DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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Nr. 1 | 30.12.2021
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Wie große und kleine Revolutionen gelingen
JAHRE DER SPIEGEL
Augsteins Schwester Ingeborg
über die Eigenheiten ihres Bruders
WOHNUNGSNOT
Wie der Staat alles
schlimmer macht
REINHOLD MESSNER
Das Trauma
vom Nanga Parbat
Willkommen im
ausgezeichneten *
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zu sehen war: jetzt auf o2.de/5g
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HAUSMITTEILUNG
Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
75 Jahre SPIEGEL | Seiten 45 bis 62
Der SPIEGEL hat am 4. Januar Geburtstag, er wird 75. Für uns ein
Grund zu feiern, seit 75 Jahren steht unser Haus für un abhängige,
investigative Berichterstattung. Gleichwohl leben wir in Zeiten,
in denen viele Menschen das Vertrauen in etablierte Medien
verlieren, Verschwörungsmythen und Fake News um sich greifen.
Anlässlich unseres Jubiläums wollen wir deshalb eine kritische
Diskussion darüber eröffnen, was guter Journalismus heute und in
Zukunft leisten muss. »taz«-Chefredakteurin Barbara Junge beantwortet
diese Frage so: »Augsteins ›Im Zweifel links‹ bedeutet
immer auch: im Zweifel für die Schwachen und Wehr losen«,
schreibt sie in ihrer Gra tulation.
Unser Jubiläumsprogramm, das in dieser Ausgabe beginnt, steht
unter dem Motto »Journalismus für die Zukunft«. Nach welchen
Kriterien wählen wir unsere Themen aus? Wie sichern wir unsere Unabhängigkeit? Wie hat sich
unsere Arbeit über die Zeit verändert? Wenn Sie Fragen zum SPIEGEL haben oder wissen wollen,
wie wir arbeiten, dann schreiben Sie uns eine Mail an 75@spiegel.de. Einige Fragen wählen wir
aus und beantworten sie auf SPIEGEL.de und in unserem Jubiläumsheft, das am 8. Januar 2022
erscheint.
Wir starten außerdem mit der Gesprächsreihe »SPIEGEL Backstage«, in der unsere Kolleginnen
und Kollegen Einblicke in ihren Alltag gewähren und sich Ihren Fragen stellen. Am 11. Januar
machen Christoph Reuter und Jörg Diehl den Anfang, sie erzählen über »Krieg und Verbrechen
als Arbeitsalltag«. Die Events finden wegen Corona zunächst digital statt. Anmelden können Sie
sich unter spiegelgruppe.de/veranstaltungen.
Wir erlauben uns aber auch einen nostalgischen Blick zurück. Brigitte Wulzinger war eine
junge Mitarbeiterin des SPIEGEL, als sie 1998 einen Nebenjob antrat: Jahrelang, bis zu seinem
Tod, las sie Rudolf Augstein, der nur noch schlecht
sehen konnte, aus Zeitungen und Büchern vor und
begleitete ihn auf Reisen. Zu dieser Zeit begann Augstein
auch, ihr seine Biografie zu diktieren. Es blieb
beim Fragment. Nun beleuchten Wulzinger und der
Redakteur Alexander Kühn im Gespräch mit Augsteins
Schwester dessen Leben: Die Biologin Ingeborg
Villwock, 92, hat einen durchaus kritischen Blick
auf den SPIEGEL-Gründer. Wulzinger hingegen sagt,
der altersmilde Augstein sei »einer der charmantesten
und geistreichsten Menschen« gewesen, die sie
je kennengelernt habe.
Titel | Seiten 20, 66
In Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und für viele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mechanismen
des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chancen.
Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig von einander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
SPIEGEL COACHING
Augstein (hinten) 1952
Das Leben ist eine Baustelle, genauer gesagt: Es besteht leider oft aus
vielen Baustellen. Nur, welche ist die dringlichste? Die aktuelle Aus -
gabe von SPIEGEL COACHING, »Alles auf neu!«, hilft mit Selbstchecks
und einfachen wie alltagsnahen Trainings zu sechs Themen: Widerstandskraft
stärken, Beziehungskrisen lösen, Ängste meistern, Schmerzen annehmen,
Finanzen planen und genussvoll essen. Entwickelt wurden die
Trainings von Coaching-Experten gemeinsam mit der Psychologin Anne
Otto. SPIEGEL COACHING ist von Dienstag an im Handel erhältlich.
Max Ehlert / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
5
INHALT
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 1 | 30.12.2021
TITEL
20 | Zäsuren Ein neues Jahr,
Zeit für einen Neu anfang – in der
Politik und im Persönlichen
26 | Der Psychologe Rainer
Riemann spricht darüber, wie ein
Start gelingen kann
Noch einmal loslegen
Unternehmerin
Bernat
ZÄSUREN Viele träumen um Silvester von einem neuen Leben, manche wagen auch
den Sprung – wie die Ex-Buchhalterin Katrin Bernat, die ein Unternehmen gründete.
Auch im Großen, in der Politik, gibt es ambitionierte Vorhaben. Doch so verlockend
Neues wirkt, die Hürden sind oft hoch. Was braucht es, sie zu überwinden? | 20
Gordon Welters / DER SPIEGEL
DEUTSCHLAND
10 | Leitartikel Sind die Mittel
der Bundes regierung gegen
höhere Preise ausreichend?
12 | Die Geschichten hinter den
Geschichten: Politiker kritisieren,
ohne destruktiv zu sein / Die
grausame Wahrheit der Juliflut /
Wenn Journalisten mit ihren
Prognosen danebenliegen
30 | Karrieren Verkehrsminister
Wissing gilt als Autofan, will sich
aber auch um die Bahn kümmern
33 | Parteien Die Krise der
CSU könnte durch CDU-Chef
Merz noch größer werden
34 | Gemeinsamkeiten Der
Linke Gysi, 73, und die Unionsfrau
dos Santos Firnhaber, 27,
im spiegel-Gespräch über Pa rallelen
zwischen ihren Parteien
38 | Energie Ein Bauer aus dem
Rheinland kämpft gegen RWE
40 | Subventionen Betrug beim
Staatstheater Darmstadt?
42 | Aggressionen »Querdenker«
bedrohen einen Bürgermeister
und seine Familie – warum?
75 JAHRE DER SPIEGEL
46 | SPIEGEL-Statut Wie und
für wen wir den spiegel machen
Daniel Hofer / DER SPIEGEL
Chris McAndrew / CAMERA PRESS / laif
Thomas Pirot / DER SPIEGEL
48 | Geschwister Ingeborg
Villwock erzählt im spiegel-
Gespräch, wie sie ihren
Bruder Rudolf Augstein im
Familienkreis erlebte
54 | Rückblick Der spiegel
in Zahlen
Volker Wissing
Der FDP-Verkehrsminister
ist von der Union menschlich
enttäuscht. | 30
Hanya Yanagihara
Im neuen Roman schildert die
Autorin eine satte Gegenwart
und eine elende Zukunft. | 120
Claus Kleber
Der ZDF-Journalist spricht über
seine schwierigsten Interviews:
Merkel habe ihm misstraut. | 87
56 | Zeitgeschichte Die
spiegel-Affäre und das
Ringen um die Pressefreiheit
wirken bis heute nach
8 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
58 | Relotius-Skandal Welche
Konsequenzen die Redaktion aus
der Affäre gezogen hat
60 | Sagen, was ist Die
großen SPIEGEL-Recherchen
der vergangenen 75 Jahre
62 | Gratulation Der SPIEGEL
muss bissig und unbequem
bleiben, fordert »taz«-Chefin
Barbara Junge
REPORTER
64 | Die Geschichten hinter den
Geschichten: Bei Schwarzenegger
/ Die Hanau-Protokolle
66 | Katastrophen Nach dem
Vulkanausbruch – zu Besuch
bei Auswanderinnen auf La Palma
71 | Homestory Warum verzweifle
ich an meinem Computer?
WIRTSCHAFT
72 | Die Geschichten hinter
den Geschichten: Abgang eines
»Bild«-Chefs / Schweigsame
Industrie
74 | Immobilien Warum der
Staat die Wohnungsnot nicht in
den Griff bekommt
80 | Geldpolitik Unicredit-
Chef Andrea Orcel über die neue
Stärke Italiens
84 | Elektromobilität E-Autos
boomen, doch Europa
baut zu wenige Ladesäulen
MEDIEN
87 | Journalismus SPIEGEL-
Gespräch mit ZDF-Anchorman
Claus Kleber über seinen Abschied
vom »heute journal« und
die Grenzen seiner Fragetechnik
AUSLAND
90 | Die Geschichten hinter
den Geschichten: Eine Odyssee
in Afghanistan / Die mutigen
Frauen von Minsk
92 | USA Wie der Sturm auf
das Kapitol vor einem Jahr einen
Polizisten traumatisiert hat
95 | Bulgarien Deutsche Impfgegner
an der Schwarzmeerküste
98 | Ukraine Die politische
Elite zerlegt sich selbst
100 | EU Kommissionsvize
Šefčovič über die Problemnachbarn
Groß britannien und
Schweiz
SPORT
102 | Die Geschichten hinter
den Geschichten: Ringer Frank
Stäblers Weg nach Olympia /
Afghanische Fußballerin auf der
Flucht vor den Taliban
104 | Bergsteigen Reinhold
Messner und der Tod
seines Bruders am Nanga Parbat
WISSEN
108 | Die Geschichten hinter den
Geschichten: Boosterimpfung
dank SPIEGEL-Grafik / Immer
Ärger mit dem Kirschlorbeer
110 | Astronomie SPIEGEL-
Gespräch mit ESA-Forscher
Günther Hasinger über das teuerste
Teleskop der Geschichte
114 | Analyse Omikron könnte
die Pandemie beenden
116 | Industrietechnik Baldiges
Ende schmutziger Hochöfen?
KULTUR
118 | Die Geschichten hinter
den Geschichten: Das Kino in der
Coronakrise / Die deutsche
Diskussion ums Jüdischsein
120 | Literaturstars Ein Besuch
bei der Autorin Hanya Yanagihara
125 | Karrieren Wer ist der neue
Leiter der Berliner Festspiele?
126 | Rassismus SPIEGEL-
Gespräch mit Joy Denalane und
Tupoka Ogette über ihr
Leben als schwarze Deutsche
131 | Filmkritik Regiedebüt
von Maggie Gyllenhaal
Bestseller | 123 SPIEGEL-TV-Programm | 124
Impressum, Leserservice | 132
Nachrufe | 133 Personalien | 134
Briefe | 136 Hohlspiegel / Rückspiegel | 138
1947 — 2022
18 SEITEN
JUBILÄUMSSPEZIAL
»Rudolf, du bewegst dich auf dünnem Eis«
Augsteins jüngste Schwester, Ingeborg Villwock, erzählt, welche
Rätsel ihr der SPIEGEL-Gründer bis heute aufgibt. Dazu eine
SPIEGEL-Würdigung von »taz«-Chefin Barbara Junge. | 48, 62
Das Familiendrama des Reinhold Messner
Der Tod des Messner-Bruders Günther bei einer gemeinsamen Tour
im Himalaja beschäftigt Bergsteiger seit über 50 Jahren. Warum gibt
es keine Versöhnung zwischen dem Idol und seinen Kritikern? | 104
»Wir alle sind rassistisch sozialisiert«
Die Aktivistin Tupoka Ogette und die Sängerin Joy Denalane
appellieren im SPIEGEL-Gespräch an weiße Menschen:
»Es geht nicht um Schuld, es geht um Verantwortung.« | 126
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL (2) Jörn Haufe DER SPIEGEL
Titel-Illustration: Rocket & Wink für den SPIEGEL
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
9
Wo bleibt der soziale Ausgleich?
LEITARTIKEL Agrarminister Cem Özdemir will »Ramschpreise« für Lebensmittel unterbinden. Der Vorschlag
kommt zu einer Zeit, in der viele Menschen nicht wissen, wie sie im neuen Jahr über die Runden kommen.
Grünenpolitiker
Özdemir bei
Essensausgabe
an Bedürftige in
Stuttgart
Die Gelbwestenbewegung
in Frankreich
entstand,
als die
Energiepreise
stiegen.
C
em Özdemir, der neue Ernährungs- und Landwirtschaftsminister,
hat recht: Zu viele Menschen in
Deutschland ernähren sich schlecht, sind übergewichtig
und deshalb krankheitsanfällig. Nahrungsmittel
sind im Vergleich zu anderen Verbrauchsgütern billig,
kleineren Bauernhöfen geht es oft schlecht, Tiere werden
bisweilen erbärmlich gehalten. Umwelt- und Klimaschutz
spielen in der Landwirtschaft eine noch zu kleine Rolle,
Lebensmittel werden bei uns, anders als in Frankreich
oder Italien, zu wenig wertgeschätzt. »Manchmal habe
ich das Gefühl, ein gutes Motoröl ist uns wichtiger als ein
gutes Salatöl«, sagte Özdemir in »Bild am Sonntag«. Seine
Folgerung: »Es darf keine Ramschpreise für Lebensmittel
mehr geben.« Essen müsse teurer werden.
Ein richtiges Ansinnen, leider falsch kommuniziert, zu
einem denkbar schlechten Zeitpunkt: Die Verbraucherpreise
befinden sich derzeit ohnehin schon in einem
Höhen flug, viele wissen nicht, wie sie im neuen Jahr die
Kosten stemmen sollen.
Özdemirs Botschaft wird viele verängstigen und verärgern,
statt sie zu motivieren. Gesellschaftlicher Wandel
aber wird nur gelingen, wenn es positive Anreize gibt.
Das gilt für die Wende in der Landwirtschaft genauso wie
im Klimaschutz. Sie muss sozialverträglich geschehen,
wie es die neue Regierung versprochen hat. Wo aber sind
die Ankündigungen für den »starken sozialen Ausgleich«,
der im Koalitionsvertrag steht? Wo bleibt das Zuckerbrot
neben der Peitsche?
Das Leben der Deutschen wird zunehmend teurer. Die
Nahrungsmittelpreise stiegen innerhalb eines Jahres um
4,5 Prozent, ihr Anteil an den Gesamtausgaben eines
Haushalts wächst. Die Energiepreise erhöhten sich um
20,2 Prozent, Heizöl ist sogar um 50 Prozent teurer geworden.
Die Kurve beim Erdgas stieg zeitweise an wie
Michael Hahn / BILD
eine Wand: Wurde der Preis beim niederländischen TTF-
Referenzmarkt im Sommer 2020 noch bei etwas mehr
als 5 Euro pro Kilowattstunde notiert, waren es kürzlich
bis zu 180 Euro, heute liegt er bei gut 105 Euro. Ähnlich
düster ist die Prognose für die Stromkosten. Die Megawattstunde,
die Stromanbieter für das kommende Jahr
einkaufen, kostete Mitte Dezember durchschnittlich rund
200 Euro, im Vorjahr waren es noch 40 Euro. Der höhere
CO 2-Preis spielt eine Rolle, wenngleich nicht die entscheidende.
Beim Strom hat die Bundesregierung Entlastung versprochen
und zum 1. Januar die EEG-Umlage gesenkt.
Doch die gut 100 Euro, die ein durchschnittlicher Haushalt
damit spart, werden die Kostensteigerung wohl nicht kompensieren.
Es war immer klar, dass es die Klimawende nicht ohne
Belastung und ohne Verzicht geben würde. Es ist aber
auch klar, dass Preissteigerungen bei Gas und Strom die
schwächeren Einkommen am härtesten treffen. Experten
haben früh vor der »sozialen Sprengkraft« wachsender
Klimakosten gewarnt. Die Politik muss für Menschen mit
wenig Geld schnellstmöglich einen Ausgleich schaffen.
