Ereignisse untersucht. Im

Zeugenstand erzählt er von der Menschenmenge,

die vor seinen Augen

anschwoll, und davon, wie er versuchte,

seine Kollegen aus der Masse

zu retten. Er berichtet von dem Rassismus,

der ihm entgegenschlug, und

von den dunklen Stunden, die er seitdem

durchlebt. Der Auftritt wird im

Fernsehen übertragen, einige Menschen

bedanken sich daraufhin bei

Dunn. Du bist ein Held, schreiben sie

auf Twitter, toll, dass du unser Land

beschützt.

Doch er bekommt auch Nachrichten,

die ihn noch tiefer ins Dunkel

ziehen. Trump-Anhänger nennen ihn

Alex Brandon / AP

einen »Lügner« und einen »Verräter«,

werfen Dunn vor, er habe seinen Eid

als Polizist gebrochen, weil er nicht

verhindert habe, dass Joe Biden Präsident

wurde. »Ich liebe mein Land«,

sagt Dunn. »Diese Dinge zu hören

hat mir wehgetan.«

Inzwischen helfe ihm ein Psychologe,

»anzuerkennen, dass es okay

ist zu sagen: Ich wurde verletzt. Ich

brauche Unterstützung.« Langsam,

sagt Dunn, werde er wieder »er

selbst«: Er trainiert im Fitnessstudio

und tobt mit seiner zehnjährigen

Tochter auf dem Spielplatz. Er

hat wieder begonnen, Whiskey zu

verkosten – ein Hobby von früher –,

und sich mit Freunden zum Essen zu

treffen.

Dunn versucht, nicht zu oft an das

Erlebte zu denken – aber es gelingt

ihm nicht. Die Kommission, die den

Angriff untersucht, fördert ständig

neue Erkenntnisse zutage. Zuletzt

kam heraus, dass Trumps Umfeld

früh Kontakt zu zentralen Demonstranten

pflegte und dass sein Sohn

versuchte, den Präsidenten dazu

zu bringen, den Sturm aufs Kapitol

zu stoppen. Der Stabschef von

Trump, Mark Meadows, hat dem

Ausschuss zwar Unterlagen übergeben,

weigerte sich aber, davor auszusagen,

weswegen ihm eine Anklage

droht.

Jede Enthüllung ist begleitet von

politischem Gezeter: Republikaner,

die sich weigern, die Kommission anzuerkennen;

Demokraten, die versuchen,

unkooperative Zeugen per

Gericht zur Aussage zu zwingen. »Oft

kann Aufklärung helfen, mit dem Erlebten

abzuschließen«, sagt der Polizei-Experte

John Violanti. »Aber so,

wie sie im Moment geschieht, verlängert

sie stattdessen das Trauma der

Polizisten.«

Doch auch ohne die Kommission

fiele es Harry Dunn schwer, den

6. Januar 2021 zu vergessen. Seit Monaten

häufen sich die Zeichen, dass

Donald Trump, der zum Angriff aufs

Kapitol aufrief, in die Politik zurückkehren

könnte: Berichten zufolge erwägt

Trump, sich für die Präsidentschaftswahl

im Jahr 2024 aufzustellen.

In vielen Teilen der USA ist er

noch immer so beliebt, dass er gewinnen

könnte. Trotz oder vielleicht sogar

wegen der Attacke auf Amerikas

Demokratie.

Harry Dunn hofft, irgendwann

wieder der Mensch zu sein, der er vor

dem 6. Januar war. Aber Amerika,

sagt er, werde nie mehr dasselbe Land

sein. »Ich verstehe nicht, was mit uns

passiert«, sagt Dunn. »Aber eines ist

sicher: Es ist noch nicht vorbei.« n

94 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


AUSLAND

Bulgarische Schwarzmeerküste: »Wir haben immer mehr Zulauf von Menschen, die nur noch wegwollen«

Zuflucht Corona Beach

BULGARIEN Deutsche Impfgegner haben sich in Urlaubskolonien

am Schwarzen Meer zurückgezogen: Dort ist das Leben

günstig, Pandemiemaßnahmen werden großzügig ausgelegt. Besuch

bei Menschen, die sich in ihrer Heimat verfolgt fühlen.

S

ie sind gekommen, um zu bleiben. Ihre

Autos mit Nummernschildern aus Ostfriesland,

Berlin, Bayern haben sie abgestellt

vor dem »Château Aheloy« an der

bulgarischen Schwarzmeerküste. Die Apartmentanlage

im Ort Aheloy gilt als Hochburg

deutschsprachiger »Querdenker« und Coronaskeptiker.

Hinter dem eisernen Eingangstor wacht

ein Sicherheitsmann. Wer angibt, hier heimisch

werden zu wollen, wird durchgelassen

zu Dirk Gelbrecht. Der Norddeutsche gründete

im Januar die Telegram-Gruppe »Deutsche

Auswanderer in Bulgarien«. Weniger als

ein Jahr später zählt sie mehr als 2500 Mitglieder.

Unter den Zugezogenen im Château hat

Gelbrecht das Sagen. Der kräftige Kerl in

schwarzem Kapuzenpulli zeigt zur Begrüßung

erst einmal eine heftige allergische

Reaktion. Unangekündigter Journalistenbesuch?

Kein Bedarf. »Für euch sind wir alle

nur Schwurb ler, Aluhüte«, schimpft Gelbrecht,

»ihr wollt uns in eine Ecke drängen,

an die Wand stellen.«

Stimmt es, dass hier Deutsche und Österreicher

landen, die vor den strengeren Maßnahmen

gegen die Pandemie in ihren Heimatländern

flüchten? »Wir sind eine private

Mehrgenerationen-Lebensgemeinschaft«,

erwidert Gelbrecht vage, »unter den Bewohnern

sind auch Armutsrentner wie meine Eltern.«

An die 60 Auswanderer lebten inzwischen

allein auf dem Château-Gelände,

bald sollen es 100 sein: »Wir haben immer

mehr Zulauf von Leuten, die nur noch wegwollen.«

Nimmt Gelbrecht selbst Corona ernst, ist

er geimpft? Schweigen. Ein Blick in die Telegram-Gruppe

liefert Antworten. Da beklagt

Gelbrecht den deutschen »C-19-Wahnsinn« –

»C« für Covid –, fordert die Auslieferung der

Verantwortlichen an den Internationalen Gerichtshof

und noch mehr: Das »verlogene und

heuchlerische politische & mediale System in

Deutschland muss zerstört werden«.

Bevor es so weit kommt, noch kurz eine

Frage: Bezeichnet der heimliche Chef im

Château sich als Querdenker? »Der Begriff

ist zweckentfremdet worden, wahre Querdenker

waren Albert Einstein oder Stephen

Hawking«, entgegnet Gelbrecht. Er selbst

sehe sich vor allem als Rettungsanker für Verzweifelte:

»Bei vielen Deutschen nimmt die

Angst zu, ohne Impfung ausgegrenzt zu

werden, am Leben nicht mehr teilhaben

zu können, die Kinder zwangsimpfen lassen

zu müssen.«

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit

organisiert sich die coronaskeptische

Auswandererszene im Nachrichtenkanal Telegram.

Parallel dazu bewegt sich ein beachtlicher

Tross in Richtung Bulgarien, ins Armenhaus

der EU. Objekte, bevorzugt an der

Schwarzmeerküste zwischen Burgas und

Warna, werden gekauft oder gemietet. Der

Traum: Leben in einem Land, in dem keine

»Kinnwindeln« oder »Filtertüten« über

Mund und Nase gestülpt werden müssen, in

dem Ungeimpfte in Restaurants bedient und

Kinder in »Freilernergruppen« an den Strand

geschickt werden können.

Unter den tatsächlichen und angehenden

Bulgarienflüchtlingen finden sich viele

Frauen. Da ist die Betreiberin eines »tierleidfreien«

Lebenshofs im Rheinischen, die

sich sorgt wegen der bulgarischen Einreisebedingungen

für Kühe, Schafe und Schweine.

Da sind selbst ernannte »Löwenmamas«, die

ihre Kinder in Bulgarien in Sicherheit bringen

wollen und zu diesem Zweck »Dörfer

der neuen Zeit« gründen. Vor allem aber

sind da Menschen mit exotischen Berufen:

von der »Online­ Geburtshüterin« bis zur

»Expertin für Tiefenentspannung«, vom

»Life-Crash-Coach« bis zur Fachfrau für

»Trauer-, Geburts- und Schwangerschaftsbegleitung«

ist viel deutsches Wissen im

Martina Katz / imageBROKER / picture alliance

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

95


AUSLAND

Angebot, das in Bulgarien noch

keiner braucht.

Temperaturen um die 20 Grad im

Schatten noch Anfang Dezember und

das günstigere Leben hier locken die

Neuankömmlinge. Durch Horrorstatistiken

sind sie schwer zu beirren.

Bulgarien verzeichnet mit mehr als

4000 Toten pro Million Einwohner

die höchste Corona-Sterberate aller

EU-Staaten. Fast jeder Zehnte im

Land war bereits infiziert. Die Impfquote

liegt trotz aller Mahnungen der

Regierung nur um die 30 Prozent. In

Aheloy, einem öden Nest, das zu

kommunistischer Zeit von Billigtourismus

lebte, sagt einer der Einheimischen:

»Aus historischer Erfahrung

misstrauen wir allem, was von der

Regierung kommt.«

Die Deutschen in ihrer mit Pool

und Tennisplätzen ausstaffierten

Trutzburg am Ortsrand finden die

Verweigerungshaltung der Bulgaren

erfrischend. Ines, eine ältere Dame

aus Berlin-Lichtenberg, hat es ungeimpft

über Warschau und Sofia nach

Aheloy geschafft. Ihre Ausreise schildert

sie wie die Flucht aus einer Diktatur:

»Ich hielt die Maßnahmen dort

nicht mehr aus.«

Nun bewohnt sie ein kleines

Apartment für monatlich 232 Euro,

geht dienstags um elf zum Brunch mit

anderen Deutschen ins Hotel »Provence«

und erfährt dabei Neues, aber

auch Unwahres aus der alten Heimat:

»In Deutschland sollen demnächst die

Straßen und Autobahnen gesperrt

werden, damit niemand mehr unbemerkt

von einem Bundesland ins andere

kommt«, behauptet sie erschüttert

– ehe sie aufbricht zum Spaziergang

ans Meer.

Die Mit-Auswanderin Ursulina hat

sich ihr Zielland unter dem Aspekt

ausgesucht, wo »man am ehesten

unter dem Radar bleiben kann – und

da biete sich ein Land mit so einer

geringen Bevölkerungsdichte und

eher ›faulen‹ Behörden« an, urteilt

sie. Allerdings: »Auch hier wird wie

überall der ›Great Reset‹ umgesetzt.«

Der Begriff »Great Reset« – großer

Neustart – geht auf eine Initiative des

Weltwirtschaftsforums im Juni 2020

zur Neuausrichtung des Kapitalismus

zurück. Inzwischen steht der Terminus

im Sprachgebrauch coronaskeptischer

Kreise für einen Verschwörungsmythos,

demzufolge globale

Finanzeliten mithilfe der Pandemie

eine neue, unternehmerfreundlichere

Weltordnung schaffen wollten.

Für Menschen wie Ursulina steckt

hinter allem ein großer Plan, folgerichtig

nennen sie die Pandemie auch

»Plandemie«. In wesentlicher Rolle

BULGARIEN

Warna

Aheloy

100 km

Schwarzes

Meer

S Karte: OpenStreetMap

Ferienanlage

Château Aheloy, Auszug

aus Telegram-

Gruppenchat:

»Für euch sind wir alle

nur Schwurbler«

Hristo Rusev / DER SPIEGEL

sehen sie dabei die Bill-and-Melinda-

Gates-Stiftung. Die befasst sich seit

Langem mit drohenden Pandemien

und beteiligte sich im Oktober 2019

an der Finanzierung einer Veranstaltung

des »Johns Hopkins Center for

Health Security« und des Weltwirtschaftsforums,

bei der eine »fiktive

Coronavirus-Pandemie« als Planspiel

durchdekliniert worden war.

»Ob hinter alldem eine globale

Agenda steht, weiß ich nicht, aber sicher

ist: Früher war das Leben in

Deutschland freier«, sagt Château-

Chef Gelbrecht, ehe er sich in einem

strandnahen Restaurant einen Kaffee

mit »maslo« bestellt, was die Kellnerin

mit diskretem Lächeln erwidert –

»maslo« heißt Butter, gemeint war

»mljako« (Milch). An seinem Bulgarisch

arbeitet Gelbrecht noch, so wie

an seinen Zukunftsplänen: Mit Stanko

Gyurov, dem Besitzer der Apartmentsiedlung,

plant er eine Ladenzeile,

einen weiteren Pool und einen

Biergarten für die Neuankömmlinge:

»Stanko kann sein Glück kaum fassen,

früher hatte er vier Monate Betrieb

zur Hochsaison, das war’s; jetzt

ist hier dank den Auswanderern ganzjährig

was los.«

Lockerer ist das Leben mit dem

Coronavirus in Bulgarien allemal.

Zwar müssen bei Lidl, wo Schwarzwälder

Schinken und Perlenbacher

Hefeweißbier vorrätig sind, mittlerweile

Masken getragen werden. Aber

in kleineren Läden und vielen Restaurants

werden die Vorschriften

großzügig ausgelegt, was deutsche

Expats als ein Stück wiedergewonnener

Freiheit feiern. »Abstände: zero;

Lockdown oder Ausgangssperre:

zero«, freut sich eine Rheinländerin

und vermeldet weitere erfreuliche

Neuigkeiten: In Sofia habe sie »glutenfreie

Bio-Cookies und vegane

Rohkostriegel« entdeckt.

Er finde das Verhalten der zugewanderten

Deutschen schwer verständlich,

sagt der junge Arzt Swetoslaw

Todorow im Universitätsklinikum

Burgas: »Das ist fast schon kriminell,

weil verantwortungslos nicht

nur gegenüber sich selbst, sondern

auch gegenüber anderen.« 108 Betten

auf drei mit lindgrünem Linoleum

ausgelegten Etagen sind allein in

To dorows Krankenhaus für Covid-

Kranke reserviert – hinzu kommen

die wirklich schweren Fälle auf der

Intensivstation im Seitenflügel des

Gebäudes. Kranke jeden Alters, halb

nackt in Windeln, hängen dort an den

Beatmungsgeräten.

Sähen sie das Elend der Schwerkranken,

wie würden sich die angehenden

deutschsprachigen Auswanderer

entscheiden? Männer wie Emanuel,

der sich in Aheloy bereits für

einen »Spottpreis« eingekauft hat

und es kaum erwarten kann, aus »Absurdistan«

(Deutschland) in Richtung

Balkan aufzubrechen? Frauen wie die

Lehrerin Nikola, die sich, frustriert

durch die Coronapolitik der Ex-Kanzlerin

– die sie »Frau Ferkel« nennt –,

nach neuen Ufern im Osten sehnt?

Und wie beurteilt all das einer, der

bis vor Kurzem noch unter den prominentesten

»Querdenkern« Österreichs

war und nun in Bulgarien lebt –

Armin Elbs?

Der kräftige Mann mit Kinnbart

und einem Mastertitel in Gesundheitswissenschaften

machte noch im

Sommer 2020 in Österreich und

Deutschland mobil gegen die Corona-

Schutzmaßnahmen in beiden Ländern.

Bei einem Auftritt im Wiener

Resselpark warf er der Regierung des

damaligen Kanzlers Sebastian Kurz

vor, den »Weg in einen illegalen Terror-

und Lagerstaat« beschritten zu

haben. Auch bei Kundgebungen in

Stuttgart und Ravensburg trat Elbs

auf und verkündete sein Engagement

für »Freiheit und Demokratie«.

Seit seiner Auswanderung nach

Bulgarien aber ist Elbs verstummt.

Mehrere Anfragen des SPIEGEL ließ

er unbeantwortet. Einem Bekannten

96 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Dicht an dicht stehen

Autos mit deutschen

Kennzeichen.

erzählte er, zuerst eine Auswanderung nach

Ecuador erwogen zu haben. Auf Bulgarien

sei die Wahl schließlich deshalb gefallen, weil

die dortige extrem niedrige Impfquote auf

eine aufmüpfige Bevölkerung schließen lasse.

Vom Château Aheloy ist Elbs angeblich

inzwischen ins Hinterland übersiedelt – dort

lebte auch sein österreichischer Landsmann

Gregor M. Der Unternehmer soll vor wenigen

Wochen verhaftet und in sein Heimatland

ausgeliefert worden sein. Unter dem Aktenzeichen

4St8/19z ermittelt die Wiener Wirtschafts-

und Korruptionsstaatsanwaltschaft

gegen M. und andere wegen »schweren Betruges«.

Es geht um mutmaßliche Zockerei

mit Kryptowährungen. Für M. gilt die Unschuldsvermutung.

Gleichfalls ins Bild passt da, dass nahe Aheloy

ein Deutscher lebt, der auf seiner Auswanderer-Website

das Leben in Bulgarien

samt »steueroptimierter Niederlassung« bewirbt

und behauptet: »Man kann hier problemlos

ne chicke Villa besitzen, seinen Porsche

fahren und sein überschaubares Business machen.«

Der ehemalige Theologiestudent bietet

ein Analysepaket zum Preis von 2499 Euro

an, samt einem »hammer« Fahrplan zum erfolgreichen

Geschäftsmodell, der es ermögliche,

»endlich Nägel mit Köpfen einzuschlagen«.

Viele Coronaskeptiker seien blauäugig und

kämen ohne ausreichende finanzielle Absicherung

in Bulgarien an, sagt im Château Dirk

Gelbrecht. Das mache sie anfällig für das Versprechen,

ohne viel Mühe »passives Einkommen«

erzielen zu können. 3000 Euro teure

Intensivlehrgänge zur Blockchaintechnologie

mit »No-Bullshit-Ansatz« werden in Auswanderergruppen

beworben.

Zwei Autostunden nördlich vom Château

Aheloy, am Rand der Hafenstadt Warna, ist

eine zweite Bastion deutschsprachiger Auswanderer

entstanden: Vor der Strandresidenz

»South Bay« stehen Wagen mit deutschen

Kennzeichen dicht an dicht. 16 Aufgänge, jeweils

10 Stockwerke, im Innenhof ein gewaltiger

Swimmingpool. Jetzt, im Winter, ist es

in der Siedlung still.

Betrieb rund um die Uhr herrscht nur in

den sozialen Netzwerken, in denen sich die

Zugewanderten austauschen. Im Zentrum der

in Warna entstandenen Gemeinde steht Leni,

nach eigenen Angaben eine türkischstämmige

Bulgarin mit langjähriger Erfahrung als

Grundschullehrerin in Potsdam. Sie ist der

Leitstern für all jene, die sich im fremden

Land erst einmal zurechtfinden müssen.

Leni antwortet nur schriftlich, ein Treffen

lehnt sie ab. Sie will nichts zu tun haben mit

Journalisten, die in ihren Augen »als Heinzelmännchen

daran mitwirken«, dass Millionen

AUSLAND

Menschen hinters Licht geführt würden wie

dumme Schafe, weil sie ihren »Medien blind

glauben« – Opfer perfekter Gehirnwäsche,

die »nicht mehr unterscheiden können zwischen

eigenen und fremden Gedanken«. Aus

Leni spricht Bedauern, wenn sie an geimpfte

Deutsche denkt: »Den Maschendrahtzaun,

der durch ihre Köpfe geht, spüren sie nicht,

solange sie noch eine und noch eine Testspritze

in die Blutbahn bekommen.«

Die Frau aus der »South Bay« unterrichtet

Auswandererkinder am Strand, sofern das

Wetter es erlaubt: Lesen, Schreiben, Rechnen

mit Stöckchen im Sand, später steht Häkeln

oder Brotbacken auf dem Programm. In

Deutschland verbliebenen Unentschlossenen

ruft Leni zu: »Wie haltet ihr es dort aus und

vor allem warum?? In Kriegszeiten sind die

Menschen immer geflüchtet. Bringt die Kinder

in Sicherheit!« In Bulgarien lebe man,

»ohne von Blockwarten ermahnt zu werden

oder stolze Geimpfte zu treffen«.

Natürlich hat das Leben am Schwarzen

Meer auch Nachteile. Der eine vermisst »echte

Weihnachtsbäume in Warna«, die andere

Zitronat und süße gehackte Mandeln für ihren

Christstollen. Und wenn Mario Baumgarten

in seinem Gasthaus oberhalb von Warna

unter dem Motto »Futtern wie bei Muttern«

»Königsberger Klopse« oder »Bouletten mit

Zigeunersauce« anbietet, dann muss er das

Ganze mit dem Hinweis »garantiert kontrollfrei«

als Privatveranstaltung ankündigen – in

Bulgarien gilt offiziell, dass Ungeimpfte daheim

speisen sollten.

Die Deutschsprachigen aber wissen sich

zu helfen. Die eine vermittelt einen impfkritischen

Arzt, der andere kennt eine Pizzeria,

in der die Kellner ungeimpfte Gäste rechtzeitig

vor Polizeikontrollen warnen. Eine

Dritte empfiehlt »Restaurants, Bars, Thermen,

Saunen«, die noch immer allen offen

stehen. Warum? Weil sie »zu diversen mafiotischen

Strukturen beziehungsweise Politikern

gehören, die sich ihr Business nicht kaputt

machen lassen wollen«.

»Alles in allem läuft das sicher lockerer ab

hier bei uns in Bulgarien, kaum ein Greenpass

wird gescannt«, räumt Nedyalko Nedelchev

ein, Honorarkonsul der Bundesrepublik

Deutschland in seinem Büro in der Hafenstadt

Warna: »Aber davon, dass es hier so viele

Deutsche gibt, die wegen Corona fliehen, höre

ich zum ersten Mal – zu mir kommen die vermutlich

erst, wenn etwas passiert ist.«

Bislang bleiben die Bulgarien-Auswanderer

weitestgehend unter dem Radar. Sollte

allerdings die eben erst vereidigte Regierung

in Sofia die Maßnahmen im Kampf gegen Corona

verschärfen, dann könnte die Stimmung

am Schwarzen Meer schnell kippen. Schon

die Bilanz des Jahres 2020 erzählt von etlichen

gescheiterten Versuchen, Fuß zu fassen

in der Fremde. Die Zahl der Auswanderer

nach Bulgarien lag trotzdem noch um rund

die Hälfte höher als jene der reumütigen

Rückkehrer.

Walter Mayr

n

Das

Drama-Jahr

Kanzlerwechsel, Klimawandel

und Coronakrise –

was die Welt 2021

bewegt hat.

Eine Sonderausgabe zu

den großen Ereignissen

dieses Jahres.

Jetzt

im Handel

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

97


AUSLAND

Der falsche Krieg

UKRAINE Während Russland Streitkräfte nahe den Grenzen zusammenzieht und

der Westen eine Invasion fürchtet, kämpft Präsident Wolodymyr Selenskyj in

Kiew mit den Oligarchen. Nimmt er die viel größere Bedrohung gar nicht ernst?

N

eulich hat der ukrainische Präsident

Wolodymyr Selenskyj

wieder mal das getan, was er

am besten kann: Der ehemalige TV-

Comedian hat im Fernsehen gute

Stimmung verbreitet. Es war für eine

Weihnachtsansprache, im Video sah

man ihn vor einem Weihnachtsmarkt,

den er am Präsidentensitz hat aufbauen

lassen. Zu hören gab es Kinderlachen,

Festmelodien und warme

Worte über das »unglaubliche Gefühl

der Einheit«, das man doch bitte über

die Feiertage hinaus bewahren solle.

Der Auftritt steht im Kontrast zur

bedrohlichen Lage, in der sich die

Ukra ine diesen Winter befindet. Russlands

Präsident Wladimir Putin hat

im Norden, Osten und Süden der Ukraine

rund 100000 Soldaten und

schwere Waffen zusammengezogen,

Moskaus Diplomaten stoßen Warnungen

gegen Kiew aus, im russischen

TV wird über die Zerschlagung der

ukrainischen Armee spekuliert. Putin

spricht von einem angeblichen »Genozid«

an der russischsprachigen Bevölkerung

in der Ostukraine. EU und

USA sind alarmiert.

Zu alledem hat Selenskyj in seiner

Ansprache nicht einmal andeutungsweise

etwas gesagt. Es wirkt, als sähen

dieser Mann und mit ihm weite

Teile der politischen Elite keine ernste

Kriegsgefahr. Sie sind mit innenpolitischen

Kriegen beschäftigt.

Kira Rudyk, 36, gehört zu denen,

die darüber besonders unglücklich

sind. Die Parlamentsabgeordnete

sitzt im Hauptquartier der kleinen

Partei »Golos«, die sie führt. Neben

der Parteifahne hängen die Flaggen

der Ukraine, der EU und der Nato.

Die Partei ist liberal und prowestlich,

gegründet hat sie der bekannteste

Rockmusiker des Landes.

Wie kommt es, so fragt sich Rudyk,

dass die US-Botschaft bereits vor Reisen

in die Ukraine warnt, der eigene

Präsident aber beharrlich zur Kriegsgefahr

schweigt? »Selenskyj ist nie

aufgetreten und hat gesagt: Bürger

der Ukraine, wir halten diese Bedro-

Manche

vergleichen das

Vorgehen des

Präsidenten

mit dem des

jungen Putin.

Politiker Selenskyj

ITAR-TASS / IMAGO

hung für übertrieben. Oder: Bürger

der Ukraine, wir halten sie nicht für

übertrieben, und deshalb machen wir

jetzt Folgendes.« Er habe noch nicht

mal mit dem Parlament oder den

Fraktionschefs darüber geredet. Er

hat in ihren Augen einen historischen

Moment verpasst, die Gesellschaft zu

einen oder zumindest den Menschen

ihre Anspannung zu nehmen.

Nun leben die Ukrainer seit Langem

in Anspannung. Der Krieg im

Donbass dauert faktisch siebeneinhalb

Jahre, trotz Waffenstillstand

sterben regelmäßig Soldaten an der

Front. Und schon im Frühjahr gab es

einen russischen Truppenaufmarsch

an der Grenze.

Im November war Rudyk in Washington,

dort sprachen alle bereits

von neuen Truppenbewegungen auf

der russischen Seite. Sie war verblüfft,

sie hörte das zum ersten Mal.

»Es dauerte zweieinhalb Wochen, bis

auch die Kiewer Führung davon

sprach. Das war ein Alarmzeichen für

mich – wie konnte die Lage so unterschiedlich

eingeschätzt werden?«

Mittlerweile fallen die Einschätzungen

zusammen, zumindest was

die Daten und Fakten angeht. Wadym

Skibizky, Vertreter des ukrainischen

Militärgeheimdiensts, hat zum Gespräch

mit dem SPIEGEL eine Karte

mitgebracht. Er versucht, die vielen

Truppenbewegungen zu erklären, die

Russland in diesem Jahr in Grenznähe

einschließlich der annektierten

Krim vollzogen hat. Er zählt derzeit

51 »taktische Bataillonsgruppen«,

also für Gefechte zusammengestellte

Einheiten, und 102 000 Mitglieder

der Landstreitkräfte. Aber er betont:

Seit 2015 habe Russland kontinuierlich

neue Streitkräfte in der Nähe zur

Ukraine aufgebaut, Flugplätze modernisiert,

die Mobilität erhöht. »Wir

reden nicht von einer neuen Bedrohung,

sondern von einem neuen

Niveau der Bedrohung.«

Unter einem Vorwand könne Russland

diese Truppen jederzeit einsetzen

– nicht um die ganze Ukraine zu

besetzen, sondern um die von Moskau

kontrollierten Gebiete auszuweiten.

»Was wir fürchten, ist eine

Provokation.«

Es scheint, dass Kiew erst aus US-

Quellen das Ausmaß der russischen

Truppenbewegungen erfahren hatte.

Das an sich sei nicht erstaunlich, sagt

Olexander Danyljuk, ehemaliger Sekretär

des Nationalen Sicherheitsrats

unter Selenskyj. »Unsere Möglichkeiten

sind begrenzt.«

Laut einer Umfrage von Mitte Dezember

halten knapp 50 Prozent der

Ukrainer die Gefahr eines russischen

Einmarschs für real. Ihr Präsident

scheint zur anderen Hälfte zu gehören.

»Selenskyj glaubt nicht wirklich

an eine Bedrohung aus Russland«,

sagt Danyljuk. Das erkläre, warum er

ausgerechnet während des russischen

Truppenaufmarschs den Konflikt mit

mächtigen Gegnern im eigenen Land

vorantreibe. Tatsächlich scheint Selenskyj

gerade seinen eigenen, internen

Krieg zu führen.

Ende November griff er Rinat Achmetow

an, den reichsten Ukrainer.

Dem Oligarchen gehören Kohlegruben,

Stahlwerke, Finanzinstitute, zwei

beliebte Fernsehkanäle und der erfolgreichste

Fußballklub des Landes.

In einem Interview ließ Selenskyj

ganz nebenbei die Bemerkung fallen,

am 1. Dezember sei in der Ukraine ein

Staatsstreich prorussischer Kräfte geplant.

Diese versuchten, Achmetow –

womöglich ohne dessen Wissen – zu

involvieren. Belege für Selenskyjs

kühne These gab es nicht, der Staatsstreich

fand nicht statt.

Rudyk, die liberale Politikerin, war

entsetzt. »Es war das Unbesonnenste,

was er in zweieinhalb Jahren im Amt

gesagt hat. Wie können wir von anderen

Ländern Waffen und Geld verlangen,

wenn unser Präsident behauptet,

es sei ein Staatsstreich im Gange?«

»Warum ausgerechnet jetzt so ein

Konflikt, wo der Feind vor den Toren

steht?«, fragt der Militärexperte Danyljuk.

Mitte Dezember knöpfte sich Selenskyj

seinen Vorgänger und politischen

Konkurrenten Petro Poroschenko

vor. Ukrainische Ermittler

passten ihn vor dem Parlamentsgebäude

ab, um ihm eine Vorladung in

einem neuen Strafverfahren in die

Hand zu drücken. Der Milliardär und

Parlamentsabgeordnete Poroschenko

stieg hastig in seine Limousine, rief

dem Fahrer »Fahr los« und einen saftigen

russischen Fluch zu, dann brausten

sie mit offenen Türen davon.

Der Verdacht gegen den Oligarchen

Poroschenko lautet offiziell auf

Landesverrat und Finanzierung von

98 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


AUSLAND

Yuri Kochetkov / epa

Ukrainische Reservisten bei Übung nahe Kiew: »Warum ausgerechnet jetzt so ein Konflikt, wo der Feind vor den Toren steht?«

Terrorismus. Faktisch geht es um den Kauf

von Kohle aus Separatistengebieten im Donbass.

Poroschenko, der alle Vorwürfe abstreitet,

befindet sich im Ausland – und behauptet,

ihm sei aus dem Präsidentenamt signalisiert

worden, er solle besser dortbleiben.

Selenskyj hatte schon im Wahlkampf 2019

gegen Poroschenko verkündet, er werde den

Amtsinhaber wegen Korruption hinter Gitter

bringen, das gehörte zu seinem populistischen

Wahlprogramm. Dennoch wirkt der Zeitpunkt

des jüngsten Angriffs merkwürdig – als

scherte sich Selenskyj kein bisschen um die

Gefahren jenseits der Grenzen.

Was treibt ihn aber dann an? Selenskyj

selbst spricht von der »De-Oligarchisierung«,

also dem Kampf gegen den politischen Einfluss

weniger Reicher. Ein neues Gesetz definiert

erstmals, wer als Oligarch gilt (Kriterien

sind Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Medien),

und sieht deren Eintragung in eine Art

Lobbyregister vor. Und Selenskyj hat neue

Instrumente entdeckt, die er gegen die Oligarchen

einsetzen kann – Sanktionen des

Nationalen Sicherheitsrats.

Manche vergleichen Selenskyjs autoritäres

Vorgehen schon mit dem des jungen Putin,

der ebenfalls Oligarchen zähmte, um seine

Macht auszubauen. Ihn imitiere Selenskyj,

behauptete dessen ehemaliger Stabschef Andrij

Bohdan. Allerdings handle es sich bloß

um eine »missglückte Parodie«.

Es gibt einen einfachen Grund dafür, dass

der Kampf gegen die Oligarchen für Selenskyj

derzeit Vorrang hat: Die Oligarchen kontrollieren

die wichtigsten TV-Kanäle der Ukraine,

und ohne das Fernsehen kann man sich als

Politiker nicht halten. Niemand weiß das besser

als Selenskyj, der aus der Welt der TV-

Unterhaltung in die Politik gekommen ist und

um sein Rating fürchtet, während ehemalige

Mitstreiter in Talkshows über ihn herziehen.

Auch Danyljuk kritisiert die Art, wie Selenskyj

sich mit den Oligarchen anlegt. Statt

das System bekämpfe der Präsident einzelne

Superreiche. Er agiere planlos und unvorhersehbar.

»Die Oligarchen bekämpfen ihn, weil

sie in ihm einen irrationalen chaotischen Jugendlichen

sehen, von dem man nicht weiß,

welchen Knopf er als nächsten drückt.«

Mitten in einer militärischen Bedrohungslage

befindet sich die Ukraine sozusagen im

Krieg mit sich selbst, kämpft der mächtigste

Politiker des Landes gegen den mächtigsten

Wirtschaftsboss und weitere Oligarchen.

Aber es gibt noch einen Grund, warum es

Selenskyj schwerfällt, sich zur Bedrohung aus

Russland zu äußern. Putin bedroht zwar Kiew,

aber er zielt auf den Westen. Moskau will mit

Washington über die Köpfe der Ukra iner hinweg

entscheiden, was mit der Ukraine geschieht.

Das Land und sein Präsident sind

nicht Subjekt, sondern Objekt. Es sei »eine

Ohrfeige« für Selenskyj gewesen, sagt Rudyk,

dass US-Präsident Joe Biden ihn erst zwei

Tage nach dem wichtigen Videogipfel mit Putin

Anfang Dezember angerufen habe, um ihn

über den Inhalt des Gesprächs zu informieren.

Am 10. Januar ist das nächste Gespräch

zwischen Biden und Putin geplant, womöglich

wieder in Genf, und gleich darauf ein

Treffen des Nato-Russland-Rates. Es wird um

die von Putin geforderten Sicherheitsgarantien

gehen. Moskau will unrealistisch viel:

den expliziten Ausschluss eines Nato-Beitritts

der Ukraine sowie ein Ende jedweder Militärkooperation

mit dem Land. Putin wünscht

sich die Ukraine sozusagen als neutralen Pufferstaat

– als hätte er nicht selbst mit der

Krim-Annexion 2014 die Mehrheit der Ukrainer

in die Arme des Westens gestoßen. Einer

Umfrage von Mitte Dezember zufolge sind

mittlerweile fast 60 Prozent der Ukrainer für

einen Nato-Beitritt.

Der von Moskau angestrebte große Deal

mit Washington ist höchst unwahrscheinlich.

Gerade erst hat der US-Senat Militärhilfe an

die Ukraine in Höhe von 300 Millionen Dollar

für das kommende Jahr gebilligt – dafür

bekäme man theoretisch rund 20 Panzer vom

Typ »Leopard 2«. Umgekehrt erwägt Russland

die Stationierung von Atomwaffen in Belarus,

einem direkten Nachbarstaat der EU und der

Nato. Dessen Diktator Alexander Lukaschenko

will offenbar einen Passus aus der Verfassung

entfernen, der sie verhindern könnte.