Özdemirs Vorstoß symbolisiert ein grundsätzliches
Problem des rot-grün-gelben Wendekonstrukts. Zuerst
steigen die Kosten, erst dann folgt die finanzielle Kompensation.
Beispiel »Klima-« oder »Energiegeld«: Es soll
den Bürgerinnen und Bürgern einen Ausgleich für den
wachsenden CO 2-Preis geben, kann aber erst finanziert
werden, wenn genügend Geld aus der CO 2-Abgabe zusammengekommen
ist. Zudem dürfte die von den Grünen
an gepeilte Höhe des Energiegelds von 75 Euro pro Jahr
nicht ausreichen.
Die zeitliche Lücke ist gefährlich. Fühlen sich Menschen
übergangen und überfordert, wenden sie sich ab.
Profitieren könnten radikale Kräfte wie die AfD. Die Gelbwestenbewegung
in Frankreich entstand, nachdem die
Energiepreise gestiegen waren. Der Fehler: Das Geld
landete im Staatshaushalt statt direkt bei den Bürgern.
Es gibt genügend Ideen für eine Entlastung, etwa Zuschüsse
zum Wohngeld. Sie müssten nur schnell umgesetzt
werden. Aus der Psychologie ist bekannt, dass Menschen
ihr Verhalten weniger aus rationalen denn aus emotionalen
Gründen ändern. Darauf sollte die Politik verstärkt
ihren Blick richten. Wie kann man Bürgerinnen und Bürgern
gesunde Ernährung im wahrsten Wortsinn schmackhaft
machen? Wo sind Aktionen in Supermärkten oder
Schulen, die zeigen, dass man mit wenig Geld leckeres
und hochwertiges Essen kochen kann?
Für mehr artgerechte Tierhaltung und pestizidarmen
Anbau in der Landwirtschaft könnte die Politik mit Gesetzen
und Verboten sorgen – und mit klug gesteuerten
Subventionen. Solche Schritte würden die Menschen zu
diesem Zeitpunkt leichter akzeptieren als die Botschaft,
dass das Schnitzel demnächst teurer werden muss.
Martin Knobbe
n
10 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Wir telefonieren nicht mehr
wie in den 80ern. Und Geld sollte
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Deutschland
Die Geschichten hinter den Geschichten – der besondere Rückblick
Wenn ein Text recherchiert, geschrieben und veröffentlicht ist,
ist die Arbeit der SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteure
eigentlich abgeschlossen. Manche Texte beschäftigen uns allerdings
weiter. Auf den folgenden Seiten und auf den Meldungsseiten
aller Ressorts berichten Redakteure und Redakteurinnen, welche
Reaktionen auf ihre Texte sie nachdenklich machten, welche Begegnungen
sie nicht mehr loslassen, was ihnen Heiteres oder Absurdes
während ihrer Recherchen widerfuhr. Und auch, was sie nicht
noch einmal so machen würden. 2021 ist das zweite Jahr, in dem
die Pandemie die Berichterstattung prägte. Es war zudem das
Wahljahr mit einem Regierungswechsel und intensiver politischer
Berichterstattung. Diese Seiten sind auch der Versuch, unsere
Arbeit transparenter zu machen und zu schildern, warum wir wie
entschieden haben. Die Journalistinnen und Journalisten berichten
von ihren Emotionen, hinterfragen journalistische Reflexe und sich
selbst. Manche erzählen, was das für sie heißt: Reporterglück.
Kritisch, nicht destruktiv
NR. 37/2021 »Der Baldrian-Kandidat« – Hauptstadtbüroleiter Martin Knobbe schrieb einen kritischen Leitartikel
über Olaf Scholz und wurde dafür angegangen. Er fragt sich, wie man Kritik übt, ohne bloß Frust zu erzeugen.
W
erden
Politiker vom SPIEGEL »niedergeschrieben«? Ein Leserbrief
brachte mich zum Nachdenken. Er erreichte mich,
nachdem ich im Spätsommer einen Leitartikel über Olaf
Scholz geschrieben hatte. Der Tenor meines Textes: Scholz sei ein kluger
Stratege, zu einem guten Kanzler mache ihn das noch lange nicht.
Für die künftigen Herausforderungen brauchte es meiner Ansicht nach
mehr als die Weiter-so-Attitüde, die Scholz damals ausstrahlte.
Der Leser kritisierte gar nicht so sehr den Inhalt des Kommentars.
Er fragte: Wen sollen wir denn dann wählen? Er sagte, wir,
also der SPIEGEL, hätten alle Kandidaten »niedergeschrieben«:
Armin Laschet hatten wir im Asterix-Stil auf dem Titel als »Häuptling
Wirdsonix« persifliert, Annalena Baerbock nach ihren vielen
Fehlern scharf kritisiert – eine Woche nach dem Scholz-Kommentar
erschien eine kritische Titelgeschichte über die Grünen.
Sind wir destruktiv? Tragen wir zur Politikverdrossenheit bei,
wenn wir ständig jede und jeden an der Spitze der Politik kritisieren?
Reden wir so einer populistischen Weltsicht das Wort, in der »die
da oben« sowieso unfähig sind? Das sind Fragen, die den SPIEGEL
seit Jahrzehnten begleiten. Noch nie gingen sie so direkt an mich.
Nun gehört der kritische Blick zur DNA eines seriösen Politikjournalisten,
für den SPIEGEL gilt das erst recht. Dass wir bei jeder
Politikerin, bei jedem Politiker, egal welcher Couleur, das Haar
in der Suppe suchen und hoffentlich auch finden, erwarten unsere
Leserinnen und Leser von uns, davon bin ich überzeugt. Dennoch
wäre es falsch, wenn nach dem Lesen politischer SPIEGEL-Artikel
nur Frust, Resignation oder gar Wut blieben. Was also sind die
Lehren aus der Kritik des Lesers? Stand heute sehe ich zwei.
Erstens müssen wir sprachlich abrüsten. Ich weiß nicht, wie
oft der SPIEGEL – und andere – in der Pandemie von Staatsoder
Politikversagen geschrieben haben, aber es war wohl zu oft.
Manchmal, wenn dringend nötige Schritte der Politik bewusst
oder aus Unvermögen unterbleiben, sind diese Worte angemessen.
Man sollte sich aber vergegenwärtigen, was es heißt, wenn ein
Staat richtig versagt. Historische und aktuelle Beispiele dafür gibt
es genug.
Zweitens sollten wir noch öfter aufzeigen, was gut läuft und was
ein Vorbild für eine Problemlösung sein kann. Während der Pandemie
haben wir das manchmal gemacht, wenn Länder wie Israel
es mit kreativen Aktionen schafften, die Infektionszahlen nach
unten zu drücken. Zu zeigen, wie es gehen kann, zu beschreiben,
warum es gut läuft, das sollten wir viel öfter versuchen. Ohne die
scharfe Kritik zu unterlassen – wenn sie berechtigt ist.
12 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL
Stegners Keule
NR. 36/2021 »Da kommt
der Ralf« – Schleswig-Holstein-
Korrespondent Ansgar Siemens
por trätierte SPD-Urgestein
Ralf Stegner, dabei sah er
etwas, das ihn an »Watergate«
erinnerte.
Ein Bild zeigt für mich den
Inbegriff eines Journalisten: Robert
Redford am Schreibtisch,
die Muschel eines Telefonhörers
ganz nah am Mund. Die Szene
stammt aus dem Film »Die Unbestechlichen«,
es ist die Geschichte
von Watergate, dem
Skandal des Jahrhunderts. Hollywoodstar
Redford verkörpert
Bob Woodward, den Enthüller
der »Washington Post«.
Im Sommer habe ich Ralf
Stegner porträtiert. »Roter
Rambo« nennen sie ihn, weil er
gern gegen politische Gegner
austeilt. Für manche ist Stegner
der Inbegriff eines Sozialdemokraten,
kernig, links und stets
zur verbalen Rauferei bereit.
Der einst mächtigste SPD-Mann
in Schleswig-Holstein kämpfte
um ein Bundestagsmandat, das
er schließlich gewann.
Während der Recherche traf
ich ihn in seinem Büro im Kieler
Landtag, er packte, zwei Tage
später zog er aus. Das Zimmer
erzählte sein politisches Leben.
Siemens
Auf dem Sideboard lagen Boxhandschuhe,
auf dem Sofa ein
Kissen mit dem Schriftzug
»Lächle – Du kannst sie nicht
alle töten«. Mich faszinierte etwas
anderes: Auf seinem Schreibtisch
entdeckte ich einen Retrotelefonhörer
für das iPhone. Die
Art Keule, mit der Redford telefonierte.
Stegner hatte sie von
seinen Söhnen geschenkt bekommen
– für Sprech stunden
mit dem Wahlvolk.
Ich habe mir solch einen
Hörer sofort gekauft. In der
Redaktion sind Telefone abgeschafft.
Für Gespräche im Festnetz
setzt man sich ein Headset
auf, wählt Nummern bei Microsoft
Teams. Es ist wie im Callcenter.
Ich stöpsle neuerdings
den Hörer (»Opis 60s Micro«)
in mein Handy, Robert Redford
im Kopf und Ralf Stegner vor
Augen. Ein Journalist braucht
einen Telefonhörer.
DER SPIEGEL
Ein mieses Gefühl
NR. 46/2021 »Maskuline
Mi gration« – Ohne es zu wollen,
weckte Redakteurin Katrin Elger
falsche Hoffnungen bei einer
Syrerin im Libanon.
Vor ein paar Wochen telefonierte
ich mit einer alleinerziehenden
Syrerin, die mit ihren
Kindern im Libanon lebt. Am
Ende weinte Taghrid. Auch die
Übersetzerin und ich hatten
Tränen in den Augen. Es ist ein
mieses Gefühl, Hoffnungen zerschlagen
zu müssen. Taghrid,
47 Jahre alt, hatte geglaubt, wir
könnten ihr dabei helfen, nach
Deutschland zu kommen.
Berichterstattung kann öffentliche
Aufmerksamkeit auf
ein Problem lenken, sie ändert
nicht geltende Gesetze. Ich versuche,
das deutlich zu formulieren.
Im Fall von Taghrid hatte
ich unterschätzt, welche Hoffnungen
eine Interviewanfrage
bei ihr wecken würde.
Ich kenne die Witwe schon
seit mehr als vier Jahren, damals
porträtierte ich ihre älteste
Tochter Tabarak, zu dem Zeitpunkt
21 Jahre alt. Deren Mann
war ohne sie nach Deutschland
geflohen, und ich schilderte,
wie langwierig und schwer es
für ihn war, seine Frau nachzuholen.
Dafür hatte ich Tabarak
und Taghrid im libanesischen
Tripoli besucht.
Monate nachdem mein Artikel
erschienen war, erhielt Tabarak
das Visum für Deutschland.
Als sie ein Jahr später
einen Sohn bekam, besuchte ich
sie, um ihr zu gratulieren. Sie
kochte syrisch für mich, die stolze
Oma Taghrid war per Videochat
dazugeschaltet, ich hielt
den Kleinen auf dem Arm.
Vor ein paar Wochen rief ich
Taghrid an, weil ich mit ihr für
einen Artikel über die schwierige
Situation von Geflüchteten
im Libanon sprechen wollte.
Nur engste Angehörige wie
Ehepartner oder minderjährige
Kinder haben ein Recht auf Familiennachzug,
Taghrid nicht.
Daran kann auch ein Text im
SPIEGEL nichts ändern.
Ich spreche häufig mit Geflüchteten,
höre ihre dramatischen
Geschichten. In Hamburg
fühlt sich das für mich oft fern
an, das macht es leicht, professionelle
Distanz zu wahren.
Aber ich habe in Tripoli selbst
gesehen, wie schlecht es Taghrid
und ihren Kindern dort geht.
Ihre Tochter schickt ihr alles
Geld, das sie in Deutschland erübrigen
kann. Taghrids Enkel
ist inzwischen drei Jahre alt, sie
hat ihn – anders als ich – noch
nie getroffen.
Smarter Kampf fürs
Klima
SPIEGEL.DE AM 10. SEPTEMBER
»Sie wollen nichts mehr essen.
Bis Laschet, Scholz und Baerbock
mit ihnen reden« – Über Monate
begleitete Redakteurin Nike Laurenz
Klima akti visten in Berlin.
Die manchmal gerade erst Volljährigen
waren PR-Profis – besser
als manche Konzernsprecher.
Im Spätsommer wollten junge
Aktivisten in Berlin so lange das
Essen einstellen, bis die Kanzlerkan
didaten Annalena Baerbock,
Olaf Scholz und Armin Laschet
öffentlich mit ihnen über die
Klimakrise sprechen würden.
Wegen der Aktion wurden die
Streikenden Zielscheibe von
Häme und Spott – ihr Vorhaben
sei naiv, erpresserisch, sinnfrei.
Als ich die Gruppe kennenlernte
– ich traf sie mehrmals,
beim Protestieren und beim Hungern
– war ich vor allem: erstaunt.
Ich kam mit den negativen
Kommentaren im Ohr:
»Diese Rebellen haben
doch keine Ahnung, wie die
Welt funktioniert.«
Aber sie hatten Ahnung,
mehr als viele andere, die auch
ein Anliegen haben. Sie wussten,
wie man auf sich aufmerksam
macht, wie man die Presse
um sich schart. Sie teilten mir
eine Sprecherin zu, die sie gekürt
hatten. Sie schickten mir
Mails mit Streik-Updates, anfangs
täglich, auf Deutsch und
Englisch.
Die Gruppe kommunizierte
über WhatsApp, es ist selten,
dass die, über die wir Journalistinnen
und Journalisten berichten,
so erreichbar sind. Sie wiesen
auf ihre Website hin, auf ihre
Instagram-Storys, sie organisierten
Pressekonferenzen unter
freiem Himmel, beschäftigten
Journalisten bei Befragung von
Klimaaktivistin in Berlin
Stefan Müller / PIC ONE
einen eigenen Fotografen. Die
wörtlichen Zitate ihrer Mitglieder,
die ich in meine Texte
schrieb, sollte ich ihnen schriftlich
vorlegen.
Als sie im November Olaf
Scholz, der sich erbarmt hatte,
zu einem Gespräch in der SPDnahen
Friedrich-Ebert-Stiftung
trafen, waren Journalisten im
Saal wegen Corona nicht erlaubt.
Schwierig für die Berichterstattung,
doch für einen exklusiven
Einblick luden die Aktivisten
mich kurzerhand am Abend
zuvor in ihre kleine Berliner
Wohnung ein, in der sie sich mit
Laptops und Gurkenbroten zur
Planung des Scholz-Treffens verabredet
hatten. Als ich mich später
verabschiedete, sagte die
Sprecherin: »Sehr nett, dass du
gekommen bist. Außer dir haben
wir niemanden hierher eingeladen.«
Im Treppenhaus musste
ich lachen: Diese Rebellen sind
wirklich nett – oder extrem clevere
PR-Profis.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
13
Vom Grauen der Wahrheit
NR. 31/2021 »So viel Wasser,
von überall« – Autorin Annette
Großbongardt schrieb mit
Kollegen über die Toten der
Jahrhundertflut diesen Sommer
im Ahrtal und in Nordrhein-
Westfalen.
Wie viele Details braucht die
Wahrheit? Um glaubhaft Realität
zu schildern, muss ich genau
sein als Journalistin. »Sagen,
was ist«, lautete der Leitsatz
unseres Gründers Rudolf Augstein.
Aber wie genau darf ich
Zerstörter Friedhof
in Bad Neuenahr-
Ahrweiler
Friedemann Vogel / epa
sein, wenn es um tragische Ereignisse
geht und viele Opfer?
Wenn ich schreibe, während
Menschen leiden und noch um
ihre Liebsten bangen? Ich war
im Ahrtal, wo es aussah, als hätte
ein Zyklop gewütet und
alles, was ihm in die Finger kam,
Häuser, Bäume, Autos, Wohnwagen
hochgehoben, zerschmettert
und dann mit Schlamm und
Wasser übergossen.
Natürlich sind wir den Fakten
verpflichtet, die unsere Recherchen
erbringen. Zur journalistischen
Sorgfaltspflicht gehört
es aber auch, die Wirkung
unserer Texte zu bedenken.
Meine Ressortleiterin hatte über
den Tsunami 2004 in Asien berichtet.
Sie habe damals erlebt,
sagte sie, wie verstörend Berichte
über Todesumstände
für Angehörige sein können,
die oft noch nicht wissen, wie
ihre Liebsten gestorben sind.
Schließlich verzichteten wir auf
Details, die zu drastisch schienen,
oder solche, die Menschen
auf sich beziehen konnten.
Wir schilderten, wie die Menschen
in ihren Kellern ertranken,
auf dem Campingplatz oder bei
dem Versuch, schnell noch ihr
Auto umzuparken. Aber ich
schrieb nicht über den Schlamm,
den Rechtsmediziner in den
Lungen von Verstorbenen fanden,
nicht, was sie mir über den
Schaumpilz erzählten, der sich
bei Ertrinkenden vor dem Mund
bildet, weil sie verzweifelt versuchen,
Luft zu bekommen.
Und so steht im Text nicht,
wie die Leichen in den Bäumen
hingen, nicht das Mädchen, das
bei einem Bestatter angespült
wurde. Nicht die Sorge des Innenministers,
einige Tote könnten
über den Rhein bis in die
Nordsee abgetrieben werden.
Jeder, der noch jemanden vermisst,
könnte ja denken: Ist das
jetzt mein Vater, der da gerade
auf ewig verschwindet?
Heute denke ich, unsere
Rücksicht auf die Hinterbliebenen
war damals richtig. Alles
war noch so frisch, die Toten
waren noch nicht beerdigt, etliche
Leichname nicht identifiziert
oder noch nicht einmal gefunden.
Aber ich frage mich
auch: Hätten wir nicht doch
mehr schreiben sollen? Um
noch besser vorstellbar zu machen,
mit welchem Leid, welchem
Trauma die Menschen in
den Flutgebieten leben müssen.
Um klarzumachen, welche
grausamen Konsequenzen das
Versagen der Verantwortlichen
hatte, die nicht rechtzeitig gewarnt
hatten. Es bleibt eine
schwierige Abwägung.
Vor einiger Zeit wurde eine
Tote aus dem Ahrtal bei Rotterdam
angespült, es dauerte Wochen,
bis sie identifiziert werden
konnte. Zwei Menschen werden
noch immer vermisst. Es ist die
Wahrheit.
»Das sind Ansteher,
brauchst du auch
einen?«
SPIEGEL.DE AM 9. SEPTEMBER
»Schmutzige Wäsche« – Gerichtsreporterin
Julia Jüttner
muss, gerade in Coronazeiten,
ungewöhnliche Mittel nutzen,
um einen Platz im Gerichtssaal
zu ergattern.
Prozesse sind grundsätzlich
öffentlich, so steht es im Gerichtsverfassungsgesetz,
Journalistinnen
und Journalisten dürfen
aus dem Gerichtssaal berichten.
Aber dazu müssen sie erst
einmal in den Saal hineinkommen.
Und das hat mit Journalismus
wenig zu tun. Im Juni 2020,
am Vorabend des Prozesses
gegen den mutmaßlichen Mörder
des Kasseler Regierungspräsidenten
Walter Lübcke, kam
ich am Frankfurter Oberlandesgericht
vorbei. Es war 22 Uhr,
vor dem Eingang standen Leute
– ich hielt sie für Neonazis – die
den Angeklagten unterstützen
wollten. Dann sah ich, wie ein
Kollege einem von ihnen Geldscheine
reichte. Er sagte zu mir:
»Das sind Ansteher, brauchst du
auch einen?«
Wegen der Coronapandemie
waren in Frankfurt am Main
statt 120 Zuschauerplätzen im
Saal lediglich 37 vorgesehen,
19 davon für Journalisten. Aber
sehr viel mehr Kolleginnen
und Kollegen wollten über den
Prozess berichten, es war für
mich das bedeutendste Verfahren
des Jahres. Hektisch telefonierte
ich herum und fand jemanden,
der sich gegen Mitternacht
für mich anstellte. Um
sechs Uhr löste ich ihn aus.
Er war übermüdet, durchgefroren,
es hatte geregnet. Und
ich fühlte mich schäbig.
Vor Gericht wird manchmal
bis 18 Uhr verhandelt, oft schreibe
ich direkt danach einen Text,
die Arbeitstage dauern häufig bis
21 Uhr. Das halte ich nicht durch,
wenn ich die Nacht davor auf
dem Klappstuhl in der Kälte verbracht
habe. Aber wohin führt
das? Am 9. September musste
sich der frühere Bayern-Profi
Jérôme Boateng vor dem Münchner
Amtsgericht verantworten,
weil er seine ehemalige Lebensgefährtin
geschlagen haben soll.
Der Andrang war enorm, aber
im Saal waren nur sechs Plätze
für Journalisten vorgesehen.
Ich war vorbereitet und hatte
über einen Kollegen den Studenten
Severin engagiert. Severin
sollte sich gegen Mitternacht
anstellen. Dann hörte ich von
einem anderen Gerichtsreporter,
sein Ansteher sei schon um
20 Uhr da. Severin sprach mit
seinem Kumpel Alexej, der sich
von 20 Uhr bis Mitternacht anstellen
würde und Severin dann
von Mitternacht bis morgens.
Ich fand das zwar absurd, dachte
aber: guter Plan. Am Tag vor
der Verhandlung rief Alexej an,
er sei zufällig am Justizgebäude
vorbeigelaufen, da stehe schon
Jüttner
Peter Jülich
jemand. In der Pressestelle des
Gerichts erfuhr ich, dass
die Deutsche Presse-Agentur
um 11 Uhr morgens einen ersten
Mitarbeiter zum Anstehen
geschickt haben soll – fast
24 Stunden vor Prozessbeginn.
Alexej besorgte sich Liegestuhl,
Brotzeit und schrieb mir
um 17.44 Uhr: »Sitze jetzt als
Dritter da.« Vor ihm die »Frankfurter
Allgemeine«. Kurz nach
ihm kamen Ansteher von
»Bild«, »Süddeutscher Zeitung«
und der »Zeit«. Bevor ich schlafen
ging, brachte ich Alexej ein
Helles, Chips und Schokolade.
Severin löste ich mit Croissants
und Kaffee ab, ich wollte mein
schlechtes Gewissen beruhigen.
Aber das ändert nichts daran:
Sie, nicht ich, mussten die Nacht
draußen verbringen.
Ich mache dieses Spiel mit,
ich trage dazu bei, dass sich
Helferinnen und Helfer immer
früher anstellen müssen, das ist
mir bewusst. Aber wenn ich es
nicht tue, erhalten SPIEGEL-
Leser keine Berichte aus dem
Gerichtssaal. Ein vernünftiger
Ablauf ist es trotzdem nicht.
14 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Abgezähltes Lob
SPIEGEL.DE AM 10. SEPTEMBER
»Nichts zu lachen« – Redakteurin
Anna Clauß berichtete von
ei nem CSU-Parteitag kurz vor
der Bundestagswahl und überhörte
ein wichtiges Detail in
der Rede von CSU-Chef Markus
Söder.
Zwei Wochen vor der Bundestagswahl
sah es nicht gut aus
für die Union. Ein CSU-Parteitag
in der Nürnberger Messehalle
sollte den Kampfgeist der Parteimitglieder
wecken und Geschlossenheit
von CDU und CSU
demonstrieren. Am Freitagabend
um 22 Uhr erschien meine Zusammenfassung
des ersten von
zwei Parteitagstagen online.
Im Vorspann hieß es: »Mit Witzen
über die Frisuren der Grünen
und übers Gendern versucht
Markus Söder auf dem CSU-Parteitag
in Nürnberg, den Abwärtstrend
der Union zu stoppen.
Armin Laschet? Den erwähnt er
nur ein einziges Mal.«
Am Samstag um acht Uhr
weckte mich die SMS eines
CSU-Pressesprechers: »Es
stimmt einfach nicht, was Sie da
schreiben.« Was genau nicht
stimmte, teilte er mir nicht mit.
Dass etwas nicht stimmen konnte,
signalisierte mir auch ein TV-
Interview mit Markus Söder, in
dem er einer »Autorin«, bei der
es sich nur um mich handeln
konnte, »Fake News«-Verbreitung
vorwarf. Die Pressestelle
der CSU kontaktierte sogar die
SPIEGEL-Chefredaktion.
Der Grund für die Aufregung?
Markus Söder hatte Armin
Laschet in seiner 70-minütigen
Rede nicht nur zu Beginn
erwähnt, als er in die Halle rief:
»Für alle Journalisten zum Mitschreiben:
Wir wollen Armin
Clauß auf Wahlkampfabschlussveranstaltung
der CSU
Laschet als Kanzler.« Auch in
der 58. Minute hatte Söder Laschets
Vor- und Nachnamen
zweimal untergebracht. Offenbar
genau in dem Zeitfenster,
das ich für einen kurzen Gang
auf die Toilette im Kellergeschoss
der Messeanlage nutzte,
hatte Söder darum gebeten,
»Armin Laschet morgen einen
tollen Empfang« zu bereiten.
Gefolgt von den Worten: »Wir
stehen zu 100 Prozent hinter
unserem Kanzlerkandidaten
und wollen Armin Laschet im
Kanzleramt sehen.«
Faktenfehler werden beim
SPIEGEL online umgehend berichtigt,
das ist unser Anspruch.
Allerdings hielt ich die Einwände
der CSU für etwas kleinlich.
Kursive Anmerkungen am
Ende unserer Artikel machen
nachträgliche Änderungen für
Leser transparent. Unter meinem
Parteitagsbericht steht
nun: »In einer früheren Fassung
des Textes hieß es, Markus Söder
habe Armin Laschet in seiner
Rede nur ein einziges Mal erwähnt.
Tatsächlich hat er ihn
mindestens ein weiteres Mal erwähnt.
Wir haben die entsprechenden
Textstellen korrigiert.«
Haben die Medien und ich
durch meinen fehlerhaften Artikel
das schwierige Verhältnis
zwischen Markus Söder und
Armin Laschet womöglich zerrütteter
erscheinen lassen, als es
in Wahrheit war? Ein funktionierendes
Team waren sie
jedenfalls nicht. Lobende Worte,
die Söder für Laschet bei öffentlichen
Auftritten gefunden
haben mag, wirkten so schwach
dosiert, dass sie mich selten
überzeugten. Die verkorkste
Kandidatenkür der Union war
ein Grund für ihre Niederlage
bei der Bundestagswahl.
Privat
Irre Thesen
SPIEGEL-MORGEN-NEWSLETTER
VOM 8. MAI »Kein Scholz-Zug,
nirgends« – Markus Feldenkirchen,
Autor im Hauptstadt büro,
war sich sicher, dass Olaf Scholz
niemals Bundeskanzler werden
würde.
Journalisten wie ich, die nicht
in Delphi geboren wurden, taugen
nicht als Orakel. Das hat
mir das zurückliegende Wahljahr
endgültig gezeigt – vor allem
der Fall oder besser: der
Aufstieg eines gewissen Olaf
Scholz, dem weder ich noch das
Gros meiner Kollegen eine
Chance aufs Kanzleramt attestiert
hatten. Herzlichen Glückwunsch.
Seit dem 8. Dezember
ist Olaf Scholz Kanzler.
Seit dieser Bundestagswahl
habe ich mir vorgenommen,
künftig allenfalls noch Prognosen
über den Ausgang von Spielen
der Fußballbundesliga abzugeben.
Da glaube ich wenigstens,
mich auszukennen.
Bis zum Sommer des zu Ende
gehenden Jahres habe ich keinen
Pfifferling auf Olaf Scholz
gesetzt. Auf allen Kanälen, die
mir zur Verfügung stehen, habe
ich mit ernster Miene und innerer
Überzeugung erklärt, dass
Verbundenheit,
stärker als die Flut
SPIEGEL.DE AM 22. JULI »Mit
dem Wissen von heute hätten wir
evakuieren müssen« – Redakteur
Hubert Gude erlebte in Mayschoß
an der Ahr eine bemerkenswerte
Gemeinschaft.
Im Juli fuhr ich über eine
holprige Piste durch einen Wald
nach Mayschoß in der Eifel.
Das war der einzige Weg hinunter
in ein Dorf, von dem zum
großen Teil nur Trümmer übrig
geblieben waren. Ein paar
Tage zuvor hatte das Hochwasser
den rund 900 Bewohnern
die Bundesstraße, die Bahngleise,
den Strom und sogar das
Trinkwasser geraubt. Fünf Menschen
ertranken, kaum ein Haus
an der Ahr war heil geblieben.
Als ich durch die schlammbedeckten
Straßen stapfte,
wunderte ich mich bald über
diese Mayschoßer. Ich hörte
kaum Wehklagen. Leute, deren
Häuser heil geblieben waren,
kamen mit Schaufeln. Winzer
die Sache für Scholz gelaufen
sei. Dass seine Partei, die SPD,
einfach unten durch sei. Und
dass auch er, Scholz, nie und
nimmer das entscheidende Momentum
erzeugen könne.
Diese These vertrat ich in
SPIEGEL-Artikeln, in Kolumnen,
im Morgen-Newsletter, im
SPIEGEL-Leitartikel, im Gespräch
mit Freunden und in der
Talkshow von Markus Lanz.
Wir Journalisten in Berlin,
die von den Kollegen gern als
politische Beobachter befragt
werden, vertrauen in Wahrheit
viel zu selten unseren eigenen
Beobachtungen, sondern bauen
zu oft auf die vermeintlichen Erkenntnisse
irgendwelcher Umfrage-Klitschen.
Wenn ich selbst
bei solchen Befragungen mitmache,
behaupte ich meist, eine
AfD-wählende 95-jährige Frau
aus dem Allgäu zu sein. Ich habe
keine Ahnung, ob die solche
Manöver durchschauen und
trotzdem wissen, was ich wirklich
wählen würde.
Die Bundestagswahl 2021 ist
mir jedenfalls eine Lehre. Ich
halte fortan alles für möglich,
was theoretisch denkbar ist.
Selbst so irre Thesen wie die,
dass Olaf Scholz einmal Bundeskanzler
wird.
brachten Traktoren und Stromgeneratoren.
Alle packten an.
»Wie geht de Mam?«, fragte ein
Nachbar einen Mann, dessen
betagte Mutter nach der Katastrophe
ins Krankenhaus musste.
»Hier wartet keiner auf Hilfe
von außen«, sagte eine Frau, die
eine Notfallapotheke aufgebaut
hatte. »Wir Mayschoßer sind
für unseren Zusammenhalt bekannt.«
Abends saßen die Leute
aus dem Dorf, von der Freiwilligen
Feuerwehr und die Winzer
auf der Straße bei einem Bier
zusammen.
Diese Dorfgemeinschaft hat
mich beeindruckt und auch ein
wenig beschämt. Ich habe eine
tolle Familie und enge Freunde.
Aber als leidenschaftlicher
Großstädter mag ich es auch, in
die Anonymität der Masse einzutauchen.
Bei allem Mitgefühl
wegen der Zerstörung, die das
Hochwasser bei ihnen angerichtet
hat, habe ich die Menschen
in Mayschoß insgeheim beneidet.
Für eine Verbundenheit, die
keine Flut ihnen nehmen kann.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
15
Eine Metastrategie,
kein Plan
NR. 31/2021 »Die Vermessung
des Volkes« – Alfred Weinzierl
schrieb darüber, wie Umfrageinstitute
Stimmungen der
Wähler ergründen. Er lernte
auch, was Laschet fehlte.