In der Ukraine fühlen sich derzeit viele wie

Spielfiguren in einem fremden Spiel. In Kiew

immerhin entwirft Bürgermeister Vitali

Klitschko schon Notfallpläne, es werden Luftschutzbunker

ausfindig gemacht und ein Stab

für die Territorialverteidigungskräfte eingerichtet,

eine Freiwilligentruppe. Vermutlich

werden die Bunker nicht gebraucht, aber es

ist immerhin ein Versuch, vom Objekt wieder

zum Subjekt zu werden. Und auch das westliche

Ausland soll sehen können, dass die

Ukrainer selbst etwas unternehmen, sagt Rudyk.

»Derzeit sitzen wir nämlich bloß da wie

ein Schüler, der mit seiner Mutter zum Schuldirektor

gerufen wurde und der schweigend

zuhört, wie die darüber reden, warum er seine

Hausarbeiten nicht gemacht hat.«

Christian Esch

n

Sergey Dolzhenko / epa

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

99


AUSLAND

»London hat viel

Vertrauen zerstört«

EU Europas Chefunterhändler muss sich mit zwei schwierigen

Partnern herumschlagen: den Briten und den Schweizern.

Maroš Šefčovič über Regierungen, die nicht wollen, wie Brüssel will.

Das Brexitdrama ist auch ein Jahr nach dem

offiziellen Austritt Großbritanniens am 31. Januar

2020 lange nicht vorbei. Seit Monaten

streiten London und Brüssel über die Umsetzung

des Austrittsabkommens. Es geht dabei

vor allem um das Nordirland-Protokoll: Es soll

eine neue harte Grenze mit Zollkontrollen auf

der irischen Insel verhindern, indem das (zum

Königreich gehörende) Nordirland im EU-Binnenmarkt

verbleibt. Der Slowake Šefčovič, 55,

Vizepräsident der EU-Kommission, ist Nachfolger

des Franzosen Michel Barnier als Chefunterhändler

der EU – und damit Erbe eines

der schwierigsten Jobs in Brüssel. Er ist auch

zuständig für die komplizierten Verhandlungen

mit der Schweiz über ein Rahmenabkommen.

SPIEGEL: Herr Vizepräsident, Sie verhandeln

jetzt seit Monaten mit der britischen Regierung

über die Umsetzung des Brexitabkommens

– das sie erst vor einem Jahr unterzeichnet

hat. Haben Sie den Eindruck, dass Premier

Boris Johnson den Vertrag überhaupt

erfüllen will?

Šefčovič: Meine Aufgabe ist es, eine Lösung

zu finden. Aber das ist leider nicht einfach.

Die britische Regierung hat das Nordirland-

Protokoll …

SPIEGEL: … das den britischen Landesteil

praktisch im EU-Binnenmarkt belässt …

Šefčovič: … infrage gestellt, kaum dass sie es

unterzeichnet hatte. Sie hat sogar internationales

Recht gebrochen, um das Protokoll umgehen

zu können. Damit hat London viel

Vertrauen zerstört, das wir erst einmal wiederherstellen

müssen. Aber ich glaube, dass

wir einen Kompromiss finden können. Die

EU und das Vereinigte Königreich sind strategische

Partner – und sollten auch so miteinander

umgehen.

SPIEGEL: Durch das Nordirland-Protokoll gibt

es jetzt Zollkontrollen zwischen Großbritannien

und Nordirland, also innerhalb des Vereinigten

Königreichs – ein Albtraum für Londoner

Konservative, zuletzt gab es auch Probleme

bei der Medikamentenversorgung

Nordirlands. Der inzwischen zurückgetretene

britische Chefunterhändler Lord Frost hat

sich immerhin bereit gezeigt, Ihre Verbesserungsvorschläge

»wohlwollend« zu prüfen.

Šefčovič: Das war für seine Verhältnisse fast

schon großzügig (lacht). Besonders, weil wir

mit seinem Team sechs Monate lang an diesen

Vorschlägen gearbeitet haben.

SPIEGEL: Der als ruppig geltende Frost ist weg,

Ihre neue Gesprächspartnerin ist Außenministerin

Liz Truss – die beim Brexitreferendum

für den Verbleib in der EU gestimmt

hat. Erwarten Sie eine Verbesserung der Atmosphäre?

Šefčovič: Da bin ich pragmatisch. Mir ist eine

erfolgreiche gemeinsame Lösung mit unseren

britischen Partnern wichtiger als eine tolle

Atmosphäre.

SPIEGEL: Die britische Regierung fordert vor

allem einen weitgehenden Abbau der Warenkontrollen

zwischen Großbritannien und

Nordirland – und droht immer wieder, Artikel

16 des Nordirland-Abkommens zu aktivieren

und es damit einseitig aufzukündigen, sollten

ihre Forderungen nicht erfüllt werden.

Šefčovič: Diese Drohungen sind ein enorm

störendes Element in den Verhandlungen.

Da versucht man, gemeinsam etwas zu erreichen,

und – bumm! – schon kommt wieder

die Drohung mit Artikel 16. Das geht an den

Kern unserer Beziehung. Das Nord irland-

Protokoll war der komplizierteste Teil der

Brexitverhandlungen und ist das Fun dament

des gesamten Vertragswerks. Ohne das Protokoll

bricht das System zusammen. Das müssen

wir um jeden Preis verhindern.

EU-Verhandlungsführer Šefčovič

Julien Warnand / epa

SPIEGEL: Was wäre, wenn die britische Regierung

die Artikel-16-Drohung trotzdem

wahr macht?

Šefčovič: Das hätte zunächst ernste Konsequenzen

für Nordirland. In keiner Region

Großbritanniens entwickelt sich die Wirtschaft

derzeit so gut wie dort. All das würde

gefährdet, wenn Nordirland den Zugang zum

Binnenmarkt der EU verlieren würde. Und

die Folgen für den zerbrechlichen Frieden auf

der irischen Insel will ich mir gar nicht erst

ausmalen. Für die Beziehungen zwischen

der EU und London hätte das alles ernste

Konsequenzen.

SPIEGEL: Was genau bedeutet das?

Šefčovič: Das lässt sich im Detail schwer vorhersagen.

Aber wenn die britische Regierung

diesen Weg ginge, wäre das ein enormer

Rückschlag für unsere Beziehungen – dabei

haben wir so viel politisches und diplomatisches

Wohlwollen investiert, um einen geordneten

Brexit zu ermöglichen und eine einzigartige

Lösung für Nordirland zu finden.

SPIEGEL: Ernst wird es womöglich schon jetzt

am 1. Januar, wenn in Großbritannien die

meisten Übergangsfristen für Importe aus der

EU enden. Laut britischen Studien sind mehr

als ein Drittel der Unternehmen des Landes

nicht darauf vorbereitet. Droht nach leeren

Supermarktregalen und langen Schlangen an

Tankstellen neues Chaos?

Šefčovič: Schwer zu sagen. Für die Kontrolle

der britischen Grenzen ist die britische Regierung

verantwortlich. Immerhin gab es in

Nordirland – anders als im restlichen Vereinigten

Königreich – bisher keine Engpässe

in der Versorgung der Supermärkte oder der

Tankstellen. Das zeigt, dass das Nordirland-

Protokoll den Menschen dort nützt: Es gibt

ihnen Zugang sowohl zum Binnenmarkt der

EU als auch zu dem von Großbritannien.

SPIEGEL: Neulich hat das britische Amt für

verantwortliche Haushaltsführung berechnet,

dass der Brexit für das Vereinigte Königreich

doppelt so teuer wird wie die Coronapandemie.

Wollen Sie manchmal über den Kanal

rufen: »Wir haben es euch ja gesagt!«?

Šefčovič: Schadenfreude ist nicht hilfreich,

wenn man mit einem wichtigen Nachbarn

eine strategische Partnerschaft aufbauen will.

Sicher spüre ich manchmal Bedauern, wenn

ich mir vorstelle, wie viel Zeit unsere besten

Beamten damit verbracht haben, einen chaotischen

Brexit zu verhindern, und was wir

stattdessen mit dieser Energie hätten schaffen

können. Aber wir müssen nach vorn schauen.

Demokratien sollten zusammenhalten und

gemeinsam für Klimaschutz, fairen und freien

Handel und Frieden arbeiten. Mit der britischen

Regierung aber reden wir immer noch

über Zollkontrollen und andere Dinge, von

denen wir glaubten, dass sie mit der Einigung

auf das Nordirland-Protokoll im Dezember

2020 erledigt seien.

SPIEGEL: Gibt es aus Ihrer Sicht denn gar keine

Probleme mit dem Nordirland-Protokoll?

Šefčovič: Doch, natürlich gibt es die. Aber

insgesamt sind wir auf einem guten Weg.

100 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


AUSLAND

Die Queen’s University in Belfast

führt regelmäßig eine Umfrage durch,

bei der Ende Oktober erstmals eine

Mehrheit fand, dass das Nordirland-

Protokoll eine gute Sache ist. Das

größte Problem war bisher die medizinische

Versorgung, das sollten wir

jetzt gelöst haben. Es gibt Probleme

bei Handels- und Zollfragen, die wir

demnächst angehen werden. Aber

dafür brauchen wir eine britische

Regierung, die zur Zusammenarbeit

bereit ist.

SPIEGEL: Aus London kam zuletzt der

Vorwurf, die EU mache es britischen

Firmen schwerer, Nordirland zu beliefern

– und man könne mit Brüssel

nicht konstruktiv darüber reden.

Šefčovič: Wir haben das Gefühl, dass

wir diejenigen sind, die Lösungen auf

den Tisch legen. Wenn wir dann eine

Woche später an den Verhandlungstisch

zurückkehren, liegen dort jedes

Mal neue Probleme. Immerhin war

es die britische Regierung, die den

EU-Binnenmarkt verlassen und wieder

eigene Regeln erlassen wollte. Die

simple Wahrheit ist: Je weiter sich

unsere Regeln voneinander entfernen,

desto komplizierter wird der

Handel. Und wenn eine so große

Wirtschaft wie die britische den freien

Zugang zu unserem Binnenmarkt

will, müssen wir darauf achten, dass

unsere Standards – etwa im Umweltoder

Verbraucherschutz – eingehalten

werden und der Wettbewerb zwischen

britischen und EU-Unternehmen

fair bleibt.

SPIEGEL: Sie sind auch für die Verhandlungen

Aktivisten bei

werden. Nehmen Sie Medizinprodukte:

Sie müssen zertifiziert werden,

um in der EU verkauft zu werden.

Ohne die entsprechenden Verträge

wird das nicht gehen. Es gibt viele

andere Beispiele dieser Art. Aber vor

den Einzelfragen müssen wir erst

einmal die Grundlagen klären.

SPIEGEL: Die wären?

Šefčovič: Erstens, dass die Schweiz

sich an die Regeln des EU-Binnenmarkts

hält, wenn sie dort handeln

will. Das heißt, sie muss ihre Normen

dynamisch an den Binnenmarkt anpassen

– so wie es alle anderen Mitglieder

des Binnenmarkts übrigens

auch tun. Zweitens gibt es starke

Schweizer Unternehmen, die auf dem

gesamten Binnenmarkt operieren und

in ihrer Heimat Steuererleichterungen

bekommen. Auch hier müssen wir

gleiche Wettbewerbsbedingungen haben.

Drittens wäre ein regelmäßiger

Rhythmus der Schweizer Beiträge zum

EU-Haushalt gut. Die letzte Überweisung

aus Bern datiert von 2012. Viertens,

ganz wichtig, brauchen wir einen

Streitschlichtungsmechanismus.

SPIEGEL: Und Sie glauben, dass die

Schweiz zu alldem bereit wäre?

mit einem weiteren Demonstration gegen Šefčovič: Zuerst einmal brauchten wir

Zollgrenze zwischen

schwierigen Partner verantwortlich:

ein politisches Bekenntnis der Schweizer

Regierung, dass sie überhaupt

Irland und Nordirland

der Schweiz. Sie hat vergangenes Jahr

ein fertig ausgehandeltes Abkommen

zurückgewiesen, das die in vielen

Einzelverträgen festgehaltenen, sehr

engen Beziehungen zur EU unter ein

Dach stellen sollte. Wie lange hält

Ihre Geduld mit Bern noch vor?

Šefčovič: Wir haben mit der Schweiz

sieben Jahre lang über diese Abkommen

verhandelt. Ein EU-Kommissionspräsident

und eine -präsidentin

haben mit vier Schweizer Bundespräsidenten

insgesamt 26 Gipfeltreffen

abgehalten. Und in der vermeintlich

entscheidenden Sitzung – von der wir

hofften, dass wir dort nur noch eine

Schleife um das Paket binden würden

– eröffnet uns die Schweiz, dass

sie die Gespräche abbricht.

SPIEGEL: Was nun?

Šefčovič: Wir müssen von der Schweiz

dringend wissen, ob sie ernsthaft mit

uns verhandeln will – so wie wir es

sieben Jahre lang getan haben. Die

Schweizer Regierung ist jetzt am Zug.

SPIEGEL: Sie erwarten von der

Schweiz, dass sie bis Mitte Januar

sagt, was sie will, und dass sie einen

Zeitplan vorlegt. Fürchten Sie, dass

ernsthaft über diese Themen mit uns

reden will – so wie das in der Vergangenheit

war. Ist das weiter der Fall,

sollten wir Zeit, Energie und Kreativität

einsetzen, um die bestehenden

Probleme zu lösen. Außerdem wäre

ein klarer Zeitplan notwendig, eine

Roadmap. Wir müssen wissen, wann

wir worüber reden wollen – damit

klar ist, dass die Diskussion nicht noch

20 oder 30 Jahre dauert.

SPIEGEL: Die EU hat die Schweiz für

die langsamen Verhandlungen mit

dem Ausschluss aus dem Forschungsprogramm

Horizon bestraft, zudem

verweigert sie ihr den Zugang zu den

EU-Finanzmärkten. Können Sie sich

noch mehr Maßnahmen vorstellen?

Šefčovič: Wir haben keine negativen

Maßnahmen gegenüber der Schweiz

ergriffen und würden das auch nicht

tun. Schweizer Forschungseinrichtungen

und Unternehmen können auch

weiterhin an unserem EU-Forschungsprogramm

teilnehmen, aber sie bekommen

momentan keine EU-Fördergelder.

Und mit der Zeit würden automatisch

immer mehr bilaterale Verträge

auslaufen und unsere Beziehung

die Schweiz auf Basis der bestehenden

Verträge noch lange auf Zeit

irgendwann obsolet machen. Das

»Das Verhältnis

spielt?

der EU mit wäre weder für die Schweiz noch für

Šefčovič: Das Verhältnis der EU mit der Schweiz uns gut. Deshalb hoffen wir auch hier,

der Schweiz droht zu zerfallen, wenn

dass wir gemeinsam eine Lösung

die bilateralen Verträge nach und

droht zu

finden können.

nach auslaufen und nicht erneuert Interview: Markus Becker n

zerfallen.«

Charles McQuillan / Getty Images

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

101


Sport

Die Geschichten hinter den Geschichten –

der besondere Rückblick

Nie mehr »Promi Big Brother«

NR. 31/2021 »›Ich muss durch die Hölle gehen‹« – Wie Ringer Frank Stäbler auf dem Weg nach Tokio gelitten hat

und nach Olympia ungeahnte Möglichkeiten bekam, hat der Redakteur Thilo Neumann verfolgt.

E

inige Wochen habe er nach dem Gewinn

der olympischen Bronzemedaille

in Tokio ausgehalten, sagt Frank

Stäbler kurz vor Weihnachten, dann aber

sei er »in ein brutales Loch gefallen«. Der

Rummel um seine Person sei ihm zu viel geworden:

»Ich habe nur noch funktioniert.«

Stäbler tanzte auf Partys, saß in Fernsehshows,

redete auf Empfängen – allein in

den ersten 60 Tagen nach Olympia habe er

55 Termine gehabt, zählt der Ringer auf.

Immer wieder sollte er erzählen: Wie hat er

das bloß geschafft?

Stäbler, 32, aus Leinfelden-Echterdingen,

hat sich in Japan seinen sportlichen Lebenstraum

erfüllt: eine olympische Medaille, im

letzten internationalen Wettkampf seiner

Karriere. In einem dramatischen Duell mit

einem georgischen Kontrahenten sicherte er

sich Bronze. Danach zog sich Stäbler noch

auf der Matte seine Schuhe aus und ließ sie

in der Ringmitte stehen. Es war das Ende

einer langen Reise. Die Schuhe hat er mittlerweile

an das Deutsche Sport & Olympia

Museum in Köln übergeben.

Mehr als zwei Jahre lang hatte ich

Stäbler auf seinem Weg nach Tokio begleitet.

Manchmal schien mir seine Mission

wie ein Himmelfahrtskommando, Stäbler

selbst sprach immer wieder davon, mit

einer letzten Olympiateilnahme »das Unmögliche

möglich machen« zu wollen. Seine

Gewichtsklasse war vor Tokio gestrichen

worden, weswegen er radikal abnehmen

musste, von seinem Normalgewicht

75 Kilogramm runter auf 67. Im Herbst

2020 erkrankte er an Covid-19, litt unter

Spätfolgen an der Lunge, er verletzte sich

die Schulter.

Seine Vorbereitung absolvierte der

dreimalige Weltmeister zeitweise in einem

ehemaligen Kuhstall seines elterlichen

Hofs, zuletzt in einem umgebauten Hühnerstall.

»Um meinen Traum zu leben,

muss ich durch die Hölle gehen«, hatte er

schon 2019, zu Beginn des Langzeitprojekts,

erzählt, »und dann weiß ich immer

noch nicht, ob es reichen wird«.

Es reichte. Und aus dem Randsportler

wurde eine gefragte Größe des deutschen

Sports. Nur einmal zuvor sei er kurzzeitig

häufiger auf der Straße erkannt worden –

nachdem er 2016 im Privatfernsehen aufgetreten

war, bei »Promi Big Brother«.

Nun endlich interessiere sich auch ein breiteres

Publikum für den Leistungssportler

Stäbler. »Große Unternehmen kommen

auf mich zu und fragen mich für ihre Führungskräfteausbildung

an«, sagt Stäbler,

»das hat es vorher nicht gegeben.« Seit

Olympia sei er rund 30-mal als Redner gebucht

worden, bei börsennotierten Unternehmen

sprach er zu Vorständen und

Managern, erzählte Anekdoten von seiner

Odyssee: »Olympia hat mir viele Türen

geöffnet.«

102 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL


Viel Geld für kaputte

Knochen

NR. 1/2021 »Geldsegen für

Millionäre« – Wie Redakteur

Michael Fröhlingsdorf den

HSV-Präsidenten verärgerte

Marcell Jansen, ehemaliger

Nationalspieler und heute

Präsident des Hamburger SV, ist

ein ideales Beispiel dafür, wie

Fußballprofis Entschädigungen

der gesetzlichen Unfallversicherung

ausnutzen, die nicht

für Berufssportler geschaffen

wurde.

Jede Verletzung, die ein

Profi im Dienst erleidet, gilt wie

bei normalen Arbeitnehmern

als Arbeitsunfall. Allerdings ziehen

sich Kicker oder Handballer

deutlich häufiger Risse

und Brüche zu als Bankangestellte

oder Briefträger.

Jansen habe, hieß es in dem

Artikel über das Sozialsystem,

während seiner Karriere vier so

schwerwiegende Verletzungen

erlitten, dass er Anspruch auf

mehrere lebenslange Renten

oder mehrere Hunderttausend

Euro Entschädigung habe –

steuerfrei.

Jansen wollte sich mit dem

SPIEGEL über die Berechtigung

solcher Einnahmen nicht austauschen.

Anders hielt er es mit

Usern von Facebook und Instagram,

die ihn fragten, ob er

ein »Sozialschmarotzer« sei.

Jansen bepöbelte einen als

»Wutbürger«, die Sportvereine

zahlten schließlich Beiträge für

seinen Versicherungsschutz. So

müsse nicht seine »Mama, die

35 Jahre bei Aldi im Lager gearbeitet«

habe, für seine Entschädigung

aufkommen, »sondern

die Vereine, für die man

die Knochen hingehalten hat!«.

Klubs wie der HSV zahlen

jährlich bis zu zwei Millionen

Euro an die Berufsgenossenschaft.

Trotzdem reicht das nicht

aus, um die gewaltigen Ausgaben

für die Profis zu decken. 40 Millionen

Euro im Jahre müssen andere

Sparten zuschießen, etwa

die Kirchen oder Zeitarbeits firmen

für ihre Lagerarbeiter.

Bundesarbeitsminister Hubertus

Heil (SPD) war überzeugt, dass

es so nicht weitergehen könne.

Seitdem der Artikel erschienen

ist, arbeitet sein Ministerium an

einer Gesetzesreform.

Gierig und hartleibig

NR. 23/2021 »9000 Euro

im Monat samt Dienstwagen« –

Die Redakteure Jürgen

Dahlkamp, Gunther Latsch, Jens

Weinreich und klagewütige

Funktionäre

Seit Jahren arbeiten wir uns

am Deutschen Fußball-Bund

ab, und genauso lange haben

wir etliche deutsche Sportfunktionäre

in voller Blüte erlebt:

selbstgerecht und scheinheilig,

geldgierig und hartleibig. Insofern

waren wir vorbereitet

auf das, was wir nach einem

Bericht über den Deutschen

Eishockey-Bund (DEB) erleben

würden. Der ehrenamtliche

Präsident Franz Reindl hatte

jahrelang für den DEB Verträge

mit dem Vermarkter Infront

gemacht – angeblich sehr lukrative

Verträge für die Schweizer

Firma. Gleichzeitig kassierte

er gutes Geld von einer DEB-

Tochter, die von Infront über

Wasser gehalten wurde. Das

alles roch nach einem Interessenkonflikt.

Reindl, der DEB und Infront

sahen das natürlich anders. Sie

Anke Waelischmiller / Sven Simon

Reindl

zogen alle Register der Selbstverteidigung.

Unter anderem

wurde der SPIEGEL verklagt.

Dass der DEB in einem nebensächlichen

Punkt recht hatte,

den wir umgehend klarstellten,

bejubelte der Verband in einer

Pressemitteilung. Dass aber das

Gericht dem Verband in entscheidenden

Punkten eine Niederlage

prophezeit hatte und

die Klage daraufhin zurückgezogen

wurde, erwähnte er

nicht. Und Reindl kündigte an,

möglicherweise erneut als Präsident

zu kandidieren.

»Ich bin die,

die zurückbleiben

musste«

NR. 36/2021 »Als hätte ich

meine Seele verloren« – Sportredakteur

Matthias Fiedler

begleitete eine afghanische Fußballerin,

die um ihr Leben

fürchtet.

Im August, nur wenige Tage

nach der Machtübernahme

der radikalislamischen Taliban

in Afghanistan, geht eine Nachricht

um die Welt: Internationalen

Helfern sei es gelungen,

Spielerinnen der afghanischen

Fußballnationalmannschaft aus

dem Land zu schleusen.

Ich muss an Aya Nouri

(Name geändert) denken – eine

zierliche Frau mit runder Brille,

23 Jahre alt. Im Herbst 2019

habe ich sie für den SPIEGEL in

der afghanischen Hauptstadt

Kabul getroffen. Sie hat vom

Aufwachsen in einem Waisenhaus

erzählt; von ihrem Aufstieg

zur Fußballnationalspielerin

in einer archaischen Gesellschaft,

in der Frauen lange keinen

Sport treiben durften.

Rahmatullah Alizadah Xinhua / eyevine / ddp

Fußballspielerinnen in Kabul

im Oktober 2020

Als ich sie im Sommer über

Videotelefonie erreiche, klingt

ihre Stimme dünn. Sie habe es

nicht aus dem Land geschafft,

sagt sie. Vergeblich habe sie im

Chaos am Kabuler Flughafen

versucht, durch eines der Tore

ins Innere zu gelangen. Etliche

Teamkameradinnen seien abgeflogen,

sie und ein paar andere

Spielerinnen zurückgeblieben.

In den Wochen danach schildert

Nouri über WhatsApp, wie

sie verzweifelt auf Anweisungen

der internationalen Helfer wartet.

Doch es kommt nichts. Die

US-Truppen haben Afghanistan

verlassen, die Taliban das Land

übernommen. Nouri fürchtet

um ihr Leben. Sie weiß: Die Islamisten

wollen keine Fußballerinnen.

Sie wollen Hausfrauen,

die viele Kinder bekommen.

Monate vergehen, in denen

ich nichts von Nouri höre. Im

Dezember meldet sie sich aus

Islamabad, Pakistan. Seit Ende

September sei sie da, erzählt

sie. Eine Hilfsorganisation habe

ihr einen Flug organisiert. Voller

Angst, vom Security-Personal

am Flughafen Kabul als Fußballerin

enttarnt zu werden,

hatte sie sich von Checkpoint zu

Checkpoint gehangelt.

Sie lebe nun bei der Familie

ihrer früheren Trainerin, die mit

ihr gereist sei. Doch ihr Visum

sei ausgelaufen, es sei unklar, ob

es verlängert werde, sagt Nouri.

»Ich habe solche Angst, nach

Afghanistan abgeschoben zu

werden.« Ihr Erspartes gehe zur

Neige, arbeiten dürfe sie nicht.

Von Khalida Popal, 34, die die

afghanische Frauennationalelf

gegründet und die Rettungsaktion

der Spielerinnen mitorganisiert

hat, habe sie nichts

mehr gehört.

Von Teamkameradinnen,

denen die Flucht nach Australien

gelungen ist, weiß sie, wie

gut das Leben sein kann. Sie

seien in Apartments untergebracht,

lernten Englisch, studierten,

spielten Fußball. »Ich

bin die, die zurückbleiben

musste. Das ist so frustrierend«,

sagt Nouri. Sie habe die australische

Regierung um ein humanitäres

Visum gebeten. »Ich

kann nur beten und hoffen.«

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

103


SPORT

Buchautor

Messner 2010

Wolf Heider-Sawall / laif

104 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


SPORT

Das Drama seines Lebens

BERGSTEIGEN Reinhold Messner ist der berühmteste Alpinist Europas, doch es gibt einen dunklen Fleck

in seiner Karriere: Bei einer gemeinsamen Besteigung des Himalaja vor mehr

als 50 Jahren kam sein Bruder ums Leben. Seitdem schwelt der Streit darüber, wer Schuld hat.

E

inige Wochen vor Weihnachten

bekommt Reinhold Messner in

München seine Boosterimpfung.

Ein befreundeter Arzt injiziert

dem Bergsteigeridol in dessen Wohnung

im Glockenbachviertel eine

Dosis Biontech.

Das Wohnzimmer ist mit Andenken

an Messners Reisen in alle Welt dekoriert,

Masken, Skulpturen, Schnitzereien.

In einem Regal neben dem

Esstisch stehen die Bücher, die der

Rekordalpinist über seine Abenteuer

geschrieben hat.

Der Mediziner, der zum Impfen

vorbeigekommen ist, spielt auch eine

Rolle in Messners größter Bergsaga.

Professor Rudolf Hipp, ein Anästhesist,

untersuchte vor gut 15 Jahren am

Fuße des Nanga Parbat im Himalaja

die sterblichen Überreste von Günther

Messner.

Der jüngere Bruder von Reinhold

war 1970 beim Abstieg von dem

8125 Meter hohen Berg umgekommen.

35 Jahre nach dem Unglück

hatte der Gletscher Skelettteile freigegeben.

Es gibt Foto- und Filmaufnahmen,

die zeigen, wie Hipp die Fundstücke

begutachtet. Reinhold Messner ist auf

den Bildern auch zu sehen. Er sitzt

neben dem Arzt auf einem Stein und

wirkt verstört.

Das Unglück auf dem Nanga Parbat

ist der dunkle Fleck in der schillernden

Vita des Extrembergsteigers

aus Südtirol. Messner hatte gemeinsam

mit Günther den Gipfel erreicht

und seinen ersten Achttausender bezwungen.

Was dann beim Abstieg

passierte, darüber wird bis heute

spekuliert.

Messner beteuert, alles versucht

zu haben, um den geschwächten Bruder

heil ins Tal zu bringen. Ehema lige

Expeditionskameraden warfen ihm

hingegen Jahre nach dem Unglück

vor, nicht die Wahrheit über die Geschehnisse

am Gipfel zu erzählen, um

seine Mitschuld an der Tragödie zu

verschleiern.

Der Streit über die Nanga-Parbat-

Expedition ist einer der größten Kon-

Geschwister

Günther, Reinhold

Messner in einem

Lager am Nanga

Parbat 1970: Ein

letzter Angriff auf den

Gipfel

»Die anderen

können

sich ihre

Geschichten

nur ausdenken.«

flikte der Alpingeschichte. Er beschäftigte

Gerichte, es wurde ein Kinofilm

über den Fall gedreht. Messner hat

das Bergdrama in vier Büchern behandelt

– und zu Geld gemacht.

Bis heute tourt der 77-Jährige mit

der Vortragsreihe »Nanga Parbat –

mein Schicksalsberg« durch Deutschland.

In einer Einmann-Bühnenshow

präsentiert er vor Publikum seine

Version der Geschichte, als müsste er

sich immer noch rechtfertigen.

Jetzt, in den letzten Wochen des

Jahres, flammte die Diskussion wieder

auf. Warum schaffen Messner und

seine Kontrahenten es nicht, einen

Schlussstrich zu ziehen?

Im Wohnzimmer bellt Messners

Hund Flint Doktor Hipp an, der

schnell seine Tasche packt und sich

wieder auf den Weg macht. Diane

Messner bedankt sich für den »Impf-

Homeservice«.

Die 41-Jährige ist seit einem halben

Jahr mit Reinhold verheiratet

und schon tief verstrickt in den

Nanga-Parbat-Komplex. Im Oktober

vertrat sie ihren Mann bei einem

Bergfilmfestival am Tegernsee. Dort

wurde eine neue, von Messner produzierte

Dokumentation über das

Drama von 1970 gezeigt.

Im Publikum saßen einige der ehemaligen

Expeditionsteilnehmer. Nach

Max-Engelhardt von Kienlin

der Vorführung hagelte es bei einer

Podiumsdiskussion Kritik an dem einseitigen

Film. Irgendwann reichte es

Diane Messner, einer energiegeladenen

Frau. Sie marschierte nach vorn,

griff sich das Mikrofon und beendete

die Debatte.

»Ich wurde ausgebuht«, erzählt

Frau Messner. »Du hast dich gewehrt«,

sagt ihr Mann und lächelt sie

an. Sie lächelt zurück.

Das Ehepaar lebt die meiste Zeit

in Südtirol. Reinhold Messner besitzt

in der Nähe Merans ein Schloss und

betreibt in Bozen das Messner Mountain

Museum. Dort sind die Stationen

seines Lebens als Bergsteiger zu sehen.

Er hat als Erster alle 14 Achttausender

der Erde ohne Sauerstoffflaschen

bestiegen.

In einem düsteren Ausstellungsraum

wird der vielen Alpinisten

gedacht, die auf den höchsten Bergen

ihr Leben gelassen haben. Einer der

Bergschuhe, die Günther Messner

beim Unglück am Nanga Parbat trug,

steht in einer hell erleuchteten Vitrine.

Reinhold Messner kehrte nach der

Tragödie viele Male an den Berg zurück.

1978 bestieg er den Gipfel in

einem wilden Alleingang über die

Diamirflanke, als suchte er nach Erlösung,

nach Antworten, nach einem

Grund für Günthers Tod.

Sie waren unzertrennlich. Eine Seilschaft.

Gemeinsam hatten sie in den

Alpen die gefährlichsten Wände erklommen.

Messner macht es rasend,

dass es Leute gibt, die behaupten, er

habe den Bruder oben am Gipfel

im Stich gelassen. Er kann nicht

akzeptieren, dass seine Darstellung

der Tragödie hinterfragt wird. Nur

er könne von den Abläufen damals

in der Todeszone berichten. »Denn

ich war dabei«, sagt Messner und

schlägt mit der flachen Hand auf

den Tisch. »Die anderen können

sich ihre Geschichten nur ausdenken.«

Der Nanga Parbat im westlichen

Himalaja wurde 1953 von dem Tiro-

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

105


SPORT

ler Hermann Buhl erstmals bestiegen. Als

die Messners 1970 an den Berg kamen, ging

es darum, den Giganten über die 4500 Meter

hohe, fast senkrechte Rupalwand zu bezwingen.

Die Brüder gehörten zu einem Team

von Elitebergsteigern, das der Münchner

Arzt Karl Maria Herrligkoffer zusammengetrommelt

hatte. Wochenlang belagerte die

Mannschaft den Berg. Die Männer errichteten

Hochlager. Als die Expedition wegen

ungünstiger Witterung zu scheitern drohte,

machten sich Reinhold Messner, sein Bruder

Günther und der Allgäuer Bergfilmer Gerhard

Baur, der eine Dokumentation über

die Expedition drehte, noch einmal auf ins

Lager 5 in 7350 Meter Höhe. Sie wollten sich

für einen letzten Angriff auf den Gipfel vorbereiten.

Weil es in dieser Höhe keinen Funkkontakt

mit dem Basislager gab, hatte die Gruppe mit

Expeditionsleiter Herrligkoffer verabredet,

er solle eine blaue Leuchtrakete schießen zum

Zeichen für gute Bedingungen und eine rote,

wenn eine Schlechtwetterfront im Anmarsch

sei. Reinhold Messner hatte zudem eine persönliche

Absprache mit dem Chef der Mission

getroffen. Sollte schlechtes Wetter aufziehen,

würde er im Alleingang den Aufstieg wagen

wollen. Herrligkoffer, dem an einem Gipfeltriumph

gelegen war, hatte dem Plan zugestimmt.

Der Wetterbericht sagte gute Bedingungen

voraus. Im Basislager wurde jedoch irrtümlich

eine rote Leuchtrakete abgeschossen – für

Messner das Zeichen zum Start seines Soloversuchs.

Tödlicher Abstieg

Der Weg der Messner-Brüder über den Nanga Parbat

29. Juni

Bereich, in dem

Günther Messner

vermutlich bei

einem Lawinenabgang

ums

Leben kommt

S ◆Grafik, Karte: Open Street Map

28. Juni

Zweites Biwak in

ca. 6500 Meter Höhe

17. Juli 2005

Ungefährer

Leichenfundort

27. Juni

Erstes Biwak

27. Juni 1970

Die Brüder erreichen den

Gipfel in 8125 Meter Höhe

Diamirtal

Diamirflanke

Rupalwand

Nanga Parbat

Aufstiegsroute

Abstiegsroute

AFGHA-

NISTAN

PAKISTAN

INDIEN

CHINA

Google Earth

Am 27. Juni 1970 gegen drei Uhr morgens

brach er auf. Baur und Günther Messner sollten

die steilsten Passagen Richtung Gipfel mit

Seilen sichern, damit es Reinhold beim Abstieg

leichter haben würde.

Doch statt Fixseile zu legen, stieg Günther,

24, seinem Bruder kurz entschlossen nach.