Mitte Juni, Recherchebesuch
in der CDU-Zentrale in Berlin.
Es geht um die Frage, wie die
Union Erkenntnisse der Meinungsforscher
im Bundestagswahlkampf
nutzen will. Nicht
ohne Stolz reden die Parteimanager
von ihren Vorbereitungen
für eine »Metastrategie«. In sie
sollen die Themen einfließen,
die Wählerinnen und Wählern
laut Umfragen wichtig sind.
Die politisch Interessierten
fragen sich, welche Schwerpunkte
Kanzlerkandidat Armin
Laschet setzen will, wie er den
bei seiner Wahl zum Vorsitzenden
von ihm diagnostizierten
Reformstau auflösen will. Ich
frage den Wahlkampfmanager,
wie Veränderungswille und
Kontinuität nach 16 Merkel-
Jahren in einem griffigen Slogan
zusammenkommen können.
»Im besten Fall wird es ein programmatisches
Versprechen,
das so breit ist, dass man da
mehr hinter vermuten kann.«
Ich finde mich mit der Nichtantwort
ab. Die CDU will mir
eben das Motto ihrer Kampagne
nicht vorzeitig auf die Nase
Weinzierl
binden. Als die Union ein paar
Tage später ihr Wahlprogramm
präsentiert, ist es eine Ansammlung
von Floskeln, kein Reformplan,
keine Fortschrittsidee. Der
Claim könnte inhaltsleerer
kaum sein: »Gemeinsam für ein
modernes Deutschland.«
Ich habe die CDU überschätzt.
Und viele in der Partei
haben Laschet überschätzt. Im
Wahlkampf gewinne ich den
Eindruck, dass der Kanzlerkandidat
sich für die Analysen seiner
Experten, die den Bürgerinnen
und Bürgern in Kopf und
Seele geblickt haben, nicht
recht interessiert. Laschet
glaubt, ein Wahlkampf könne
aus dem Bauch heraus geführt
werden. Ab Ende August zieht
Olaf Scholz in den Umfragen
vorbei. Laschet und die Union
verfallen in Aktionismus – denn
eine »Metastrategie« hat es nie
gegeben, oder wenn es sie gab,
dann blieb sie in der Schublade.
Im Juni war es offenbar nicht
so, dass mir die Wahlkampfmanager
nichts verraten wollten.
Es war einfach nicht viel da.
Jörg Müller
»O nein, nicht das«
NR. 41/2021 »Leute wie ich
werden – zack – einfach
aus sortiert« – Redakteur Hannes
Schrader traf einen
ehemals obdachlosen Mann,
der ihm den eigenen Zynismus
vor Augen führte.
Ich wollte nie über Obdachlose
schreiben. Artikel über Wohnungslosigkeit,
davon war ich
überzeugt, trieften häufig vor
Mitleid und stellten Elend aus.
Doch als Praktikant beim
SPIEGEL musste ich: Meine
Ressortleiterin rief an und sagte,
sie hätte da ein Thema für
mich. Es ging um ein Projekt
in Berlin, das Obdachlose von
der Straße holen will, indem
man ihnen bedingungslos eine
Wohnung gibt.
»O nein, nicht das«, dachte
ich.
»Na klar, mache ich gern«,
sagte ich.
Um keine Betroffenheitsgeschichte
zu erzählen, nahm ich
mir vor, hart und kritisch zu
sein. Werden Drogenabhängige
clean? Schaffen sie es, vom Alkohol
wegzukommen, finden
sie einen Job? Oder ist das nur
eine teure Maßnahme, die sowieso
nichts bringt?
Diese Fragen trug ich mit mir
herum, als mir im Süden Berlins
ein Mann mit kurzen Haaren
und freundlichen graubraunen
Augen die Tür öffnete. Seine
Wohnung war noch fast leer, er
war gerade erst eingezogen. Er
hatte einen alten Schreibtischstuhl
und eine Klappleiter. Er
setzte sich auf die Leiter und erzählte
mir von seinem Leben
vor dieser Wohnung.
Er berichtete, wie er knapp
ein Jahr zuvor wegen einer
Angststörung in seiner ehemaligen
Wohnung verwahrloste,
nicht mehr duschte, sich einen
Bart wachsen ließ, der ihm bis
zum Bauchansatz reichte. Wie
er seine Wohnung verlor und
auf der Straße landete.
Wie er nach der ersten Nacht
dachte: »Jetzt bin ich ganz
unten angekommen.« Erst kam
er in eine Gemeinschaftsunterkunft,
schließlich fand er zu
dem Projekt, das ich vorstellen
sollte. Dort hatte er eine
Wohnung bekommen. Ohne
Bedingungen.
Fast drei Stunden saß ich bei
ihm und hörte ihm zu. Als wir
fertig waren, erwischte ich mich
dabei, dass ich bewegt war, von
dem, was ihm passiert war. Ich
fand meine Gedanken auf einmal
zynisch.
Geht es mich wirklich etwas
an, ob jemand hinter der eigenen
Tür zu viel trinkt, ein Startup
gründet oder den ganzen
Tag Däumchen dreht? Die eigene
Wohnung ermöglichte diesem
Mann – Vorsicht, Pathos –,
in Würde zu leben, das habe ich
an diesem Tag verstanden.
Eine schwierige
Konfrontation
NR. 24/2021 »Er kocht sie
ganz langsam« – Redakteurin
Kristin Haug sprach mit dem
Ökologen Ian Baldwin, der jahrelang
Doktoranden und Postdocs
drangsaliert haben soll.
Zahlreiche Doktoranden und
Postdocs hatten mir erzählt, wie
der Direktor des Max-Planck-
Instituts für chemische Ökologie
in Jena, Ian Baldwin, ihnen
das Leben zur Hölle gemacht
habe. Wie er sie beschimpft, zur
Arbeit angetrieben, manipuliert
habe. Manche schilderten,
die Arbeit mit Baldwin habe sie
krank gemacht.
Ich hatte zahlreiche Dokumente
gesichtet, mit Kolleginnen
und Kollegen Baldwins geredet.
Nach allem, was ich hörte,
erschien er mir gefühlskalt und
Haug
M. Kuhn
narzisstisch. Bevor ich ihn anrief,
war ich aufgeregt. Baldwin
war bislang vor allem von
Journalisten kontaktiert worden,
weil sie über seine Erfolge in
der Wissenschaft berichten
wollten. Über seinen mutmaßlichen
Machtmissbrauch hatten
die Medien noch nicht berichtet.
Wie würde er reagieren?
Baldwin fragte mich, mit
wem ich geredet hätte. Er ermahnte
mich, die Fakten besser
zu prüfen: Er sei das Opfer, er
fühle sich verleumdet. Ich musste
aufpassen, welche Details
ich nannte – denn ich musste
meine Quellen schützen. Fast
alle wollten aus Angst vor Konsequenzen
anonym bleiben.
Baldwin ist immer noch ein einflussreicher
Wissenschaftler.
Ich betonte: »Ich kenne nur
die eine Seite, möchte aber gern
erfahren, wie Sie die Dinge sehen.«
Wir redeten eine Stunde
miteinander, und Baldwin verstand,
dass dies eine Gelegenheit
war, sich zu erklären. Er erzählte,
er sei davon angetrieben,
wissenschaftliche Exzellenz
zu erreichen und die Menschen
um sich herum auch dazu
zu ermutigen. Ehemalige Weggefährten
bestätigten mir, wie
sehr Baldwin sich der Wissenschaft
verschrieben hatte und
dabei offenbar die Bedürfnisse
seiner Kolleginnen und Kollegen,
die nicht allein für die Forschung
lebten, aus dem Blick
verloren hatte.
Baldwin und ich tauschten
nach dem Gespräch noch ein
paar E-Mails aus, in denen er
sich rechtfertigte, aber auch für
sein Fehlverhalten entschuldigte.
Unser Telefonat half mir,
Baldwins Handeln besser zu
verstehen und auch, wie es zu
den Vorwürfen kam. Das schlug
sich in meinem Text nieder.
Manche meiner Quellen warfen
mir vor, zu viel Verständnis für
ihn gezeigt zu haben.
Vielleicht habe ich das sogar.
Ich bin trotzdem froh, mir seine
Darstellung ausführlich angehört
zu haben. Es ist nicht nur
journalistischer Standard, es
hilft, ein komplettes Bild zu bekommen.
Ich hoffe, dass der Artikel
gezeigt hat, was Vorgesetzte
durch ihr Verhalten bei Mitarbeitenden
anrichten können.
16 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Verheizt auf
Station IOI-C
NR. 47/2021 »Wo die vierte
Welle bricht« – Redakteur
Tobias Großekemper kehrte
nach mehr als 20 Jahren für
drei Tage zurück in seinen alten
Beruf, die Krankenpflege. Er
zieht ein bitteres Fazit.
Mitte November, sechs Uhr
morgens in einer Umkleide des
Universitätskrankenhauses
Leipzig. Ich schlüpfe in einen
Kasack, die übliche Krankenhausuniform.
Und damit zurück
in ein Kapitel meines Lebens,
das ich für abgeschlossen gehalten
hatte: Krankenpflege.
Nach mehr als 20 Jahren
sind alle Erinnerungen sofort
wieder da. Der Krankenhausgeruch,
nach Reinigungsmittel.
Die Uhrzeit und die Dienstpläne.
Menschliche Schicksale
in Mehrbettzimmern.
Wenn ich erzähle, dass
meine erste berufliche Station
die Pflege war, reagiert mein
Gegenüber überrascht, aber
immer positiv. Als mache mich
das sozial kompetenter.
Ich ergriff den Beruf, weil ich
dachte, ich könnte damit überall
auf der Welt arbeiten und Kranken
ein wenig helfen.
Mir selbst gab der Beruf zu
wenig: zu wenig geregelte
Arbeitszeiten, zu wenig Perspektive
und auch zu wenig
Geld. 1999 wurde ich Journalist.
So viel zur Sozialkompetenz.
Jetzt also wieder im Kasack.
Drei Tage lang sollte ich auf
der Station IOI-C des Klinikums
mitlaufen, eine Intensivstation
für Coronapatienten.
Aufschreiben, was passiert, wie
Großekemper in
Leipziger Uniklinik
es dem Pflegepersonal geht.
Meine Pflegeausbildung half
mir, nicht gleich umzukippen,
als im dritten Zimmer, in das ich
hineinschaute, ein Mensch in
einem Leichensack lag.
Unvorbereitet war ich auf die
komplette Sinnlosigkeit des
Sterbens. Die, die es hart getroffen
hatte, waren in der Regel
ungeimpft. Lauter Skispringer
ohne Helm. Hatten die Wissenschaft
geleugnet und wären
jetzt, ohne sie, schon lange tot.
Und ohne die Pflegerinnen und
Pfleger, die sie versorgten, auch.
Vor mehr als 20 Jahren zeigten
sie uns in der Ausbildung,
was man alles gut machen kann,
wenn man Zeit hat als Pfleger.
Danach, auf den Stationen,
lernten wir, dass es diese Zeit
eigentlich nie gibt. Seitdem ist
die Situation für Pflegende nur
noch schlechter geworden, zu
wenig Geld, zu dünne Besetzung,
jeder weiß es, seit Jahren.
In der Universitätsklinik
Leipzig sah ich Pflegerinnen
und Pfleger eigentlich immerzu
rennen. Von Bett zu Bett. Aber
auch gegen eine Gesellschaft,
die draußen lebt, als gäbe es
kein Corona. Sie rannten dort
seit 20 Monaten. Ich dachte:
Sie werden verheizt. Wie es
ihnen geht, davon habe ich jetzt
eine Idee.
Ich glaube heute, nach den
Erfahrungen in der Uniklinik
Leipzig, dass dieses freundliche
Erstaunen, dass ich in den Jahren
davor auslöste, wenn ich erwähnte,
mal Pfleger gewesen zu
sein, nichts mit Anerkennung
sozialer Kompetenz zu tun hat.
Sondern mehr mit der ehrlichen
Überraschung, wie
man auf diesen Beruf überhaupt
noch kommen kann.
Sven Döring / DER SPIEGEL
Peter Jülich
Nächte voller Zweifel
NR. 22/2021 »Du Kinderschänder!«
– Redakteur Maik Großekathöfer
schrieb über einen
Erzieher, der bezichtigt wird,
Kinder sexuell missbraucht zu
haben.
Ein Journalist muss sich
manchmal festlegen: Wer lügt,
wer sagt die Wahrheit? Ein Text
kann wie ein Richterspruch
sein, was mir bei einer Recherche
in diesem Jahr schlaflose
Nächte bereitete.
Im Mai habe ich einen Artikel
über einen Erzieher recherchiert,
der ein Mädchen missbraucht
haben soll. Als die Ermittlungen
gegen ihn eingestellt
wurden, wurde er bedroht und
beleidigt. Die Generalstaatsanwaltschaft
Koblenz leitete Verfahren
ein unter anderem wegen
Verleumdung und öffentlicher
Aufforderung zum Mord.
Ich wollte beschreiben, wie ein
Mann zu Unrecht beschuldigt
wird, und verabredete mich mit
dem Erzieher und seinem Anwalt
zu einem Gespräch.
Dabei erfuhr ich, dass dem
Erzieher, der in dem Text das
Pseudonym Frank Müller trägt,
von drei weiteren Müttern
unterstellt wird, sich an ihren
Töchtern vergangen zu haben.
Müller beteuerte, er habe nichts
getan. Ich saß in der Anwaltskanzlei
und zweifelte zum
ersten Mal leise an ihm: so viele
unberechtigte Vorwürfe – ist
das möglich? Im Zug zurück nach
Hamburg las ich Dokumente
aus den Akten. Mal hielt ich
Müller für unschuldig, mal für
schuldig, dann wieder nicht.
Später verbrachte ich fünf
Tage mit ihm. Als ich seine
Wohnung betrat, sagte ich: »Ich
Müller
glaube erst mal gar nichts.« Ein
Spruch, den ich von einem der
Faktenprüfer geklaut hatte, die
alle Texte im SPIEGEL verifizieren.
Jeden Tag sprach ich stundenlang
mit Müller, las Whats
App-Chats auf seinem Handy,
sprach mit der Staatsanwaltschaft,
las sein Tagebuch, sprach
mit seinem Arbeitgeber. Ich
stellte Müller unangenehme
Fragen, er beantwortete jede.
Im Hotel lag ich manchmal
nachts wach und überlegte, ob
ich zu leichtgläubig bin. Könnte
sein Tagebuch ein Fake sein?
Dann gab es Phasen, in denen
war ich mir sicher, dass hier ein
Mensch vernichtet wird.
Schließlich saß ich am
Schreibtisch vor einem leeren
Bildschirm und überlegte: Was
machst du daraus? Die Realität
ist immer störrisch, aber hier
ging es um etwas anderes. Irrtum
ist ein großer Feind der
Wahrheit. Ich hatte die Akten
ein zweites und drittes Mal gelesen,
war meine Aufzeichnungen
mehrfach durchgegangen.
Alles, was ich aufschreiben
wollte, ließ sich belegen, nun
musste ich mir ein Urteil bilden.
Ich kam zu dem Ergebnis, dass
Müller unschuldig ist, dass er
es sein muss, weil die Fakten für
ihn sprechen, weil man nachvollziehen
kann, wie ein Gerücht
das andere befeuerte, ein
Verdacht den nächsten auslöste.
Ich habe, hoffentlich, einen
Text geschrieben, dem man das
Nachdenken des Autors anmerkt.
Bei dem der Leser verstehen
kann, warum ich Müller
für ein Opfer halte. Anfang Dezember
hatte ich zuletzt mit
Frank Müller Kontakt. Die drei
noch offenen Verfahren sollen
demnächst eingestellt werden.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
17
Abschied von den
alten Herren
NR. 36/2021 »Als die K-Frage
verfrühstückt wurde« – Melanie
Amann, Mitglied der Chefredaktion,
führte in diesem
Jahr eine Menge Abschiedsgespräche
mit führenden Politikern
der Union. Liegt da eine
tiefere psychologische Ursache
begraben?