Oberhalb einer Steilpassage, der Merklrinne,

holte er Reinhold ein. Obwohl die Messners

spät dran waren, kämpften sie sich durch dünne

Luft und tiefen Schnee zum höchsten

Punkt. Ein Fehler, wie Messner heute meint:

»Bergsteigerisch richtig wäre gewesen abzudrehen.

Aber wir dachten, wir schaffen es

rechtzeitig zurück ins Lager 5.«

Eine Stunde lang genossen sie ihr Gipfelglück.

Doch Günther zeigte Anzeichen von

Höhenkrankheit. Körperlich geschwächt,

habe der Bruder sich nicht mehr getraut, über

die steile Aufstiegsroute abzusteigen, so erzählt

es Messner.

Sie kletterten ab in eine Scharte am Gipfelgrat.

Kauernd und ohne Ausrüstung verbrachten

die Brüder eine bitterkalte Nacht in dem

Bereich, der »Todeszone« genannt wird, weil

nur noch wenig Sauerstoff ins Blut gelangt.

Die Messners befanden sich in einer

schwierigen Situation. Sie hatten kein Seil.

Um zu ihrer vorgesehenen Route zu gelangen,

hätten sie rund 120 Meter aufsteigen müssen.

»Unmöglich in unserem Zustand in dieser

Höhe«, sagt Messner.

Die Brüder machten sich daran, über die

weniger steile Diamirflanke des Nanga Parbat

nach Nordwesten hinabzuklettern. Reinhold

stieg voraus, um den Weg durch das lebensgefährliche

Labyrinth aus Fels- und haushohen

Eisabbrüchen zu finden. Nach einem

zweiten Lager verschüttete eine Eislawine

Günther. Messner wanderte verzweifelt, ausgezehrt

und halluzinierend weiter ins Tal, wo

Holzfäller ihn schließlich fanden.

Manche Schilderungen Messners wirken

bis heute konstruiert. Er unterstellte anderen

Expeditionsteilnehmern Gleichgültigkeit oder

gar stille Freude über das Drama der Brüder.

Und so kam es zu Verdächtigungen und

Schuldzuweisungen.

Über eine Situation auf dem Nanga Parbat

wurde besonders heftig debattiert. Am Morgen

nach dem ersten Biwak unterhalb des

Gipfels schrie Messner die Merklrinne hinab

um Hilfe. Nach einer Weile sah er die Bergkameraden

Felix Kuen und Peter Scholz zum

Gipfel aufsteigen. Als die Seilschaft keine

100 Meter unterhalb in der Rinne auftauchte,

riefen Messner und Kuen einander ein paar

Sätze zu. Der Österreicher erklärte später,

Reinhold habe nicht um Hilfe gebeten, sondern

gesagt, dass »alles in Ordnung« sei. Deshalb

seien er und sein Partner über eine Querung

aus der Wand ausgestiegen und weiter

Richtung Gipfel gezogen.

Wieso forderte Messner nicht energisch

Hilfe an?

Messner sagt, Kuen habe zweimal angesetzt,

die restlichen 100 Meter der Merkl rinne

zu ihm und Günther emporzusteigen, jedoch

abgebrochen, weil es lebensgefährlich war.

Um ein weiteres »waghalsiges Manöver«

Kuens zu verhindern, habe er dem Kameraden

signalisiert, dass er und Günther es allein

schaffen würden.

Expeditionsleiter Herrligkoffer spekulierte

nach der Rückkehr aus dem Himalaja, Günther

sei nicht beim Abstieg über die Diamirflanke,

sondern oben in der Scharte umgekommen.

2001 überwarf sich Messner mit der

Klettermannschaft. Er hielt den Kameraden

vor, seinerzeit keinen Rettungsversuch unternommen

zu haben. Dabei hatten sie Suchaktionen

gestartet.

Gerhard Baur, der mit den Messners die

Nacht vor ihrem Aufstieg im Lager 5 verbracht

hatte, reagierte fassungslos: »Es ist das,

was du sagst und wie du es sagst, wirklich

schlimm.«

Zwei Jahre später präsentierten die Expeditionsteilnehmer

Max von Kienlin und Hans

Saler beim Deutschen Alpenverein (DAV) in

München ihre Nanga-Parbat-Bücher mit

Mutmaßungen über den Hergang des Unglücks.

Eine lautete: Messner habe den angeschlagenen

Bruder allein gelassen in der

Todeszone, um nach dem geglückten Aufstieg

durch die höchste Steilwand der Erde auch

noch im Alleingang die erste Überschreitung

des Nanga Parbat zu schaffen, einen weiteren

Welt rekord.

Die Veranstaltung im DAV-Museum geriet

zur Abrechnung mit Messner – und sorgte für

Schlagzeilen. Hatte der Superstar der Berge

am Nanga Parbat den Bruder dem eigenen

Ehrgeiz geopfert?

106 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Ehepaar Messner in Berlin im Oktober

Filmaufnahmen des Tumults wurden später

gelöscht. Der Alpenverein hält einen Tonbandmitschnitt

unter Verschluss. Begründung:

Auf dem Tape soll ein »unschöner Satz«

zu hören sein, der, würde er öffentlich, die

ganze Affäre weiter anheizen könnte. Die

DAV-Funktionäre wollen Ruhe haben vom

Nanga-Parbat-Streit.

Am Wohnzimmertisch der Messners in

München drückt Diane Messner das Kreuz

durch. Sie sagt, sie kenne die heikle Bemerkung

auf dem Tonband.

Frau Messner erzählt von einem Besuch

beim Archivar des DAV irgendwann vor der

Pandemie. Sie habe sich die Aufnahme angehört.

Um welchen Ausruf ging es? »Reinhold

habe den Günther umgebracht«, sagt

Diane Messner.

Ihr Mann zuckt auf seinem Stuhl zusammen.

Umgebracht? »Der Satz ist da gefallen?

Bist du sicher?«

Messner ist jetzt ganz in seiner Rolle. Seine

Halsschlagader pocht, die Stimme wird

lauter. Er schimpft über den Alpenverein. Der

DAV habe den Kritikern eine Plattform geboten

und sich damit »zum Komplizen einer

Rufmordkampagne« gemacht.

»Ich will dieses Tonband«, sagt Messner.

Der Alpenverein hat ihm kurz vor Weihnachten

angeboten, er könne die Tonbandaufnahme

von 2003 jetzt doch anhören.

Messner hat bereits eine Unmenge an Dokumenten

zu der Expedition von 1970 und

der späteren Kontroverse zusammengetragen,

Fotos, Tagebücher, Briefe, Gerichtsurteile,

Expeditionsverträge, Kartenmaterial, Zeitungsartikel.

Ein dicker Band mit allen Fakten

erschien 2019. Titel: »Mein Schlüsselberg«.

324 Seiten. Messners große Nanga-Parbat-

Akte. Die Skeptiker hätten vor keinem Gericht

auf der Welt eine Chance, sagt er. »Ich

kann alles belegen.«

Bei seiner Livetournee, die wegen der Pandemie

bis März unterbrochen wurde, spricht

XAMAX / ullstein bild

SPORT

er frei, ohne einen Satz abzulesen. Messner

hat alle Details im Kopf. Er ist ein guter Erzähler.

Er zieht sein Publikum hinein in seine

Geschichte.

Der einzige Zeuge kämpft um die Deutungshoheit.

Klaus Gerosa, 68, besuchte vorigen Herbst

eine Messner-Show in Göppingen. Er ist Vorstandsmitglied

einer Stiftung, die Herrligkoffer

gegründet hatte, um zu helfen, »unbestiegene

Gebirgsregionen zu erkunden«. Gerosa

wollte mal schauen, ob der alte Bergfex auf

der Bühne Gemeinheiten in Richtung seiner

Kritiker abschießt.

»Reinhold sucht ja gerne die Konfrontation«,

sagt Gerosa. Den verstorbenen Expeditionsleiter

Herrligkoffer beschrieb Messner

einmal als durchtriebenen Nazityp, der keine

Ahnung von Alpinismus gehabt habe. Seine

Widersacher aus der Klettermannschaft kanzelt

er als »Verleumder« ab, die nicht damit

zurechtkämen, dass er eine Weltkarriere hingelegt

habe und sie nicht.

Das Lager der Messner-Gegner teilt auch aus.

Messner sei traumatisiert, er verdrehe bewusst

Tatsachen und habe wohl zu viel Zeit

in dünner Luft verbracht.

Gerosa, ein freundlicher Mann, ist die

gegenseitigen Kränkungen leid. Das Andenken

an die Expedition von 1970 habe

genug Schaden genommen. Der Zank der

alten Männer müsse beendet werden. Er

denkt an eine Art Kommuniqué. Eine

Abschlusserklärung. »Wir müssen den Sack

zumachen.«

Denn seit dem Fund der Knochen auf der

Diamirseite des Nanga Parbat zweifelt kaum

noch jemand daran, dass die Brüder Messner

gemeinsam dort heruntergestiegen sind und

Günther unterwegs verunglückte.

Beim Bergfilmfestival am Tegernsee im

Oktober saß Gerhard Baur als 1970er-Veteran

auf dem Podium. Er kam kaum zu Wort, weil

Diane Messner die Veranstaltung sprengte.

Baur ist davon überzeugt, dass der Abstieg

der Messners über die Diamirseite nicht aus

der Not heraus geschah, vielmehr habe Reinhold

die Überschreitung geplant. Baur sagt,

er respektiere Messners Verhalten am Nanga

Parbat. Nicht in Ordnung sei jedoch, dass

Reinhold sich bis heute als Opfer einer Intrige

inszeniere.

Einige Bergsteiger, die damals im Himalaja

dabei waren, sind bereits verstorben. Baur

und Messner waren mal befreundet. Es wäre

an der Zeit, sich auszusprechen. »Ich hätte

nichts dagegen«, sagt Messner.

Baur sah Günther Messner am Morgen des

27. Juni 1970 in der Rupalwand Richtung

Gipfel klettern. Er ist ein guter Zeuge für das,

was bis zu diesem Zeitpunkt am Nanga Parbat

geschah.

Was später ganz oben passierte, weiß nur

Reinhold Messner. Entweder er hat die Wahrheit

schon erzählt, oder man wird sie niemals

erfahren.

Gerhard Pfeil

n

WIE

UNTERNEHMER-

DYNASTIEN

UNSER

LAND GEPRÄGT

HABEN

www.dva.de

256 Seiten, gebunden 20,00 €

Auch als E-Book erhältlich

Erfolgreiche Familien prägen

nicht nur die deutsche Wirtschaft,

sie haben von Beginn an unser

Land verändert. Dieses Buch

erzählt von den mächtigsten

Familienunternehmen der

deutschen Geschichte, von den

Fuggern bis zu den Quandts.

Dabei beleuchten die Autor*innen

die Erfolgsgeheimnisse

bekannter Marken und Produkte,

zeigen Aufstieg und Triumph

berühmter Dynastien – und deren

Niedergang durch Krisen

oder interne Konflikte.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

107


Wissen

Die Geschichten hinter den Geschichten –

der besondere Rückblick

Dritter Schuss dank SPIEGEL-Grafik

NR. 46/2021 »Boostern gegen Delta« – Wie ein impfwilliger Leser zu seiner dritten Impfung kam

I

m Herbst hofften in Deutschland wohl fenbarte äußerst Beunruhigendes: Der wie möglich alle Willigen zu boostern.

alle Menschen mit doppelter Coronaimpfung,

dass die Pandemie für sie nun tion sank bei den mRNA-Impfstoffen er­

nach der dritten Spritze zunächst abge­

Schutz vor einer symptomatischen Infek­

Manche Leser berichteten, dass ihre Bitte

vorüber sei. Heute wissen wir: Das war ein

Irrglaube. Mit der Zeit setzte sich in

Deutschland wie auch auf der ganzen Welt

die Erkenntnis vom abnehmenden Immunschutz

durch – selbst bei den Vakzinen,

die nach dem neuartigen mRNA-Verfahren

wirken. Zuerst, so zeigten es die Untersuchungen

der Wissenschaftler, steigt das Risiko

einer Übertragung, und nach einigen

Monaten sinkt auch die Wahrscheinlichkeit,

vor einem schweren Verlauf ausreichend

gut geschützt zu sein.

Besseren Schutz versprach laut Analysen

die Boosterimpfung. Für den SPIEGEL

schrieb ich damals einen Artikel über die

Wirkung der dritten Immunisierung. Darin

wurde eine Grafik aus einer vorveröffentlichten

schwedischen Studie gezeigt. Sie ofwartungsgemäß

kontinuierlich. Bei dem

Mittel von AstraZeneca war er nach vier

Monaten praktisch nicht mehr nachweisbar.

Zwar ergaben andere Daten aus Großbritannien,

dass der Impfstoff von AstraZeneca

in diesen Untersuchungen besser abschnitt

als in der schwedischen Studie, wie

mir der Immunologe Carsten Watzl für den

Artikel bestätigte. Dennoch beunruhigte

die abgedruckte Grafik besonders die mit

AstraZeneca geimpften Leserinnen und

Leser. Etliche schrieben mir E-Mails und

fragten, wie die Studie zu bewerten sei

und wie sie nun schnellstmöglich an eine

Boosterimpfung kämen.

Die Hausärzte waren damals offenbar

nicht immer eine Hilfe. Nicht alle folgten

den Forderungen aus der Politik, so schnell

lehnt wurde. Auch ein Mann aus Hannover

meldete sich bei mir. »Ich habe sofort meinen

Hausarzt angerufen«, schrieb er,

nachdem er den Artikel gelesen hatte. Doch

leider habe der Mediziner auf die Einhaltung

der sechs Monate Abstand zur zweiten

Impfung gedrängt – ganz so, wie es die

Stiko zu diesem Zeitpunkt noch vorsah,

aber entgegen der Empfehlung des damaligen

Gesundheitsministers Jens Spahn von

Mitte November. Erst die Darstellung aus

der Studie habe den Hausarzt schließlich

doch überzeugt. »Mithilfe Ihrer Grafik habe

ich für mich einen kurzfristigen Boostertermin

erreichen können«, schrieb der Mann.

Kurz darauf änderte die Stiko ihre Empfehlung,

Überzeugungsarbeit mit Grafiken war

nicht mehr nötig. Jörg Römer

108 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL


Nicht nur eine Flöte

NR. 37/2021 »Der XXL-

Scanner« – Wie sich ein mittelalter

liches Instrument als Teil

von etwas Größerem entpuppte

Es war ein kostbares Fundstück,

das 1950 bei Ausschachtungsarbeiten

für eine Garage in

Würzburg geborgen wurde –

auch wenn es nicht so aussah.

Nur das geschulte Auge erkennt

in dem knapp neun Zentimeter

langen Holzsplitter mit Löchern

das Fragment einer Flöte.

Wahrscheinlich stammt sie aus

dem 13. oder 14. Jahrhundert;

einer Epoche, aus der kaum

Musikinstrumente erhalten

sind. In den 1970er-Jahren hatte

ein Instrumentenbauer aus

Franken auf der Grundlage des

Fundes bereits eine rund

28 Zentimeter lange Blockflöte

gebaut, die aber eher kläglich

klang. Der Bamberger Musikarchäologe

Andreas Spindler

ließ jüngst gemeinsam mit Mathematiker

Tomas Sauer von

der Universität Passau im Röntgenlabor

des Fraunhofer-Instituts

für Integrierte Schaltungen

in Fürth eine hochaufgelöste

Andreas Spindler

Spindler

dreidimensionale Darstellung

des Objekts erstellen. Auf

Grundlage des Scans ermittelten

Spindler und Sauer ein

Detail: Die Innenbohrung verengt

sich am Endstück um

wenige Millimeter. Mit dieser

Erkenntnis wagte sich Spindler,

der schon viele Musikinstrumente

nachgebaut hat, an eine

neue Rekonstruktion, diesmal

kam keine Blockflöte heraus.

Er schuf ein sogenanntes Platerspiel,

eine mittelalterliche Form

des Dudelsacks mit Anblasrohr,

Luftsack und Spielpfeife. Zwar

ist nicht endgültig klar, ob damit

das Original wirklich getroffen

ist. Doch Spindler ist sich sicher:

»Diese Sackpfeife klingt

richtig.« Frank Thadeusz

Ärger ums

Immergrün

NR. 18/2021 »Saat des Bösen« –

Wie SPIEGEL-Redakteur

Guido Kleinhubbert zum »linksversifften

Gutmenschen« wurde

Ich verabscheue Kirschlorbeer.

Gnadenlos habe ich sämtliche

Exemplare, die die Vorbesitzerin

unseres Hauses anpflanzen

ließ, abgesägt und kaputt

gehäckselt. Es war mir ein Vergnügen,

zumal an gleicher

Stelle Holunder, eine Salweide

und andere heimische Pflanzen

wachsen, die bei Insekten

und Vögeln viel beliebter sind.

Ich ahne, was dieses Geständnis

auslösen könnte. In

meinem Bericht »Saat des Bösen«

hatte ich über die erheblichen

Vorbehalte berichtet, die

Naturschützer gegen die immergrüne

Pflanze hegen. Etwas

übertrieben meinte einer der

Experten sogar, Kirschlorbeer

sei ökologisch ähnlich wertvoll

wie eine Betonmauer.

Das sorgte bei vielen Menschen

für eine Aufregung, mit

der ich nicht gerechnet hatte.

Man warf mir und den Umweltschützern

unter anderem grüne

Bevormundung und »linksversifftes

Gutmenschentum« vor.

Angesichts dieser haltlosen

Unterstellungen freute ich

mich über den Leser Walter Z.

aus Schwäbisch Hall, der sich

zumindest große Mühe gab, die

Kritik der Naturschützer zu

entkräften. Er stellte sich mit

einem Fotoapparat neben

seinen Kirschlorbeer, um den

ökologischen Wert der Pflanze

zu dokumentieren.

Die Bilder sind nicht sonderlich

gut geworden, aber Walter

Z. soll eines wissen: Ich kann

die Biene erkennen, die sich da

an seiner Pflanze labt. Ich kann

sogar erklären, warum sie das

tut: Der Kirschlorbeer sondert

über sogenannte extraflorale

Nektarien Zuckersaft ab, der Insekten,

zum Beispiel Ameisen,

anlocken soll.

Wenn die Krabbler dann da

sind, vertilgen sie im besten Fall

auch direkt die Blattläuse und

anderen Schädlinge mit, die

dem Kirschlorbeer zusetzen.

Die Nektarien machen den

Kirschlorbeer also besonders

wehrhaft. Wie eine Betonmauer.

»O Gott, was habe ich getan?«

NR. 21/2021 »Der Schmerz

kommt von innen« – Im Mai berichtete

der SPIEGEL über

die Coronapatientin Severine

Joordens, die während ihrer

Erkrankung an die künstliche

Lunge angeschlossen wurde.

Mehr als ein Jahr lang litt sie

unter den Folgen. Heute

geht es ihr besser – doch die

Prioritäten in ihrem Leben

haben sich radikal geändert.

SPIEGEL: Frau Joordens, wie

geht es Ihnen heute?

Joordens: Schmerzen habe ich

immer noch, aber es ist besser

geworden. Ich habe ja teilweise

ganze Nächte nicht schlafen

können vor Schmerz. Das ist

jetzt nicht mehr so. Die Taubheit

allerdings ist geblieben. Ich

lasse noch immer Sachen aus

der Hand fallen. Aber ich kann

Klavier spielen. Nicht mehr so

schnelle Sachen wie vorher,

aber es reicht. Ich klage auf hohem

Niveau.

SPIEGEL: Bleibt Hoffnung, dass

Sie irgendwann ganz wiederhergestellt

sein werden?

Joordens: Die Ärzte haben mir

damals gesagt, dass es ungefähr

zwei Jahre dauert, bis sich der

Körper erholt hat. Theoretisch

habe ich also noch Zeit bis

März. Ich arbeite daran, aber

wenn ich ehrlich bin, dann glaube

ich nicht daran, dass die

Schäden dann ganz vorbei sind.

SPIEGEL: Können Sie wieder

singen?

Joordens: Das mit der Luft, das

merke ich schon. Da ist viel

zurückgekommen, aber Töne

sehr lang anhalten, das kann

ich nicht mehr wie früher. Auch

die ganz hohen Töne sind

nicht wiedergekommen. Deshalb

habe ich eine drastische

Entscheidung getroffen: Ich bin

ins Mezzosopranfach gewechselt.

Vor allem aber habe ich

meine Prioritäten radikal verändert.

SPIEGEL: Wie das?

Joordens: Ich bin jetzt Musiklehrerin

in der Gesamtschule.

SPIEGEL: Dann hat Corona ja

Ihr ganzes Leben verändert?

Joordens: Ja, für mich hat ein

neues Kapitel begonnen –

eigentlich schon in dem Moment,

als ich aus dem Koma

aufgewacht bin.

Insa Hagemann

SPIEGEL: Wie kam es dazu, dass

Sie so plötzlich in die Schule

gewechselt sind?

Joordens: Ich habe hier an der

örtlichen Musikschule Gesang

unterrichtet, und dort hat man

mich gefragt, ob ich nicht Lust

hätte, eine Vertretung in der

Gesamtschule zu machen. »Warum

nicht?«, habe ich mir gesagt.

Wenig später, als ich dann

vor einer ganzen Klasse Pubertierender

stand, habe ich gedacht:

»O Gott, was habe ich

nur gemacht?«

SPIEGEL: Inzwischen geht es

besser?

Joordens: Gerade die Siebtklässler

haben natürlich viel mit

ihren Hormonen zu tun. Die

haben nicht immer Bock. Aber

es findet sich irgendwie immer

ein Weg, wie man sie begeistern

kann. Und mittwochs habe ich

jetzt Neunt- und Zehntklässler,

mit denen schreibe ich sogar

ein Musical. Die Schule heißt

nach Anita Lichtenstein, einem

jüdischen Mädchen, das

hier gelebt hat und im Konzentrationslager

Lublin-Majdanek

ermordet wurde. Davon soll

das Musical handeln. Und das

geht richtig gut, das hätte

ich nicht gedacht. Die Schüler

haben so viele gute Ideen,

das können Sie sich gar nicht

vorstellen. Im nächsten April

soll Premiere sein.

SPIEGEL: Da wird der Schulleiter

ja begeistert sein.

Joordens: Ja. Bisher bin ich nur

als Vertretung an der Schule.

Aber man hat mich schon gefragt,

ob ich nicht bleiben

möchte. Johann Grolle

Joordens

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL 109


WISSEN

»Es geht darum, Hinweise auf

Leben zu finden«

SPIEGEL-GESPRÄCH Zu Weihnachten ist das teuerste Teleskop der Geschichte ins All gestartet.

Esa-Wissenschaftsdirektor Günther Hasinger über das goldene Zeitalter der Astronomie, die Zeitmaschine

»James Webb« – und die Suche nach einer zweiten Erde.

»Webb«-Teleskop (Simulation): »Blick in die Tiefe der Zeit«

Adriana Manrique Gutierrez / CIL / NASA GSFC

110 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


WISSEN

Hasinger, 67, ist Astrophysiker und Direktor

für Wissenschaft bei der Europäischen Raumfahrtagentur

Esa. Die Esa ist mit einem Anteil

von 15 Prozent am »James Webb«-Teleskop

beteiligt. Eines der vier Instrumente an Bord

stammt aus Europa, ein weiteres wurde zur

Hälfte von der Esa beigesteuert.

Das Gespräch führten die Redakteure Johann Grolle

und Christoph Seidler.

Angelina Vernetti / DER SPIEGEL

»Das Ziel ist es,

das erste Licht zu sehen,

das im Universum

aufgeflackert ist.«

SPIEGEL: Herr Hasinger, mit vielen Erwartungen

beladen ist an Weihnachten das »James

Webb«-Teleskop ins All geschossen worden.

Wann werden die ersten Bilder kommen?

Hasinger: Die ersten offiziellen Bilder werden

im Juni oder Juli veröffentlicht werden. Wahrscheinlich

wird darauf entweder eine Region,

in der Sterne entstehen, zu sehen sein

oder eine Galaxie. Jedenfalls etwas, was das

»Hubble«-Teleskop bereits gut beobachtet

hat, sodass man beide Aufnahmen miteinander

vergleichen kann.

SPIEGEL: Wie bitte? Die Esa richtet den Start

aus, sie baut Komponenten dieses Geräts, und

dann wissen Sie nicht einmal mit Sicherheit,

worauf es als Erstes gerichtet wird?

Hasinger: Es gibt ein genau choreografiertes

Skript, wann welche Informationen rausgehen.

Da hat die Nasa Vorrechte, wir sind nur

Juniorpartner. Im Übrigen ist die Kalibrierung

eine langwierige Angelegenheit. Es sind vier

Instrumente an Bord, und jedes von ihnen

hat Hunderte verschiedene Beobachtungsmodi,

bei denen man erst überprüfen will, ob

sie auch funktionieren.

SPIEGEL: Das »Webb«-Teleskop ist zum Nachfolger

des »Hubble« erklärt worden. Wurden

damit nicht automatisch Erwartungen geweckt,

die dieses Gerät gar nicht erfüllen kann?

Hasinger: Ich sehe »Webb« nicht als »Hubble«-

Nachfolger. Wir werden beide parallel betreiben,

sie können sich ergänzen. »Hubble«

wird auch künftig farb- und kraftvolle Bilder

liefern, und das »James Webb« wird sie noch

um weitere Farben bereichern. Eine wesentliche

Leistung des »Webb« wird in der Betrachtung

der Spektren liegen, in der Aufspaltung

des Sternenlichts in seine Regenbogenfarben

also. An diesen Spektren kann man

sozusagen die Fingerabdrücke der chemischen

Elemente ablesen. Daraus kann man schließen,

woraus ein Objekt besteht und wie

schnell es sich bewegt.

SPIEGEL: Anders als »Hubble«, das vor allem

im Bereich des sichtbaren Lichts seine Aufnahmen

macht, ist »Webb« ein Infrarotteleskop.

Eines der bisher aufwendigsten Esa-

Instrumente, »Herschel«, war ebenfalls ein

Infrarotteleskop, und es hat längst nicht so

prachtvolle Bilder geliefert wie »Hubble«.

Hasinger: Auch von »Herschel« gibt es fantastische

Bilder, denken Sie nur an die spektakulären

Aufnahmen von Sternentstehungsregionen.

Außerdem verfolgt die Astronomie

inzwischen den Multi-Messenger-Gedanken.

Das heißt: Sie dürfen nicht die Bilder einzelner

Teleskope betrachten, sondern die Kombination

aus mehreren. Nehmen Sie etwa den

Krebs-Pulsar, einen rotierenden Neutronenstern,

an dem ich meine Doktorarbeit gemacht

habe. Wenn Sie sehen wollen, was da

passiert, reichen die »Hubble«-Bilder nicht.

Erst wenn Sie noch Röntgenbilder darunterlegen,

sehen Sie, wie sich das dreht und wie

Teilchen rausschießen. Und wenn man sich

nun dasselbe Objekt mit »James Webb« anschaut,

dann wird man zusätzlich auch die

Gas- und Staubfetzen sehen, die um diesen

Stern herumwabern. Das ist wie in einem Kriminalfall,

den man nach vielen Jahren wieder

neu aufrollt, weil es ein neues forensisches

Verfahren gibt.

SPIEGEL: Welche Erkenntnisse versprechen

Sie sich vom »James Webb«-Teleskop?

Hasinger: Je weiter wir in die Vergangenheit

blicken, desto mehr ist das Licht ins Rote oder

sogar bis ins Infrarote verschoben. So ist das

Universum konstruiert. »Webb« sieht im Infraroten,

es ist also eine Art Zeitmaschine: Es

wird uns dieselben Bilder liefern, die »Hubble«

vor 13 Milliarden Jahren geliefert hätte.

SPIEGEL: Das klingt abstrakt.

Hasinger: Wir befinden uns derzeit in einem

goldenen Zeitalter der Astronomie. In den

letzten zehn Jahren ist die Hälfte aller Physik-

Nobelpreise an die Astronomie gegangen –

für fundamentale Entdeckungen wie schwarze

Löcher, Dunkle Materie, Gravitationswellen

oder Exoplaneten. Derzeit stehen einige

langfristige Entwicklungen kurz vor der Fertigstellung,

die das Tempo der Entdeckungen

weiter beschleunigen werden: Das »Square

Kilometre Array« etwa, ein gewaltiges neues

Radioteleskop, ist ein weiteres Gerät, das uns,

Astrophysiker Hasinger

wenn es erst funktioniert, völlig neue Räume

eröffnen wird. Mit »James Webb« verhält es

sich ähnlich.

SPIEGEL: Welche Räume öffnet »Webb«?

Hasinger: Es gibt drei Ziele: Zum einen wird

es uns einen Blick in das früheste Universum

ermöglichen. Zum Zweiten wird uns »Webb«

mit bisher unerreichbarer Genauigkeit erlauben,

die Sternentstehung zu studieren. Denn

solche Vorgänge passieren in Gas- und Staubwolken,

die im sichtbaren Spektralbereich

trüb, im infraroten dagegen durchsichtig sind.

Und zum Dritten wird »Webb« Exoplaneten

beobachten. Es geht darum, ihre Atmosphäre

zu charakterisieren und möglicherweise auch

Biomarker, also Hinweise auf Leben, zu finden.

SPIEGEL: Würden Sie diese drei Ziele – frühes

Universum, Sternentstehung und Exoplaneten

– als die zentralen Themen der heutigen

Astronomie bezeichnen?

Hasinger: Durchaus. Bei der Sternentstehung

kennen wir die grundsätzlichen physikalischen

Gesetze bereits, nur die Komplexität

des Vorgangs ist noch nicht verstanden. Wir

werden mithilfe des »Webb« zum Beispiel

sehen können, ob sich eher große oder kleine

Sterne bilden. Die Exoplaneten dagegen sind

gewiss eine zentrale Frage der Astronomie,

Leben im All zu finden wäre für uns so etwas

wie der Heilige Gral. Und beim frühen Universum

geht es sowieso um ganz fundamentale

Fragen.

SPIEGEL: Was ist daran eigentlich so fundamental?

Hasinger: Im Moment beschäftigt uns zum

Beispiel eine Ungereimtheit in Bezug auf die

klassische Betrachtungsweise. Ihr zufolge

stand am Anfang der Urknall. Danach war

das Universum ein heißer Gasball, ähnlich

wie unsere Sonne. Es kühlte sich ab, und als

die Temperatur unter 3000 Grad sank, wurde

das Universum durchsichtig. Danach dauerte

es noch ungefähr 500 Millionen Jahre,

bis sich genügend Material an einzelnen Stellen

versammelt hatte, um einen Stern oder

eine Galaxie bilden zu können.

SPIEGEL: Und was stimmt daran nicht?

Hasinger: Forscherinnen und Forscher haben

frühe Galaxien gefunden, deren Licht darauf

schließen lässt, dass die Sterne nicht 500, sondern

höchstens 200 Millionen Jahre nach dem

Urknall entstanden sind. Niemand weiß, wie

das abgelaufen sein kann. An dieser Stelle

kommt unsere eigene Idee ins Spiel …

SPIEGEL: Sie haben Ihre ganz persönliche

Theorie?

Hasinger: Ja, und ich habe zusammen mit meiner

ehemaligen Doktorandin auch 20 Stunden

Beobachtungszeit mit »Webb« zugeteilt bekommen,

um diese Theorie zu überprüfen.

SPIEGEL: Was für eine Theorie ist das?

Hasinger: Meine Hypothese ist, dass schon

zwei Sekunden nach dem Urknall eine große

Zahl sogenannter primordialer schwarzer Löcher

entstanden ist. Sehr bald sind einige von

ihnen zu den massereichen schwarzen Löchern

angewachsen, die bis heute in den Zentren

der Galaxien sitzen. Wenn das stimmt,

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

111


WISSEN

Babybilder des Weltalls

Weltraumteleskope im Vergleich

»Hubble«-Teleskop

Licht, das sehr lange unterwegs war, ist in den

infraroten Bereich verrückt. »Hubble« untersucht

vor allem sichtbares Licht und kann solches aus

der ersten Zeit nicht mehr sehen, da es zu rot ist.

2,4 m

Urknall

Dunkles Zeitalter:

Plasma aus

geladenen Teilchen,

Licht wird blockiert.

Erste Sterne

und Galaxien

entstehen.

Bildung von

Galaxienhaufen

»James Webb«-Teleskop

Hauptspiegeldurchmesser

»Webb« ist auf die Detektion von infrarotem Licht

spezialisiert. Es kann deshalb auch Lichtquellen

aus der Frühzeit des Universums detektieren.

6,5 m

Alter des Universums in Jahren*

0

etwa 400.000

200 Mio.

10 Mrd.

13,8 Mrd., heute

S ◆Quelle: Nasa; * Zeitstrahl nicht linear

dann hätten diese schwarzen Löcher schon

sehr früh – nicht 500 Millionen Jahre, sondern

schon 50 Millionen Jahre nach dem Urknall

– die Sternentwicklung ausgelöst.

SPIEGEL: Und das »Webb«-Teleskop wird diese

ersten Schwarzen Löcher sehen können?

Hasinger: Sagen wir: Es liefert einen Baustein.

Weitere Informationen werden wir durch die

geplanten Gravitationswellen-Detektoren erhalten.

SPIEGEL: Woran werden Sie erkennen, ob Ihre

Theorie stimmt?

Hasinger: Die Hauptzielsetzung des »Webb«-

Teleskops ist es, das erste Licht zu sehen, das

im frühen Universum aufgeflackert ist. Und

unsere Theorie sagt vorher, dass es da eine

zusätzliche Population von Sternen gibt. Beim

Blick in die Tiefe der Zeit sollte »James

Webb« also 10- bis 20-mal mehr Objekte sehen,

als es dem klassischen Bild zufolge zu

erwarten wäre.

SPIEGEL: Sprechen Sie beim »Blick in die Tiefe«

von der Untersuchung des berühmten

»Deep Field« des »Hubble«-Teleskops?

Hasinger: Ja, wobei es genau genommen drei

Orte am Himmel gibt, die in diesem Zusammenhang

eine Rolle spielen. Das »Deep Field

North«; das »Ultra Deep Field« im Süden;

und das »Cosmos Field«, das zwar nicht ganz

so tief ist, dafür aber das größte der tiefen

Felder.

SPIEGEL: Ein »Deep Field« ist ein dunkler Fleck

am Himmel, in dem erst bei langer Belichtung

sehr, sehr ferne Galaxien erkennbar werden.

Wie tief ein solches Feld ist, bemisst sich dabei

nach der jeweiligen Beobachtungszeit?

Hasinger: Ganz genau. Je ferner ein Objekt

ist, desto schwächer leuchtet es am Himmel.

Deshalb möchte man möglichst viel Licht

sammeln. Dazu brauchen wir ein möglichst

großes Teleskop, aber wir müssen zugleich

auch sehr, sehr lange hinschauen. An die

»Deep Fields« werden Monate Beobachtungszeit

verwendet.

SPIEGEL: Lassen Sie uns zur zweiten großen

Forschungsfront kommen: Wird »Webb« Hinweise

auf Leben im All finden?

Hasinger: Die besten Aussichten, Leben zu

finden, hätten wir auf einer Erde 2, also einem

erdähnlichen Planeten, auf dem Bedingungen

herrschen wie bei uns. Das Problem aber ist:

Bisher kennen wir noch keine Erde 2, auch

wenn das immer wieder behauptet wird.