Wenn ich auf meine Artikel
in diesem Jahr zurückblicke,
fällt mir auf, wie viele sich um
Männer drehen. Das allein ist
wenig überraschend, wenn man
über Politik berichtet. Aber es
waren heuer besonders viele ältere
Herren aus CDU und CSU.
Was war da los?
2021 stand für den Abschied
von Angela Merkel, und der
SPIEGEL hat ein Merkel-Sonderheft,
einen Merkel-Podcast,
ein Merkel-Audiobuch und
einen 37 Seiten langen Merkel-
Titelkomplex veröffentlicht. Ich
weiß nicht, wie die Kollegen,
die dieses Merkel-Menü geplant
haben, auf meine Arbeit
blicken, aber auf meinem Teller
landeten nicht die Merkel-Filetstücke,
also die Analyse ihrer
Außenpolitik, ihr Elternhaus
oder wenigstens noch ihre Wirkung
auf die Frauenfrage, sondern
stets – die Männer.
Volker Kauder (Ex-Fraktionsvorsitzender),
Edmund
Stoiber (Ex-Kanzlerkandidat),
Horst Seehofer (Ex-Bundesinnenminister)
und Wolfgang
Schäuble (Ex-Präsident des
Deutschen Bundestages und
auch sonst sehr viel Ex) waren
meine größeren »Projekte« in
diesem Jahr.
Alles alte Merkel-Rivalen,
teils erbitterte Gegner, die aber
Amann, Stoiber
alle letztlich kapitulierten. Keiner
spricht mehr böse über sie,
nicht mal »off the record«, also
zum Nichtzitieren. Der eine
sagt lieber gar nichts (Schäuble),
einer klingt sehr milde
(Stoiber), die anderen zwei singen
Loblieder auf sie (Kauder,
Seehofer).
Vielleicht liegt es an meiner
journalistischen Sozialisierung
bei der »Frankfurter Allgemeinen
Zeitung«, aber ich habe
immer gern ältere Politiker getroffen.
Als für die AfD zuständige
Politikreporterin war das
ohnehin unvermeidlich, aber
ich würde lügen, wenn ich die
Gespräche mit ihrem heutigen
Ehrenvorsitzenden Alexander
Gauland eine Qual nennen
würde. Unser Gesprächsfaden
war zeitweise so stabil, dass in
der Partei hartnäckig kolportiert
wurde, Gauland sei ein alter
Freund meiner Familie.
Falls AfD-Leute noch SPIEGEL
lesen sollten: Das stimmt nicht.
Egal welche Partei, ich höre
gern zu, wenn ältere Semester
»vom Krieg erzählen«, gerade
weil ihre Verletzungen unsichtbar
sind. Die Psychologie hat
sicher einen Fachbegriff für
meine Neigung. Aber die Geschichtsstunden
über Hahnenkämpfe
in Fraktion, Vorstand
oder Klausurtagung sind mitunter
auch nützlich und inspirierend
für den Alltag in einer
politischen Redaktion.
Mein 2021 endete dann aber
doch mit einer Frau, ich schrieb
ein Porträt über Beate Baumann,
die langjährige Büroleiterin
der Kanzlerin. Die ist
auch gar nicht alt, sondern in
den besten Jahren. Aber
Manno mann, kann sie vom
Krieg erzählen.
Lorraine Hellwig
DER SPIEGEL
Laschet, Eberle
Drei Phasen mit
Laschet
NR. 15/2021 »Häuptling Wirdsonix«
– NRW-Korrespondent
Lukas Eberle berichtete im Bundestagswahlkampf
über Armin
Laschet, am Ende bekam er es
mit der Polizei zu tun.
Ich habe Armin Laschet beim
Versuch begleitet, Kanzler zu
werden. Eineinhalb Jahre lang
ging ich zu seinen Pressekonferenzen
und Hintergrundgesprächen,
führte Interviews mit ihm
in seinem Büro oder am Telefon,
ich hörte seine Reden auf
Parteiveranstaltungen und im
Landtag, lief ihm in Jerusalem
und Paris hinterher.
Ich probierte die Pommes
frites in seinem Lieblingsimbiss
in Aachen. Manche Artikel, die
zusammen mit Kolleginnen und
Kollegen entstanden, landeten
auf dem SPIEGEL-Cover.
Wir druckten einen Titel,
auf dem Laschet als übergewichtiger
Majestix dargestellt
war. Die Titelzeile: »Häuptling
Wirdsonix«. Als sich Laschet
und Markus Söder um
die Kanzlerkandidatur für die
Union stritten, brachten
wir ein Cover, das Laschet mit
lädierter Nase zeigte. Auf
einem anderen SPIEGEL-Heft
hielt er sich den Mund zu, darunter
stand: »Uuups! Die fünf
Irrtümer des Armin Laschet
und die Folgen für Deutschland«.
Unsere Kritik war hart,
aber angebracht.
Die Folgen hätten mir egal
sein müssen. Waren sie aber
nicht. Im Rückblick lässt sich
das Verhältnis zwischen Laschet
und mir in drei Phasen einteilen.
Phase 1: Zu Beginn konterte
er die Artikel mit Sarkasmus.
»Wer liest schon den SPIEGEL?«,
fragte er mich und lachte.
Später, in Phase 2, entschied
er sich für die Blockadetechnik.
Er beantwortete manche Fragen
von mir mit Nein, obwohl ich
sie noch nicht einmal zu Ende
gestellt hatte.
Mitte September, kurz vor
der Bundestagswahl, waren wir
wohl in Phase 3 angelangt: Ich
stand bei einem Wahlkampfauftritt
von Laschet in Delbrück-
Steinhorst, Ostwestfalen. Zuvor
hatte ich mich offiziell als Journalist
angemeldet.
Zwei Polizisten kamen zu
mir, einer sagte: »Zeigen Sie
mir mal bitte Ihren Ausweis,
und ich würde gerne in Ihren
Rucksack schauen.« Ich fragte
ihn, warum. Der Polizist antwortete,
Laschets Personenschützer
hätten ihn beauftragt,
mich zu kontrollieren. In deren
Augen sähe ich »verdächtig«
aus. Es waren jene Personenschützer,
die mich in den Monaten
zuvor bei zahlreichen Terminen
mit dem Unionspolitiker
gesehen hatten.
Später rief ich eine Sprecherin
Laschets an und bat um eine
Erklärung. Sie entschuldigte
sich, es sei vermutlich ein Missverständnis
gewesen, sagte sie,
die Sache habe nichts mit unserer
Berichterstattung zu tun gehabt.
Möglicherweise stimmte
das. Ich weiß bis heute nicht,
was ich von dieser Aktion halten
soll. Fest steht, dass die Beziehung
zwischen Armin Laschet
und mir an diesem Tag in
Delbrück-Steinhorst an ihrem
Tiefpunkt angekommen war.
18 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Zwischen Wohnung
und Netto
Reporterglück in der
Parkgarage
NR. 34/2021 »Mann im Spiegel«
– In den Niederlanden enthüllten
Reporter Jürgen Dahlkamp
und Roman Lehberger
einen Polizeiskandal.
Eine Titelgeschichte über die
Macht der Kokainmafia in den
Niederlanden – das war die
Idee. Für Reporter, die vor allem
über Themen in Deutschland
berichten, keine einfache
Aufgabe. Kontakte muss man
erst mühsam aufbauen. Einem
von uns war nicht einmal Frau
Antje ein Begriff. Die ortsansässige
Presse ist einem bei der
Recherche meilenweit voraus.
Im August reisten wir nach
Amsterdam. Einen Monat zuvor
war dort der Kriminalreporter
Peter R. de Vries vor
einer Parkgarage erschossen
worden. De Vries hatte gefährliche
Feinde: Er beriet als Medienexperte
einen Kronzeugen,
der vor Gericht gegen einen
Drogenboss aussagte. Wochenlang
hatte es in den niederländischen
Medien kaum ein anderes
Thema gegeben. Was war
da noch für zwei deutsche Journalisten
zu holen, Monate nach
dem Mord?
Erster Stopp: der Tatort. An
der Stelle, an der de Vries erschossen
worden war, spritzte ein
Mann mit einem Schlauch die
Straße ab, ein Mitarbeiter der
Parkgarage, in der de Vries oft
seinen Wagen abstellte. Der
Mord an ihm hätte verhindert
werden können, schimpfte der
Mann. Eine Woche vor der Tat
habe ein Kollege einen Späher
beobachtet, der de Vries an der
Parkgarage auszukundschaften
schien. Der Hinweis habe die
Polizei erreicht, aber nichts sei
passiert. Wir schauten uns ungläubig
an. War das möglich? Wir
sind gerade in Amsterdam angekommen,
und der Erste, den wir
treffen, erzählt uns von einem
handfesten Polizeiskandal? Gemeinsam
mit einem niederländischen
Kollegen überprüften wir
die Geschichte. Sie stimmte. Der
Späher, den der Angestellte der
Parkgarage gesehen hatte, entpuppte
sich nach dem Mord als
mutmaßlicher Fahrer des Fluchtwagens.
Die Geschichte machte
in den Niederlanden Schlagzeilen.
In unserer Branche nennt
man so etwas: Reporterglück.
SPIEGEL.DE AM 16. NOVEMBER
»Impfpflicht für alle« – In
ei nem Kommentar ärgerte sich
Redakteurin Sophie Garbe
auch über den Egoismus der
Ungeimpften. Dann kam eine
Leserzuschrift.
Es waren nicht die Hassnachrichten,
die mich überraschten.
Wenn man eine Corona-Impfpflicht
für alle fordert, muss
man sich auf solche Reaktionen
einstellen. Mit einer Mail wie
der von Herrn Bruhns, der in
Wahrheit anders heißt, hatte ich
hingegen nicht gerechnet. Herr
Bruhns schrieb gleich im ersten
Satz, er sei kein »Querdenker«.
Aber er wolle doch mal darauf
hinweisen, dass es auch noch
Menschen wie ihn gebe. Herr
Bruhns sagt, er habe psychische
Probleme und sei Alkoholiker.
Und da dauere es eben manchmal
länger, bis man sich um eine
Impfung kümmern könne.
Herr Bruhns schrieb: »Jeder,
der jetzt noch wissentlich und
willentlich eine Impfung verweigert,
ist ein Narr. Aber wie
viele können vielleicht nur noch
zwischen Wohnung und Netto
pendeln, wie viele sind des Lebens
müde, und wie viele schlafen
unter der Brücke und tun
sich mit einer gesamtgesellschaftlichen
Verantwortung
schwer, weil sie eh schon nicht
mehr dazugehören?«
In dem Kommentar hatte ich
auch meinem Ärger über die
mangelnde Solidarität der Ungeimpften
Luft gemacht. Nach
Herr Bruhns’ Schreiben verpuffte
diese Wut. Seine Worte riefen
mir ins Bewusstsein, dass eine
Impfkampagne, die Menschen
wie Herrn Bruhns übersieht,
auch nicht besonders solidarisch
ist. Dass die Hürden auf dem
Weg zu einer Impfung nicht für
alle in unserer Gesellschaft
gleich hoch sind. Mit diesem
Gedanken im Hinterkopf würde
ich heute wohl einen anderen
Kommentar schreiben.
Herr Bruhns hat es übrigens,
so schrieb er mir, trotzdem geschafft:
Nach einem für ihn strapaziösen
Tag sei er nun doppelt
geimpft.
Vom Flanieren mit
Politikern
NR. 18, 23, 26, 30/2021
SPIEGEL-Spaziergänge – Im besonderen
Jahr des Wahlkampfs
wollte das Hauptstadtbüro Leserinnen
und Lesern besondere
journalistische Formen bieten.
Erst wenn man etwas ausprobiert,
weiß man, wie es ist, stellte
SPIEGEL-Autorin Susanne
Beyer fest.
Wer in den vergangenen
zwölf Monaten jemanden treffen
wollte, der tat das oft
draußen. »Zum Spaziergang«,
so lautete erneut das Codewort
in diesem zweiten Coronajahr.
Auch Begegnungen mit Politikerinnen
und Politikern fanden
unter freiem Himmel statt. Verändert
ein gemeinsamer Spaziergang
die Art und Weise, wie
und worüber man miteinander
spricht? Wir wollten das genauer
wissen und erfanden eine
kleine Reihe, die wir »SPIEGEL-
Spaziergänge« nannten.
Mit der Linken-Co-Parteichefin
Susanne Hennig-Wellsow,
mit dem Grünen-Co-Parteichef
Robert Habeck, mit der
damaligen Kulturstaatsministerin
Monika Grütters (CDU)
und der damaligen Digitalbeauftragten
Dorothee Bär (CSU)
gingen wir jeweils durchs Regierungsviertel.
Und ja: Orte beeinflussen
durchaus die Gefühlslage
von Gesprächspartnern.
Als wir mit der Ostdeutschen
Hennig-Wellsow durch das
Brandenburger Tor gingen, erzählte
sie anrührend, wie
schwierig für ihre Eltern die
Veränderungen nach dem
Mauerfall gewesen seien. Mit
Robert Habeck liefen wir am
Kanzleramt vorbei, es war
Beyer, Habeck, Jonas Schaible
nicht lange her, dass er bei der
Entscheidung zur Kanzlerkandidatur
zurückstecken
musste – an anderen Stationen
hatte er schnell und geistreich
geantwortet, hier aber wurde
er einsilbig.
Etwas anderes kannten und
wussten wir zwar vorher, aber
wenn man es über Stunden miterlebt,
werden einem die Folgen
bewusster: Politikerinnen
und Politiker werden ständig
erkannt und angesprochen, mal
freundlich, mal fordernd, auch
aggressiv, sie vermeiden es,
über rote Ampeln zu gehen,
weil sie wissen, dass sich eine
solche Szene, auf einem Handyvideo
aufgenommen, im
Internet gegen sie richten könnte.
Personenschutz gibt es nur
für wenige Politiker, auch deswegen
erfordert der politische
Beruf eine andau ernde Vorsicht.
Ein hoher Preis, ein hohes
Risiko in polarisierten
Zeiten – erkennen wir Bürgerinnen
und Bürger überhaupt
genug an, dass dieser Preis
von unseren politischen Repräsentanten
gezahlt wird?,
fragten wir uns.
Und noch etwas stellten
wir fest: Das Schlendern, das
Flanieren schließt den inhaltlichen
Dissens zwar nicht aus,
fordert aber einen gelassenen
Ton ein. So gewinnt man
durch diese spezielle Form
des journalistischen Gesprächs
zwar besondere Einblicke,
aber verliert die Möglichkeit
einer Konfrontation. Und
das bedeutet: Trotz Corona
kann das gemeinsame Spazierengehen
mit den Protagonisten
der Politik für uns Journalisten
nur eine schöne Ausnahme
bleiben.
Andreas Chudowski
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
19
TITEL
Wir können
auch anders
ZÄSUREN Endlich ein neues Jahr, Zeit für einen Neuanfang.
Was in Politik und Gesellschaft jetzt ansteht – und wie
den Menschen im eigenen Leben der Sprung ins Ungewisse gelingt.
I
n ihrem alten Leben, vor der Pandemie,
saß Katrin Bernat zehn,
zwölf Stunden pro Tag in ihrem
Büro in Berlin-Wannsee am Schreibtisch.
Sie arbeitete als selbststän dige
Buchhalterin, verglich Soll und Haben.
Zeit für andere Dinge sei nicht geblieben,
sagt sie, ein Job habe den nächsten gejagt.