SPIEGEL: Inzwischen sind doch Tausende von

extrasolaren Planeten bekannt. Wie kann es

sein, dass kein erdähnlicher dabei ist?

Hasinger: Das liegt daran, dass wir ferne Planeten

immer nur anhand periodischer Signale

erkennen: Man sieht, wie der Schatten eines

Planeten periodisch vor seinem Stern vorbeizieht,

oder wie er periodisch an ihm rüttelt.

Um aber sicher zu sein, dass ein Signal periodisch

ist, müssen Sie es mindestens dreimal

beobachten. Wer also von einem fernen Planeten

aus die Erde nachweisen will, müsste

mindestens drei Jahre lang messen. Messungen

über einen so langen Zeitraum gibt es

bisher aber noch nicht. Das wird erst »Plato«

liefern, eine Esa-Mission, die 2026 starten

soll. Wenn wir Glück haben, wird »Plato« ein

halbes, vielleicht auch ein ganzes Dutzend

wirklich erdähnlicher Planeten finden.

SPIEGEL: Das heißt also: Die Planetenforschung

mit »Webb« wird frühestens erst in

fünf Jahren richtig beginnen?

Hasinger: Nein. Wir haben auch jetzt schon

interessante Studienobjekte, und zwar vor allem

Gesteinsplaneten, die um Rote Zwerge

kreisen. Allerdings haben wir da das Problem,

dass Rote Zwerge ziemlich gefährliche Genossen

sind. Diese Sterne haben pausenlos heftige

Eruptionen und schleudern dabei Strahlen

und Teilchen ins All. Deshalb dürfte es Leben

auf ihren Planeten eher schwer haben.

SPIEGEL: Die Astronomen wollen aber trotzdem

danach suchen?

Hasinger: Ja. Sie analysieren dazu das Licht

des Roten Zwergs, während ein Planet vor ihm

vorbeiwandert. In der spektralen Zerlegung

dieses Lichts hofft man, die Fingerabdrücke

von Molekülen in der Atmosphäre dieses Planeten

zu finden. Wenn man Glück hat, sind

darunter auch Biomarker, also Moleküle, die

auf die Existenz von Leben hindeuten.

SPIEGEL: Was für Moleküle könnten das sein?

Hasinger: Wenn man das Licht der Erde auf

diese Weise betrachtet, würde man darin die

Signatur von Wasser, Ozon und Sauerstoff

nachweisen können. Wasser kann auch ohne

Leben existieren, Ozon dagegen vermutlich

nicht.

SPIEGEL: Vor allem würde man Stickstoff

nachweisen, der den größten Teil der Atmosphäre

ausmacht. Aber das verrät nichts über

das Leben?

Hasinger: Das ist eine interessante Frage, die

noch umstritten ist. Es gibt eine Theorie, nach

der auch der Stickstoff auf der Erde von Leben

erzeugt wurde. Wenn das zutrifft, sollten wir

auch nach Stickstoff-Atmosphären suchen.

SPIEGEL: Einige Forscher hoffen, nicht nur

Biomarker, sondern auch Technomarker zu

finden, also Signale, die auf die Existenz von

Lebensformen mit technischer Intelligenz hindeuten.

Taugt »Webb« dafür, sie aufzuspüren?

Hasinger: Es gibt Projekte wie »Breakthrough

Listen« oder Seti, die versuchen, Signale aus

dem All aufzufangen. Aber um eine Erfolgschance

zu haben, werden dabei viele Millionen

Objekte durchmustert. Wenn aber Seti

wirklich auf ein Signal stoßen sollte, dann

wäre »Webb« ideal geeignet, diese Quelle im

Detail zu studieren.

SPIEGEL: Das »Webb«-Teleskop mag ein großartiges

Instrument sein, aber es war mit rund

zehn Milliarden Dollar auch unerhört teuer.

112 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


WISSEN

NASA, ESA, M. Livio and the Hubble 20th Anniversary Team (STScI)

Liegt die Zukunft der Astronomie in

immer gigantischeren und immer teureren

Projekten?

Hasinger: Nicht unbedingt. Es gibt

auch Beispiele, wo wir etwas Kleines

machen, was trotzdem völlig neue

Wege geht.

SPIEGEL: Zum Beispiel?

Hasinger: Erinnern Sie sich an den

Kometen ‘Oumuamua?

SPIEGEL: Der Himmelskörper, der uns

angeblich von Außerirdischen geschickt

wurde?

Hasinger: Genau. Dieses Objekt haben

wir auf Hawaii entdeckt, mit dem

»PanStarrs«-Teleskop. Als ich gerade

zur Esa gekommen war, entdeckte

»Hubble«, dass sich ‘Oumuamua

schneller aus unserem Sonnensystem

herausbewegt, als es hereingekommen

ist – was wiederum den Harvard-

Forscher Avi Loeb zu der Spekulation

veranlasste, es könnte sich um ein

Alien-Raumschiff handeln.

SPIEGEL: Was hat all das mit kleinen

billigen Raummissionen zu tun?

Hasinger: In der Wissenschaft hat

‘Oumuamua eine Diskussion über

den interstellaren Transport von Material

ausgelöst. Wir in der Esa haben

daraufhin eine Mission konzipiert:

»Comet Interceptor«. Wir wollen

dazu ein Raumschiff im All stationieren,

in der Nachbarschaft des »Webb«-

* Beide Aufnahmen stammen von »Hubble«.

»Webb« wird Infrarotaufnahmen mit dras tisch

gesteigerter Auflösung machen.

Molekülwolke im sichtbaren Licht*

Teleskops übrigens. Dort soll es darauf

warten, dass ein zur Untersuchung

geeignetes interstellares Objekt

oder ein jungfräulicher Komet

entdeckt wird.

SPIEGEL: Sie wollen eine Art Raketenbasis

mitten im All einrichten?

Hasinger: So würde ich es nicht nennen.

Wir wollen dort ein Mutterschiff

stationieren, das genug Treibstoff hat,

um sich gegebenenfalls auf einen solchen

Fremdkörper in unserem Sonnensystem

zubewegen zu können.

Dann soll diese Sonde durch die Gashülle

dieses Kometen fliegen und dort

zwei Satelliten entlassen, die sich das

genau anschauen.

SPIEGEL: Klingt faszinierend. Es wäre

eine Sensation, wenn das gelänge.

Hasinger: Das erwarte ich auch. Und

zudem kostet das System nur 175 Millionen

Euro. Andererseits kommen

wir ohne die großen Flaggschiffe wie

»Webb« auch nicht aus. Ohne die

Großen würden auch die Kleinen

leiden.

SPIEGEL: In der Erdbeobachtung ist

man von den großen, teuren Missionen

abgekommen.

Hasinger: Das stimmt. Aber die Erde

ist eine sehr helle Quelle, deswegen

braucht man keine riesigen Apparate,

um sie zu beobachten. Wir Astronomen

dagegen haben ein Problem: Je

weiter wir in die Ferne schauen, desto

geringer wird die Helligkeit der

Objekte. Folglich muss der Schirm,

den man aufspannen muss, um das

»Es gibt den

Vorschlag,

einen

Schwarm

kleiner

Satelliten

um den

Mond fliegen

zu lassen.«

Molekülwolke im infraroten Licht*

wenige Licht einzusammeln, immer

größer sein.

SPIEGEL: Die Devise »small is beautiful«

kennen Sie in der Astronomie

nicht?

Hasinger: Es gibt schon immer wie der

Ideen, wie man mit etwas Kleinem

etwas Tolles machen kann. Es gibt

etwa den Vorschlag, einen Schwarm

kleiner Satelliten um den Mond

fliegen zu lassen, um dann die Radiostrahlung

des Universums auf der

Rückseite des Mondes zu beob achten,

wo die Erde nicht stört. Aber der

Trend ist bei uns nun einmal, dass jeder

neue Satellit min destens zehnmal

besser sein soll als der vorhergehende.

Und da spielt auch die Größe eine

wesentliche Rolle.

SPIEGEL: Die Nasa plant bereits ganz

groß. Die Nationalen Akademien der

USA haben jüngst ihren Wunschzettel

künftiger Missionen geschrieben,

und ganz vorn steht der Plan, ein Riesenteleskop

zu bauen, das dereinst

»Webb« und »Hubble« beerben soll.

Die Kosten werden schon in der

Konzeption auf elf Milliarden Dollar

taxiert.

Hasinger: Ja, in ihrem Zehnjahresplan

sprechen die von einem künftigen

Sechseinhalb-Meter-Observatorium,

das empfindlich für infrarote, optische

und ultraviolette Wellenlängen sein

soll. Gleichzeitig haben die jedoch

auch einen ganzen Strauß weiterer

Vorschläge gemacht, von Ge räten im

Weltraum, aber auch am Boden. Und

das Schöne ist, dass das alles fast

nahtlos mit unseren eigenen Plänen,

der Voyage-2050-Strategie, zusammenpasst.

Es gibt überall Anknüpfungspunkte,

wo wir bei denen mitarbeiten

können und sie bei uns.

SPIEGEL: 11 Milliarden Dollar ist viel

Geld. Und wenn das künftige Teleskop

eine ähnliche Kostenexplosion

wie »Webb« erlebt, könnten es am

Ende 100 Milliarden werden. Ist so

etwas der Öffentlichkeit noch vermittelbar?

Hasinger: So ein Teleskop mag am

Ende etwas teurer werden als die jetzt

genannten 11 Milliarden. Aber eine

Kostensteigerung wie bei »Webb« –

von anfangs 700 Millionen auf am

Ende 10 Milliarden Dollar – das wird

es nicht geben. Es ist das erste Mal,

dass bei einem solchen Projekt von

Anfang an eine technische und finanzielle

Studie vorangestellt wird. Aber

ich gebe Ihnen recht: Wenn jetzt einer

käme und wollte ein Gerät für 100

Milliarden Dollar bauen, dann würde

auch ich sagen: Irgendwann stoßen

wir an Grenzen.

SPIEGEL: Herr Hasinger, wir danken

Ihnen für dieses Gespräch. n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

113


WISSEN

Der Vollstrecker

ANALYSE Die Omikron-Variante könnte helfen, dass sich das Coronavirus

schneller verwandelt – vom Killer zum jährlich wiederkehrenden Ärgernis.

N

ach fast zwei Jahren Pandemie

kann man es sich kaum vorstellen,

aber es gibt sie tatsächlich

– Coronaviren, mit denen der

Mensch seit Jahrzehnten oder gar

Jahrhunderten leidlich gut zusammenlebt.

Unter Forschern sind vergleichsweise

friedfertige Arten bekannt

wie OC43, 229E, NL63 und

HKU1. Sie verursachen Triefnasen

bei Kindern und zumeist harmlose

Infekte bei Erwachsenen.

Die Schlüsselfragen für die Zukunft

lauten: Wann reiht sich das

gefährliche Sars-CoV-2 in die Riege

seiner Verwandten ein? Und wann

geht die Pandemie über in einen für

Menschen und Volkswirtschaften erträglicheren

Zustand, den Fachleute

als »Endemie« bezeichnen? Das Virus

verbreitet sich dann nicht mehr in

aggres siven Wellen, sondern ist fortwährend

auf niedrigerem Niveau

präsent.

Die gute Nachricht lautet: Diese

Situation könnte gar nicht so weit

entfernt sein. Er »hoffe sehr«, dass der

Tag schon 2022 komme, sagt Hajo

Zeeb, Professor für Epidemiologie an

der Universität Bremen. Andere Experten

denken eher an 2024.

Die etwas enttäuschende zweite

Nachricht ist diese: Das Virus wird

bleiben, höchstwahrscheinlich für immer.

Und Covid auch. Endemie bedeutet,

so erläutert Zeeb, dass das

Virus keine Bedrohung für das Gesundheitssystem

mehr darstellt. »Wir

sehen dann allenfalls flach verlaufende

Infektionswellen bei insgesamt

geringeren Fallzahlen und quasi normaler

Belastung der Krankenhäuser.«

Lokal werde es immer wieder zu Ausbrüchen

kommen, denen die Behörden

unter anderem mit der Wiedereinführung

der Maskenpflicht in Innenräumen

begegnen könnten. Die

Zeit des großen Sterbens wäre dann

aber vorbei.

Zwei Wege nur führen hinein in

die Endemie. Massenhafte Infektion,

mitsamt Krankheit und den damit

verbundenen Todesfällen. Oder massenhafte

Injektionen mit Impfstoffen.

Katja Hoffmann / laif

Der neue

Stamm

kann zum

ersten »postpandemischen

Virus«

werden.

Barbesucherinnen

in Berlin

im April 2020

Angesichts neuer, hoch infektiöser

Virusvarianten wie Omikron ist die

Kombination aus beidem das wahrscheinliche

Ergebnis. Alle Wege führen

letztlich in der Bevölkerung zu

einer wachsenden Grundimmunität.

Sobald diese einen allerdings ziemlich

hohen Wert erreicht, wird es für den

Erreger schwer, ungeschützte Wirte

zu finden. Von da an dürfte er ein steter,

aber weniger aufsehenerregender

Begleiter der Menschheit werden.

In einem Land wie Deutschland

liegt die Endemie noch ziemlich fern,

denn die Impfquote fällt mit rund

80 Prozent der Erwachsenen weiterhin

zu gering aus. Weniger als die

Hälfte von ihnen ist geboostert.

»Wenn wir das Virus jetzt durchlaufen

lassen, werden wir viele Tote

haben und volle Intensivstationen«,

mahnte der Virologe Christian Drosten

kürzlich in einem Interview.

Drosten bescheinigt Omikron

»enorme Infektiosität«. Möglicherweise

werde die Variante aber für

einen milderen Krankheitsverlauf als

der noch vorherrschende Delta-

Stamm sorgen. Omikron habe das

Zeug, zum ersten »postpandemischen

Virus« zu werden.

Auch Zeeb ist beeindruckt von der

Ansteckungsfähigkeit des Erregers.

Dieser sei damit hoffentlich am Ende

seiner genetischen Raffinessen angelangt,

»vermutlich ist da nicht sehr

viel mehr möglich«, sagt er. Zeeb ist

»vorsichtig optimistisch«, dass die

Deutschen »halbwegs ordentlich«

durch die nächste Welle kommen.

Somit zeichnet sich ein Szenario

ab, das allerdings noch mit vielen Ungewissheiten

behaftet ist. Omikron

könnte die Impflücken in Deutschland

ausnutzen und, wegen des nach

und nach abnehmenden Impfschutzes,

sehr rasch noch sehr viele Menschen,

auch mehrfach geimpfte, infizieren.

Und für Skeptiker könnte

dieses Virus zum Vollstrecker der

Immunisierung werden; der Preis

dafür wären allerdings zahlreiche

Todesfälle.

Zwei weitere Infektionswellen –

eine jetzt, eine im kommenden Winter

– erwartet Drosten für England,

wo die Bevölkerung nach Impfung

oder durchlittener Infektion bereits

eine höhere Grundimmunität hat. In

Deutschland stehen womöglich weitere

Wellen an, wenn die Diskussion

um die Impfpflicht ergebnislos bleiben

sollte. Zudem kann es passieren,

dass weitere bislang unbekannte

Fluchtmutanten auftauchen.

Vakzinehersteller, so glaubt Zeeb,

werden weiter unter hohem Lieferdruck

stehen. »Ich gehe derzeit schon

von wiederholten Impfungen aus«,

sagt er, und das könne für längere

Zeit so bleiben. Eine Auffrischungsdosis

gegen Covid, das erwarten viele

Fachleute, könnte künftig Bestandteil

der jährlichen Grippeschutzimpfung

werden.

Niemand sollte sich Hoffnungen

machen, dass Sars-CoV-2 je wieder

verschwinden wird – so wie sein Vorgänger

Sars-CoV, der 2002 und 2003

weltweit rund 800 Menschen tötete.

Dieses Virus wirkte auf seine Opfer

derart tödlich, dass es in einer alarmierten

Bevölkerung bald keine weiteren

Wirte mehr finden konnte.

Sars-CoV-2 hat da ganz andere

Möglichkeiten. Infizierte entwickeln

zunächst keine Symptome, also tragen

sie das Virus unwissentlich weiter.

Überdies hat es sich auch im Tierreich

Verstecke geschaffen, von wo aus es

der Menschheit in immer neuer Form

wird auflauern können. Der Erreger

wurde nachgewiesen in Hunden,

Hauskatzen, in Primaten, Hirschen,

Tigern, Löwen und noch einigen Tierarten

mehr.

Deshalb haben viele Zoos jetzt

angefangen, ihre Tiere zu impfen.

Marco Evers

n

114 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


SPIEGEL GESCHICHTE

Leseprobe

Wer Troja wirklich fand

Die Heldenstadt aus der griechischen Mythologie fasziniert die

Menschen seit Urzeiten. Der deutsche Hobbyarchäologe

Heinrich Schliemann behauptete 1873, er habe sie entdeckt.

Doch das war bestenfalls die halbe Wahrheit.

Am Freitag, dem 14. August 1868, verpasste Heinrich Schliemann

die Fähre, die ihn von Çanakkale zurück nach Konstantinopel

bringen sollte. Äußerst ärgerlich für ihn, auch wenn es passte: Sein

ganzer Trip in die Troas war bis zu diesem Zeitpunkt wenig erfolgreich

verlaufen. Vergebens hatte er auf dem Hügel Balli Dağ bei

Bunarbaschi gegraben, an dem Ort also, wo nach seiner Überzeugung

die Ruinen von Troja ihrer Entdeckung harrten. Doch nach

zwei Tagen, in denen er noch nicht einmal Tonscherben fand, sah

er ein: »Die Stadt war niemals an dieser Stelle.«

Frustriert suchte er Unterkunft in einem örtlichen Hotel, in dem

er am Folgetag zumindest auf einen anregenden Gesprächspartner

traf: Frank Calvert (1828 bis 1908) war nicht nur britischer Konsularbeamter,

sondern – wie Schliemann – auch ein leidenschaftlicher

archäologischer Autodidakt. Und wie Schliemann war auch

Calvert von der Suche nach Troja besessen.

Mit einem Unterschied: Calvert glaubte, die mythische Stadt

bereits gefunden zu haben. Er war sogar derart überzeugt davon,

dass er einen Teil des vermeintlichen Fundortes angekauft und

dort ab 1863 bereits gegraben hatte – er hatte dabei sogar Vielversprechendes

gefunden.

Auf diesem Hügel namens Hisarlık Tepe, auf dem Schliemann

nur Tage zuvor gestanden hatte, ohne ihn sonderlich bemerkenswert

zu finden, hatte Calvert Relikte gefunden, die er für so beweiskräftig

hielt, dass er das British Museum um Förderung der Grabung

bat – vergebens. Auch die Veröffentlichung seiner Grabungsergebnisse

1865 im Kreise des Royal Archaeological Institute in

London blieb ohne große Beachtung.

Schliemann hingegen hörte ihm zu. »Gestern«, schrieb er am

Folgetag in sein Tagebuch, »machte ich die Bekanntschaft des

berühmten Archäologen Frank Calvert, der annimmt, wie auch ich,

daß sich das homerische Troia nirgends anders als in Hessarlik

befand.« Damit begann eine lange, problematische Beziehung, an

deren Ende der eine als Ausgräber des mythischen Troja gefeiert

werden sollte – und der andere als eigentlicher Entdecker fast

vergessen wurde. Schliemanns Name wurde weltberühmt. Wer

Frank Calvert war, muss man heute erklären.

Neues aus der SPIEGEL-Welt: Was die Forschung heute über Schliemann und seinen

spektakulären Troja-Fund weiß, erklärt die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE.

Weitere Themen im Heft

• Heldenalltag: Das Leben in der späten

Bronzezeit

• Kriegslist: War das Trojanische Pferd ein Schiff?

• Beutekunst: Wie der Schatz des Priamos

nach Moskau kam

SPIEGEL GESCHICHTE erscheint sechsmal im Jahr, fächert

jeweils ein historisches Thema anschaulich und analytisch

auf – und liefert immer auch Erkenntnisse für die Gegenwart.

ERHÄLTLICH IM ABONNEMENT (ABO.SPIEGEL-GESCHICHTE.DE),

IM ZEITSCHRIFTENHANDEL UND UNTER AMAZON.DE/SPIEGEL.

148 SEITEN; 9,90 EURO.


WISSEN

Konventionelle und »grüne« Stahlproduktion

CO 2

Eisenerz

Koks

Bisher verarbeiten

Hochöfen Eisenerz zu

Roheisen weiter, indem

sie Koks verwenden.

Dabei entsteht CO 2 .

Der im Koks enthaltene

Kohlenstoff entzieht dem

Eisenerz Sauerstoff, es

bildet sich Roheisen

(Reduktion).

Roheisen

Sauerstoff

CO 2

Konverter

Stahl

Diesem wird im

Konverter Sauerstoff

hinzugefügt, dadurch

wird CO 2 abgegeben.

Stahl entsteht.

Rupert Oberhäuser / IMAGO

Eisenerz, klimafreundlich aufbereitet

H 2 0

Bei »grünem« Stahl wird

in Direktreduktionsanlagen

Wasserstoff zur

Reduktion von Erz verwendet.

Lediglich

Wasser wird emittiert.

grüner

Wasserstoff

Dabei entsteht Eisenschwamm

– er wird, je

nach Verfahren, in einem

Elektro-Einschmelzer

Eisenschwamm

zu Roheisen oder Stahl.

Stahl

Elektro-

Einschmelzer

S ◆Grafik

Ein Nugget aus der Zukunft

INDUSTRIETECHNIK Die Stahlproduktion stößt viel mehr CO 2 aus als der weltweite Autoverkehr. Forscher arbeiten

an Plasmareaktoren, die etwa mit grünem Wasserstoff die schmutzigen Hochöfen ersetzen sollen.

W

enn die Plasmazündung im

Labor von Dierk Raabe einsetzt,

erstrahlt das Innere

seines kleinen Reaktors in einem sanften,

grüngelben Licht. Über ein Sichtfenster

beobachten der Materialforscher

und sein Team, wie sich in der

Kammer der Tausende Grad Celsius

heiße Lichtbogen, ähnlich dem eines

Schweißgeräts, entwickelt. Hier drinnen

erzeugen die Forscher Wasserstoffplasma

– und damit womöglich

den Stahl der Zukunft. Das heiße Teilchengemisch

schmilzt Erz und reduziert

es zu ganz besonderem Eisen.

Zuvor haben die Forscher einige

Hundert Gramm rotes, krümeliges

Hämatit, bekannt als Blutstein, in die

Brennkammer gegeben. Solches Erz

wird auch in den klassischen Hochöfen

eingesetzt. Aber in Raabes Labor

arbeitet ein Lichtbogenofen: Die

Metallurgen verschließen ihn, leiten

Argon und Wasserstoff hinein – dann

wird gezündet.

Bei rund 1600 Grad Celsius wandelt

sich das Hämatit zu immer feineren

Metallklümpchen. Raabe hütet

das Endprodukt, einen glänzenden

Eisen-Nugget, wie einen Schatz. »Das

ist kohlenstofffreies Eisen, das direkt

zu Stahl weiterverarbeitet werden

kann. Sein CO 2-Fußabdruck liegt bei

null«, sagt der Leiter des Max-Planck-

Instituts für Eisenforschung in Düsseldorf.

Nur ein paar Wissenschaftsteams

weltweit stellen auf ähnliche

Weise Eisen her.

Noch tüfteln die Forscher nur in

experimentellem Maßstab. Doch das

könnte sich schnell ändern. Stahl gilt

bis heute als Inbegriff des Industriestandorts

Deutschland. Kaum ein Gebäude

wäre ohne die Eisen-Kohlen-

Thyssenkrupp-

Arbeiter bei

Roheisen abstich:

Technik wie

vor 3000 Jahren

stoff-Legierung möglich, auch in der

Autoindustrie, dem in Deutschland

zweitgrößten Abnehmer, geht nichts

ohne den Werkstoff. 2020 wurden

hierzulande rund 36 Millionen Tonnen

Rohstahl produziert, 371 Kilogramm

pro Kopf und Jahr verbraucht.

Allerdings werden bei der Stahlherstellung

enorme Mengen des klimaschädlichen

Treibhausgases Kohlendioxid

freigesetzt. Volle elf Prozent

des weltweiten CO 2-Ausstoßes gehen

auf das Konto der Stahlproduktion,

viel mehr, als durch Luftfahrt oder

Autoverkehr entsteht. Allein Thyssenkrupp,

Deutschlands größter Produzent,

ist für rund fünf Prozent der

deutschen Kohlendioxidemissionen

verantwortlich und damit einer der

größten Einzelemittenten des Landes.

Ein Teil des Problems entsteht bereits

bei der Aufbereitung des Erzes

116 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


durch die sogenannte Sinterung. Dabei werden

die gemahlenen Rohstoffe zu kleinen

Kügelchen zusammengebacken. Doch der

Großteil des CO 2 wird direkt bei der Herstellung

im Hochofen freigesetzt. Eisen kommt

in der Natur meist nur in oxidierter Form vor,

mit Sauerstoff verbunden. Um Eisenerzen

den Sauerstoff zu entziehen, braucht es ein

sogenanntes Reduktionsmittel. Bislang ist das

überwiegend Kohlenstoff. In einem mehrstufigen

Prozess verbindet sich der Sauerstoff

aus dem Erz mit dem Kohlenstoff im Hochofen

zu CO 2 – und entweicht dann in die

Atmosphäre.

Dieser Prozess hat sich im Grunde seit der

Zeit der alten Hethiter, die vor mehr als

3000 Jahren wohl erstmals Metalle herstellten,

die dem heutigen Stahl ähneln, kaum

verändert. Damals nutzte man einfache Kohleöfen,

heute meist gigantische Hochöfen.

Und statt Holzkohle setzt die Industrie auf

weniger ruß- und schwefelhaltigen Koks –

allerdings wird schon bei der Produktion dieser

festen Klumpen Kohlendioxid freigesetzt.

Zusammen mit den Prozessen im Stahlwerk

entweichen am Ende je nach Schätzung pro

produzierter Tonne Stahl rund 1,8 Tonnen

Kohlendioxid in die Luft.

Den Herstellern ist das Problem bewusst.

Sie müssen angesichts verschärfter Klimavorgaben,

teurer CO 2-Zertifikate und gestiegener

Nachfrage nach klimafreundlichem Stahl ihr

Geschäft neu erfinden.

Nur ein paar Kilometer von Raabes Labor

betreibt Thyssenkrupp direkt am Rhein den

größten Standort Europas. Echte Ruhrpott-

Industrie-Stahlproduktion: von der Erzanlieferung

über die Koksherstellung, vom Hochofen

zum Stahlwerk, dann zum Walzwerk bis

hin zu fertigen, dünnen Blechen. Ein Teil

dieser Kette wird verschwinden.

Bis zum Jahr 2045 sollen die vier Hochöfen

erlöschen, dann will das Unternehmen klimaneutral

wirtschaften. »Dafür setzen wir auf

Direktreduktionsanlagen«, sagt Matthias

Weinberg, Leiter des Kompetenzcenters Metallurgie

bei Thyssenkrupp. Statt Koks wird

dabei Wasserstoff eingesetzt, denn der kann

den Sauerstoff aus Eisenerz binden – statt

Kohlendioxid entsteht dabei Wasserdampf.

Die erste Anlage soll 2024 fertiggestellt werden,

2030 die zweite. Dann, verspricht das

Unternehmen, wird der Kohlendioxidausstoß

um 30 Prozent niedriger sein als 2018.

Im neuen Prozess entsteht bei rund

1000 Grad aber kein glühendes Flüssigmetall,

sondern sogenannter Eisenschwamm. Weinberg

zeigt auf ein Glas mit grauen Kügelchen

auf seinem Schreibtisch. Würde man sie aufschneiden,

käme ihre poröse Struktur zum

Vorschein. Für grünen Stahl wird dieser Eisenschwamm

in einem Elektro-Ofen eingeschmolzen.

Dann geht es zurück in die konventionelle

Produktionskette.

Noch sind allerdings manche Fragen offen.

Etwa wo die Unmengen an grünem Wasserstoff

herkommen sollen, die für die Prozesse

benötigt werden. Seine Herstellung ist enorm

Saudi-Arabien soll Wasserstoff

für saubere Produktion

bei Thyssenkrupp liefern.

WISSEN

energieaufwendig, und nur, wenn dafür Strom

aus Wind- oder Solarenergie eingesetzt wird,

ist der Wunderstoff tatsächlich klimaneutral.

Thyssenkrupp selbst will nicht im großen

Stil zum Wasserstoffproduzenten werden. Gerade

hat der Konzern deswegen eine Kooperation

mit einem Projekt in Saudi-Arabien

bekannt gegeben, bei dem Wasserstoff über

Solarstrom erzeugt und dann nach Deutschland

gebracht werden soll. In der Übergangszeit

wird man in Duisburg die Direktreduktionsanlagen

wohl mit Erdgas speisen. Das Gas

lässt sich in ein Gemisch aus Wasserstoff und

Kohlenmonoxid umwandeln. Klimafreundlich

ist das nicht. Viele Stahlunternehmen gehen

ähnliche Wege und planen Investitionen in

Milliardenhöhe. Bei der Salzgitter AG sollen

ab 2022 so täglich 2,5 Tonnen Stahl produziert

werden, ein geringer Anteil an den rund 6 Millionen

Tonnen erzeugtem Rohstahl jährlich.

In Nordschweden läuft bereits eine Pilotanlage,

die wasserstoffreduzierten Eisenschwamm

herstellt. Das Projekt in Luleå, an

dem neben dem schwedischen Stahlkonzern

SSAB unter anderem auch der Energiekonzern

Vattenfall beteiligt ist, will jeden Schritt der

Stahlherstellung dekarbonisieren. Auch grünen

Wasserstoff will man in der Region produzieren.

Den Ökostrom für die dazu nötige

Elektrolyse sollen Windräder liefern. Im Sommer

meldeten die Schweden die ersten 100

Tonnen Öko-Eisenschwamm. 2026 will der

Konzern als erstes Industrieunternehmen weltweit

CO 2-freien Stahl auf den Markt bringen

und die Prozesse bis dahin weiter optimieren.

Allerdings hat das seinen Preis: »Wir gehen

davon aus, dass ein Auto um einen niedrigen

dreistelligen Eurobetrag teurer werden würde,

wenn der Stahl aus Direktreduktionsanlagen

stammt, die mit grünem Wasserstoff

arbeiten«, sagt auch Matthias Weinberg.

Die Direktreduktion ist zudem weniger

innovativ, als es scheint. Ähnliche Anlagen

machen schon seit Jahren rund fünf Prozent

der weltweiten Produktion aus. Auch elektrische

Lichtbogenöfen, die immens viel

Strom verbrauchen, werden schon verwendet,

etwa zum Einschmelzen von Stahlschrott.

Doch es geht auch anders. In Österreich

ist die Voestalpine, ein kleinerer Stahlproduzent,

an einem radikalen Projekt beteiligt. Es

lässt ahnen, wie die Anlage der Düsseldorfer

Forscher einmal aussehen könnte. In Donawitz

in der Steiermark steht ein mehr als zehn

Meter hoher Turm, in dessen Reaktorkammer

Eisenerz ebenfalls mit Wasserstoffplasma reduziert

wird. Allerdings zündet die Anlage

den Plasmastrahl mit einer Grafitelektrode.

Dabei entsteht zwar, anders im Labor von

Dierck Raabe, auch etwas CO 2. Die Grafitelektrode

hat dafür einen enormen Vorteil:

»In einem einzigen Prozessschritt wird im

Wasserstoffplasma, das an der Elektrodenspitze

brennt, Eisenerz direkt zu Stahl umgewandelt.

Ein elektrischer Einschmelzer in

Kombination mit Direktreduktion wird nicht

mehr benötigt«, sagt Johannes Schenk von

der Montanuniversität Leoben, einer der Projektleiter.

Das Verfahren habe ein enormes

Potenzial für eine komplett neue Verfahrensroute.

Der Rohstahl kann direkt durch Beimischung

von beispielsweise Chrom, Nickel

oder Mangan zu einer der rund 3500 Stahlsorten

veredelt werden.

Pro Charge benötigt ihr Plasmastahlwerk

30 Minuten – übrig bleiben neben rund

50 Kilo gramm Stahl ungefähr 40 Liter Wasser.

Bisher haben die Forscher nur einige Hundert

Kilogramm Eisenerz mit dem Verfahren verarbeitet.

»Noch zerschneiden wir die Stahlproben

nach den Versuchen für weitere Analysen

und Untersuchungen«, sagt Schenk. Er

schätzt, dass das Verfahren in 10 bis 15 Jahren

in industriellem Maßstab einsetzbar sein kann.

Andere Wissenschaftler verfolgen die Idee

einer Stahlindustrie, die ganz ohne heiße

Öfen auskommt. Sie setzen dabei auf die

Elektrolyse, angetrieben durch grünen Strom.

Daran wird beispielsweise an einer Pilotanlage

bei Metz in Frankreich geforscht. Dort

siedeln sich die Eisenatome an der Kathode

an, während an der Anode Sauerstoffbläschen

aufsteigen. Anschließend kann aus dem Eisen

Stahl hergestellt werden. Der Prozess soll dank

verhältnismäßig niedriger Temperaturen weniger

Energie als die konventionelle Stahlindustrie

verbrauchen, die CO 2-Emissionen

würden um 87 Prozent reduziert, heißt es.

Auch Boston Metal, ein US-Start-up, das

vom Massachusetts Institute of Technology

aus gegründet wurde, verfolgt ein ähnliches

Konzept, setzt aber auf hohe Temperaturen.

Ob solche Verfahren in der Lage sein werden,

den steigenden Stahlbedarf zu decken, darf

derzeit eher bezweifelt werden. Bis sie marktreif

sind, wird es ohnehin dauern.

Zeit braucht auch Raabes Wasserstoffplasma

reaktor noch. Für die erste Generation

der neuen Industrieanlagen kommt er wohl

zu spät. Der Wissenschaftler sucht derzeit

nach den idealen Bedingungen, unter denen

der Wasserstoff tief in das Erz eindringen

kann und das Eisenoxid schnell und so effizient

wie möglich reagiert.

Raabe will seinen Reaktor etwa auch mit

Rotschlamm füttern können, giftigem Abfall

aus der Aluminiumproduktion, der aber immer

noch einen guten Anteil Eisenoxid enthält.

Das Material wird oft in Deponien unter

freiem Himmel gelagert. Gelänge es, den Rotschlamm

für die Stahlproduktion zu verwenden,

könnte man zusätzlich ein Umweltproblem

lösen.

Für das kohlenstofffreie Eisen aus seinem

Reaktor hat er schon eine sehr sinnvolle Verwendung.

Zu Weihnachten wollte er seiner

Frau daraus Ohrringe anfertigen lassen.

Jörg Römer

n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

117


Kultur

Die Geschichten hinter den Geschichten –

der besondere Rückblick

Die Akte Mockridge

NR. 39/2021 »Du bist ziemlich durchgedreht gestern« – Im September berichteten Ann-Katrin Müller und Laura

Backes über Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen Comedian Luke Mockridge. Neben seiner Ex-Freundin

Ines Anioli, die ihn der Vergewaltigung beschuldigte, sprachen mehr als zehn Frauen von Grenzüberschreitungen.