»Ich habe im Büro gelebt.« Sie kontrollierte
dann Zahlen für Zalando, die Max-Planck-
Gesellschaft, für Start-ups. Als Corona nach
Deutschland kam, brachen die Aufträge weg,
weil ihre Kunden die Budgets für externe Mitarbeiter
radikal kürzten.
Sie sagt: »Für mich war Corona ein Geschenk.«
In ihrem neuen Leben, dem Leben seit Oktober
2020, fährt Katrin Bernat bis zu 15 Tage
im Monat mit einem weißen Pferdetransporter
vom Typ »2-Ride Horse Truck« durch die
Republik und bringt Pferde etwa zu Turnieren;
der Kilometer kostet bei ihr ab 1,10 Euro
brutto, inklusive Heu und Videoüberwachung
der Tiere. Es gibt viele Pferdebesitzer in Berlin
und Brandenburg, die keinen entsprechenden
Wagen haben.
Wenn Bernat nicht auf Autobahnen und
Landstraßen unterwegs ist, verbringt sie die
Zeit bei ihren eigenen Pferden auf der Weide.
Sie besitzt drei Hengste – Magu, Ray und
Apache. Katrin Bernat ist 42 Jahre alt, und
sie sagt: »Unterschwellig hatte ich schon lange
den Wunsch, etwas Neues anzufangen. Die
Pandemie hat mir erlaubt, richtig darüber
nachzudenken und es am Ende auch zu machen.
Ich bin meinem Herzen gefolgt.«
Soll und Haben. Für Katrin Bernat steht
auf der einen Seite ihre Karriere als Buchhalterin,
auf der anderen ihre Liebe zu Pferden.
Sie war neun, als sie ihr Taschengeld für
Voltigierstunden ausgab. Sie radelte zum
Reiterhof in den nächstgelegenen Ort, half
beim Füttern der Pferde und führte sie aus.
Nach der Schule machte sie eine Ausbildung
zur Steuerfachangestellten, weil der Bekannte
eines Bekannten meinte, das sei doch was
für sie. Sie quälte sich durch die Ausbildung,
hätte am liebsten abgebrochen, aber ihre Eltern
sagten: Kind, mach das zu Ende, dann
hast du was. Zum Reiten ging Katrin Bernat
immer seltener, irgendwann gar nicht mehr.
Sie machte das Abitur nach, studierte Marketing
und Kommunikation in Berlin, gründete
ein Unternehmen, leitete einen Lohnsteuerhilfeverein.
Sie war erfolgreich. Glücklich
war sie nicht. »Zahlen von A nach B zu
schieben und sich mit dem deutschen Steuergesetz
zu beschäftigen ist nicht die Erfüllung.«
Vor vier Jahren fuhr sie an einem Wochenende
aufs Land und besuchte mehrere Reiterhöfe,
weil sie sich ein Pflegepferd zulegen
wollte. Sie dachte an eine Reitbeteiligung,
damit sie gezwungen wäre, öfter in die Natur
zu gehen. Nach einer halben Ewigkeit saß sie
wieder auf einem Pferd: »Im Galopp durch
die Wälder pfeifend, das war ein Hochgefühl
wie Achterbahnfahren. Die pure Freiheit.«
Nie wäre Katrin Bernat aber auf die Idee
gekommen, ihren Beruf aufzugeben. »Ich
konnte nicht loslassen. Da war das Geld, die
sichere Position, das Souveräne und Anerkannte.
Ich wollte mir nicht zugestehen,
etwas zu zerstören, was ich mir aufgebaut
hatte.«
Als Corona zuschlug, hielt die erste Soforthilfe
sie finanziell über Wasser. Drei Monate
lang hoffte sie, dass sich die Lage wieder normalisieren
könnte. Danach ging alles ganz
schnell. »Ich habe Corona als ein Zeichen gesehen.«
Sie fragte sich: Was machst du gern?
Reiten, bei den Tieren sein. Kannst du dir
vorstellen, das zu deinem Job zu machen? Ja.
Sie kaufte einen Transporter, für 60 000
Euro. Sie bastelte eine Website für ihren
Shuttleservice, veröffentlichte ihr Angebot,
seitdem wird sie gebucht.
Katrin Bernat hat sich einen Mädchentraum
erfüllt. Ihr neuer Beruf ist nicht so lukrativ
wie der alte, und da sind Momente, in
denen sie sich fragt, ob ihr Geschäftsmodell
funktionieren wird. Aber ein Zurück in die
Buchhaltung gibt es für sie auf keinen Fall.
Sie sagt, dann rüste sie den Transporter lieber
um zum Eiswagen.
Ohne die Coronakrise wäre Katrin Bernats Neuanfang
nicht möglich gewesen. So ist das oft.
Krisen decken Nöte auf, sie fordern den Neuanfang
heraus. Das muss nicht immer so gut ausgehen
wie bei Bernat. Ein Neuanfang kann auch
scheitern, und dann ist es oft furchtbarer als vorher,
weil neben dem Leben im Alten und Unerwünschten
noch die Illusion verloren gegangen
ist, dass es anders sein könnte.
Manchmal machen Katastrophen nicht nur
den persönlichen, sondern auch einen gesellschaftlichen
Neustart notwendig – Corona
oder der Klimawandel etwa. Ein neuer Impfstoff,
neue Technologien, neue Arbeits- und
Verhaltensweisen müssen her. Zumeist aber
20 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
TITEL
Gordon Welters / DER SPIEGEL
Katrin Bernat, 42
»Ich habe Corona als Zeichen gesehen.« Das sagt die ehemalige Buchhalterin über
ihre Entscheidung, sich ihren Jugendtraum zu erfüllen: Sie hat aus ihrer Leidenschaft
für Pferde einen neuen Beruf gemacht.
kommt der Impuls zum Neuanfang von innen,
weil ein Mensch sich entweder danach sehnt,
ein anderer zu werden, oder endlich derjenige,
der er immer schon sein wollte. Bei Katrin
Bernat wurde der Anstoß von außen verstärkt
durch einen inneren Wunsch.
Endlich den Beruf wechseln. Endlich die
interessante Frau sein. Endlich abnehmen.
Endlich aufhören zu rauchen. Endlich mit
dem Sport anfangen. Endlich den Tanzkurs
machen. Endlich den Motorradführerschein.
Endlich dorthin ziehen, wo man immer schon
leben wollte. Endlich den verlorenen Freund
um Verzeihung bitten. Endlich der intriganten
Kollegin sagen, dass man sieht, was sie tut.
Endlich Mutter werden. Sich endlich von dem
Gedanken verabschieden, dass Mutterschaft
zu einem glücklichen Leben dazugehört. Endlich
die Lebenslüge loswerden.
Silvester ist so eine Zäsur von außen, die
diese Sehnsüchte befördert. Das Wort »endlich«
gehört zu Silvester wie die perlenden
Getränke. Sehr oft bleibt es dann beim Träumen,
man sieht sich vor dem inneren Auge
an der Seite eines neuen Partners, in einem
schöneren Körper, mit einem aufgefrischten
Ich. Schon solche Traumgebilde können die
Psyche entlasten und die Lage, wie sie nun
mal ist, stabilisieren. Sehr bald mit dem neuen
Leben anfangen zu wollen, nur noch nicht
jetzt, kann auch heißen, es praktisch nie zu
tun – und trotzdem ganz gut durchs eigene
Leben zu kommen.
Doch dieses ewige Leben im Konjunktiv,
dieses Hätte-könnte-würde kann auch so bedrängend
werden, dass es zum Absprung ins
Ungewisse kommt. Der Sozialpsychologe
Harald Welzer rät in einem Bestseller dieses
Bücherherbstes, den Mut dafür aufzubringen.
Am Anfang der Coronakrise hatte Welzer
einen Herzinfarkt. Er überlebte ihn knapp.
Es war Zufall, dass mit dem Herzinfarkt
seine eigene kleine Welt stillstand, während
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
21
TITEL
die Deutschen den ersten Lockdown
erlebten. Weil seine individuelle Erfahrung
mit dem kollektiven Trauma
zusammenfiel, machte er aus der Not
eine Tugend, schrieb das Buch »Nachruf
auf mich selbst« und ruft darin
zum persönlichen und gesellschaftlichen
Neustart auf: Memento mori,
gedenke des Todes, so klingt sein Appell.
Die logische Folgerung lautet, sich
jetzt schon zu fragen: Wer möchte ich
gewesen sein, um daraufhin das Leben
zu ändern: »Es gibt ein Leben vor
dem Tod. Und nur da«, schreibt Welzer.
»Die Zeit der Veränderung ist die
Gegenwart, nicht die Zukunft.« Und:
Mit Konjunktiven komme man nicht
weiter. »Das Wort ›eigentlich‹ ist zu
vermeiden.«
Das Wort »endlich« drückt das
Wissen darum aus, dass aller Anfang
verheißungsvoll ist. Das Wort »eigentlich«
drückt die Ahnung aus, dass
aller Anfang schwer ist. Es geht beim
Neuanfang um Zauber und Elend,
Lust und Angst, Chance und Gefahr.
Das Wort »Neuanfang« ist eine Tautologie,
jeder Anfang ist neu. Vielleicht
hat man die beiden Wörter irgendwann
miteinander verbunden,
um festzuhalten, dass es hier um
einen echten Akt geht, um etwas Ungeheures,
etwas Schönes, das zugleich
auch des Schrecklichen Anfang sein
kann. Denn so kraftvoll und klar die
Wortzusammensetzung erst einmal
klingt, sagt sie eben doch etwas Doppeltes
aus: den Sprung ins Nichts, zu
dem das Zaudern dazugehört.
Den Neuanfang, den Sprung, endlich
hinter sich zu haben, so lautet
wohl die eigentliche Sehnsucht. Aber
hat man den einen Neuanfang hinter
sich, steht irgendwann der nächste an.
Selbst die Beständigen, Zufriedenen,
Glücklichen erleben regelmäßig Zäsuren.
Neuanfänge gehören zum
Leben. Geboren werden, sich lösen
aus dem Elternhaus, Kindergarten,
Schule, Ausbildung, Beziehung, Elternschaft,
Altenheim und dann: ja,
was? Das Leben nach dem Tod? Das
ist zwar nicht sehr wahrscheinlich,
aber nahezu alle Religionen erzählen
davon: Wiedergeburt, der Jüngste
Tag und was es nicht alles für Ideen
gibt.
Nicht nur das eigene Leben ist immer
wieder vom Schock und der
Chance des Neuanfangs betroffen.
Zweierbeziehungen trifft es genauso.
Der eine trennt sich, der oder die andere
muss daraufhin ebenfalls neu
anfangen, hilft ja nichts. Auch übergeordnete
Bereiche funktionieren nur
über Neuanfänge. In der Demokratie
werden sie durch Wahlen vollzogen.
Wer sich Wahlen stellt, weiß, dass das
Politiker Christian
Lindner, Annalena
Baerbock, Scholz
bei Unterzeichnung
des Koalitionsvertrags
am
7. Dezember: Start
mit Schwung
und Schmerzen
»
Die Zeit
der Veränderung
ist
die Ge
genwart,
nicht die
Zukunft.«
Harald Welzer,
Sozialpsychologe
Sven Döring
Erfolg haben oder zur Blamage werden
kann. Ein Koalitionsvertrag, eine
Regierungserklärung formuliert aus,
was nun für alle neu werden soll.
Selbst diejenigen, die sich an Silvester
keine Vorsätze auferlegt haben,
die nicht von Trennung träumen
oder von ihr ereilt werden, selbst diejenigen,
denen nichts ferner liegt als
der Gedanke an einen Berufswechsel,
auch diejenigen, die sich von Politik
kaum betroffen fühlen – sie alle ahnen,
dass es nach der Coronakrise
nicht so weitergehen wird wie vorher.
Wir haben uns längst verändert. Es
gibt kein Zurück ins alte Normal.
Auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt
zeigen sich durch Corona enorme
Umbrüche – vor allem wegen der
Erfahrungen im Homeoffice. Laut der
US-Statistikbehörde für Arbeit haben
noch nie so viele Menschen von sich
aus ihren Job gekündigt. Im Oktober
allein waren es gut vier Millionen.
Viele haben im Homeoffice, wo sie
nicht Minute für Minute von Kollegen,
von Chefinnen umgeben sind,
darüber nachgedacht, was sie sich von
ihrem Leben wünschen und ob es
nicht erfüllendere Aufgaben gibt.
Hinzu kommen all jene in den
schlecht bezahlten Serviceberufen,
die keine Lust mehr verspüren, sich
für wenig Geld einer Lebensgefahr
auszusetzen. Nun wächst der Druck
auf die Arbeitgeber, für bessere Bedingungen
zu sorgen und die Hireand-fire-Kultur
zu überdenken.
Zwar sind Amerikaner mehr Veränderung
gewohnt als Deutsche, sie
ziehen häufiger um, wechseln regelmäßig
ihre Jobs. Aber auch hierzulande
denken Unternehmen um und
übernehmen dafür Wörter aus dem
Amerikanischen: remote (nicht in unmittelbarer
Nähe befindlich, aber miteinander
verbunden), hybrid (mal so,
mal so, mal zu Hause, mal im Büro).
Neue Wörter, neues Leben. Und die
Marco Urban
Fantasien der Arbeitnehmer blühen
bereits. Ein Büro am Strand, am Steg
oder in den Bergen – wie schön das
wäre. Das Büro sitzt bei vielen ja sowieso
schon auf dem Schoß, in Form
eines Laptops.
Noch vor einem Jahr zu Silvester
sah es so aus, als wäre der schlimmste
Teil der Pandemie bald vorbei, der
erste Impfstoff war da. Heute ist klar,
dass das Schlimmste damals erst bevorstand.
2020 sind hierzulande
mehr als 30 000 Menschen im Zusammenhang
mit dem Virus gestorben,
in diesem Jahr waren es weit
über 70 000. Vergangenes Jahr an
Weihnachten schockierte noch eine
Sieben-Tage-Inzidenz von 196, Ende
November hatten sich die Deutschen
an knapp die doppelte Höhe gewöhnt.
Die Luftwaffe verteilt Schwerkranke
in der Republik, um überfüllte
Kliniken zu entlasten. Andere Soldaten
sind zur Unterstützung im Einsatz
am Boden. Ein Land in Not, dem
die Bundesregierung schon wieder
Kontaktbeschränkungen auferlegt.
So schnell also war der Neuanfang
nicht zu haben. Die Coronavarianten
Delta und Omikron spielen ein böses
Spiel mit den Menschen. Wir haben
uns aber auch in uns selbst getäuscht.
Etliche freuen sich nicht über das
Wunder des schnell herbeigeschafften
Impfstoffs, sondern empfinden gerade
das als unheimlich. Feindselig stehen
sich die Impfgegner und die Impfbefürworter
gegenüber. Letztere sehen
in den Impfgegnern die Zerstörer
des Neuanfangs.
Trotz der Enttäuschungen gibt es
erneut Anlass zur Hoffnung. Gerade
kommen Medikamente gegen Covid
auf den Markt, und die Impfstoffhersteller
entwickeln angepasste Impfstoffe
gegen die neuen Varianten.
Auch der erste Totimpfstoff ist seit
dem 20. Dezember in der EU zugelassen.
Der Impfstoff des Unternehmens
Novavax könnte Gegner der mRNAund
Vektor-Vakzinen dazu bringen,
sich doch noch impfen zu lassen.
Stehen wir nun also wirklich an
einem Neuanfang? Endlich? Und was
haben wir dafür in dieser Krise über
uns selbst gelernt?
Ganz sicher schon mal das eine:
dass ein rascher Wechsel vom
Schlechten ins Gute kaum möglich
ist. Menschen sind einfach zu kompliziert
dafür. Sie sind in der Lage, die
Voraussetzungen für einen Neuanfang
zu schaffen, aber danach verlieren
sie oft Zeit und stellen sich die
größten Hürden selbst. Nicht selten
können mehrere Anläufe nötig werden.
Manchmal ist es zum Verzweifeln.
Aber zu verzweifeln, das wäre
22 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
TITEL
nur die eine Option. Sich mit dem
Mechanismus von Neuanfängen zu
beschäftigen ist die andere. Sie bedeutet,
ideale Vorstellungen mit der
Realität abzugleichen. Und damit
wäre schon viel erreicht. Denn so bewahrt
man sich vor Täuschungen, vor
zu hohen Erwartungen.
In der Politik wird von neuen Anfängen
zumeist Großes erwartet. Möglichst
die Rettung. Besonders in dieser
Zeit, da sich wirklich etwas verändern
muss. Da die Erwartungen hoch
sind, sind auch jetzt schon die Enttäuschungen
über die neue Regierung
groß. Obwohl mit und nach den
Wahlen so viel Sensationelles passiert
ist.
Die im Sommer noch tot geglaubte
SPD stellt den deutschen Regierungschef.
»Scholz nutzte die Chance,
die er nicht hatte«, schrieb die
»Frankfurter Allgemeine«. Er hat die
SPD neu erfunden und eine Machtkonstellation
geschaffen, die es in der
Bundespolitik noch nicht gab: eine
Ampelkoalition. Olaf Scholz hat zum
ersten Mal ein mit Männern und
Frauen paritätisch besetztes Kabinett
durchgesetzt, zum ersten Mal mit
einem Bundesminister mit türkischem
Migrationshintergrund und
zum ersten Mal mit einer Außenministerin.
Es ist ein ungewöhnlich junges
Kabinett, der Altersschnitt liegt
bei gut 50 Jahren. Und es ist ein ungewöhnlich
junges Parlament: Der
Schnitt liegt bei 47 Jahren.
Neben allem Guten bringt dieser
politische Neuanfang auch Schwieriges
mit sich. Die Regierung startet
nicht nur in der schlimmsten Gesundheitskrise
seit dem Zweiten Weltkrieg,
sie hat auch schon für Verwirrung
gesorgt, bevor sie anfing: Sie war
für das Aussetzen der »epidemischen
Lage von nationaler Tragweite« verantwortlich,
die rechtliche Grundlage
für viele Coronabeschränkungen. Sie
kündigte eine Impfpflicht an, obwohl
sich ihre Leitfiguren zuvor dagegen
ausgesprochen hatten. Auf den Straßen
formiert sich massiver Protest
gegen die Impfpflicht, die Spaltung
des Landes vertieft sich.
Aber vielleicht müssen wir aus
dem Verlauf der Pandemie, aus diesem
Vor und Zurück, das sie uns auferlegt
hat, einfach neue Maßstäbe für
die Beurteilung von Politik akzeptieren:
Es geht nicht mehr alles glatt,
schon gar nicht, wenn eine neue Regierung
beginnt. Es fehlt ihr die Erfahrung.
Auch Bundeskanzler Olaf
Scholz ist trotz seiner langen Zeit in
der Spitzenpolitik ein Novize im
Amt.
25 %
der Abgeordneten
im neuen
Bundestag
sind jünger
als
40 Jahre.
Quelle: Deutscher
Bundestag
Armin
Grau, 62
Der Arzt und
Klinikleiter hat sich
für ein neues Leben
in der Politik
entschieden. Er sitzt
für die Grünen im
Parlament und
möchte Erfahrungen
aus seinem Beruf
nutzen, um die
Gesundheitspolitik
zu verbessern.
Vor Kritik darf ihn das nicht bewahren.
Kritik gehört zum Wesen
der Demokratie. Sie setzt an beim
Schlechten, damit es besser wird, sie
macht den Neuanfang, die Korrektur,
das Ablassen vom Falschen erst möglich.
Das unterscheidet sie von der
Argumentationsweise der Polarisierer.
Die kritisieren nicht, die lehnen
ab. Und verhindern den Neuanfang.
Viele Menschen, die sich politisch
engagieren, tun das, weil sie Kritik an
den bestehenden Verhältnissen üben
wollen.
Armin Grau zum Beispiel ist neu
im Bundestag. Für die Grünen. Er ist
62 Jahre alt. Und Mediziner. 35 Jahre
lang arbeitete er in verschiedenen
Kliniken, in den vergangenen fast
20 Jahren leitete er die Neurologische
Klinik am Klinikum Ludwigshafen.
Grau sagt zu seinem Neuanfang: »Ich
möchte die Erfahrungen, die ich in
meinem Job gesammelt habe, und
meine eigene Analyse zu den Fehlentwicklungen
dazu nutzen, Reformen
mit anzustoßen.« Jetzt ist er
Mitglied im Gesundheitsausschuss.
In seiner Arbeit dort geht es ihm besonders
um das Krankenhauswesen
und dessen Finanzierungsprobleme.
Für ihn ist »der Einfluss von Pflege
und Ärzteschaft in den Krankenhäusern
zu schwach und die Dominanz
wirtschaftlicher Überlegungen zu
groß«. Mit seinem Mandat hat Grau
einen Hebel in der Hand, um etwas
zu ändern. Sein persönlicher Neuanfang
könnte kleine Neuanfänge in
seinem Fachgebiet möglich machen.
In der neuen Regierung hat die
Kritik an der abwartenden Krisenabwehr
der Ära Merkel, hat dieser
erkennbare Überdruss am Alten
den Willen zum Neuanfang erst möglich
gemacht. Im Koalitionsvertrag
kommt er zum Ausdruck. Er setzt
voraus, dass wir alle mit Veränderungen
konfrontiert werden. Sollte das
darin festgehaltene Vorhaben wahr
werden, eine Industrienation in ein
klimagerechtes Vorzeigeland umzuwandeln,
werden das alle spüren,
werden alle umdenken müssen.
Aber was bedeutet es, wenn Politik
konkret wird? Etwa in der Ökonomie?
Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer,
Expertin für Innovationsforschung,
sagte in einem Interview
(SPIEGEL 50/2021) über den Koalitionsvertrag:
Das darin versprochene
»Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen«
sei »ein hoffnungsvolles Signal.
Die neue Regierung verspricht einen
gewissen Spirit, allein mit dem Motto:
›Mehr Fortschritt wagen‹.« Zugleich
warnt Schnitzer, dass die Veränderungen
den Menschen einiges abverlangen
werden.
Wer die Natur schützen will, wird
Windräder in Kauf nehmen müssen.
Wer die Verkehrswende befürwortet,
sollte über Sinn und Unsinn des
eigenen Autos nachdenken, jedenfalls
diejenigen, die in der Großstadt
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
23
TITEL
leben. Schon wieder: ein Neuanfang mit
Schwung – und Schmerzen.
Man sollte meinen, Deutschland, eine der
wohlhabendsten Nationen der Welt, hätte
beste Voraussetzungen für einen ökologischökonomischen
Neuanfang. Stimmt ja auch.
Allein, die innere Verfasstheit lässt zu wünschen
übrig. Wissenschaftlerin Schnitzer hat
eine Erklärung für die Zögerlichkeit der Deutschen:
»Wir kennen das Problem aus der Innovationsforschung
gut. Wenn ich ein funktionierendes
Geschäftsmodell habe, fehlt der
Anreiz, etwas neu zu machen. Beispiel Automobilbranche:
Der Verbrennungsmotor ist
ein Exportschlager. Warum also soll man auf
eine neue Technologie setzen, wenn man damit
nur andere Autos verkauft, aber nicht
unbedingt mehr? Wir haben in Deutschland
eine funktionierende Industrie. Dieser Erfolg
hat den Blick dafür verstellt, dass wir uns
weiterentwickeln müssen.«
Not macht erfinderisch. Das klingt zynisch,
trifft aber häufig zu. Aus notleidenden Ländern
kann viel Kraft kommen, wenn die wohlhabenden
Länder sie nicht in der Not versinken
lassen. Das wurde auch in der Flüchtlingskrise
häufig übersehen.
Im Spätsommer ging die Geschichte von
Syed Ahmad Shan Sadaat um die Welt: Das
Schicksal des früheren afghanischen Kommunikationsministers,
der Ende 2020 vor den
Taliban nach Deutschland floh und als Fahrradkurier
bei Lieferando in Leipzig anheuerte,
berührte viele. In Interviews schilderte Sadaat,
wie er nach seiner Kindheit im abgelegenen
Dorf Qala Shahi als junger Mann in Oxford
studierte und dann in London Karriere machte,
später nach Kabul zurückkehrte und Mitglied
der Regierung von Präsident Ashraf Ghani
wurde. Dem SPIEGEL sagte er jetzt: »Die
Härte des Lebens hat mich stark gemacht.«
Seit Kurzem hat er eine Festanstellung bei
einem Schutzmaskenhersteller im sächsischen
Markrandstädt. Im Januar soll Sadaat gemeinsam
mit seinen neuen Kollegen eine weitere
Firma aufbauen – und dort das tun, was er
schon als Minister in seiner Heimat mit großer
Leidenschaft versuchte: Funklöcher stopfen.
In ganz Deutschland, so stellt er sich das vor,
könnte die Netzabdeckung mit seiner Hilfe
verbessert werden. »Das«, sagt Sadaat, »ist
eine Aufgabe für Jahre.«
Er selbst soll mit zehn Prozent an der neuen
Firma beteiligt werden, sein Chef hält das
für eine gute Motivation. An der mangelt es
Sadaat ohnehin nicht. Er möge seinen neuen
Job und die netten Kollegen, sagt er, die Möglichkeit,
etwas Neues aufzubauen.
Sich weiterentwickeln, den Neustart wagen
– Sadaat scheint das zu gelingen, auch
weil er Not erlebt hat. Was ihm derzeit am
meisten fehlt: seine Familie. Seit er im Dezember
vor einem Jahr nach Deutschland
kam, bemühe er sich darum, sie nachzuholen.
Woher kommt eigentlich die weitverbreitete
Vorstellung, ein Neuanfang müsse leicht
sein? Warum werden die Schmerzen, die er
oft kostet, häufig ausgeblendet? Die Erklärung
liegt nahe. Wer sich die Schwierigkeiten
zu sehr klarmacht, würde vielleicht nicht
springen.
Denn wir sind geprägt von den üblichen Erzählweisen,
die linear verlaufen, einen Anfang
definieren und ein Ende. Und sowohl im Märchen
als auch im Hollywoodfilm sind wir aufs
Happy End konditioniert. Ein Neuanfang darf
schon turbulent sein, solange alles erfreulich
ausgeht. Ende gut, alles gut.
Selbst komplexe Entwicklungen werden
häufig in stimmige Muster mit klar definiertem
Neuanfang und einem fassbaren Ende gepresst.
Wir teilen den Verlauf der Menschheitsgeschichte
in solche Epochen ein. Nach der
Antike kommt das Mittelalter, nach dem Mittelalter
die Neuzeit. Nach der Klassik die Romantik.
Und so weiter. Wir reihen Neuanfang
an Neuanfang an Neuanfang. Und suggerieren
den unmittelbaren Wechsel. Es war aber ein
langer Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit.
Die frühe Neuzeit stand dem Mittelalter
in seiner Brutalität in nichts nach. Und doch
brach da etwas auf, nach und nach wurden die
Zeiten anders und in vielerlei Hinsicht besser.
Menschen neigen dazu, die diffusen Übergänge,
die zu so manchem Anfang gehören,
auszublenden. Übergänge sind kompliziert.
Zu ihnen gehört ein Vor und Zurück. Manchmal
fehlt die Geduld, sich das auszumalen.
Syed Sadaat, 50
Der frühere afghanische Kommunikationsminister
floh vor den Taliban nach Deutschland,
arbeitete hier bei Lieferando und soll
Anfang 2022 eine neue Firma mitaufbauen.
Auch etwas anderes ist für den Menschen
schwer oder gar nicht vorstellbar: Unendlichkeit
in Zeit und Raum. Deswegen brauchen
wir anscheinend unbedingt eine klare Vorstellung
vom Beginn allen Seins. In der christlichen
Erzähltradition wird der Anfang der
Welt mit dem typischen Gegensatz von Dunkel
und Hell beschrieben – symbolisch für
den Wandel vom Schlechten zum Guten. In
der biblischen Schöpfungsgeschichte heißt
es: »Im Anfang erschuf Gott Himmel und
Erde. Die Erde war wüst und wirr und
Finsternis lag über der Urflut und Gottes
Geist schwebte über dem Wasser. Gott
sprach: Es werde Licht.« So beginnt das Alte
Testament.
Im Neuen Testament wird das Dunkel-
Hell-Motiv der Schöpfungsgeschichte aufgegriffen.
Der Tod ist kein absolutes Ende, selbst
danach wird ein Neuanfang möglich, die Auferstehung.
Schon wieder: vom Dunkel ins
Licht.
Das Dunkel-Hell-Motiv taucht dann auch
in der Geschichtsschreibung auf. Die Aufklärung
– englisch: Enlightenment – steht für
einen Neuanfang im Denken: die Erleuchtung
durch wissenschaftliche Erkenntnis.
Selbst in der Zeitgeschichte neigen wir
dazu, die Grautöne, Schattierungen, die ein
Neuanfang mit sich bringt, zu ignorieren, und
beschreiben jähe Übergänge. Obwohl Zeitzeugen
erzählen können, dass es anders war.
Wie lang ist zum Beispiel der 8. Mai 1945,
die Befreiung Hitler-Deutschlands durch die
Alliierten, als »Stunde null« beschrieben worden,
als Neuanfang nach dem totalen Untergang.
Ganz so einfach war es nicht. Nazis
gelangten in der Bundesrepublik in hohe
Jasmin Zwick
24 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Positionen, es war ein Neuanfang mit
Übergängen und Grauzuständen,
ohne dass diese unbedingt als solche
wahrgenommen wurden. Das allmähliche
Bewusstsein der Schuld in
den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren
machte erst einen Neuanfang
in der Auseinandersetzung
möglich.
Die bekannten Erzählungen vom
jähen Ende des Alten und dem plötzlichen
Beginn des Neuen in der Kulturgeschichte,
in der politischen Geschichte,
in den Sagen und Mythen
haben auch die Vorstellungen davon
geprägt, wie der Neuanfang im eigenen
Leben sein sollte. Natürlich kann
man ahnen, dass gerade im Persönlichen
Übergänge Zeit brauchen, dass
sie anstrengend sind, dass sie nie
ganz – und sicher nicht ganz schnell –
die Erlösung vom Alten mit sich bringen.
Und doch verlocken einen immer
wieder die Erzählungen, die nahelegen,
dass der Wandel leicht sein
könnte, dass sich nach dem Dunklen
des Alten sofort das Helle des Neuen
einstellen würde.
Berater, Coaches und Esoteriker – das
Geschäft mit dem Neuanfang floriert;
und Geschäfte macht nur, wer Verlockendes
verheißt. Seit die Zeiten
individualistischer geworden sind, gilt
es nicht zuallererst die Erwartungen
der Gesellschaft zu erfüllen, sondern
die Erwartungen des Ichs an sich
selbst. Die Begleiter und Helfershelfer
des Neuanfangs können daran gut
verdienen: Erfülle dich, blühe auf,
wachse – so lautet heutzutage der Anspruch.
Wer noch nicht seinem Ideal
entspricht, hat sich auf den Weg zu
machen, um sich selbst zu vervollkommnen.
Von diesem Zeitgeist, von den Verheißungen
des Neuanfangs profitieren
unzählige Ratgeber. Wie gehen
die Profiteure vor?
»Lebenshilfe«-Bücher sind laut
dem Börsenverein des Deutschen
Buchhandels die zweitgrößte Gruppe
im Segment »Ratgeber«. Die Titel
ähneln sich: »Trennungsschmerz und
Neubeginn: Wie aus Abbrüchen Aufbrüche
werden«. Oder auch mal deftiger:
»Betrogen, belogen, verarscht
und verlassen – Das Mutmachbuch
für deinen Neubeginn«.