E

s war eine der am härtesten geführten

Social-Media-Debatten des Jahres:

Rund um Anioli und Mockridge hatten

sich im Netz Teams gebildet, die sich gegenseitig

mit schlimmen Vorwürfen überhäuften,

ohne überhaupt zu wissen, um was es

konkret ging. Wir recherchierten also, um

herauszufinden, was dahintersteckte, lasen

die Ermittlungsakten, fanden eine Ex-Freundin

von Mockridge, die eidesstattlich versicherte,

sie habe eine ähnlich toxische Beziehung

erlebt wie Anioli. Und wir sprachen

mit mehr als zehn Frauen, die sagten, Mockridge

sei bei ihnen übergriffig gewesen.

Die Veröffentlichung löste ein großes

Echo aus, Moderator Klaas Heufer-Umlauf

äußerte sich dazu, beim Deutschen Comedypreis

forderte die Schauspielerin Maren

Kroymann einen anderen Umgang mit

dem Fall, Comedian Hazel Brugger und ihr

Mann Thomas Spitzer trugen dort T-Shirts

mit dem Aufdruck »Konsequenzen für Comedian

XY«. Da berichteten auch die Boulevardmedien

breit. Gleichzeitig gab es viel

Kritik, es war von einem Pranger die Rede

und von der Unschuldsvermutung, wobei

die natürlich auch für Anioli gelten müsste.

Die Komiker Oliver Pocher und Tom Gerhardt

stellten sich an die Seite von Mockridge,

andere, die sich zuvor solidarisch mit

ihm gezeigt hatten, löschten ihre Kommentare

bei Instagram. Wir bekamen Hassnachrichten.

Medien schrieben, teilweise stark

verzerrend und fehlerhaft, über unsere Berichterstattung,

hinterfragten, ob man bei

dem Thema Verdachtsberichterstattung

machen dürfe. Und Mockridge klagte. Das

Landgericht Köln sah unsere Berichterstattung

grundsätzlich als zulässig an, gab ihm

nur in einem Punkt recht, wir mussten vier

Sätze vorläufig streichen. Mockridges Anwalt

zog dann mit den anderen Punkten vor

das gleichrangige Landgericht Hamburg,

das den Fall annahm und eine längere Passage

zu den Vorwürfen Aniolis untersagte.

Dagegen gehen wir vor, inhaltlich und formell,

notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht.

Unserer Meinung nach dürfte es

nicht sein, dass man von Gericht zu Gericht

ziehen kann, bis man eines findet, das

einem mehr zuspricht.

118 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL


Stadtschloss mit

Kloverbot

SPIEGEL.DE VOM 18. MAI

»Mitarbeiter beklagen Demütigung

und Überwachung« –

Elisa von Hof und Ulrike Knöfel

berichten über das Betriebsklima

im Humboldt Forum, wenige

Wochen vor der Öffnung

fürs Publikum.

Lange vor der Einweihung

war das Humboldt Forum im

neuen Stadtschloss in Verruf geraten,

vor allem wegen des Planes,

koloniale Raubkunst auszustellen.

Kurz vor der Öffnung

fürs Publikum kam ein weiterer

Skandal hinzu. So enthüllten der

SPIEGEL und das ZDF-Politmagazin

»Frontal 21« nach gemeinsamen

Recherchen im Mai

2021, dass sich viele Mitarbeiter

des Besucherservice schikaniert

fühlten. Sie berichteten sogar

von dem Verbot, während der

Arbeitszeit die Toilette aufzusuchen.

Die Verantwortlichen

dementierten etliche Vorwürfe

und gaben trotz filmischer Beweise

auch nur teilweise und

vage zu, dass Führungskräfte

gegen Regeln zum Schutz vor

Kein Ort für Kritik

Corona verstoßen hätten. Nicht

dementieren ließ sich eine

schwarze Liste, die beiden Redaktionen

vorlag. Ihr zufolge

galten Mitarbeiter als problematisch,

wenn sie sich angeblich

einen Betriebsrat wünschten,

»sozial eingestellt« waren oder

Rassismus beanstandeten. Ebenso

wurde vermerkt, ob jemand

eine Psychotherapie in Anspruch

nahm. Auffällig vielen wurde

gekündigt, oder sie kündigten

von sich aus. Zwar kritisierte

dann sogar die damalige und für

das Forum mitverantwortliche

Regierung die Zustände, nur

blieb das ziemlich folgenlos. Die

Geschäftsführerin der zuständigen

Tochtergesellschaft wurde

freigestellt – doch ihre zweite

Tätigkeit bei der übergeordneten

Stiftung Humboldt Forum blieb

unberührt. Außerdem gab es

weitere Kündigungen, ebenso

neue Vorwürfe von Mitarbeitern,

darunter der einer körperlichen

Einschüchterung durch

Führungskräfte. Das Humboldt

Forum bestätigte »einen Vorgang«,

beschuldigte aber die beschäftigte

Person. Was für ein

Heuchel-Forum.

NR. 18/2021 »Toxische Herrschaft«

– Im April berichtete

Elisa von Hof über ein Klima

der Angst am Berliner Maxim

Gorki Theater. Mitarbeitende

schil derten Machtmissbrauch,

verbale Gewalt und Übergriffigkeit

durch die Intendantin

Shermin Langhoff.

Versuche, sich dagegen zu

wehren, seien gescheitert, hieß

es. Viele verließen das Haus.

Obwohl der Berliner Senat von

den Beschwerden der Mitarbeitenden

wusste und ein Mediationsverfahren

in Gang setzte,

das scheiterte, verlängerte Kultursenator

Klaus Lederer den

Vertrag der Intendantin bis

2026. Auf Nachfrage teilte die

Senatsverwaltung mit, zur Kommentierung

der Vorgänge Zeit

zu benötigen. Man versprach,

unaufgefordert auf den SPIEGEL

zuzukommen. Nach der Berichterstattung

veröffentlichte das

Theater ein Statement, in dem

es sich selbst lobte. Dort hieß es:

»Wenn Mitarbeiter*innen verbal

angegriffen, nicht wahrgenommen

und enttäuscht wurden,

nehmen wir das ernst.«

Wer Mitarbeitende heute fragt,

hört das Gegenteil. »Es wurde

nie akzeptiert, dass wir Angst

haben. Und es wurde nie für

realistisch befunden, dass Menschen

deshalb das Haus verlassen«,

berichtet eine am Haus

beschäftigte Person. Wer Kritik

übe, fürchte weiterhin, entlassen

zu werden. Vor wenigen Wochen

wurde die Apologie am

sichtbarsten Ort eines Theaters

ausgestellt, auf der Bühne. Dort

feierte ein Musical von Yael

Ronen Premiere. In »Slippery

Slope« geht es unter anderem

um Enthüllungsjournalistinnen,

die überall Machtmissbrauch

wittern und mutmaßlichen Opfern

Vorwürfe in den Mund

legen: »Missbrauch und Manipulation,

Gewalt in jeder Form,

Wutanfälle und schlechte Kommunikation,

Einschüchterung,

Lügen«, singt ein Chor dem narzisstischen,

liebenswürdig-naiven

Beklagten vor. Man will ihm

den Kopf tätscheln und die gemeinen

Journalistinnen in die

Anzeigenabteilung versetzen.

Der Senat hat sich bisher übrigens

nicht gemeldet.

Wolfgang Maria Weber / TV Yesterday

Was macht einen

Juden zum Juden?

NR. 47/2021 »Maxim Biller

und ich sind uns so ähnlich

wie ein Nackensteak und eine

Fleischtomate« – Im SPIEGEL-

Gespräch mit Tobias Becker

wehrte sich der Publizist Max

Czollek gegen den Vorwurf,

seine Familiengeschichte gefälscht

zu haben.

Man könnte es als gute Nachricht

lesen: Jude zu sein und als

Jude zu sprechen, das war in

Deutschland 2021 so begehrt,

dass es zum Gegenstand eines

Streits werden konnte. Mehr

Anerkennung geht nicht. Der

Schriftsteller Maxim Biller hatte

Czollek vorgeworfen, er sei nur

ein »Faschings- und Meinungsjude«,

weil seine Mutter keine

Jüdin sei. Es entspann sich eine

Feuilletondebatte, in der Diskutanten

mit heiligem Ernst übereinander

herfielen, oft auch die

Frage diskutierend, wer über die

Frage diskutieren darf: nur Juden

oder auch Nichtjuden? Keine

leichte Ausgangslage, fand

ich, ein katholischer Deutscher,

und machte meine Un sicherheit

zu einem Gegenstand des Interviews.

Das Ziel: erst mal zuhören,

nicht verhören. Im Gespräch

entwickelte sich eine Idee

davon, was meine Unsicherheit

und die allzu große Sicherheit

manch anderer Diskutanten

Mustafah Abdulaziz / DER SPIEGEL

Czollek

über die Lage des Judentums in

Deutschland erzählen. Die Reaktionen

darauf erzählten vor

allem viel über Debatten. Ein

Journalist der Tageszeitung »Die

Welt« warf mir Unterwürfigkeit

vor und Czollek eine neue Lüge.

Aus der auch schon nicht ganz

uneitlen Ausgangsfrage der Debatte,

wer warum für wen sprechen

darf, wurde die Frage, wer

wen wann kontaktiert hat. Aus

dem Judentheater, das Czollek

beklagt hatte, ein Journalistentheater.

Schließlich räumte Czollek

ein, sich in einer Antwort

ungenau ausgedrückt zu haben.

Und so ist am Ende einer komplizierten

Debatte fast nichts

klar, bis auf dies: Der Vorwurf

der Lüge, des Betrugs, der Fälschung

geht zu vielen zu locker

von der Hand. In einem großen

Konflikt kann es klug sein, kleinere

Wörter zu nutzen.

Superhelden als

Kinoretter

NR. 17/2021 »Filmriss« – Lars-

Olav Beier berichtet über die

pandemiebedingten Umwälzungen

im Filmgeschäft, über die

Krise des Kinos und den Siegeszug

der Streamingdienste.

Als wir im Frühjahr mit

Brancheninsidern über die Zukunft

des Kinos sprachen, war

die Stimmung schlecht. Angesichts

von knapp 70 Prozent

Umsatzeinbußen im Jahr 2020

hatten einige Filmtheater für

immer schließen müssen. Es

könnte sein, dass die Zuschauer

nach der Pandemie nur noch

aus »Sentimentalität« ins Kino

gehen würden, meinte Stefan

Arndt von der Berliner Firma

X-Filme sarkastisch. Acht Monate

später sind die Zahlen besser

als im Vorjahr, aber weit

unter den Werten vor Corona.

Der Bond-Film »Keine Zeit zu

sterben« lief erfolgreich, das

Superheldenspektakel »Spider-

Man: No Way Home« brachte

bereits mehr als eine Milliarde

Dollar ein und liegt bisher über

den Erwartungen. Doch die

Krise sei noch lange nicht vorbei,

sagt Martin Moszkowicz

von der Münchener Constantin.

Die Branche lebe »von der

Substanz und der Hoffnung auf

das Publikum«.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

119


KULTUR

Autorin Yanagihara in ihrem Apartment: Ein Orgasmus auf dem Cover

Natalie Keyssar

120 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


KULTUR

Das wahre Paradies

LITERATURSTARS Mit »Ein wenig Leben« gelang Hanya Yanagihara aus dem Nichts

ein Weltbestseller über Freundschaft, Scham und Verrat. Ihr neuer Roman

saugt wie ein Schwamm die Strömungen der Gegenwart auf. Von Claudia Voigt

E

ine Woche vor dem Treffen mit der

Schriftstellerin Hanya Yanagihara in

ihrer Wohnung in Soho, Manhattan,

schickt die Agentin per Mail noch einige Informationen:

die Adresse, wie der Fahrstuhl

funktioniert, und als letzter Satz steht dort:

»No shoes in the apartment.« Die Schuhe

ausziehen? Verbirgt sich hinter dieser Aufforderung

– von der eigenen Agentin verschickt

– die Starattitüde einer amerikanischen

Schriftstellerin?

Seit Yanagihara vor sechs Jahren den Roman

»Ein wenig Leben« veröffentlichte, ist

sie ein Star, auch wenn dieses Wort im Literaturbetrieb

skeptisch betrachtet wird. In

Deutschland erschien ihr 1000-Seiten-Werk

2017, auf dem Cover ist das Gesicht eines

Mannes zu sehen, der zu schreien scheint;

tatsächlich wurde er beim Orgasmus fotografiert.

Das Bild war gut gewählt, es hat sich

fast noch stärker eingeprägt als die Geschichte

von vier New Yorker Freunden, die Yanagihara

in »Ein wenig Leben« erzählt, einer

von ihnen hat schlimmste Missbrauchserfahrungen

machen müssen. »Ach, das Buch!«,

so reagieren die meisten Leserinnen und Leser,

wenn das Gespräch darauf kommt. Es

verkaufte sich weltweit zweieinhalb Millionen

Mal. Erst nach diesem Erfolg wurde Yanagiharas

Debüt »Das Volk der Bäume« ins

Deutsche übersetzt.

Anfang Januar nun erscheint ihr dritter

Roman »Zum Paradies«, er kommt in den

USA und Europa zeitgleich in die Buchläden,

was ein Indiz für den Wirbel ist, der um die

Autorin veranstaltet wird. »Zum Paradies«

ist wieder fast 1000 Seiten lang geworden,

doch der Roman unterscheidet sich in vielerlei

Weise von dem Buch zuvor. Es geht zum

Beispiel nicht um Missbrauch, so viel sei

schon mal verraten.

Yanagiharas Wohnung liegt in einer der

sechs, sieben Straßen, die dem New Yorker

Stadtteil Soho seinen legendären Ruf einbrachten:

gusseiserne Fassaden, große Fensterflächen.

Doch die Pandemie hat selbst in

diesem teuren Viertel Spuren hinterlassen,

zwischen den Boutiquen namhafter Labels gibt

es einigen Leerstand. Zwar warten vormittags

um elf vor dem Chanel-Laden ein paar Leute

Hanya Yanagihara: »Zum Paradies«. Aus dem Englischen

von Stephan Kleiner. Claassen; 896 Seiten; 30 Euro.

in einer Schlange, aber das Feinkostgeschäft

Dean & DeLuca, das so vielen Filmen und

Serien als Kulisse diente, gibt es nicht mehr.

»Was ist Ihr Eindruck von New York?«,

fragt Yanagihara. Ja, Covid habe der Stadt

zugesetzt, aber seit sie 1995 herkam, gehöre

das Gerede dazu, wie viel aufregender New

York früher gewesen sei. »Es ist schwerer geworden,

in der Stadt ein Mittelschichtsleben

zu führen. Aber irgendwie hält die Romantik

an, selbst jetzt kommen junge Leute, die sich

einen Namen machen wollen.«

Der enge Fahrstuhl war scheppernd in den

ersten Stock gefahren, an der Wohnungstür

wurden die Schuhe weisungsgemäß abgestreift.

Die Schriftstellerin selbst bewegt sich

sogar barfuß über den Dielenboden ihrer

Wohnung.

Es ist ein etwa 60 Quadratmeter großes

Zimmer, in dem sie lebt, es wird von einem

deckenhohen Bücherregal in zwei Räume

geteilt. Was sich dahinter befindet, ist nicht

einsehbar, zahlreiche Buchrücken verstellen

den Blick. An der Wand gegenüber vom Regal

hängen an die 40 Kunstwerke unterschiedlicher

Größe – Fotos, Zeichnungen,

Gemälde – eng gefügt vom Boden bis zur

Decke. In dem Raum zwischen der Bücherund

der Bilderwand befinden sich eine Küchenzeile

– ein Esstisch mit Stühlen, über

denen bunte Decken liegen – und eine Sitzecke,

zu der ein lederner Lounge Chair und

ein Sofa mit gemusterten Kissen gehören. Der

erste Eindruck: Farbigkeit und eine auffällige

Präsenz von Kultur und Schönheit.

Es zählt zu den Besonderheiten von Yanagiharas

Büchern, dass Stil und Geschmack

darin viel Raum einnehmen, über lange Abschnitte

werden die Lebenswelten der Protagonisten

ausgemalt. In »Ein wenig Leben«

zum Beispiel konnte der Selbstverletzungswahn

des Helden Jude noch so zerstörerisch

sein – es wurden auch die Badezimmerkacheln

beschrieben, auf denen er lag, während

er sich tiefe Schnitte zufügte. Man kann diesen

Leid und Schönheit sind

oft ins Melodramatische

übersteigert.

unbedingten Willen zum Ästhetizismus, der

sich auch in Yanagiharas neuem Roman »Zum

Paradies« zeigt, manieriert finden. Sie nennt

die Amerikanerin Edith Wharton als ein

Vorbild, die in den ersten Jahrzehnten des

20. Jahrhunderts nach Europa zog, viel reiste

und einen illustren Freundeskreis pflegte.

Whartons Fähigkeit über visuelle Hinweise

zu erzählen, findet Yanagihara beispielhaft.

»Ich glaube, man kann den Leser die Stimmung

und die Werte jener Menschen, über

die man schreibt, über Dinge und Objekte

spüren lassen.«

Wenn man in Yanagiharas Wohnung sitzt,

kommt einem zudem der Gedanke, dass die

eigenen vier Wände eben auch jener Ort sind,

den man sich anders als den Rest der Welt

nach eigenem Geschmack erschaffen kann.

Er bietet Rückzug, Kontrolle, Schutz. Verstärkt

wird der Eindruck durch die heruntergezogenen

Rollos; draußen ist ein strahlender

Dezembertag, doch das Apartment liegt im

Halbdunkel. In der Küchenecke bereitet die

Schriftstellerin einen Lapsang-Souchong-Tee

zu. Dieser Tee wird in ihrem neuen Roman

in einer Schlüsselszene serviert und von

jemandem, der die Sorte nicht mag, als

»übermäßig rauchendes Holzfeuer in flüssiger

Form« beschrieben. Sie brüht die geräucherten

Blätter mit Kennerschaft auf und serviert

den Tee in hübschen Tonbechern – er

schmeckt würzig, aber nicht zu schwer. Mit

untergeschlagenen Beinen setzt sie sich dann

zwischen die vielen farbigen Kissen auf ihr

Sofa. Eine professionelle Ausstrahlung umgibt

sie: Das ist hier kein privates Treffen, ihr neuer

Roman soll das Thema sein.

»Zum Paradies« besteht aus drei Teilen,

deren Handlungen nichts miteinander zu

tun haben. Sie spielen im Abstand von etwa

100 Jahren im selben Haus am Washington

Square in New York, der Roman beginnt 1893,

und der erste Teil heißt auch so: »Washington

Square«.

Doch zuerst mal fällt auf, wie schwer dieses

Buch ist, wie groß und leuchtend Yanagiharas

Name auf dem schwarzen Cover steht.

Die selbstbewusste Geste, mit der die Amerikanerin

als Schriftstellerin auftritt, ist für

eine Autorin noch immer ungewöhnlich. Die

dicken Wälzer liefern ja meist Männer. Die

Überzeugung, sehr viel zu erzählen zu haben,

gehört ihnen fast immer noch exklusiv. Dass

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

121


KULTUR

eine Schriftstellerin sich da einreiht,

ist erst mal bemerkenswert.

Yanagihara arbeitet tagsüber als

Chefredakteurin der »New York

Times«-Beilage »T«, eines Magazins,

dessen Themen Stil, Kultur und

Mode sind, und sie sagt, dass sie

am fiktionalen Erzählen das Ausschweifende

mag. »Als Schriftsteller

kann man machen, was man will.

Es ist eine viel zügellosere Tätigkeit,

es gibt keine Beschränkungen,

niemanden, der einem sagt, dass

man dieses oder jenes kürzen muss.

Man schreibt nur für sich selbst

und um das Ende der Geschichte zu

erreichen.«

Im Mittelpunkt des ersten Teils

steht David Bingham. Er lebt mit seinem

Großvater in einem weitläufigen

Haus am Washington Square, es gibt

Dienstmädchen und eine erlesene

Einrichtung, Seezunge und Teegebäck

werden serviert, man gehört

zur vermögenden Schicht. Doch

schnell schleicht sich eine Irritation

ein: Davids Schwester ist mit einer

Frau verheiratet, sein Bruder lebt mit

einem Mann zusammen, sie haben

Kinder adoptiert, und das alles wird

im Ton schönster Selbstverständlichkeit

erzählt.

Die Gleichberechtigung zwischen

Frauen und Männern ist schon weiter

fortgeschritten, als es heute in der

Realität der Fall ist. Wie das historisch

möglich gewesen sein könnte, interessiert

Yanagihara nicht sehr, vielmehr

reizt sie die literarische Versuchsanordnung.

Denn David Bingham

ist noch unverheiratet, und sein

Großvater, ein Bankier, möchte endlich

eine standesgemäße Partie für

den Mitte 20-Jährigen finden. Er

schlägt einen älteren, verwitweten

Botanischer Garten

auf Oahu Island:

»Jeden Tag auf

die Berge und den

Ozean schauen«

Ein Teil von

ihr liebt

Hawaii, ein

anderer

braucht die

Großstadt.

Mann vor, aber David verliebt sich

leidenschaftlich in einen Klavierlehrer.

Nun gibt es bereits einen Roman,

der »Washington Square« heißt, Henry

James hat ihn 1880 veröffentlicht,

und er erzählt von einer jungen Frau,

die einen verarmten Mann heiraten

will, weshalb ihr Vater mit Enterbung

droht. Die Parallele zu Henry James

hat Yanagihara gewählt, um die Verhältnisse

dann zu verschieben und zu

gucken, was sich daraus ergibt. Obwohl

David Bingham ein Mann ist

und in einer Gesellschaft lebt, die seine

Homosexualität akzeptiert, gilt

auch seine Liebe zum Klavierlehrer

als nicht standesgemäß. Doch am

Ende nimmt er sich eine Freiheit heraus,

die seinen weiblichen Pendants

in der Literaturgeschichte nicht möglich

war.

Der zweite Teil des Romans mit

dem Titel »Lipo-wao-nahele« spielt

im Jahr 1993, die Aids-Epidemie hat

in der New Yorker Schwulenszene

schon viele Tote gefordert, und in

dem Haus am Washington Square

lebt nun ein Rechtsanwalt namens

Charles mit seinem deutlich jüngeren

Partner David. Im Mittelpunkt dieses

Teils steht ein Abschiedsfest für einen

Freund von Charles, der todkrank

ist – Krebs, kein Aids – und bei einem

Abendessen seinen Freunden Lebewohl

sagen möchte.

David fühlt sich in der Gesellschaft

von Charles’ Upperclass-Freunden

nicht wohl. Er ist in dieser an Genuss

satten Welt mehr Beobachter seines

eigenen Lebens, als dass er darin eintauchen

würde. Er wurde auf Hawaii

geboren und scheint sich für seine

Herkunft zu schämen. Welches Geheimnis

sich dahinter verbirgt, erfährt

Robert Harding / INTERFOTO

der Leser in einem sehr langen Brief

von Davids Vater, in dem dieser seinem

Sohn erzählt, wie es dazu kam,

dass er ein Leben führt, ohne dieses

Leben jemals für sich gewählt zu

haben.

Der dritte Teil macht allein die

Hälfte des Romans aus und führt ins

Jahr 2093. Das Land, in dem New

York liegt, das aber nie als USA benannt

wird, ist politisch zerrüttet. Es

herrscht ein autoritäres Regime, und

im Haus am Washington Park lebt der

Wissenschaftler Charles Griffith mit

seiner Enkelin Charlie. Dieser Teil

wird als Briefroman erzählt, in Form

von Mails, die der alternde Charles

an einen Freund schickt. Aus ihnen

geht hervor, welche Ereignisse zu dem

dystopischen Alltag geführt haben.

Tödliche Epidemien haben den Seuchenschutz

zum obersten Gebot

werden lassen, das Internet wurde

abgeschaltet, der Alltag ist streng

reglementiert, New York wurde in

Zonen eingeteilt, zwischen denen sich

die Bewohner nur mit Shuttles bewegen

können. Charles war beteiligt

an diesen Schritten, was er nachträglich

bereut.

So wie die ersten beiden Teile vor

Pracht und Überfluss glitzern,

herrscht im dritten Teil nun Mangel:

ein Mangel an Gefühlen, an Geselligkeit,

Gesprächen und Menschlichkeit.

Es gibt kein Grün mehr am Washington

Park, und zu den Mahlzeiten

kommen Pferdefleisch und Erbsen auf

den Tisch. Man kennt diese Erbarmungslosigkeit,

noch die hintersten

Winkel von Schmerz und Leid auszuleuchten,

schon aus ihrem Roman

»Ein wenig Leben«; diesmal breitet

Yanagihara ein gedämpftes Grauen

aus und erzählt in »Zone Acht«, wie

der dritte Teil heißt, von einem Leben,

dessen Sinn darauf reduziert ist,

weiterhin zu existieren.

Wer das Buch nach 896 Seiten aus

der Hand legt, hat den Eindruck, drei

Romane gelesen zu haben. Zwar steht

das Haus am Washington Square immer

im Mittelpunkt, aber es ist eine

äußere Klammer, die Figuren, die es

bewohnen, wissen nichts voneinander,

nichts von dem Leben in den

Jahrzehnten zuvor. Allerdings finden

sich, je weiter man liest, Themen und

Motive in »Zum Paradies«, die den

Roman wie auf einer unterbewussten

Ebene durchziehen.

Eine naheliegende aktuelle Deutung

– Parallelen zu ziehen zwischen

den Pandemien, die im dritten Teil

wüten, und Corona – interessiert Yanagihara

nicht. »Ich weiß, das klingt

unwahrscheinlich«, sagt sie, »aber als

Covid kam, war ich schon so tief drin

122 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


KULTUR

im dritten Teil, dass sich für mich kein großes

Echo ergab durch Covid. Es ist ja zum Glück

auch viel weniger tödlich als die Krankheiten,

von denen ich schreibe.«

Sie hat in den Mittelpunkt des Buchs ein

schöneres, mit Sehnsucht aufgeladenes Motiv

gesetzt: Hawaii. Immer wieder geht es um die

fiktive und reale Historie dieser Inseln, um

deren Kunstschätze, darum, dort geboren zu

sein oder Vorfahren von dort zu haben. Die

biografischen Fäden mehrerer Figuren führen

dorthin. Auf die Frage, was Hawaii für sie

bedeutet, antwortet Yanagihara: »Ich betrachte

es als meine Heimat.«

Ihre Urgroßeltern sind aus Japan nach

Hawaii eingewandert, ihre Eltern wuchsen

auf den pazifischen Inseln auf. Yanagihara,

die in Los Angeles zur Welt kam, hat mehrere

Jahre auf Hawaii gelebt; als sie ein Kleinkind

war, dann wieder im Alter von acht und

neun Jahren, auch ihre Highschoolzeit hat sie

hier beendet.

Sie spricht klar und analytisch, doch als die

Unterhaltung auf Hawaii kommt, klingt eine

andere Seite an, sie gerät ein wenig ins

Schwärmen: »Je älter ich werde, desto erstaunlicher

finde ich es, dass ich dort jeden

Tag auf die Berge und den Ozean schauen

kann.« Ihre Eltern leben heute wieder da, sie

würde es auch tun, sie kenne das Gefühl, dort

ohne Ironie zu denken: Wie glücklich bin ich,

hier zu sein. Doch ein anderer Teil von ihr

braucht die Großstadt vor der Tür.

Vergangenes Jahr hat sie fünf Monate auf

Hawaii verbracht. »Dort mache ich mir nie

Gedanken, ob die Leute unhöflich zu mir sind,

weil ich Asiatin bin. Und wenn ich in einem

Restaurant anrufe und sage, mein Name ist

Yanagihara, fragt mich niemand, ob ich das

mal buchstabieren könnte.«

Während sie spricht, wird deutlich, unter

welchen Ausgrenzungen sie gelitten hat, vor

allem als Mädchen in Texas während der

Achtzigerjahre. Sie berichtet davon, dass Mitschülerinnen

ihr Gesicht im Werkunterricht

einmal in eine Schüssel mit Terpentin gedrückt

haben, wie sie mit Dingen beworfen

wurde. Sie ist dann zu ihren Großeltern nach

Hawaii gegangen, um die Schule zu beenden.

»Es ist ein so vielfältiger Ort, kulturell, soziologisch

und botanisch, fast überall gibt es

wunderbare und einzigartige Dinge zu betrachten.«

Die Sehnsucht nach diesem Ort hat sie

ihren Romanfiguren eingeschrieben, auch das

Gefühl, fremd zu sein, dort, wo man ist, sich

woandershin zu wünschen. »Zum Paradies«

ist ein Roman, der von nichts so richtig handelt,

eher ist es so, als ob man einer großen

Zwiesprache der Autorin mit sich selbst beiwohnen

würde. Wobei betont werden muss,

dass Yanagihara eine umwerfende Geschichtenerzählerin

ist, sie kann süffig und spannend

schreiben.

Der Wirbel um ihre Person ist groß derzeit:

Es gibt Interviews, das Magazin »New Yorker«

plant ein Porträt, die Gesprächszeit mit

ihr wurde von der Agentin auf anderthalb

BELLETRISTIK

1 (x) Juli Zeh

Über Menschen

2 (x) Sebastian Fitzek

Playlist

Luchterhand; 22 Euro

Droemer; 22,99 Euro

3 (x) Lucinda Riley

Die verschwundene Schwester Goldmann; 22 Euro

4 (x) Nele Neuhaus

In ewiger Freundschaft

5 (x) Benedict Wells

Hard Land

6 (x) Carsten Henn

Der Buchspazierer

7 (x) Dirk Rossmann / Ralf Hoppe

Der Zorn des Oktopus

8 (x) Jussi Adler-Olsen

Natrium Chlorid

9 (x) Susanne Abel

Stay away from Gretchen

10 (x) Simon Beckett

Die Verlorenen

11 (x) Helga Schubert

Vom Aufstehen

Ullstein; 24,99 Euro

Diogenes; 24 Euro

Pendo; 14 Euro

Lübbe; 20 Euro

dtv; 25 Euro

dtv; 20 Euro

Wunderlich; 24 Euro

dtv; 22 Euro

12 (x) Kerstin Gier Vergissmeinnicht – Was man

bei Licht nicht sehen kann S. Fischer; 20 Euro

13 (x) Matt Haig

Die Mitternachtsbibliothek

14 (x) Bernhard Schlink

Die Enkelin

15 (x) Ewald Arenz

Der große Sommer

16 (x) Ken Follett

Never – Die letzte Entscheidung

17 (x) Dirk Rossmann

Der neunte Arm des Oktopus

18 (x) Judith Hermann

Daheim

Nach »Unterleuten«

legt die Autorin einen

zweiten großen Gesellschaftsroman

über

das Leben in der brandenburgischen

Provinz

vor, erzählt davon

diesmal aber etwas

versöhnlicher und

warmherziger. | Platz 1

19 (x) Edgar Selge

Hast du uns endlich gefunden

Droemer; 20 Euro

Diogenes; 25 Euro

DuMont; 20 Euro

Lübbe; 32 Euro

Lübbe; 20 Euro

S. Fischer; 21 Euro

Rowohlt; 24 Euro

20 (x) Alena Schröder Junge Frau, am Fenster

stehend, Abendlicht, blaues Kleid dtv; 22 Euro

Jahresbestseller

SACHBUCH

1 (x) Hape Kerkeling

Pfoten vom Tisch!

2 (x) Ferdinand von Schirach

Jeder Mensch

Piper; 22 Euro

Luchterhand; 5 Euro

3 (x) Mai Thi Nguyen-Kim Die kleinste

gemeinsame Wirklichkeit Droemer; 20 Euro

4 (x) Sahra Wagenknecht

Die Selbstgerechten

5 (x) Anne Fleck

Energy!

Campus; 24,95 Euro

dtv; 25 Euro

6 (x) Frank Schätzing Was, wenn wir einfach

die Welt retten? Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro

7 (x) Eckart von Hirschhausen Mensch, Erde!

Wir könnten es so schön haben dtv; 24 Euro

8 (x) Marianne Koch

Alt werde ich später

9 (x) Florian Illies

Liebe in Zeiten des Hasses

10 (x) Richard David Precht

Von der Pflicht

11 (x) Barack Obama

Ein verheißenes Land

12 (x) Elke Heidenreich

Hier geht’s lang!

dtv; 18 Euro

S. Fischer; 24 Euro

Goldmann; 18 Euro

Penguin; 42 Euro

Eisele; 26 Euro

13 (x) Barack Obama / Bruce Springsteen

Renegades

Penguin; 42 Euro

14 (x) Robin Alexander

Machtverfall

Siedler; 22 Euro

15 (x) Boris Herrmann / Andreas Wolfers

Allein zwischen Himmel und Meer

C. Bertelsmann; 24 Euro

16 (x) Peter Wohlleben

Der lange Atem der Bäume

Ludwig; 22 Euro

17 (x) Joe Miller / Uğur Şahin / Özlem Türeci

Projekt Lightspeed

Rowohlt; 22 Euro

18 (x) Ralph Bollmann

Angela Merkel

19 (x) Laura Malina Seiler

Zurück zu mir

20 (x) Sophie Passmann

Komplett Gänsehaut

Ein Panorama der

späten Zwanziger- und

Dreißigerjahre. Figuren

der Zeitgeschichte wie

Simone de Beauvoir,

Henry Miller oder Bertolt

Brecht erleben Affären

und eine Zeit politischer

Um wälzungen. | Platz 9

C. H. Beck; 29,95 Euro

Rowohlt; 15 Euro

Kiepenheuer & Witsch; 19 Euro

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

123


KULTUR

SPIEGEL TV Programm

Schlittenhundeführer Josie

TERRA X

SAMSTAG, 1. 1., 19.15 – 20.15, ZDF

Nordamerikas versteckte

Paradiese

Für Naturliebhaberinnen und -liebhaber

zählen die unberührten Landschaften

Nordamerikas zu den schönsten der

Erde. Die »Terra X«-Dokumentation entführt

in abgelegene, menschenleere und

wilde Gegenden in Kanada und den USA.

Vom hohen Norden des nordamerikanischen

Kontinents bis weit in den wilden

Westen, den entlegenen Osten und tief in

den Süden. Nördlich des Polarkreises

führt Schlittenhundeführer Paul Josie als

Mitglied der Vuntut Gwitchin First Nation

ein Leben in klirrender Kälte. Die Biologin

und Pferdeschützerin Celeste Carlisle

erforscht wilde Mustangs in Nordkalifornien,

und an der Ostküste bei Maine

widmet sich ein Forscherteam riesigen

Buckelwalen. Die Autorinnen unternehmen

eine Reise zu den unterschiedlichen

Landschaften. Die 60-minütige »Terra

X«-Folge lädt zum Träumen ein und stellt

Sehnsuchtsorte und besondere Menschen

vor, die sich mit großer Begeisterung

für »Nordamerikas versteckte Paradiese«

einsetzen.

Notfallsanitäter im Einsatz

SPIEGEL TV

SPIEGEL TV

MONTAG, 3. 1., 23.25 – 0.00 Uhr, RTL

Helfen an vorderster Front –

die Retter der Main-Metropole

Drogensüchtige auf Entzug, einsame

Rentner, gestürzte Kleinkinder

und entlaufende Heimbewohner –

die Not fallsanitäter des Frankfurter

Arbeiter-Samariter-Bundes sind

nicht erst seit Corona im Dauerstress.

Jeder Einsatz bedeutet für sie ein

neues Schicksal.

SPIEGEL TV WISSEN

SONNTAG, 2. 1., 20.15 – 21.45 Uhr, SKY

Die Flugzeugverschrotter

Was passiert mit Flugzeugen, die in den

Ruhestand gehen? Fast jeder zehnte

Flieger landet bei den Luftfahrtspezialisten

von eCube Solutions in Wales.

Hier werden die ausgemusterten Maschinen

fachgerecht in ihre Einzelteile

zerlegt, recycelt oder für den Weiterverkauf

aufbereitet. Die termingerechte

Ausschlachtung – immer ein Wettlauf

gegen die Zeit.

eCube-Solutions-Mitarbeiter in Wales

SPIEGEL TV

SPIEGEL TV

Stunden festgelegt. Yanagihara hat höflich

noch mal Tee nachgeschenkt, allerdings nicht

für sich selbst, das ist ein Hinweis.

Doch das Gespräch kann nicht enden,

ohne mit ihr über Homosexualität zu sprechen.

Über männliche Homosexualität. Es

gibt kaum weibliche Figuren in ihren Büchern

und fast keine heterosexuellen Paare. Selbstverständlich

ist ihr das bewusst, doch sie ist

eben auch Journalistin und retourniert erst

mal mit einer Gegenfrage: Ob ich denn glauben

würde, dass Jude, der Schmerzensmann

aus »Ein wenig Leben«, und sein engster

Freund Willem ein schwules Paar seien?

Sie sei sich da nicht so sicher. Sind Jude und

Willem schwul, nur weil sie eine liebevolle

romantische Beziehung haben? Diese Frage

sei hiermit an alle Fans des Romans weiterge

geben.

Und was die wenigen Frauenfiguren in

ihren Büchern angeht, hat sie eine Antwort

parat, von der sie selbst sagt, dass sie etwas

oberflächlich klinge: »Es interessiert mich,

Menschen zu erforschen, die anders sind als

ich, die andere Erfahrungen machen. Und ich

weiß, wie es ist, eine Frau zu sein.«

Ein Thema offen zu lassen, das steht ihr

als Schriftstellerin zu. Um sich mitzuteilen,

schreibt sie ja ihre Romane – und das tut sie

auf eigenwillige Weise: Eine an Serien geschulte

Dramaturgie mit bildstarken Schilderungen

und Cliffhangern unterbricht sie durch

essayistische Passagen. Leid und Schönheit

sind bei ihr oft ins Melodramatische übersteigert.

Ein Brief kann in ihrem Roman schon

mal 130 Seiten dick sein; historische Zusammenhänge

fiktionalisiert und verwischt sie

gern. Manchmal zieht sich das, doch ihre Fabulierkunst

kann auch so ins Fliegen kommen,

dass es einen mitreißt; und sie hat keine Angst

vor ganz großen Gefühlen. Die Frau, die zwischen

den bunten Kissen auf ihrem Sofa sitzt,

ist wirklich eine zeitgenössische Schriftstellerin:

Ihre Bücher sind wie Schwämme für die

Strömungen der Gegenwart.

Als das Gespräch schon fast sein Ende erreicht

hat, gibt Yanagihara noch einen Schlüssel

preis. Scham, sagt sie, sei das Thema, das

sie vielleicht am stärksten beschäftige. Viele

ihrer Figuren sind von diesem Gefühl beherrscht.

Jude in »Ein wenig Leben«, der sich

furchtbar schämt, für die Misshandlung, die

er erleben musste. Und auch in »Zum Paradies«

schämen sich die Männer: dafür, dass

sie noch nicht verheiratet sind; dass sie auf

Hawaii aufwuchsen, fern von den Codes der

Stadt New York; dass sie sich geirrt haben,

als Wissenschaftler etwas Richtiges wollten

und das Falsche taten.

Und während des Small Talks zum Abschied

blitzt der Gedanke auf, dass die Mail

der Agentin, »no shoes«, höflich gemeint war

und helfen sollte, einen peinlichen Moment

zu vermeiden. Keine Scham entstehen zu

lassen zwischen der Schriftstellerin, die

hawaiianische Traditionen pflegt, und der

Journalistin aus Europa, die mit ihren Schuhen

Straßendreck hineingetragen hätte. n

124 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Abschied vom

Tausendsassa

KARRIEREN Um die Führung der Berliner

Festspiele gab es viel Stunk.

Nun soll der neue Intendant Matthias Pees

für Harmonie und Glamour sorgen.

M

it Mitte zwanzig tauschte

Matthias Pees den Beruf des

Theaterkritikers gegen den

des Dramaturgen aus. Er quartierte

sich in Los Angeles bei dem Schriftsteller

Heiner Müller ein, den er erst

ein paar Monate zuvor kennengelernt

hatte und arbeitete einen Winter lang

in Müllers kalifornischer Residenz.

Mit Mitte dreißig schipperte Pees mit

dem Regisseur Christoph Schlingensief

tagelang auf dem Amazonas und

dem Rio Negro herum und half beim

Inszenieren der Wagner-Oper »Der

fliegende Holländer« in der brasilianischen

Dschungelstadt Manaus.

Als Unterstützer und Dienstleister

aufregender Künstler scheint sich

Pees, 51, bis heute zu begreifen. Über

seinen Job in Frankfurt am Main, wo

er noch einige Monate lang Intendant

des vor allem für Gastproduktionen

bekannten Künstlerhauses Mousonturm

ist, sagt er: »Vielleicht sollten

die Leiterin oder der Leiter einer Kulturinstitution

heutzutage nicht mehr

diejenigen sein wollen, die sich vorrangig

selbst tolle künstlerische Ereignisse

ausdenken. Sondern sollten

stattdessen versuchen, den Künstlerinnen

und Künstlern erst mal Raum,

Geld, Begegnung und Wahrnehmung

zu verschaffen und sie ihre Arbeit tun

lassen.«

In seinem künftigen Amt hat Pees

mehr Spielraum, Budget und Aufmerksamkeit

zu vergeben. Von September

an soll er als neuer Intendant

die Berliner Festspiele leiten. Die vom

Bund finanzierte Institution richtet

gleich eine Handvoll Festivals und

diverse Veranstaltungen in den

Sparten Theater, Musik und Kunst

aus; darunter das Berliner Theatertreffen,

das Jazzfest und das Musikfest

Berlin sowie die Ausstellungen

im Gropius Bau.

Pees meint, dass moderne Kulturmanager

sich vor allem als Gastgeber

Bühnenleiter Pees

im Frankfurter

Mousonturm mit

einem Modell

des Theatersaals:

»Künstlerinnen und

Künstlern Raum,

Geld, Begegnung und

Wahrnehmung

verschaffen«

verstehen sollten und weniger als

künstlerische Tausendsassas. Damit

unterscheidet er sich stark von seinem

Vorgänger Thomas Oberender, 55.

Der war zehn Jahre lang Chef der

Berliner Festspiele und zeigte großen

Ehrgeiz dabei, seine eigenen Kunstideen

umzusetzen, zuletzt im Oktober

mit dem spektakulären Zehn-

Tage-Event »The Sun Machine Is

Coming Down«.

Oberender hört zum Jahresende

auf. Es ist ein vorzeitiger Abschied,

offiziell auf eigenen Wunsch. Der Vertrag

des Festspielchefs war allerdings

erst im November 2020 um fünf Jahre

verlängert worden. Die Demission

hat, wie im Dezember bekannt wurde,

womöglich mit einem angeblich

toxischen Führungsstil Oberenders

zu tun. Ehemalige Untergebene bezichtigten

ihn in einem Dossier der

Ausübung psychischen Drucks, klagten

über »Drohgebaren« und eine

sehr hohe Arbeitsbelastung. Der

scheidende Intendant habe etwa Mitarbeiterinnen

zum Weinen gebracht;

mindestens drei Frauen aus dem Festspiele-Apparat

hätten einen Burn-out

erlitten. Oberender bestreitet die Vorwürfe.

Sein Nachfolger Pees wurde von

einer sechsköpfigen Findungskommission

aus zahlreichen Bewerberinnen

und Bewerbern für das Amt

bestimmt. Pees nennt die Berliner

Festspiele »eine Riesenlegende«. Historisch

hätten sie bewiesen, »dass sich

Christoph Boeckheler

KULTUR

über künstlerische Ereignisse auch

politisch Fenster aufmachen lassen«.

Als zwischen den Blöcken des Kalten

Krieges eine Annäherung unmöglich

schien, hätten die Festspiele sie künstlerisch

gewagt.

Tatsächlich wurden die Festspiele

vor 70 Jahren, im September 1951,

im Westen der Stadt mit einer politischen

Mission ins Leben gerufen.

Politiker wie der damalige Regierende

Bürgermeister Ernst Reuter und

sein Kultursenator Joachim Tiburtius

sprachen von einem »geistigen Verteidigungsbeitrag«

des Westens und

von einer »Kulturoffensive«, es folgten

legendäre Auftritte von Martin

Luther King oder Vladimir Horowitz

und Theaterhöhepunkte von Robert

Wilson und Luca Ronconi.

Vor allem in den Jahren rund um

den Mauerfall entwickelten die Festspiele

unabhängig von den Ideen

ihrer Gründer ein Eigenleben und,

wie Pees meint, »eine unglaubliche

innovative Strahlkraft« auf den gesamten

deutschen Kulturbetrieb.

Pees sagt, er hoffe, die einzelnen

Teile der Festspiele stärker verbinden

zu können. Während vergleichbare

Institutionen wie das Pariser Festival

d’Automne oder die Wiener Festwochen

vom Publikum als zusammenhängende

Kulturspektakel mit

internationalem Anspruch aufgefasst

werden, scheint das Festspieleprogramm

bis heute tatsächlich in

Einzelaktionen zu zerfallen.

Sein Ziel sei es, »die Intendantenarbeit

nicht nur von der Institution

her zu denken, sondern vor allem

vom künstlerischen Angebot her«,

sagt Pees. Er wolle die Eindrücke und

Vorschläge vieler kundiger Menschen

einsammeln, die sich mit den einzelnen

Festivals auskennen. Im Idealfall

könnten die Festspiele, die als Instrument

der Politik erfunden wurden,

künstlerisch Einfluss auf die Politik

nehmen, als »Modellversuch für

Wandel«, so Pees.

Osteuropas Blick auf den Westen,

den die Berliner Festspiele traditionell

in die Stadt zu holen trachteten,

sei »heute wieder total relevant«. Zugleich

seien künstlerische Positionen

und Weltsichten aus dem Süden

»durch den Klimawandel, durch Fragen

nach Klimagerechtigkeit noch

wichtiger geworden«.

Pees selbst hat vor seiner Intendantenarbeit

in Frankfurt mehrere

Jahre lang in Brasilien mit eigener

Firma als Kulturproduzent gearbeitet.

»Man kann sagen: Mit den Perspektiven

des Südens beschäftige ich mich

seit anderthalb Jahrzehnten.«

Wolfgang Höbel

n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

125


KULTUR

»Ich bin nicht mit geballter Faust

auf die Welt gekommen und

habe geschrien: ›Black Power!‹«

SPIEGEL-GESPRÄCH Fast jeder Schwarze fühlt sich in Deutschland diskriminiert –

die Sängerin Joy Denalane und die Aktivistin Tupoka Ogette über ihr Leben in West und Ost

und die seltsame Vorsicht Weißer, wenn es um Rassismus geht.

Ende November ist eine von der Antidiskriminierungsstelle

des Bundes geförderte

Studie erschienen, danach durchzieht Diskriminierung

das Leben schwarzer Menschen

in Deutschland, beim Einkauf, bei Arztbesuchen,

in Schule und Studium. 98 Prozent der

Befragten berichteten von Diskriminierungserfahrungen,

nur 2 Prozent haben nach eigenen

Angaben nie Rassismus erlebt. Mehr

als 90 Prozent gaben an, ihnen werde nicht

geglaubt, wenn sie von ihren Erfahrungen

berichten.

Bei diesem Gespräch befragen zwei Weiße

zwei schwarze Frauen. Die eine ist die Soul-

Sängerin Denalane, 48, die als erste Deutsche

einen Vertrag mit dem legendären US-Plattenlabel

Motown bekommen hat. Die andere ist

die Aktivistin Ogette, 41, Autorin des Buches

»Exit Racism«. Das Buch ist auch die Grundlage

von Seminaren, die Ogette anbietet. Wir

treffen uns im Hauptstadtbüro des SPIEGEL.

Wenn es zutrifft, dass weiße Deutsche viele

Probleme leugnen, sind aufseiten der SPIEGEL-

Leute auch Zweifel an sich selbst angebracht:

Offenbaren die eigenen Fragen blinde Flecken?

SPIEGEL: Frau Denalane, Frau Ogette, was

empfinden Sie, wenn zwei Weiße mit Ihnen

über Rassismus sprechen wollen?

Denalane: Erst mal begrüße ich das. Und ich

traue es Ihnen natürlich auch zu. Männer können

sich ja auch differenziert zu feministischen

Themen äußern und sich dabei alliieren.

SPIEGEL: Ein Mann wird wohl nie ganz verstehen,

wie es ist, eine Frau zu sein, und umgekehrt.

Die Frage ist also, ändert sich etwas

für Sie, wenn zwei Weiße vor Ihnen sitzen?

Denalane: Ich möchte die Frage zurückgeben.

Ändert sich etwas für Sie, wenn Sie uns gegenübersitzen?

Vielleicht klären Sie erst mal für sich,

warum Ihnen diese Frage so wichtig zu sein

scheint und was Sie sich von diesem Gespräch

erwarten. Für mich ist es jedenfalls normal.

SPIEGEL: Es soll hier auch um blinde Flecken

gehen, die ein schwarzer Kollege oder eine

schwarze Kollegin so wahrscheinlich nicht

hätte.

Ogette: Eigentlich ist es doch einfach: Als

Antirassismus-Vermittlerin spreche ich

tagtäglich mit weißen Menschen über Rassismus.

Ich denke, dass weiße Menschen ein

großes Interesse daran entwickeln sollten,

über Rassismus zu sprechen, weil sie eben

Teil einer Welt sind, in der sie von Rassismus

profitieren. Sie sollten dabei aber eher über

sich als über die anderen sprechen. Was bedeutet

Weißsein? Wie prägt es mich? Dennoch

höre ich aus Ihrer Frage eine Diskursverdrehung

heraus, mit der ich es häufiger zu

tun habe: die Behauptung, dass schwarze

Menschen nicht wollen würden, dass auch

weiße Menschen sich zum Thema Rassismus

äußerten.

SPIEGEL: Inwiefern eine Verdrehung?

Ogette: Weiße Menschen sind seit 500 Jahren

diejenigen, die die Deutungshoheit über diese

Themen haben und die auch zu allen anderen

Themen sprechen. Aber sie sprechen

eben dabei nicht über sich und ihre eigenen

rassistischen Denkmuster und Handlungen.

Sie sprechen über die vermeintlich »anderen«.

Schwarze Menschen und People of Color

haben eigene Stimmen und können selbst

für sich sprechen. Und ja, es gibt auch Gespräche,

die ohne weiße Menschen stattfinden,

die gibt es im Feminismus ja auch – Gespräche,

bei denen Männer nicht eingeladen

sind. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht,

dass Feministinnen nicht mit Männern reden

wollen oder schwarze Menschen nicht mit

Weißen. Diese Gespräche setzen aber eine

gewisse Selbstreflexion voraus. Außerdem ist

es wichtig zu schauen, wen laden wir ein zu

Gesprächen über Rassismus? Welche Rollen

haben die einzelnen Personen? Es ist oft Teil

des rassistischen Konstrukts, dass Individualität

verloren geht und alle in einen Topf geworfen

werden.

SPIEGEL: Deswegen haben wir ja auch Sie beide

zum Gespräch gebeten: eine Ostdeutsche

und eine Westdeutsche. Sie beschreiben sich

selbst als schwarze Frauen. Und doch haben

Sie beide weiße Mütter. Warum beschreiben

Sie sich dann als schwarz?

Denalane: Zunächst einmal sollte der Terminus

Schwarz in diesem Gespräch als Selbstermächtigungsbegriff

von Menschen afrodiasporischer

und afrikanischer Herkunft

verstanden werden und eine soziopolitische

Positionierung innerhalb einer weißen Mehrheitsgesellschaft

widerspiegeln. Deswegen

bezeichne ich mich selbst als Schwarz. Und

könnte ich in Ihren Augen denn weiß sein?

Ich habe früh in meinem Leben lernen müssen,

dass eine Trennlinie zwischen mir und

meiner weißen Umwelt verläuft, die ich nicht

gezogen habe.

Ogette: In Deutschland gibt es keinen Raum,

in dem ich nicht Schwarz bin. Dazu erzähle

ich gern folgende Anekdote: Meine weiße

Mutter kommt zur Entbindung ins Krankenhaus,

sie ist blond, hat blaue Augen, ist

1,80 Meter groß. Als ich dann aus meiner

Mutter herauskomme, zuckt die Hebamme

zurück und ruft: »Oh, das ist schwarz.« Ich

bin nicht mit geballter Faust auf die Welt

gekommen und habe geschrien: »Black

Power« – hätte ich vielleicht machen sollen

im Nachhinein. Aber ich wurde von dem Moment

meiner Geburt an als schwarz markiert.

Und auch bei Ihrer letzten Frage merke ich

übrigens wieder eine Diskursverdrehung.

SPIEGEL: Inwiefern?

Ogette: Die Geschichte wird oft mittendrin

begonnen. Die Realität ist: Die Selbstbezeichnung

ist die Reaktion auf die Fremdbezeichnung.

Weiße Menschen haben während des

transatlantischen Sklavenhandels Weißsein

als Kategorie erfunden, um ein System aufzubauen,

von dem sie auf Kosten anderer

wirtschaftlich profitieren können. Sie haben

Menschen in bestimmte Gruppen kategorisiert

und auch als Fremde benannt. Darin liegt

der Ursprung dafür, dass es diese Kategorien

überhaupt gibt. Das wird oft vergessen. Dann

heißt es: Oh, warum nennt ihr euch denn so

oder so? Die Frage führt aber in die falsche

Richtung. Denn eigentlich wäre ich gern einfach

nur Tupoka, das Individuum. Aber ich

treffe auf eine Welt, die seit Jahrhunderten

diese Kategorisierungen vornimmt und in der

126 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


KULTUR

Musikerin Denalane,

Autorin Ogette

in Berlin: »Ich hatte

einen Verehrer,

der sagte: ›Du bist

gar nicht wie die

Mädchen auf MTV‹«

ich und Menschen wie ich Alltagsrassismus

erleben. Um mich darin zu

behaupten, hilft mir rassismuskritische

Sprache und die Selbstbezeichnung

Schwarz. Dieser Begriff Schwarz

bezieht sich nicht auf die Hautfarbe,

sondern ist ein politischer Begriff, er

bezieht sich auf Erfahrungen und auf

den Widerstand gegen eine rassistische

weiße Welt.

SPIEGEL: Frau Denalane, wie haben

Sie Ihre Identität in einem schwarzweißen

Elternhaus entwickelt?

Denalane: Ich bin mit beiden Elternteilen

und meinen fünf Geschwistern

aufgewachsen. Das war nicht bei allen

schwarzen Kindern in meinem Umfeld

der Fall. Viele wurden ausschließlich

mit ihrem weißen Elternteil groß.

Da fehlte dann oftmals eine in den

ersten Jahren prägende Identifikationsfigur.

Ogette: Wie bei mir. Mein Vater musste

als Landwirtschaftsstudent aus

Tansania die DDR nach dem Studium

wieder verlassen.

Denalane: Meine Eltern sind gemeinsam

von Heidelberg nach West-Berlin

gezogen, weil sie die Hoffnung hatten,

hier eine tolerantere Gesellschaft vorzufinden.

Mein Vater hatte eine sehr

reale Vorstellung davon, was Rassismus

bedeutete: Er kannte die Grausamkeit

der Apartheid, denn er kam

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL

1960 aus Südafrika nach Deutschland,

um Zahnmedizin zu studieren. Der

Rassismus, der ihm dann hier begegnete,

war weitaus subtiler. Man muss

bedenken, dass das Ende des Zweiten

Weltkriegs noch nicht weit zurücklag.

Und wie wir heute wissen, konnten

unzählige Menschen mit NS-Vergangenheit

Karriere in der Bundesrepublik

machen. Ob im Verwaltungswesen,

der Polizei, der Politik, den Schulen

oder Universitäten. Auch meine

Mutter hat früh lernen müssen, dass

ihre Beziehung zu einem schwarzen

Mann teilweise auf Ablehnung stieß.

Sie hatte aber die Gewissheit, Teil

einer Gesellschaft zu sein, zu deren

Mehrheit sie gehörte.

SPIEGEL: Worin hat sich das gezeigt?

Denalane: Sie legte Wert darauf, dass

wir uns niemals ungerecht behandeln

lassen. Sie ging in unzählige Lehrerund

Direktorengespräche und überprüfte

deren Vorwürfe auf ihren Gehalt.

Sie war aber auch nie darum verlegen,

angebrachte Kritik an uns weiterzugeben.

Insgesamt war die Sensibilität, die

unsere Eltern für das Thema Rassismus

in unserer Gesellschaft hatten, sehr

groß und dadurch unwahrscheinlich

wichtig für unsere gesunde Entwicklung.

Ich fühlte mich von ihnen geliebt,

gesehen und verstanden.

SPIEGEL: Frau Ogette, Sie schreiben

in Ihrem Buch, viele Weiße richteten

sich in einer Welt ein, in der Rassisten

immer die anderen seien, die Rechtsextremen

und so weiter. In Wahrheit

seien wir jedoch alle rassistisch. Das

ist zwar nachvollziehbar, führt aber

zu jener Vorsicht, die wir am Anfang

auszudrücken versuchten, zu dem

Gefühl, dass wir es als Weiße gar nicht

richtig machen können.

Ogette: Wir alle, die wir hier in diesem

Raum sind, sind in einer Welt geboren,

in der Rassismus schon da war,

bevor wir selbst da waren, und in der

wir entsprechend rassistisch sozialisiert

wurden, genauso wie wir heteronormativ

sozialisiert werden. Da geht

es gar nicht so sehr um Schuld und

Scham. Das sind zwar Gefühle, die

aufkommen können, wenn man sich

dessen bewusst wird, doch darum

geht es nicht. Es geht darum, eine Verantwortung

zu fühlen und sich ihr

zu stellen.

SPIEGEL: Schuld und Scham sind aber

Gefühle, denen man lieber aus dem

Weg geht.

Ogette: Ich sage nicht, dass wir alle

rassistisch sind. Ich sage, dass wir alle

rassistisch sozialisiert sind. Unsere

Sprache und deswegen auch unsere

Denkmuster wurden rassistisch geprägt.

Natürlich tut es weh, bei sich

selbst diese Muster zu erkennen. Aber

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

127


KULTUR

»Menschen sind oft nicht

gut genug informiert.«

Joy Denalane

rassismuskritisch denken zu lernen, bedeutet

auch, an einer besseren Welt mitarbeiten

zu können. Einer Welt, in der schwarze

Eltern zum Beispiel nicht mehr täglich Angst

haben müssen, dass ihre Kinder Rassismus

erleben.

SPIEGEL: Sorgen um ihre Kinder haben wohl

alle Eltern. Bei Ihnen hören wir da noch Angst

vor einer anderen Bedrohung heraus.

Ogette: Natürlich wurde George Floyd letztes

Jahr in den USA nicht aus Zufall von dem

Polizisten ermordet. Wir haben hier wie dort

eine Kultur, die schwarze junge Männer als

Bedrohung, als tendenziell schuldig sieht.

Und das beginnt schon früh. Aus dem »süßen

kleinen Schokobaby« wird dann eine gesellschaftliche

Bedrohung, und Menschen halten

die Handtasche fest. Das hat Konsequenzen.

Elternteil von schwarzen Kindern zu sein

bedeutet, dass ich das aushalten muss. Es ist

für Weiße nicht schön, sich negativen Gefühlen

zu stellen, aber es ist die einzige Möglichkeit,

damit Rassismus irgendwann weniger

wird. Und: Weiße Menschen haben die

Wahl, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen

oder nicht. Das ist eines der größten Privilegien,

die Rassismus ihnen mitgegeben

hat. Schwarze Menschen und People of Color

haben diese Wahl nicht.

SPIEGEL: Schwarzsein gilt in der Popkultur

als cool. Die 32-jährige Autorin Alice Hasters

schreibt in ihrem Buch »Was weiße Menschen

nicht über Rassismus hören wollen

aber wissen sollten«, wie sie Anfang der Nullerjahre

gemerkt hat, dass die Superstars

beim Musiksender MTV oft schwarz waren.

Das sei für sie eine zwiespältige Erfahrung

gewesen. Einerseits gut, weil sie jetzt Identifikationsfiguren

hatte, andererseits seien da

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL

»Aus dem ›Schokobaby‹

wird eine Bedrohung.«

Tupoka Ogette

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL

Klischeebilder produziert worden. Wie haben

Sie das erlebt?

Denalane: Dieser plötzliche Wandel hat sich

stark auf mein Selbstbild ausgewirkt. Aber

nicht alles an der neu gewonnenen Aufmerksamkeit,

die ich nun genoss, war positiv.

Ogette: Bis ich neun Jahre alt war, bin ich in

der DDR aufgewachsen. Da war die MTV-

Kultur kein Thema. Dann bin ich nach West-

Berlin gekommen. Ich erinnere mich, dass ich

dann auf einer unbewussten Suche nach Identifikationsfiguren

war, aber das Bild von

schwarzen Menschen war tatsächlich amerikanisiert

– es waren US-Stars wie Eddie Murphy

oder Michael Jackson. Das war toll, aber

ich war eben keine US-Amerikanerin. Mir

fehlten auch weibliche Vorbilder und deutsche

Vorbilder. Als ich 12 oder 13 Jahre alt war,

hatte ich einen Verehrer, einen weißen Jungen,

der dann zu mir sagte: »Du bist gar nicht

wie die Mädchen auf MTV.« Also hatte auch

ich das Gefühl, dass ich die gesellschaftlichen

Vorstellungen vom Schwarzsein nicht bedienen

konnte. Ich habe dann in Leipzig studiert

und habe zum Beispiel die Musik von Joy

gehört. Das war ein Wendepunkt in meinem

Leben. Ich bin tagelang durch Leipzig gegangen

und habe ihre Lieder gesungen.

SPIEGEL: Frau Denalane, Sie sind in den Nullerjahren

nach Stuttgart gegangen und haben

dort mit der Band Freundeskreis zum Beispiel

das Lied »Mit Dir« aufgenommen. Max Herre,

Sänger von Freundeskreis und heute Ihr

Mann, ist Rapper, Produzent, und er ist weiß.

Was haben Sie dabei empfunden, dass Weiße

einen Musikstil übernahmen, der aus der

schwarzen Kultur kommt?

Denalane: Kulturelle Aneignung bedeutet die

Übernahme geistigen Eigentums, traditionellen

Wissens oder kultureller Artefakte einer

benachteiligten Gruppe durch Menschen, die

aus ihrer privilegierten Position heraus handeln

und dabei den Ursprung ihrer Inspiration

weder erwähnen, zum Beispiel in Interviews,

noch sie anderweitig am Erfolg teilhaben lassen.

Freundeskreis beziehungsweise die FK-

Allstars hatten in vielerlei Hinsicht eine Vorbildfunktion

in Sachen Gleichstellung und

Diskurs. Man rufe sich die Besetzung der

großartigen Performer in Erinnerung, die über

die Jahre mitgewirkt haben: Déborah, Cassandra

Steen, Brooke Russell, Gentleman,

Afrob, Sékou »The Ambassador«, Megaloh,

Max Herre und ich. Jeder war Teil der Gruppe

und stand trotzdem für sich beziehungsweise

seinen kulturellen Background. Wir alle

konnten diese Plattform für uns und unsere

Themen nutzen. Das war die Kraft und die

Besonderheit dieses losen Kollektivs.

SPIEGEL: Sie waren eine der Ersten, die

deutschsprachigen Soul gemacht haben. Was

hat Sie angeregt?

Denalane: Was ich musikalisch mache, hat

sehr viel mit der Plattensammlung meines

Vaters zu tun. Er hat Soul, Funk und Jazz gehört,

immer die neuesten Platten gekauft und

vorgespielt. Ich habe mich oft allein vor sein

Plattenregal gesetzt und die Scheiben aufgelegt,

dazu gesungen, die Texte mitgelesen

oder einfach zugehört.

SPIEGEL: Die schwarze Schriftstellerin Tsitsi

Dangarembga hat Ende Oktober den Friedenspreis

des Deutschen Buchhandels bekommen.

Die Laudatio hielt die Filmemacherin

Auma Obama, Halbschwester des früheren

US-Präsidenten Barack Obama. Beide

Frauen waren in Deutschland auf einer Filmhochschule.

In ihrer Laudatio sagte Obama,

das Gefühl der Fremdheit in Deutschland

habe geholfen, sich künstlerisch zu entwickeln,

weil sie in der Abgrenzung zu anderen

genauer erkennen konnte, wer sie ist und was

sie tun will. Fremdsein als Chance – was löst

dieser Gedanke bei Ihnen aus?

Ogette: Schwarz zu sein bedeutet nicht nur,

Rassismus zu erleben, sondern Teil einer Widerstandskultur

zu sein, die viel Schönes,

Wahrhaftiges hervorgebracht hat. An die

kann ich anknüpfen und mich darin wiederfinden:

durch Literatur, durch Musik, Tanz,

Kunst von schwarzen Menschen.

SPIEGEL: Stört es Sie, dass in Gesprächen über

Afrika der Kontinent oft wie ein Land behandelt

wird und Unterschiede zwischen den

einzelnen Ländern wegfallen?

Denalane: Ja, das stört mich sehr. Diese Menschen

sind oft nicht gut genug informiert und

zwingen dann anderen Gruppen oder Individuen

eurozentristische Sichtweisen und Meinungen

auf, die zum Teil stereotyp und diskriminierend

sind. Aber natürlich gibt es auf

dem afrikanischen Kontinent gemeinsame

Erfahrungen, die über Ländergrenzen hinausgehen.

Auch weiße Europäer suchen nach

ihren Gemeinsamkeiten und definieren sich

über ihre Errungenschaften. Beispiele dafür

sind die Philosophien seit der Antike, die

128 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


KULTUR

Ideen um die Demokratie oder später

die Aufklärung. Hier entsteht über

die nationale Identität hinaus eine

Identifikation mit Europa als gemeinsamer

kultureller Raum. Die Frage ist

nur, wer bestimmt, was typisch europäisch

oder typisch afrikanisch sein

soll – und welche Funktion haben

solche Einordnungen? Um jemanden

abzuwerten? Um jemanden aufzuwerten?

SPIEGEL: Um herauszufinden, wie

jemand geprägt ist, würde die Frage

»Woher kommen Sie?« weiterführen.

In pluralistischen Kulturen wie den

USA steht die Frage »Where are you

from?« oft am Anfang eines Gesprächs

zwischen Fremden. In Ihrem

Fall würde man mit dieser Frage

herausfinden, dass die eine aus Westdeutschland

kommt und die andere

aus Ostdeutschland. Die Frage »Woher

kommen Sie?« würde man

schwarzen Deutschen aber heutzutage

nicht mehr stellen, damit es

nicht so wirkt, als sähe man sie nicht

als Deutsche an.

Ogette: Ich antworte auf die Frage

»Woher kommen Sie?« mit: »aus

Kreuzberg, vom Supermarkt, von der

Arbeit«. Und wenn sie dann weiterfragen

»Woher wirklich?«, antworte

ich Berlin oder Leipzig. Wenn die

Menschen sich dann damit zufriedengeben,

hätte ich kein Problem damit.

Aber wenn Menschen weiterfragen,

obwohl ich die Antwort bereits gegeben

habe, die ich geben möchte,

dann handelt es sich eher um eine

Projektion der fragenden Person, als

dass es um mich als Individuum geht.

SPIEGEL: Frau Ogette, Sie sind zunächst

in der DDR aufgewachsen und

später nach West-Berlin gekommen.

Gab es unterschiedliche Formen von

Rassismus in Ost und West?

Ogette: Also offiziell hieß es in der

DDR: Rassismus gibt es nicht, die

Brüder und Schwestern aus Afrika,

wie die Werkstudenten aus Tansania,

zu denen mein Vater gehörte, sind

willkommen. Aber es war unausgesprochen

klar, dass diese Brüder und

Schwestern nicht ebenbürtig sind. Ich

habe schlimme Rassismuserfahrungen

gemacht, vor allem in Kindergarten

und Schule. Aber ich wurde auch

sehr geliebt von meiner Familie, die

alles tat, um mich zu schützen. Im

Westen, in Kreuzberg, hatte ich dann

mehr schwarze Freundinnen. Das war

eine große Veränderung.

Denalane: Kreuzberg war aber nicht

nur offen und tolerant. Die Rassismuserfahrungen

in meiner Kindheit

* Susanne Beyer und Xaver von Cranach im

SPIEGEL-Hauptstadtbüro.

Ogette, Denalane,

SPIEGEL-Redakteurin

und -Redakteur*:

Ȁndert sich etwas

für Sie, wenn Sie

uns gegenübersitzen?«

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL

habe ich allesamt dort machen müssen.

Ich bin aufgewachsen in einem

Hochhauskomplex am Gleisdreieck.

Da waren sehr viele Kinder, wir waren

oft draußen unterwegs, und das

Prinzip war leider allzu oft: Survival

of the fittest. Wenn nichts mehr gezogen

hat, dann wurde die ausländerfeindliche

Karte gespielt, die nicht

selten zu physischer Gewalt führte.

Auf dem Weg zur Schule lief ich an

unzähligen Häuserwänden vorbei,

auf denen »Ausländer raus« oder

»Türken raus« stand. In meiner

Kreuzberger Grundschule gab es diese

Klassen, in die nur türkisch- und

kurdischstämmige Kinder mit schlechten

Deutschkenntnissen kamen, um

dort von einer einzigen Lehrerin ausschließlich

auf Türkisch unterrichtet

zu werden. Das war extreme Ausgrenzung,

und diese Schüler waren

dadurch auf dem Schulhof isoliert.

SPIEGEL: Auf der diesjährigen Buchmesse

fühlten sich einige schwarze

Schriftstellerinnen und Schriftsteller

nicht willkommen, weil auch rechtsextreme

Verlage die Möglichkeit hatten,

einen Stand aufzubauen. Einige

schwarze Autorinnen blieben fern,

andere kamen. Die Autorin Jasmina

Kuhnke war nicht hingefahren und

gab ein Interview, in dem sie das begründete

und auch sagte, sie wolle

nicht von dem weißen Literaturkritiker

Denis Scheck rezensiert werden.

Nun ist es das Wesen der Literaturkritik,

dass Autoren sich nicht aussuchen

können, wer ihre Texte kritisiert.

Was sagen Sie zu Kuhnkes Haltung?

Denalane: Ich kenne das Interview

leider nicht, aber ich kann grundsätzlich

gut verstehen, dass man seine

Arbeit von jemandem rezensiert wissen

möchte, der sich im Kernthema

der Arbeit, die er bewerten soll, gut

auskennt.

SPIEGEL: Kritik kann zwar untergründig

oder unbewusst rassistisch begründet

sein, aber das muss nicht so

sein. Und man kann ja auch nicht

schwarze Künstlerinnen und Künstler

ausschließen, aus Sorge, als rassistisch

zu gelten

Denalane: Das stimmt. Aber hier haben

wir es mit einer anderen Ebene

zu tun. Wie rassismuskritisch ist ein

Rezensent, der ein Buch bespricht,

das sich mit Rassismus beschäftigt?

Das ist schon eine berechtigte Frage.

SPIEGEL: Reicht es, sich als Kritiker

auf Kennerschaft zu stützen, oder

spielt doch die Identität eine Rolle?

Muss ich als Kritikerin ähnliche Erfahrungen

haben wie die Künstlerin

oder der Künstler?

Denalane: Muss jemand Schwarz sein,

um meine Platte zu rezensieren?

Nein, natürlich nicht. Aber die Bereitschaft,

den eigenen Horizont zu erweitern

und sich zu sensibilisieren für

Themen, die man bis dahin vielleicht

noch nicht auf dem Schirm hatte, ist

essenziell, um ein präzises Urteil fällen

zu können. Wie oft aber saß ich

vor Journalist:innen, die denkbar

schlecht vorbereitet in Gespräche mit

mir gingen, um dann Rezensionen

über meine Alben zu veröffentlichen.

SPIEGEL: Frau Ogette, Sie haben vorhin

gesagt, dass Joy Denalanes Musik

Sie besonders angesprochen habe, als

Sie nach Westdeutschland kamen.

Was bedeutet sie Ihnen heute?

Ogette: Joy war damals meine imaginäre

große Schwester. Und heute ist

sie es im Realen. Das ist manchmal

noch unbegreiflich, aber sehr schön.

Bevor ich einen Workshop beginne,

höre ich immer Lieder, die mich

aufbauen, die Antirassismusarbeit

ist oft kräftezehrend. Ein Lied von

Joy gehört dazu: »Alles leuchtet«.

Das stärkt mich. Kannst du es mal

rezitieren?

Denalane: Hinter dem Spiegel, im leisesten

Laut, zwischen den Zeilen und

unter dem Staub, da ist etwas geblieben,

auf das du vertraust und das,

ohne zu zweifeln, an was Besseres

glaubt.

Ogette: Ich habe jetzt Gänsehaut.

Wenn ich mich ohnmächtig fühle, erschöpft

und dann dieses Lied höre,

weiß ich: Irgendwoher kommt das

Leuchten. Das gibt mir Kraft und

Stärke. Das klingt pathetisch. Aber

dafür bin ich Joy und ihrer Kunst

dankbar. Du machst nicht explizit Widerstandsmusik.

Aber natürlich ist

deine Musik im Widerständigen entstanden.

Das ist ein Erbe, eine Verbindung,

die an das Menschliche andockt.

Das berührt mich.

SPIEGEL: Frau Denalane, Frau Ogette,

wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

129


DEUTSCHER

REPORTER:INNEN

preis2021

REPORTAGE: Nicola Meier „Über Bord“

INVESTIGATION: Rechercheteam Pegasus-Projekt

LOKALREPORTAGE: Franziska Klemenz „Die Heimat, die uns keine ist“

WISSENSCHAFTSREPORTAGE: Vivian Pasquet, Martin Schlak „Die Welt-Impfung“

KULTURREPORTAGE: Barbara Achermann FÖłơŭŶÖũĴāũŶŋ

INTERVIEW: Julia Prosinger, Susanne Kippenberger „Was bleibt von den Ertrunkenen?“

MULTIMEDIA: Hendrik Lehmann & Team „Der BER im 3D-Modell“

PODCAST: Khesrau Behroz & Team „Cui Bono: WTF happend to Ken Jebsen?“

DATENJOURNALISMUS: Till Eckert & Team „Kein Filter für Rechts“

SPORTREPORTAGE: Thorsten Schmitz „Ins kalte Wasser“

ESSAY: Bernd Ulrich „Kann man an der Macht ein guter Mensch sein?“

FREIER REPORTER: Johannes Böhme „Und was will der Wal?“

www.ankerplatz-hamburg.de | Foto: photocase.com © complize | m.martins

Die Jury: die Journalist:innen Teresa Bücker, Felix Dachsel, Kristina Dunz, Michael Ebert, Wolfram Eilenberger,

Samira El Ouassil, Marcus Engert, Richard Gutjahr, Claus Kleber, Ulrike Köppen, Friedrich Küppersbusch,

Felicitas von Lovenberg, Uwe H. Martin, Caren Miosga, Elisabeth Niejahr, Ronald Reng, Jasmin Schreiber,

Pauline Tillmann, Maja Weber, Jessy Wellmer, Stephan Wels, Armin Wolf, Sonja Zekri, Diana Zinkler, die

Autor:innen Micky Beisenherz, Matze Hielscher, Sascha Lobo, Helge Malchow, die Schauspielerin Gesine

Cukrowski und der Schauspieler Ulrich Matthes.

www.reporter-forum.de


KULTUR

Die unnatürliche Mutter

FILMKRITIK Darf eine Frau Kinder als Last empfinden, als Landplage?

Maggie Gyllenhaal zeigt in ihrem Regiedebüt »Frau im Dunkeln«

schmerzende Konflikte. Und verhilft Olivia Colman zu einem großen Auftritt.

E

in einziges Mal konzentriert die

kleine Elena ihre Energien nicht

auf ihre Mutter, zerrt nicht an

ihr herum, verlangt nicht nach einem

Eis, stört sie nicht bei ihrem Nickerchen.

Das eine Mal wendet sich Elena

ihrer geliebten Puppe zu. Und beißt

ihr ins Gesicht.

Niemand hat das an diesem heißen

Strandtag auf einer Insel im griechischen

Teil der Ägäis gesehen außer

Leda (Olivia Colman). Die Literaturprofessorin,

die halb zum Arbeiten,

halb zum Entspannen da ist, hat Elena

und ihre Familie seit ihrem lauten

Eintreffen am Strand beobachtet. Der

Biss in die Puppe löst nun in ihr etwas

Ungeheuerliches aus. Als die Puppe

verloren geht, findet Leda sie wieder.

Und lässt sie in ihrer Strandtasche

verschwinden, statt sie dem Kind

wiederzugeben.

Objektiv gibt es keinen Grund, warum

Leda so handelt. Das kleine Mädchen

ist völlig aufgelöst ohne seine

Puppe, und die ohnehin gebeutelte

Mutter bekommt ihr Kind nun gar

nicht mehr unter Kontrolle. Subjektiv

gibt es aber viele gute Gründe, warum

es Leda trotzdem tut. Weil ein nerviges

Kind eine Strafe verdient hat. Weil

Leda keine Lust mehr hat, auf die Bedürfnisse

anderer Rücksicht zu nehmen.

Oder weil es endlich aufhören

muss, dass Mädchen mithilfe von Puppen

mütterliche Fürsorge schon in

jüngsten Jahren antrainiert wird.

In schlechten Filmen sorgt Psychologie

dafür, dass sich Handlungsspielräume

schließen: Weil sie vergewaltigt

wurde, kann eine Frau keine Beziehung

mehr aufbauen. Weil er auf der

Arbeit erniedrigt wurde, rastet ein

Mann aus. In guten Filmen – wie »Frau

im Dunkeln« von Maggie Gyllenhaal

(ab 31. Dezember auf Netflix) – vervielfacht

Psychologie dagegen die

Spielräume: weil sich die Beweggründe

einer Figur nicht aus einem Anlass,

sondern einem ganzen Leben speisen.

Ein ganzes Leben ist es denn auch,

das die US-amerikanische Schauspielerin

Gyllenhaal (»The Deuce«,

»Crazy Heart«) in ihrem Regiedebüt

entfaltet. Bekannt und gefeiert für

Frauenrollen, die sich Idealisierungen

entziehen, hat es die 44-Jährige auch

als Regisseurin und Drehbuchautorin

zu solchen Figuren hingezogen.

Grundlage ist der Roman »Frau im

Dunkeln« von Elena Ferrante, den

Gyllenhaal von Italien nach Griechenland

verlagert hat. Ledas Vergangenheit

skizziert sie effizient in

einer Handvoll Szenen, die sie als

Rückblenden in die Handlung einstreut:

Ledas Jahre als ehrgeizige

Nachwuchsakademikerin – und als

junge Mutter, an der die zwei Töchter

ähnlich zerren und reißen wie später

Elena an ihrer Mutter.

Etwas scheint in den ersten Jahren

von Ledas Mutterschaft passiert zu

sein, und was es ist, wirft so viele Rätsel

auf wie ihr Verhalten später am

Strand. »Ich bin eine unnatürliche

Mutter«, sagt Leda der jungen Frau

am Strand und gibt ihr wie auch dem

Publikum den ersten Hinweis darauf,

was ihr Geheimnis sein könnte.

Auf wunderbare Weise unnatürlich

ist auch Gyllenhaals Spielfilmdebüt

geworden. Mutterschaft inszeniert

sie wie einen Psychothriller und

einen Strandurlaub wie eine Gang-

Schauspielerin

Colman als Leda

Gyllenhaal

inszeniert

einen Strandurlaub

wie

eine Gang-

Fehde.

Netflix

Fehde. Leda verhält sich territorial,

als Elena, ihre Mutter (Dakota Johnson)

und deren weitläufige Verwandtschaft

an dem Strand anrücken, auf

dem Leda ihren Arbeitsurlaub möglichst

ungestört verbringen wollte.

»Nein, danke«, sagt sie schlicht, als

die Familie sie bittet, doch den Liegestuhl

zu wechseln, damit sie alle beieinandersitzen

können.

Ledas Reaktion ist unverschämt,

und gleichzeitig nachvollziehbar.

Denn sie versteht die Bitte der Familie

als Aufforderung, mit ihrer ganzen

Existenz – ihrem Dasein als alleinstehende,

48-jährige, beruflich erfolgreiche

Frau – zu weichen und anderen

Platz zu machen. Doch diesen Kampf

hat Leda wie so viele Frauen in ihrem

Alter und in ihrer Position schon so

lang und so erfolgreich bestritten,

dass sie immer weiterkämpft. Obwohl

ihr niemand etwas Böses will. Jedenfalls

zunächst nicht.

Filme mit einer unsympathischen

oder zumindest zwiespältigen Hauptfigur

stellen ein Risiko dar, weil sich

das Publikum abgestoßen fühlen

kann – Olivia Colman aber macht

Leda zu einem Menschen. Bei der

Britin dachte man schon in den vergangenen

Jahren ständig, dass sie nun

aber wirklich die beste Rolle ihrer

Karriere gefunden habe: als düpierte

Polizistin in »Broadchurch«, als erotomane

Stiefmutter in »Fleabag«, als

traumatisierte Herrscherin in »The

Favourite«. Und dann übertrifft sie

sich wieder selbst, wie jetzt als Leda.

Colman ist aber auch umgeben

von einem exzellenten Ensemble.

Neben Dakota Johnson gehören dazu

Jessie Buckley als jüngere Leda,

Ed Harris als alternder Flirt sowie

Paul Mescal als Kellner. Gemeinsam

gleichen sie mit ihrem unaufgeregten

Spiel die Schwächen der Vorlage aus.

Trotz aller Sorgsamkeit bekommt

Gyllenhaal den zum Teil platten Symbolismus

Ferrantes (Puppen müssen

an mehreren Stellen als Verbindungen

zwischen Müttern und Töchtern

herhalten) nicht komplett in

den Griff und umgeht auch nicht die

eine oder andere banale Entladung

von ansonsten sorgsam aufgebauter

Spannung.

Aber vielleicht ist das auch egal,

wenn in einem Film Sätze vorkommen,

die wie Messerstiche schmerzen.

Zur Großfamilie, die Leda so

nervt, gehört eine Hochschwangere.

Leda kommt mit ihr ins Gespräch,

plaudert über Urlaub und Nachwuchs.

Dann sagt sie der Schwangeren:

»Kinder sind eine erdrückende

Verantwortung.« Und geht.

Hannah Pilarczyk

n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

131


Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail spiegel@spiegel.de

INTERNET www.spiegel.de

TWITTER @derspiegel

FACEBOOK facebook.com/derspiegel

Impressum

HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002)

CHEFREDAKTION Steffen Klusmann ( V. i. S. d. P.),

Dr. Melanie Amann, Thorsten Dörting, Clemens Höges

STRATEGIE & OPERATIONS Susanne Amann;

Anne Seith

BLATTMACHER Juliane von Mittelstaedt,

Oliver Trenkamp

NACHRICHTENCHEF Stefan Weigel

MANAGING EDITORS Birger Menke,

Dr. Susanne Weingarten

CREATIVE DIRECTORS Judith Mohr,

Nils Küppers (stellv.)

REDAKTIONELLE ENTWICKLUNG Matthias

Streitz; Friederike Freiburg, Bente Kirschstein,

Maximilian Rau, Ole Reißmann

CHEFS VOM DIENST Print: Anke Jensen, Jörn

Sucher. Online: Patricia Dreyer, Anselm Waldermann;

Melanie Ahlemeier, Lisa Erdmann, Björn Hengst,

Olaf Kanter, Nicolai Kwasniewski, Jonas Leppin,

Florian Merkel, Malte Müller-Michaelis, Charlene

Optensteinen, Dr. Dominik Peters, Dr. Jens Radü

(Multimedia), Daniel Raecke, Martin Wolf

REPORTER Ullrich Fichtner

HAUPTSTADTBÜRO Dirk Kurbjuweit

Leitung: Dr. Melanie Amann, Sebastian Fischer, Martin

Knobbe, Philipp Wittrock. Wolf Wiedmann-Schmidt

(Teamleitung Innere Sicherheit). Redaktion: Maik

Baumgärtner, Okan Bellikli, Sophie Madeleine Garbe,

Florian Gathmann, Kevin Hagen, Milena Hassenkamp,

Julia Amalia Heyer, Valerie Höhne, Timo Lehmann,

Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Anna Reimann, Sven

Röbel, Jonas Schaible, Sven Scharf, Christoph Schult,

Christian Teevs, Severin Weiland. Autoren, Reporter:

Susanne Beyer, Markus Feldenkirchen, Matthias

Gebauer, Konstantin von Hammerstein, Christoph

Hickmann, Fidelius Schmid.

Politik Hamburg: Benjamin Schulz (Nachrichtenchef);

Marc Röhlig, Alwin Schröder

DEUTSCHLAND/PANORAMA Leitung: Jörg Diehl,

Cordula Meyer, Hendrik Ternieden, Dr. Markus Verbeet,

Simone Salden (stellv.). Redaktion: Birte Bredow, Katrin

Elger, Silke Fokken, Maik Großekat höfer, Hubert Gude,

Kristin Haug, Armin Himmelrath, Philipp Kollenbroich,

Annette Langer, Gunther Latsch, Roman Lehberger,

Benjamin Maack, Peter Maxwill, Miriam Olbrisch,

Christopher Piltz, Alexander Preker, Ansgar Siemens,

Jens Witte, Jean-Pierre Ziegler. Autoren, Reporter:

Jürgen Dahlkamp, Annette Großbongardt, Julia Jüttner,

Beate Lakotta, Katja Thimm, Alfred Weinzierl,

Dr. Klaus Wiegrefe.

Berlin: Guido Mingels, Hannes Schrader, Andreas

Wassermann

WIRTSCHAFT/NETZWELT Leitung: Markus Brauck,

Yasmin El-Sharif, Judith Horchert (Netzwelt), Isabell

Hülsen, Stefan Kaiser (stellv.). Redaktion: Benjamin

Bidder, Markus Böhm, Michael Brächer, Florian

Diekmann, Kristina Gnirke, Simon Hage, Dr. Claus

Hecking, Henning Jauernig, Alexander Jung,

Dr. Matthias Kaufmann, Nils Klawitter, Janne Knödler,

Matthias Kremp, Alexander Kühn, Maria Marquart,

Martin U. Müller, Anton Rainer, Stefan Schultz.

Berlin: Patrick Beuth, Simon Book, Markus Dettmer,

Max Hoppenstedt, Michael Kröger, Cornelia

Schmergal, Gerald Traufetter. Autoren, Reporter:

David Böcking, Alexander Neubacher, Christian

Reiermann, Marcel Rosenbach

AUSLAND Leitung: Mathieu von Rohr, Britta

Kollenbroich (stellv.), Katrin Kuntz (stellv.),

Maximilian Popp (stellv.), Christoph Scheuermann

(stellv.), Özlem Topçu (stellv.). Redaktion: Monika

Bolliger, Fiona Ehlers, Lena Greiner (Teamleitung

Globale Gesellschaft), Muriel Kalisch, Steffen Lüdke,

Sonja Peteranderl, Katharina Graça Peters, Jan Petter,

Jan Puhl, Alexandra Rojkov, Anna-Sophie Schneider,

Lina Verschwele. Autoren, Reporter: Marian Blasberg,

Susanne Koelbl, Dietmar Pieper, Christoph Reuter.

Berlin: Aleksandar Sarovic

WISSEN Leitung: Michail Hengstenberg, Olaf

Stampf, Kurt Stukenberg. Redaktion: Dr. Philip Bethge,

Marco Evers, Susanne Götze, Johann Grolle,

Dr. Veronika Hackenbroch, Arvid Kaiser, Viola Kiel,

Guido Kleinhubbert, Julia Koch, Julia Köppe, Julia

Merlot, Jörg Römer, Nils-Viktor Sorge (Teamleitung

Mobilität), Felix Wadewitz. Autoren, Reporter: Rafaela

von Bredow, Christoph Seidler.

Berlin: Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt,

Frank Thadeusz. Autor: Jörg Blech

KULTUR Leitung: Sebastian Hammelehle,

Stefan Kuzmany, Eva Thöne, Laura Backes (stellv.).

Redaktion: Felix Bayer, Tobias Becker, Christian Buß,

Xaver von Cranach, Nora Gantenbrink, Elisa von Hof,

Oliver Kaever, Ulrike Knöfel, Carola Padtberg,

Jurek Skrobala, Katharina Stegelmann, Claudia Voigt.

Autoren, Reporter: Lothar Gorris, Wolfgang Höbel.

Berlin: Lars-Olav Beier, Philipp Oehmke, Hannah

Pilarczyk, Tobias Rapp. Autoren, Reporter: Andreas

Borcholte, Elke Schmitter

REPORTER Leitung: Özlem Gezer, Hauke Goos

(stellv.), Britta Stuff (stellv.). Redaktion: Barbara

Hardinghaus, Timofey Neshitov, Dialika Neufeld, Max

Polonyi, Jonathan Stock. Autoren, Reporter: Uwe Buse,

Marc Hujer, Frauke Hunfeld, Alexander Osang,

Alexander Smoltczyk, Barbara Supp

SPORT Leitung: Udo Ludwig, Lukas Rilke,

Jörn Meyn (stellv.). Redaktion: Peter Ahrens, Anne

Armbrecht, Matthias Fiedler, Michael Fröhlingsdorf,

Jan Göbel, Benjamin Knaack, Marcus Krämer,

Danial Montazeri, Thilo Neumann, Gerhard Pfeil,

Antje Windmann

INVESTIGATION Teamleitung: Rafael Buschmann;

Sven Becker, Roman Höfner, Theresa Locker, Nicola

Naber, Sara Wess, Christoph Winterbach, Michael

Wulzinger

Koordination SPIEGEL TV: Thomas Heise

MEINUNG & DEBATTE Anna Clauß, Lothar Gorris,

Stefan Kuzmany

LEBEN Leitung: Anke Dürr, Frauke Lüpke-Narberhaus,

Janko Tietz. Redaktion: Irene Berres, Antje Blinda

(Teamleitung Reise), Franziska Bulban, Markus

Deggerich, Detlef Hacke, Maren Keller, Heike Klovert,

Nike Laurenz, Dr. Heike Le Ker (Teamleitung

Gesundheit), Eva Lehnen, Philipp Löwe, Katherine

Rydlink, Sandra Schulz, Julia Stanek, Nina Weber.

Autoren: Enrico Ippolito, Jule Lutteroth, Marianne

Wellershoff

JOB & KARRIERE (BEREITGESTELLT VON

MANAGER MAGAZIN NEW MEDIA) Leitung:

Helene Endres. Redaktion: Tanya Falenczyk, Helene

Flachsenberg, Florian Gontek, Katharina Hölter,

Maren Hoffmann, Sebastian Maas, Sophia Schirmer

(Teamleitung Start), Markus Sutera, Verena Töpper

GESCHICHTE Leitung: Jochen Leffers, Dr. Eva-Maria

Schnurr. Redaktion: Dr. Felix Bohr, Solveig Grothe,

Christoph Gunkel, Dr. Katja Iken, Uwe Klußmann,

Dr. Danny Kringiel, Joachim Mohr, Frank Patalong,

Martin Pfaffenzeller, Dr. Johannes Saltzwedel

DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel.

Redaktion: Antonia Bauer, Claudia Beckschebe,

Alexandra Klaußner, Marco Wedig

SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gartred

Alfeis, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs,

Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse,

Katharina Lüken, Stefan Moos, Sandra Pietsch, Fred

Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Sandra Waege

PRODUKTION Petra Thormann, Reinhard Wilms;

Kathrin Beyer, Michele Bruno, Sonja Friedmann,

Linda Grimmecke, Petra Gronau, Rebecca von Hoff,

Ursula Overbeck, Britta Romberg, Martina Treumann,

Katrin Zabel

BILDREDAKTION Leitung: Mascha Zuder, Mareile

Mack (stellv.); Claudia Apel, Jose Blanco, Tinka Dietz,

Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Philine Gebhardt,

Thorsten Gerke, Niklas Hausser, Daniel Hofmann,

Andrea Huss, Rosa Kaiser, Jan Kappelmann, Elisabeth

Kolb, Petra Konopka, Matthias Krug, Charlotte Lensing,

Theresa Lettner, Nasser Manouchehri, Parvin Nazemi,

Nicole Neumann, Peer Peters, Jens Ressing, Oliver

Schmitt, Ireneus Schubial, Erik Seemann, Maxim

Sergienko, Martin Trilk, Anke Wellnitz

Mail: foto@spiegel.de

SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. +1 917 3998184

LAYOUT Leitung: Reinhilde Wurst, Dagmar

Nothjung (stellv.); Michael Abke, Lisa Debacher,

Lynn Dohrmann, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann,

Ralf Geilhufe, Fabian Greve, Elsa Hundertmark, Louise

Jessen, Jens Kuppi, Annika Loebel, Barbara Rödiger

TITELBILD Teamleitung: Johannes Unselt;

Suze Barrett, Alexandra Grünig, Pia Pritzel

GRAFIK & INTERACTIVE Leitung: Ferdinand

Kuchlmayr, Dr. Matthias Stahl (stellv.); Cornelia

Baumermann, Alexander Epp, Linna Grage, Guido

Grigat, Thomas Hammer, Max Heber, Frank

Kalinowski, Anna-Lena Kornfeld, Chris Kurt, Aida

Marquez Gonzales, Gernot Matzke, Lina Moreno,

Klaas Neumann, Michael Niestedt, Dawood Ohdah,

Bernhard Riedmann, Hanz Sayami, Michael Walter

DESIGN/UX Teamleitung: Alexander Trempler;

Katja Braun, Anna van Hove

KORREKTORAT Sebastian Hofer

TEXTPRODUCING Leitung: Helke Grusdas;

Christoph Brüggemeier, Fabian Grimm, Angela

Ölscher, Gesche Sager, Stefan Schütt, Holger Uhlig,

Valérie Wagner

DATENJOURNALISMUS Leitung: Marcel Pauly;

Holger Dambeck, Patrick Stotz, Achim Tack

SOCIAL MEDIA & LESERDIALOG Leitung: Ayla

Kiran, Angela Gruber (stellv.), Johanna Röhr (stellv.).

Redaktion: Kai Bonte (Forum), Dennis Deuermeier,

Ariane Fries (Teamleitung Community), Eva Horn,

Charlotte Klein, Petra Maier, Robert Schlösser, Mara

Veigel

SEO Teamleitung: Insa Winter; Alexandra Knape,

Bastian Midasch, Heiko Stammel, Hanna Zobel

VIDEO Leitung: Frauke Böger, Anne Martin (stellv.).

Redaktion: Thilo Adam, Benjamin Braden, Sven

Christian (Leitung Technik), Andreas Evelt, Birgit

Großekathöfer, Janita Hämäläinen, Martin Jäschke,

Heike Janssen, Marco Kasang, Carolin Katschak,

Eckhard Klein, Jonathan Miske, Fabian Pieper, Rachelle

Pouplier, Dr. Isabella Reichert, Leonie Voss, Katharina

Zingerle

CHEFS VOM DIENST BEWEGTBILD Bernd Czaya,

Dirk Schulze, Martin Sümening

AUDIO Leitung: Sandra Sperber, Yasemin Yüksel, Olaf

Heuser (Chef vom Dienst). Redaktion: Imre Balzer,

Adrian Breda, Philipp Fackler, Robert Hauspurg, Lenne

Kaffka, Marius Mestermann, Sebastian Spallek, Regina

Steffens, Martin Vornweg-Brückner

REDAKTIONSVERTRETUNGEN

DEUTSCHLAND

BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin;

Deutsche Politik, Wirtschaft Tel. 030 886688-100;

Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft

Tel. 030 886688-200

DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4,

01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0

DÜSSELDORF Frank Dohmen, Lukas Eberle, Tobias

Großekemper, 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01

FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch,

Tim Bartz, Lisa Duhm, Fellnerstraße 7-9,

60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680

KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36,

76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737

LEIPZIG Peter Maxwill, Postfach 310315,

04162 Leipzig

MÜNCHEN Jan Friedmann

(Koordination Nachrichten), Martin Hesse, Thomas

Schulz, Rosental 10, 80331 München, Tel. 089 4545950

REDAKTIONSVERTRETUNGEN/

KORRESPONDENTENBÜROS AUSLAND

BANGALORE Laura Höflinger

BANGKOK Maria Stöhr

BRÜSSEL Markus Becker (Büroleitung), Ralf

Neukirch (Reporter Europapolitik), Michael Sauga

(Autor), Rue Le Titien 28, 1000 Brüssel,

Tel. +32 2 2306108, rv.bruessel@spiegel.de

HONGKONG Bernhard Zand

KAPSTADT Fritz Schaap, P. O. Box 15107,

Vlaeberg 8018, Cape Town, South Africa

LONDON Jörg Schindler

MEXIKO-STADT Jens Glüsing,

Tel. +52 55 56630526

MOSKAU Christian Esch, Christina Hebel, Glasowskij

Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau,

Tel. +7 495 3637623

NAIROBI Heiner Hoffmann, Tel. +254 111 341478

NEW YORK Marc Pitzke

PARIS Britta Sandberg, Tel. +33 158 625120

PEKING Georg Fahrion

ROM Frank Hornig, DER SPIEGEL, c/o Stampa

Estera, Via dell’Umiltà 83/C, 00187 Rom

SAN FRANCISCO Alexander Demling

SAO PAULO Nicola Abé

SYDNEY Anna-Lena Abbott, Johannes Korge

TEL AVIV P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 6803466,

Israel

WARSCHAU Tel. +48 22 6179295

WASHINGTON Roland Nelles, René Pfister,

1202 National Press Building, Washington, D. C. 20045,

Tel. +1 202 3475222

WIEN Walter Mayr

STÄNDIGE FREIE AUTOREN Giorgos Christides,

Arno Frank, Oliver Das Gupta, Jochen-Martin Gutsch,

Leo Klimm, Jasmin Lörchner, Juan Moreno, Wiebke

Ramm, Anja Rützel

DOKUMENTATION Leitung: Cordelia Freiwald,

Kurt Jansson; Zahra Akhgar, Nikolai Antoniadis,

Dr. Susmita Arp, Lars Böhm, Eva Bräth, Viola Broecker,

Dr. Heiko Buschke, Almut Cieschinger, Johannes

Eltzschig, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Matthias

Fett, Janine Große, Imko Haan, Thorsten Hapke,

Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie

Hoffmann, Bertolt Hunger, Stefanie Jockers, Michael

Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Ulrich

Klötzer, Anna Köster, Ines Köster, Anna Kovac, Mara

Küpper, Peter Lakemeier, Julia Lange, Rainer Lübbert,

Sonja Maaß, Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff,

Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot,

Claudia Niesen, Sandra Öfner, Ulrike Preuß, Axel

Rentsch, Thomas Riedel, Friederike Röhreke, Andrea

Sauerbier, Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek,

Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Andrea

Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Meike Stapf,

Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Rainer Szimm,

Dr. Marc Theodor, Andrea Tholl, Nina Ulrich,

Peter Wahle, Dr. Charlotte Weichert, Peter Wetter,

Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller, Malte Zeller

NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa,

Los Angeles Times/Washington Post, New York Times,

Reuters, sid

SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN

GMBH & CO. KG

Anzeigen: Hannes Engler

Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 76 vom 1. Januar 2021

Mediaunterlagen und Tarife: www.spiegel.media

Vertrieb: Torben Sieb

Herstellung: Silke Kassuba

GESCHÄFTSFÜHRUNG Thomas Hass

(Vorsitzender), Stefan Ottlitz

Service

Leserbriefe

SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966,

Mail: leserbriefe@spiegel.de

Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir auch

gern per Mail entgegen: hohlspiegel@spiegel.de

Hinweise für Informanten

Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informationen

zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende

Wege zur Verfügung: Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ,

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg; Telefon: 040 3007-0,

Stichwort »Investigativ«; Mail (Kontakt über Website):

www.spiegel.de/investigativ. Unter dieser Adresse finden

Sie auch eine Anleitung, wie Sie Ihre Informationen

oder Dokumente durch eine PGP-Verschlüsselung geschützt an

uns richten können. Der dazugehörende Fingerprint lautet:

6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC

Ombudsstelle

Der SPIEGEL hat für Hinweise zu möglichen Unregelmäßigkeiten

in der Berichterstattung eine Anlaufstelle eingerichtet:

ombudsstelle@spiegel.de. Sollten Sie als Hinweisgeber dem

SPIEGEL gegenüber anonym bleiben wollen, schreiben

Sie bitte an den Rechtsanwalt Tilmann Kruse unter

hinweisgeber-spiegel@bmz-recht.de

Redaktioneller Leserservice

Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966

Mail: leserservice@spiegel.de

Nachdrucke in Medien aller Art

Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken oder Videos

Kontakt, Beratung: www.spiegelgruppe.de/syndication

und Bestellung: syndication@spiegel.de,

Tel.: 040 3007-3540 für Deutschland, Österreich, Schweiz.

Für alle anderen Länder: The New York Times Licensing,

Mail: julie.ho@nytimes.com, Telefon: +1 212 556-5118

ISSN 0038-7452

Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre

sowie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und

SPIEGEL WISSEN sind unter www.amazon.de/spiegel

innerhalb Deutschlands nachbestellbar.

Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn

www.spiegel-antiquariat.de, Telefon: 0228 9296984

Abonnement für Blinde Audioversion:

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Telefon: 06421 606265;

elektronische Version: Frankfurter Stiftung für Blinde,

Telefon: 069 9551240

Abonnementspreise

Inland: 52 Ausgaben € 291,20, Studenten Inland: 52 Ausgaben

€ 197,60, Auslandspreise unter www.spiegel.de/auslandsabo,

Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise

Abonnentenservice Persönlich erreichbar

Mo.–Fr. 8.00–19.00 Uhr, Sa. 10.00–18.00 Uhr

SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg

Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070

Mail: aboservice@spiegel.de

Abonnementsbestellung

bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:

SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –

oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo

Ich bestelle den SPIEGEL

i für € 5,60 pro gedruckte Ausgabe

i für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das

E-Paper beträgt € 0,69) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe.

Der Bezug ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar.

Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur

in Deutschland.

Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:

Name, Vorname des neuen Abonnenten

Straße, Hausnummer oder Postfach

PLZ, Ort

Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)

Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu AGB,

Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter

www.spiegel.de/agb

USA: DER SPIEGEL (USPS no 01544520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Office of Publication: Data Media (A division of Cover-All Computer Services Corp.), 2221 Kenmore

Avenue, Suite 106, Buffalo, NY 14207-1306. Periodicals postage is paid at Buffalo, NY 14205, Postmaster: Send address changes to DER SPIEGEL, Data Media, P.O. Box 155, Buffalo. NY 14205-

0155, e-mail: service@roltek.com, toll free: +1-877-776-5835; Kanada: SUNRISE NEWS, 47 Silver Shadow Path, Toronto, ON, M9C 4Y2, Tel +1 647-219-5205, e-mail: sunriseorders@bell.net

Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten

SP-IMPR, SD-IMPR (Upgrade)

132 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel


NACHRUFE

Joan Didion, 87

Ohne sie wären mehrere Generationen amerikanischer und auch

einiger deutscher Autoren kaum denkbar gewesen. Vor allem ihre

beiden Essaysammlungen »Slouching Towards Bethlehem« von

1968 und »The White Album« von 1979 lieferten die Vorlage für

eine modernisierte Version des seit den frühen Sechzigerjahren in

den USA kursierenden New Journalism. Didion erweiterte die

ohnehin subjektiv geprägte Textform um eine psychologische und

emotionale Ebene, mit einem röntgenhaften Blick fürs Detail, vor

allem für das kompromittierende. Sie war in fünfter Generation

Kalifornierin, wie sie stets betonte, und darin lag auch ihre weltanschauliche

Erdung. Das goldene amerikanische Versprechen – kein

Ort stand dafür so wie Kalifornien. Es hieß, dort könnten Träume

wahr werden, und viele wurden es in Hollywood ja auch. Für einige

der Filme schrieb Didion zusammen mit ihrem Mann John Gregory

Dunne die Drehbücher. Andererseits verwies Didion immer

wieder auf die Risse, die das Bild durchzogen, sah das Chaos und

den Verfall, war skeptisch gegenüber Hippies oder der Frauenbewegung.

So schien sie den Konservativen manchmal näher als den

Beatniks, und bis zu ihrem Tod reklamierten die entgegengesetzten

ideologischen Lager Didion als eine der ihren. Später rückten in

Büchern wie »Das Jahr des Magischen Denkens« Verlust und

Älterwerden ins Zentrum ihrer teils schmerzvollen Betrachtungen.

Joan Didion starb am 23. Dezember in New York. OEH

Sarah Weddington, 76

Einer jungen Anwältin aus Texas verdanken die Amerikaner

einen der wichtigsten und umstrittensten Rechtssprüche der US-

Geschichte. 1973 entschied das höchste Verfassungsgericht in

dem Verfahren »Roe gegen Wade«, dass das Abtreibungsverbot

des Staates Texas verfassungswidrig sei. Es war Weddingtons

erstes Gerichtsverfahren, sie war erst 26 und vertrat eine Klägerin

unter dem Alias Jane Roe, die abtreiben wollte und deswegen

den Bezirksstaatsanwalt Henry Wade verklagte. Die Entscheidung

wurde damals weitgehend begrüßt, doch das Erstarken der christlichen

Rechten rückte später »Roe gegen Wade» in den Mittelpunkt

jahrzehntelangen erbitterten Streits. Erstmals könnte es

jetzt mit der durch Ex-Präsident Trump herbeigeführten konservativen

Mehrheit im Supreme Court rückgängig gemacht werden.

Sarah Weddington starb am 26. Dezember in Austin. OEH

Bridgemanimages.com

Desmond Tutu, 90

Apartheid sei Sünde, verkündigte

Desmond Tutu von der

Kanzel. Der streitbare Kirchenführer

war neben Nelson Mandela

der wirkmächtigste Aktivist

im Kampf gegen die Rassentrennung

in Südafrika. Er

klagte die Verbrechen des weißen

Unrechtsregimes an, rief zu

Sanktionen auf, stand den Opfern

staatlicher Gewaltexzesse

bei. Seine Anhänger verehrten

ihn als »Gewissen der Nation«.

Seine Widersacher nannten ihn

abschätzig »heiliger Terror«.

Aber die Regierung konnte ihn

nicht zum Schweigen bringen

wie so viele Freiheitskämpfer,

denn spätestens nach der Verleihung

des Friedensnobelpreises

1984 war Tutu weltberühmt

und unantastbar geworden. Der

Befreiungstheologe führte ein

Leben im Widerstand, als einfacher

Priester, als Generalsekretär

des nationalen Kirchenrats,

als anglikanischer Erzbischof

von Kapstadt. Er war Seelsorger,

Hirte, Mahner, ein radikaler

Christ, der die Vision von der

»Regenbogennation« entwarf,

einer friedlichen, multiethnischen

Gesellschaft. Tutu wurde

wie der Dalai Lama zu einer

weltweiten Projektionsfigur humanistischer

Werte. Auch nach

dem Ende der Apartheid blieb

er ein unbequemer Kleriker, der

die Korruption und den moralischen

Verfall der neuen schwarzen

Machtelite anprangerte.

Aber Tutu hatte bei allem alttestamentarischen

Zorn einen

mitreißenden Humor. Er erzählte

gern den Witz, wie er nach

seinem Tod irrtümlicherweise in

der Hölle landet und dort so

viel Ärger macht, dass der Teufel

entnervt an der Himmelspforte

Asyl beantragt. Desmond

Mpilo Tutu starb am 26. Dezember

in Kapstadt. ILL

Friedrich Stark / epd

Inge Jens, 94

Sie wurde berühmt als Arbeitsund

Lebensgefährtin eines

lauten, wirkmächtigen Intellektuellen,

was angesichts ihrer

eigenen schöpferischen Kraft

ungerecht war und tragisch wirken

konnte. »Frau Thomas

Mann. Das Leben der Katharina

Pringsheim«, hieß eines der

Bücher, das Inge Jens gemeinsam

mit ihrem Mann Walter

Jens veröffentlicht hat. Es war

das aus Briefen und Tagebucheinträgen

komponierte Porträt

einer selbstbewussten Frau

an der Seite eines Mannes mit

Stargebaren – und damit eine

Spiegelung ihrer eigenen Existenz.

Inge Jens wuchs in wohlhabenden

Verhältnissen in

Hamburg auf. Ihr Vater war

Chemiker und in einer Nachrichtenabteilung

der SS tätig, sie

selbst war im nationalsozialistischen

»Bund Deutscher Mädel«

engagiert. In Tübingen, wo sie

1949 Literaturwissen schaft

zu studieren begann, lernte sie

Walter Jens kennen. Während

ihr Mann als Autor, Redner und

Rhetorikprofessor zu einer prägenden

Gestalt des westdeutschen

Nachkriegskulturlebens

wurde, editierte Inge Jens wichtige

Briefwechsel und trat klug

und entschlossen als Kämpferin

der Friedensbewegung auf. Als

1991 der Irakkrieg begann, versteckte

das Ehepaar Jens zwei

desertierte US-Soldaten in

seinem Haus. Nachdem ihrem

Mann spät seine eigene Mitgliedschaft

in der NSDAP vorgehalten

wurde und er an Demenz

erkrankt war, stand Inge

Jens ihm bei – und schilderte

unter anderem in dem Buch

»Langsames Entschwinden«

(2016) die Entfremdung von

ihrem Gefährten, den »die

Krankheit zu einem anderen

Menschen gemacht« habe.

Inge Jens starb am 23. Dezember

in Tübingen. HOE

Volker Hinz / Volker Hinz / Stern / Picture Press

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

133


PERSONALIEN

Überlebende

Mit Stolz und Wehmut beobachtet

Katy Perry, 37, Popstar,

wie ihr Werk von der nachfolgenden

Generation vereinnahmt

wird. Auf die Frage,

wie sie sich fühle, wenn sie mit

Anspielungen oder Zitaten

konfrontiert wird, antwortete

Perry in einem Interview mit

dem LGBTQ-Magazin »Out«:

»Alt, wirklich alt. Und dankbar,

dass ich das alles überlebt habe

und nicht irgendwo tot im

Graben liege.« Im vergangenen

Jahr haben sich junge Musikerinnen

vor drei ihrer Songs verbeugt:

Fletcher bediente sich

bei Perrys erstem Hit »I Kissed

a Girl«, Ariana Grande nannte

»The One That Got Away«

aus dem Jahr 2010 »einen der

größten und bestgeschriebenen

Popsongs aller Zeiten«, und

Olivia Rodrigo singt in »Brutal«

die Zeile »Where’s my fucking

teenage dream?« Die Website

»Vulture« hatte »Teenage

Dream« den besten Song genannt,

den Perry je geschrieben

hat. Die Musikerin, die seit

Mittwoch ihre Show »Play« in

Las Vegas präsentiert, war 25,

als der Song erschien. Dass die

18-jährige Rodrigo sich für ihr

erstes Album davon inspirieren

ließ und auch andere Künstlerinnen

sich von ihrem Werk beeinflussen

lassen, berührt Perry:

»Es bedeutet, dass die Musik

immer noch ankommt bei den

Leuten und die Botschaft immer

noch gültig ist.« KS

Fox Television Network / Entertainment Pictures / eyevine / laif

Grischa Kaufmann / Edition Moderne

Wie eine Riesin

Wird ein Trauma innerhalb

der Familie vererbt, nennt die

Wissenschaft das »Transgenerationale

Weitergabe«. In ihrem

Comic »Anna« erzählt die Illustratorin

Mia Oberländer, 26, auf

brutale und komische Art die

Geschichte von Anna 1, 2 und 3.

Sie sind Großmutter, Mutter

und Kind und leiden alle unter

ihrer enormen Körpergröße, die

mit jeder Generation noch ausgeprägter

wurde. »Die Inspiration

habe ich von meiner eigenen

Familie«, sagt Oberländer.

»Dabei ging es bei uns um die

Körpergröße in Kombination

mit Dünnsein. Mit 176 Zentimetern

bin ich gar nicht so groß,

trotzdem habe ich mich lange

Zeit wie eine Riesin gefühlt.«

Durch die Arbeit an »Anna«

habe sie viel über sich und die

Verhaltensweisen ihrer eigenen

Familie verstanden, sagt Oberländer:

Anna 3, die Oberländer

so überspitzt gezeichnet hat,

dass sie sogar Berggipfel überragt,

gelingt es schließlich,

sich aus der komplizierten Familiendynamik

zu befreien, sie

»blickt am Ende des Buches

von oben auf die Dinge«. Für

ihren neuen Comic hat Oberländer

wieder Anregung in ihrer

Familie gefunden. Er soll von

Streit handeln. SCW

134 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Spuren des Lebens

Als die Fotografin Herlinde

Koelbl, 82, die damals nahezu

unbekannte Angela Merkel zum

ersten Mal fotografierte, fiel ihr

auf, wie ungelenk die neue Ministerin

aus Ostdeutschland sich

vor der Kamera verhielt, wie sie

nicht wusste, wohin mit ihren

Händen. Es war das Jahr 1991,

Helmut Kohl hatte die 37-jährige

Merkel gerade in sein Kabinett

geholt, und Koelbl wollte

mit ihr über Macht sprechen

und sie, wie einige andere Politiker

auch, über einen längeren

Zeitraum einmal im Jahr fotografieren.

Merkel sah zunächst

keinen Sinn in dem Vorhaben,

schreibt Koelbl im Vorwort

ihres gerade im Taschen Verlag

erschienenen Fotobands »Angela

Merkel. Portraits 1991–2021«.

Sie hat trotzdem mitgemacht,

vielleicht aus merkelschem

Pflichtbewusstsein, vielleicht

auch, weil die Wissenschaftlerin

in ihr unterbewusst doch etwas

in der Versuchsanordnung erkannte,

deren Objekt sie selbst

war. Auf jenem ersten Bild aus

dem Oktober 1991 trägt Merkel

noch eine Strickjacke über dem

Rollkragenpullover, und es ist

fast irritierend, sie ohne den

Blazer mit den großen Clownsknöpfen

der späteren Regierungschefin

zu sehen. Auf dem

Foto von 1998 tauchen zum ersten

Mal die Hände in Rautenformation

auf, allerdings noch

etwas gekünstelt, es fehlt noch

an der Selbstverständlichkeit.

Danach kommt eine Lücke.

Koelbls ursprüngliches Projekt

»Spuren der Macht« war fertiggestellt.

Erst 2006 mit Merkel

als Kanzlerin setzt die Porträtserie

wieder ein, ein gewaltiger

Sprung: Der Blazer ist da, die

Halskette, und der Blick ist ein

anderer, kein suchender mehr,

allenfalls selbstbewusst fragend.

Der Kopf neigt sich immer stärker

nach rechts, während linker

Mundwinkel und linkes Augenlid

nach oben ziehen, sodass

ein beinahe verschmitzter Ausdruck

entsteht. 2021, genau

30 Jahre nach dem ersten Foto,

entstand das letzte Porträt,

und darauf sieht es fast so aus,

als zwinkerte das scheidende

Untersuchungsobjekt der Fotografin

zu. OEH

Rolf Vennenbernd / picture alliance / dpa

Nummer eins im

Quarantäne-Look

Das T-Shirt schlackert um seine

Hüften, die Shorts wallen um

die Knie, und die Füße stecken

in Turnschuhen und Tennissocken.

In diesem Outfit würde

manch berühmte Person nicht

mal zum Sport gehen. Die Gefahr,

unvorteilhaft von Paparazzi

abgelichtet zu werden, wäre

zu groß. Adam Sandler, 55, ist

das offenbar egal. Der Schauspieler

marschiert schon seit

Langem in diesem Look in Restaurants,

zum Einkaufen und

sogar auf den roten Teppich.

Nun wäre das allein noch keine

Meldung. Dass Sandler es mit

diesem »Style« in diesem Jahr

zur Stilikone gebracht hat, allerdings

schon. Laut Google führt

er die Hitliste der am meisten

gesuchten Promi-Looks an.

Damit landet Sandler in seinem

Shabby Chic sowohl vor den

Sängerinnen Britney Spears

und Lizzo als auch vor der

männlichen Stilikone Harry

Styles. Das bedeutet allerdings

nicht, dass Basketball-Shorts

und Oversize-Shirts nun den

Anzug verdrängen. Denn auch

Melania Trump wird in Googles

Top-Ten-Liste geführt. Sie dürfte

mit ihrer oft geschmacklosen

Kleidung (beispielsweise die

»I really don’t care«-Jacke, die

sie beim Besuch eines Aufnahmezentrums

für Einwandererkinder

trug) aber eher als Negativbeispiel

gegoogelt worden

sein. Sandler vielleicht auch.

Wahrscheinlicher ist aber, dass

das Interesse am Sandler-Style

mit dem Jahr 2021 zu tun hat.

Quarantäne, Homeoffice und

geschlossene Klubs dürften

die Nachfrage nach bequemer

Kleidung angefacht haben.

Mancher hatte wohl andere Sorgen,

als möglichst schick auszusehen.

EVH

Jim Ruymen / UPI / laif

Mit Prada und

Valentino

Eine Longchamp-Tasche in

Netzoptik für den Gang zum

Wochenmarkt, ein Tweedrock

von Balmain fürs Date. Dazu

karierte Fischerhüte und fingerlose

Lederhandschuhe, glitzernde

Prada-Taschen, Valentino-

Gürtel, groß beschleifte Cocktailkleider

von Rotate. Kaum

eine Figur ist derzeit so feudal

ausstaffiert wie Emily Cooper,

gespielt von Lily Collins, Tochter

von Musiker Phil Collins und

Protagonistin der Serie »Emily

in Paris«, deren zweite Staffel

nun bei Netflix zu sehen ist.

Wenn die Social-Media-Expertin

aus ihrer Altbauwohnung auf

die Pariser Gehsteige tritt, ist es,

als stiege sie aus der Zauberkugel

der »Mini Playback Show«:

Jeden Morgen trägt sie ein neues

Outfit aus etwa sieben sich teilweise

komplementär verhaltenden

Designerstücken und Second-Hand-Funden.

Wer sich an

die Kolumnistin Carrie Bradshaw

(Sarah Jessica Parker) aus

»Sex and the City« erinnert

fühlt, irrt nicht. Die beiden teilen

nicht bloß ihre Liebe zu Taillengürteln,

sondern auch dieselbe

Ausstatterin. Patricia Field, 79,

sorgte vor mehr als 20 Jahren für

die ikonischen Kostüme von

Carrie und Co. Bei »Emily in Paris»

gab sie den opulenten Outfits

als Modeberaterin den letzten

Schliff. Die ebenfalls vor

Kurzem gestartete »Sex and the

City«-Fortsetzung hat Fields allerdings

abgesagt: Die Serie über

die mittlerweile älteren New

Yorkerinnen ist, jedenfalls modisch,

reifer und somit offenbar

nichts für die 79-Jährige, die

immer sagte: »Wir scheren uns

nicht um die Realität.« EVH

Tina Paul / CAMERA PRESS / laif

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

135


BRIEFE

Kopfschütteln und

Sorge

Nr. 51/2021 Im thüringischen Hildburghausen

sind besonders viele

Menschen mit Corona infiziert und sehr

wenige geimpft. Woran liegt das?

Ein enkelfähiges

Leben leben

Nr. 52/2021 Übermorgen wird’s

was geben. So aufregend

wird die Zukunft unserer Kinder

Schön, dass zur Weihnachtszeit

ein fast optimistischer Blick in

die Zukunft geworfen wird. Es

braucht aber einen radikalen

Paradigmenwechsel, für den das

Zeitfenster schon in wenigen Jahren

geschlossen sein wird. Den

halte ich kurzfristig für unmöglich

im Hinblick auf die globale Bevölkerungszahl

und die wachsenden

Ansprüche der Menschen

in den Schwellenländern, die

von unserer Konsumgesellschaft

schon längst angefixt wurden.

Wir haben jetzt schon die Ökosysteme

und die auch für uns existenzielle

Biodiversität zerstört.

Der Klimawandel und die daraus

resultierenden Verteilungskämpfe

werden ihr Übriges tun. Das

Anthropozän neigt sich dem

Ende zu.

Uwe Schmidt, Karlsruhe

Na ja, wenn wir die Probleme

unserer Zeit nicht in den Griff bekommen,

dann wird die Zukunft

unserer Kinder nicht nur aufregend,

sondern auch kurz. Und

wenig erbaulich.

Thomas Wascher, Bonn

Genial, Herr Fichtner! Aber wer

hätte es von Ihnen anders erwartet?

Ihr Aufsatz ist eine großartige

Diskussionsgrundlage. Was

Ihnen gelingt, das ist relativ selten:

Sie berühren in herausragender

Sprache alle Bereiche, über

die wir nachdenken müssen, verzichten

auf eigene Thesen, Sie

stellen viele Fragen, allesamt zukunftsweisend

oder zukunftsrelevant,

Sie zitieren viele namhafte

Autoren und Forscher. Wo anschließend

diese Diskussion ihre

Fortsetzung findet, sehen wir

dann. Schließlich muss auch das

Handeln in den Fokus, trotz aller

Unsicherheiten. Nichthandeln,

sagte der Pädagoge Alfred Treml,

ist auch Handeln.

Fernand Schmit, Seevetal (Nieders.)

Pillenknick, Mauerbau, Atombombe,

Tsunami, Finanzkrise,

Pandemie und so weiter: All diese

Dinge konnte man schon wenige

Jahre zuvor nicht vorhersagen.

Jetzt 100 Jahre in die Zukunft

zu schauen erscheint mir

doch sehr sportlich!

Martin Spranck, Bonn

Es gibt bescheidene, leise, nachdenkliche

Bürger, es sind nicht

wenige, die ein neues, nachhaltiges

Leben begonnen haben,

die nicht mehr fliegen, kein Auto

mehr fahren und wenig Fleisch

essen, kurzum ein enkelfähiges

Leben bestreiten. Sie führen nirgendwo

ein großes Wort. Sie haben

in den Parlamenten von

Bund und Ländern keine Stimme.

Es fehlt die neue Kultur eines

zukunftsfähigen Lebens.

Dr. Jürgen Onken, Hude (Nieders.)

Nach all den Hiobs-Informationen,

zuletzt über die Rückkehr

der Missernten, muss es ja endlich

auch schöne Perspektiven für das

Gleichgewicht der Erwartungen

geben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Auch beruhigend.

Klaas Ockenga, Hassloch (Rhld.-Pf.)

Übermorgen wird es in der Tat

was geben. Die größte Gabe des

Menschen allerdings ist seine

Fähigkeit zur Selbstreflexion! Ein

Kapitän sagte mir einmal: Von

achtern her zu leben erfüllt das

Leben mit Sinn; »respice finem«

steht deshalb über dem mecklenburgischen

Schloss Bothmer in

Klütz: »Bedenke Dein Ende!«

Wer täglich so lebt, dass er gut

scheiden kann, lebt sinnvoll. Das

ist genug; das genügt; erst das

bringt Genugtuung. Und genau

diese menschliche Fähigkeit sollte

auch übermorgen noch mehr

entfaltet werden.

Anni Weilandt, Bad Malente (Schl.-Holst.)

Das aktuelle SPIEGEL-Cover hat

mehr als nur das gewisse Etwas,

fast schon einen Hauch Transzendenz,

zwischen Prophetie und

schwarzem Humor.

Raffaele Ferdinando Schacher, Rorschach

(Schweiz)

Eine wirklich gelungene Titelgeschichte

– sprachlich brillant

zudem: »Scharten in den Fieberkurven

der Börsen«, »die Welt

per Fax verwalten« oder »Work-

Life-Blending« – herrlich! Ja, die

Hoffnung ist bekanntlich das, was

bis zuletzt bleibt, und sie ist absolut

menschlich! Für die Politik

zum Nachdenken sollte auch der

Satz des Soziologen Harald Welzer

sein: »Ziele sind keine Handlung.«

So ist es wohl. Ein bisschen

ist es in der Politik unseres demokratischen

Gemeinwesens wie im

Bereich Planen und Bauen: Neuplanung

und -bau auf der grünen

Wiese ist einfacher als Umbau

und Modernisierung im Bestand.

Viele Gesetze und Verordnungen

sind da und bestimmt auch gut

gemacht. Sie werden nur nicht

konsequent angewendet. Das

zweite Kernproblem liegt »leider«

im Wesen der Demokratie

selbst: Wer vor Wahlen große

Veränderungen ankündigt, wird

vermutlich nicht gewählt und

kann dann gar nichts verändern.

Politik braucht aber mehr Mut für

harte Wahrheiten. Dieses akzeptieren

zu lernen, ohne gleich neidvoll

auf die Nachbarn zu schauen,

ist wiederum Aufgabe von uns

allen.

Udo Sonnenberg, Regensburg

Ihrer Titelstory fehlt das Schlusswort:

Amen.

Erwin Bixler, Rodalben (Rhld.-Pf.)

Dieser Artikel lässt mich in wachsender

Sorge zurück. Auch ich

kenne Mediziner, die die Coronaimpfung

ablehnen. Keine selbst

ernannten Heilpraktiker, sondern

Menschen mit naturwissenschaftlichem

Hochschulabschluss, deren

Wort bei der Bevölkerung zu

Recht hohes Gewicht hat. Bitte

finden Sie solche Personen und

laden Sie sie ein, wissenschaftlich

begründete Argumente vorzutragen!

Organisieren Sie SPIEGEL-

Streitgespräche auf Augenhöhe.

Medizinischen Laien wie dir und

mir, deren Impfskepsis auf dem

ablehnenden Ratschlag ihres vertrauten

Hausarztes beruht, ist erst

mal kein Vorwurf zu machen.

Wobei keinem verboten ist, sich

umfassender zu informieren. Das

Stichwort »ärztliche Zweitmeinung«

könnte hier helfen – wenn

eine solche denn gewünscht wäre.

Hans-Ulrich Thiel, Halle/Saale

Die Situation wäre wohl eine andere,

wenn die Coronaopfer mit

abgerissenen Gliedmaßen blutüberströmt

auf den Straßen liegen

würden. Derzeit verbergen

sie sich quasi anonym in zahllosen

Todesanzeigen, auch in der

zitierten »Rundschau«. Diese

veröffentlicht übrigens auch Leserbriefe

der Impfbefürworter.

Zu einer ausgewogenen Berichterstattung

hätte allerdings ein

Hinweis darauf gehört, dass die

Mehrheit der 62 000 Einwohner

Hildburghausens alles tut, um

sich vor dem Virus zu schützen.

Dr. Klaus Swieczkowski, Hildburghausen

(Thür.)

Drohungen sind nie

hinnehmbar

Nr. 51/2021 Ministerpräsident

Kretschmer über Coronaleugner und

»Querdenker«

Ja, Deutschland ist ein freiheitlicher,

demokratischer Rechtsstaat,

und darüber sollte jeder froh sein,

der in diesem Land lebt. Aber ein

Rechtsstaat ist nur dann einer,

wenn das Recht auch gegen Freiheitsmissbrauch

und Demokratiefeindlichkeit

– nichts anderes

136 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021


Wir fragen uns,

warum noch nie ein

(temporäres) Tempolimit

zur Entlastung

der Pflege, Polizei

und Feuerwehr oder

der Rettungswagen

öffentlich diskutiert

worden ist. Das wäre

doch das Mindeste,

um das Personal in

der Pandemie akut zu

entlasten.

Dr. Joanna Smolinska, Ärztin,

und Camilla Kienast, Ärztin,

Berlin

Nr. 51/2021 Wie heftig trifft die

Omikron-Welle Deutschland?

sind öffentliche Drohungen nämlich

– entschieden und entschlossen

verteidigt wird. Drohungen

mit körperlicher oder psychischer

Gewalt, egal ob privat oder öffentlich,

sind nie hinnehmbar.

Hans-Joachim Lotz, Hamburg

Der sächsische Ministerpräsident

wirft der FDP in ihrer Funktion als

Teil der Bundesregierung erfreulich

eindeutig irrlichterndes Verhalten

vor. Ein zu hartes Urteil? Wohl

kaum, wenn man bedenkt, dass

sich der FDP-Politiker Wolfgang

Kubicki, immerhin Vizepräsident

des Bundestags, nicht entblödet

hat, die Befürworter:innen einer

Impfpflicht zu bezichtigen, es gehe

ihnen um »Rache und Vergeltung«.

Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)

Die bessere

Regierungserklärung

Nr. 51/2021 Die Berliner Soziologin

Naika Foroutan sagt, Einwanderung muss

Machtpolitik werden

Der Beitrag hat mich regelrecht

elektrisiert. Seit sechs Jahren warte

ich auf so einen Text. Ich kann

nur hoffen, dass ihn sehr viele

Menschen lesen – besonders Mitglieder

der Regierung –, vor allem

auch hier in Österreich. Es wäre

schön, wenn man sich als Bürger

nicht mehr schämen müsste für

Mir als Spandauerin

erscheint das hiesige

Ordnungsamt nicht

überlastet. Bei mir

kontrollierten zwei

Mitarbeiterinnen die

Einhaltung der Quarantäne

und verlangten

Impfnachweise.

Ich konnte sie nicht

erbringen. Dann

wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren

eingeleitet. Es geht

um meine vier alten

Legehennen.

Claudia Güntner, Berlin

Nr. 51/2021 Die Überprüfung

der Coronaregeln überfordert

Ordnungsämter und Polizei

das, was Migrationspolitik genannt

wird – und dieses Thema endlich

wieder mit Hirn, wenn schon nicht

mit Herz, angegangen wird.

Notburga Stricker, Hof am Leithaberge

(Österreich)

Herzlichen Dank an die Autorin

und den SPIEGEL! Ein Artikel,

wie man sich eine Regierungserklärung

zum Thema gewünscht

hätte: nach vorn blickend, faktenbasiert,

ermutigend, ideenreich,

mutig in der gedanklichen Verbindung

von Themen, die in

diesem wohlorganisierten Staat

immer nebeneinander gedacht

werden. In einem guten Sinn

möchte man sagen: Aus Emigrationsnot

wird Handlungstugend.

So kurz vor dem Fest fast schon

eine Weihnachtspredigt.

Axel Sandrock, Rehburg-Loccum

(Nieders.)

Unsere Behörden – egal ob das

Innenministerium, das Bundesamt

für Migration und Flüchtlinge

oder die Landratsämter – haben

die positive Seite der Fluchtbewegung

noch nicht verstanden.

Da sind so viele Arbeitsstellen

unbesetzt, aber die Auflagen der

Behörden wirken wie Stacheldraht.

Die Integration liefe viel

leichter, wenn eine schnelle Vermittlung

in den Arbeitsmarkt

erfolgte. Ja, es fehlt an Mut,

Mi granten aufzunehmen. Das

Der Bericht gibt

Opfern eine Stimme,

die sich erfolgreich

gegen sexualisierte,

physische oder

psychische Gewalt

gewehrt haben – und

die beweisen, dass

wir auch jenseits des

Schwebebalkens

oder des Schwimmbeckens

den vermeintlich

Mächtigen

nicht hilflos ausgeliefert

sind. Widerstand

lohnt sich!

Dr. Fred Maurer, Mannheim

Nr. 51/2021 Drei Sportlerinnen

berichten, was nach ihren

Missbrauchsenthüllungen

geschehen ist

habe ich auch unseren kirchlichen

Behörden in den letzten Jahren

wiederholt gesagt – und sie schämen

sich dafür.

Helmut Staudt, evangelischer Pfarrer i. R.,

Gaiberg (Bad.-Württ.)

Den exzellenten Artikel von Frau

Naika Foroutan sollte man kopieren

und als Einschreiben mit

Rückschein an Mitglieder aller im

Bundestag vertretenen Parteien

zusenden.

Dr. Mohammad Behechtnejad, Winsen/

Luhe (Nieders.)

Ich kann dem Text nur beipflichten.

Warum kümmern wir uns

nicht intensiver um alle Afghanen,

die von den Taliban bedroht

werden und ihr Land verlassen

müssen? Wir brauchen diese

Menschen wie sie uns auch. Gemeinsam

können wir ihnen eine

Perspektive bieten. Jeder von

ihnen sollte nach seiner Ankunft

in Deutschland einen Paten zur

Seite gestellt bekommen, damit

ihre Integration klappt. Das ist

anspruchsvoll und anstrengend,

aber beschert auch viele Glücksmomente,

wenn etwa eine Ausbildung

mit Erfolg absolviert

wurde. Die Patinnen und Paten

lernen wiederum viel über andere

Länder und Kulturen. Das ist

bereichernd.

Hans-Volker Domjahn, Halstenbek

(Schl.-Holst.)

Ein prickelndes

Sektfrühstück

Nr. 51/2021 Thomas Fischer über die

Anwälte in der Serie »Legal Affairs«

Wunderbar, dieser Verriss der

neuen ARD-Serie »Legal Affairs«.

Allein die genussvolle Beschreibung

der Hauptakteurin

Roth als Staranwältin macht die

Lektüre zu einem vergnüglichen

Parforceritt durch 360 Minuten

sprachliche Leckereien. Tja, fast

vergessen: Um Cinemascopisches

geht es auch noch. Der Autor, der

ehemalige Bundesrichter Thomas

Fischer, ist eine wahre sprachkulinarische

Entdeckung.

Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.)

Genial! Selten habe ich eine so

amüsante Satire gelesen wie die

Kritik von Prof. Dr. Fischer an

der Sendung »Legal Affairs«, deren

erste Folge ich mir ansehen

werde – um darüber hoffentlich

erneut so herzhaft zu lachen wie

über die einzigartigen Formulierungen

des Gastbeitrags. Bitte

mehr davon!

Johannes Zilkens, Köln

Was der kritische Thomas Fischer

leider nicht geschrieben hat: Lavinia

Wilson ist eine sehr gute

Schauspielerin.

Stephan Schneberger, Magdeburg

Thomas Fischers Rezension der

ARD-Serie »Legal Affairs« – genial.

Hans-Werner Evers, Duisburg

Wer wollte nach diesem herrlich

ironischen Beitrag noch behaupten,

die Juristen seien mehrheitlich

ohne jeden Humor? Das

hatte ich, selbst Jurist, noch nie

geglaubt. Und wenn ich daran

doch Restzweifel gehabt hätte,

dann wäre ich spätestens jetzt

eines Besseren belehrt. Bravo,

Herr Dr. Fischer, so etwas Prickelnd-Inspiriertes

– fast wie ein

Sektfrühstück – würde man

gerne öfter von Ihnen in diesem

Magazin lesen. Ein Hoch auf Ihre

Zeilen und Daumen nach unten

für diese (das folgende Wort hat

einem der Sender ja so schön

nahegelegt) »fucking« Serie der

ARD!

Dietrich Wolfgang Haas, Lichtenau (NRW)

Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe

gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und

unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

137


HOHLSPIEGEL

RÜCKSPIEGEL

Von Wiesbadenaktuell.de

Von Augsburger-allgemeine.de: »Wann

ist Vollmond 2022? Wann Neumond? Hier

finden Sie unseren Mondkalender, der

alle Termine bietet. Die Angaben zu den

Mondhasen stammen von der Nasa.«

In einem Gartencenter nahe Regensburg

Von Maz-online.de, dem Onlineauftritt

der »Märkischen Allgemeinen«: »Einen

Dämpfer muss Gesundheitsministerin

Ursula Nonnemacher (Grüne) hinnehmen,

die noch vor einem Jahr hohe persönliche

Zufriedenheitswerte genoss. Mit der Arbeit

der Politikerin, die für die Corona-Krise

maßgeblich verantwortlich ist, sind nur noch

40 Prozent zufrieden – ein Minus von

16 Punkten.«

Aus dem »Göttinger Tageblatt«

Von »t-online«: »Dieses Jahr ist das erste

Mal seit ihrer Hochzeit 1947, dass Queen

Elizabeth II. die Feiertage ohne Mann

Prinz Philip verbringen muss, der im April

im Alter von 99 Jahren ge storben war –

genauso wie auch große Teile der Vorweihnachtszeit.«

Hinweis in der Herrentoilette eines Kaufhauses

in Celle

138 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Werden Sie

Business

Coach

Weiterbilden mit E-Learning –

wann und wo Sie wollen

+ Anwendungsfelder wie

Leadership-, Team-, Konfliktund

agiles Coaching

+ Kompetenzen eines

Business Coachs

Mit

Abschlusszertifikat

Eine Auswahl der Inhalte:

+ Interventionen und Methoden,

Evaluation, Supervision

+ digitale Coachingformate

+ Datensicherheit

und Ethikrichtlinien

Alle Kurse und Infos unter

akademie.spiegel.de

Zitate

Die »Welt« zitiert Aussagen des

desi gnierten CDU-Vorsitzenden

Friedrich Merz im SPIEGEL

(»Schon verrückt«, Nr. 52/2021):

Der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich

Merz hat angekündigt, eine Kooperation mit

der AfD unter allen Umständen zu verhindern.

»Mit mir wird es eine Brandmauer zur

AfD geben«, sagte Merz dem SPIEGEL …

»Die Landesverbände, vor allem im Osten,

bekommen von uns eine glasklare Ansage:

Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt,

um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann

steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren

an.« Merz betonte: »Wir sind nicht

die XYZ-Partei, die mit jedem kann. Wir

sind die CDU.« Er werde im Verhältnis zur

AfD von Anfang an »sehr konsequent sein«.

Franz Josef Strauß habe mal gesagt, dass eine

Jacke, die man einmal falsch zuknöpfe, sich

oben nicht mehr korrigieren ließe. »Da hatte

er recht.«

Die »taz« teilt Beobachtungen des

SPIEGEL über das Auftreten der

Regierenden Bürgermeisterin von Berlin,

Franziska Giffey (»Alles ist verziehen«,

Nr. 50/2021):

Der Kollege vom SPIEGEL war schneller. Jetzt

ist die Formulierung weg und der Quellenhinweis

fällig. Denn bei Franziska Giffey

(SPD), seit Dienstag 11.10 Uhr Berlins neue

und auch erste Regierende Bürgermeisterin,

kann man nicht schlechtes Zitieren bei der

Doktorarbeit kritisieren, das aber selber nicht

besser machen. »Giffey wirkt glaubhaft unbeschwert«

ist nämlich die zentrale und völlig

korrekte Beobachtung des Kollegen.

Der Fotograf Maurice Weiss von der

Agentur Ostkreuz erzählt im »Freitag«

von seinen Recherchen mit einem

SPIEGEL-Reporter im ostdeutschen

Braunkohlerevier (»An der Kante«,

Nr. 28/2020):

Ich war mit Alexander Smoltczyk vom

SPIEGEL vergangenes Jahr in der Lausitz. Er

kam mit einer etwas seltsamen These: Die

von der Braunkohle, das sind Dinosaurier.

Wir haben dann festgestellt, das sind keine

Dinosaurier, das ist eine Gesellschaft im Umbruch,

und zwar im dritten innerhalb einer

Generation. Daraus wurde »Demokratie

an der Abbruchkante«. Als ich die Bilder

bei Ostkreuz gezeigt habe, wurde mir von

einigen Kollegen vorgeworfen: So wäre der

Osten nicht, wie ich mir anmaßen könne,

den Osten so zu fotografieren. Da war ich

perplex, das war unsere Perspektive nach

einer langen Recherche. Unser Beitrag sollte

ein Mosaikstein für eine Diskussion über den

immer noch andauernden Umbruch in der

Lausitz sein.


Jetzt den SPIEGEL testen

und Prämie sichern

6 × DER SPIEGEL für nur € 23,90 + Wunschprämie

31 %

sparen

+ Prämie

10 € DriversChoice-Gutschein

Der Tankgutschein ist deutschlandweit

bei über 8500 Tankstellen gültig.

10 € Amazon.de Gutschein

Für Bücher, CDs, DVDs, Spiele,

Technikartikel und vieles mehr.

Einfach jetzt anfordern:

abo.spiegel.de/6x

oder telefonisch unter 040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP22-026)


vr.de

Weil man

hohe Ziele am besten

auf Augenhöhe erreicht.

Der erste Schritt zu langfristigen Unternehmenserfolgen:

echte Nähe. Denn im beständigen

persönlichen Kontakt zu unseren Kundinnen

und Kunden setzen wir gemeinsam ihre Pläne

um. Dabei beraten wir stets ehrlich, kompetent

und auf Augenhöhe.

Gemeinsam schauen wir nach vorn und sagen:

Morgen kann kommen. Wir machen den Weg frei.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!