Aktuell liegt in der »Ratgeber«-
Sparte der SPIEGEL-Bestsellerliste ein
Buch auf Platz zwei, das mit der sogenannten
Ein-Prozent-Methode seinen
Lesern zu zeigen verspricht, wie
sie mit minimalen Veränderungen eine
»maximale Wirkung« erreichen – ein
totaler Neustart, mit möglichst wenig
Aufwand.
Viele der Angebote liegen irgendwo
zwischen Kant und Kalenderspruch.
Der Übergang von Wissenschaft
zu Esoterik scheint fließend –
da ist etwa der studierte Philosoph
und Soziologe Dirk Gemein, der sich
»Achtsamkeitscoach und Glückslehrer«
nennt. Er wirbt damit, dass er
unter anderem bei einem Zen-Meister
gelernt habe, der zahlreiche Bücher
geschrieben habe. »Der Weg zur Veränderung
liegt in dir«, behauptet er
auf seiner Homepage, die ihn von
Kerzen umringt zeigt, auf den Knien
sitzend, sich verneigend, als würde er
beten.
In einem Video verspricht er, mit
einem »15-Sekunden-Glücks-Test«
den Zuschauern zu sagen, ob sie einen
Fahrplan für ihr Leben haben. Der
Test besteht darin, die Augen zu
schließen, einmal tief ein- und auszuatmen
und im Kopf den Satz zu vervollständigen:
»Glück ist …« Wer
mehr will, kann im »Grundkurs Level
1 Online« die Grundlagen der Achtsamkeit
und Meditation erlernen, für
249 Euro.
Ruft man ihn an, bietet er einem
sofort das Du an. »Die Leute hören
mir zu, weil sie wissen, dass ich das
nicht an der Uni gelernt habe, sondern
selbst dieses Tal durchschritten
habe.« Er erzählt, er habe vor Jahren
ein Blutgerinnsel im Kopf gehabt, sei
ins Krankenhaus gekommen, habe
mit Depressionen gekämpft und versucht,
sich umzubringen.
Psychotherapie habe ihm nicht geholfen,
stattdessen habe er sich einen
Rucksack und ein Ticket nach Bangkok
gekauft und ein halbes Jahr in
Asien verbracht, um dort zu meditieren.
Jetzt coache er Kinder, Erwachsene
und Familien in Achtsamkeit
und Glücksfindung. Er biete seine
Kurse auch Unternehmen wie dem
ADAC, Thyssenkrupp und Creditreform
an, schiebt aber sofort hinterher:
»Ich arbeite nicht mit Firmen,
sondern nur mit Menschen.« Tausenden
Menschen habe er schon geholfen,
sagt er.
Er sei ein Achtsamkeitslehrer und
meint von sich, er mache »im Prinzip
das Gleiche wie Psychotherapie«.
Was er aber dann aufzählt, unterscheidet
sich grundlegend davon:
»Ich gebe Kurse, Vorträge, Seminare,
und das ist nichts anderes als strukturiertes
psychologisches Coaching
auf Basis von Achtsamkeit.«
Vor einigen Jahren feierte die japanische
Autorin Marie Kondo erste
Erfolge. Inzwischen verkaufte sie ihr
Buch »Magic Cleaning: Wie richtiges
Aufräumen Ihr Leben verändert«
mehr als 13 Millionen Mal, es wurde
»Wenn ich
ein funktionierendes
Geschäftsmodell
habe, fehlt
der Anreiz,
etwas
neu zu
machen.«
Monika Schnitzer,
Expertin für Innovationsforschung
Dirk Bruniecki / DER SPIEGEL
TITEL
in 44 Sprachen übersetzt. Sie erklärte
darin, wie man Ordnung in sein
Leben bringt, indem man sich von
den Dingen trennt, die einem eigentlich
egal sind.
Inzwischen gibt es Kondos Buch
auch als Netflix-Serie und Manga, es
gibt einen zweiten Teil (»Spark Joy«)
und eines, das dafür gedacht ist, auch
das Berufsleben in Ordnung zu bringen.
Die Frau, die damit erfolgreich
wurde, anderen beizubringen, wie sie
sich von Krimskrams trennen, verkauft
inzwischen selbst Krimskrams:
Aromadiffusoren, Teekannen, eine
Klanggabel und Quarzkristalle.
Kondo ist eine der bekanntesten
unter den sogenannten Ordnungscoaches.
Auch in Deutschland gibt es
solche Angebote: das eigene Leben
umzukrempeln, indem man zu Hause
ausmistet. In Onlinekursen soll
man etwa mithilfe der »3 Schubladen
Methode« (»einmalig nur 37 Euro«)
erlernen, strukturiert Ablage zu
machen.
Das Ziel ist dabei nicht allein, endlich
in einem aufgeräumten Haushalt
zu leben, sondern durch die Ordnung
des Heims zu einer inneren Ordnung
zu gelangen. Die soll dann helfen, das
Leben in den Griff zu kriegen und
geläutert in ein neues zu starten.
Das Angebot an pastellfarbenen
Websites, auf denen freundliche Männer
und Frauen versprechen, die Antwort
auf die Frage nach dem gelingenden
Neustart zu haben, scheint
unendlich. Doch die Kundenbewertungen,
die sich zu den Büchern und
Kursen finden, zeigen meist ein gemischtes
Bild. Der eine schreibt: »hat
mein Leben verändert«, die andere
ist enttäuscht: »billige Pseudowissenschaft«.
Nicht alles passt zu jedem.
Was einfach klingt, ist eben kompliziert.
Es ist ein interessantes Paradox:
Individualisierte Zeiten fordern dazu
auf, das ideale Ich zu entdecken und
zu entwickeln. Aber nimmt man Individualismus
ernst, braucht es auch
individuell zugeschnittene Rezepte.
Die zehn besten Ratschläge können
nicht für jede und jeden die besten
sein.
Manche Menschen, die ihr Leben
ändern wollen, suchen auch nicht unbedingt
nach Erleichterung, Vereinfachung.
Sie suchen die Herausforderung,
das Komplizierte. Weil sie hoffen,
sich dadurch zu entwickeln.
So wie André Nagel. Der Anfang
Dreißigjährige wohnte noch Anfang
dieses Jahres in Hamburg. Nagel hat
eine Muskelschwäche und hatte 2005
eine Herztransplantation, seitdem
sitzt er im Rollstuhl. Im Wohnheim
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
25
TITEL
LEBEN
»Viele würden gerne den
Reset-Knopf drücken«
Wer einen frischen Anfang wagen will, braucht Kraft – aber was noch?
Persönlichkeitsforscher Rainer Riemann, 66, über Schicksalsschläge, Gene
und darüber, welche Charktereigenschaften man für einen Neustart braucht.
SPIEGEL: Herr Professor Riemann,
Sie untersuchen unter anderem, wie
Gene und Charaktereigenschaften
unsere politische Orientierung beeinflussen.
Das klingt, als wären wir
Menschen ziemlich festgelegt. In
diesen Tagen hoffen viele auf einen
Neuanfang. Ist so etwas möglich?
Riemann: Wir nehmen uns immer
wieder vor, einen völligen Neustart
zu machen. Viele würden gerne den
Reset-Knopf drücken. In seltenen
Konstellationen kann das wünschenswert
sein. Doch wir Menschen
werden mit bestimmten Anlagen
geboren. Im Laufe unseres
Lebens entwickeln sie sich. Wir
schreiben eine Lebensgeschichte
unter vielfältigen Einflüssen. Wenn
wir einen Neuanfang wagen, überlebt
ganz viel aus unserer Biografie.
Es ist nicht vorstellbar, uns komplett
neu zu erfinden. Das funktioniert
nicht.
SPIEGEL: Sie halten nicht viel von
den guten Vorsätzen zum Jahreswechsel?
Riemann: Ich habe selbst vor vielen
Jahren an Silvester mit dem Rauchen
aufgehört. Aber Umbrüche
dürfen nicht von außen an uns herangetragen
werden. Häufig gibt es
im Umfeld eine Erwartungshaltung.
Ein Neuanfang ist jedoch nur dann
realistisch, wenn die Idee dazu nicht
spontan kam und wenn er nicht das
ganze Leben betrifft. Er muss sich
auf konkrete Ziele beschränken. Das
Stichwort ist »Weiterentwicklung«.
Das kann beim Essen oder Rauchen
funktionieren, auch wenn man sich
etwa vornimmt, offener auf andere
Menschen zuzugehen.
SPIEGEL: Es gibt aber doch Brüche
im Leben, die über solche Kleinigkeiten
hinausgehen.
Riemann: Das sind dann vor allem
erzwungene Neuanfänge. Etwa
nach Todesfällen, wenn zum Beispiel
der Partner oder die Partnerin
Veit Mette / DER SPIEGEL
Psychologe
Riemann
Silvesterfeier in
Stuttgart 2017: »Wir
schreiben eine
Lebensgeschichte«
verstorben ist. Da müssen wir viele
Bereiche des Lebens neu entdecken,
neue Beziehungen knüpfen. Das ist
ein Neuanfang, den man sich nicht
ausgesucht hat. Auch die Menschen,
die in der Flutkatastrophe alles verloren
haben, sind dem ausgesetzt.
Starke Brüche gibt es zudem, wenn
man seine ganze Umwelt verändert,
also etwa in ein anderes Land mit
einer anderen Kultur zieht.
SPIEGEL: Gibt es Eigenschaften, die
solche Neuanfänge begünstigen?
Riemann: Die gibt es auf jeden Fall.
In der Forschung sprechen wir von
fünf Persönlichkeitsdimensionen,
Christoph Schmidt / dpa
drei davon sind hier relevant. Das
ist zum einen die Offenheit für neue
Erfahrungen. Hinzu kommt noch
Risikobereitschaft, wie man sie etwa
haben muss, wenn man sich selbstständig
machen will. Und zuletzt
Gewissenhaftigkeit. Man kann noch
so offen und risikobereit sein, der
Erfolg eines Neuanfangs hängt auch
davon ab, wie man solche Veränderungsprozesse
angeht, wie planvoll
und motiviert.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen unsere
Gene?
Riemann: Unsere Gene sind für uns
immer wieder entscheidend, aber
sie sind eben kein Computerprogramm,
das genaue Verhaltensweisen
vorgibt. Es stimmt zwar, dass
Gene unser Potenzial bestimmen,
unsere Reaktionsweisen. Aber das
geht nicht so weit, dass sie konkrete
Handlungen beeinflussen. Bei einem
Neuanfang geht es häufig um
etwas sehr Konkretes. In Augenblicken
wie an Silvester spielen genetische
Einflüsse eine untergeordnete
Rolle. Was ich in solchen Situationen
tue, hängt häufig von aktuellen
Erfahrungen ab.
SPIEGEL: Mit zunehmendem Alter
spielen sich Verhaltensmuster ein.
Werden Neuanfänge leichter, weil
man sich im Alter selbst besser
kennt, oder schwieriger?
Riemann: Die Forschung geht nicht
davon aus, dass Veränderungen der
Persönlichkeit mit dem Alter abnehmen,
auch wenn junge Leute vielleicht
meinen, die Älteren wären
unflexibel. Es ist eher so, dass es im
Alter – etwa mit dem Ausscheiden
aus dem Job – mehr Flexibilität gibt.
Die Persönlichkeit verändert sich
wieder stärker, auch konkrete Verhaltensweisen.
Manchmal wachsen
wir automatisch in neue Rollen
hinein, wenn wir uns auf einmal
um Enkelkinder kümmern. Hinzu
kommt, dass wir im Alter häufiger
gezwungen sind, uns mit gesundheitlichen
Problemen auseinanderzusetzen.
SPIEGEL: Braucht es für einen Neustart
manchmal professionelle Unterstützung?
Riemann: Therapeutische Hilfe
kann mitunter sinnvoll sein. Manchmal
sind auch Gespräche mit anderen
hilfreich. Für die meisten Vorsätze
zum neuen Jahr braucht es das
natürlich nicht. Aber auch da ist es
gut, sich bei Familie und Freunden
Rat zu holen. Etwas Neues muss
auch im sozialen Miteinander gelingen.
Interview: Katharina Horban n
26 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
in Hamburg war immer jemand da,
der eine Flasche aufdrehen oder beim
Kochen helfen konnte.
Nagel mochte Hamburg, trotzdem
hielt ihn nicht viel dort. 2016 starb
seine Mutter an Krebs, es wurde einsamer.
Als die Republik in der zweiten
Coronawelle versank, fasste Nagel
den Entschluss: Er wollte nach Göttingen
ziehen, zum Rest der Familie.
Und als die dritte Welle das Land regierte,
fuhr Nagel die etwa 250 Kilometer
mit dem Zug gen Süden.
»Ich fange hier ein komplett neues
Leben an«, sagt er. In Göttingen hat
er nun eine eigene Wohnung, nur
sechs Stunden in der Woche kommt
Betreuung. Niemand, der immer da
ist, außer Onkel, Tante und Großmutter
in Notrufnähe. In Göttingen geht
Nagel in eine Tagesstätte, da gibt es
Mittagessen, Ergotherapie und Freunde.
Man verlerne viel, wenn man immer
Hilfe habe, sagt er. »Ich wollte
selbstständiger werden.« Das hat er
geschafft. André Nagel ist ein besonderer
Fall, aber alle Menschen sind
auf ihre Weise besonders.
Seriöse Berater wie die Psychotherapeutin
und Coachin Petra Jagow halten
deswegen nicht viel von Selbsthilfebüchern
als alleiniges Mittel. Zumindest
nicht, wenn man ernsthaft
etwas verändern wolle. Sie coacht
Menschen, die ihr Arbeitsleben umkrempeln
möchten, und sagt: »Wenn
die zu mir kommen, haben sie schon
viele Bücher gelesen und ihren ganzen
Freundeskreis und ihre Familie
genervt, weil sie die mit ihren Problemen
vollgeredet haben.«
Jagow schätzt, dass zehn Prozent
ihrer Kundinnen und Kunden einen
radikalen Neustart wollen. »Beliebt
ist Yogalehrerin, Heilpraktikerin oder
auf einer einsamen Insel Drehbücher
schreiben«, sagt sie, vor allem bei
Leuten aus der Medienbranche. »Wer
denkt, er müsse alles radikal ändern,
um endlich glücklich zu sein, hat ein
Problem: Man nimmt sich selbst ja
mit in den neuen Job und hat dann
dort dieselben Dinge, über die man
sich ärgert.«
Sie arbeite mit den Menschen
heraus, was sie eigentlich störe – ein
nerviger Chef oder unbefriedigende
Aufgaben. Und dann versuche sie
den Menschen zu vermitteln, eine
andere Haltung dazu zu finden. »Die
allermeisten Menschen sind aus guten
Gründen in den Job gekommen,
in dem sie sind: Sie können bestimmte
Dinge sehr gut, die dort gefordert
sind.«
Doch Corona hat viele Menschen
zu einem Neuanfang gezwungen.
Sandra Ferrari etwa, 46, hat fast ihr
ganzes Leben in Restaurants verbracht.
Ihr Vater betreibt ein italienisches
Lokal in der Mainzer Innenstadt.
Dort spielte sie schon als Kind
im Keller und versalzte mal aus Spaß
die Bolognese. Nach der Schule
machte sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau,
gegen den Willen ihres Vaters.
»Du musst immer arbeiten,
wenn andere frei haben«, habe er zu
ihr gesagt. Es war ihr egal. »Ich habe
die Gastronomie geliebt.« 20 Jahre
lang arbeitete sie als Kellnerin. Dann
kam der erste Lockdown. Das Lokal
schloss.
Zwei Wochen später saß sie mit
ihrem Partner auf der Terrasse beim
Kaffee, und er fragte sie: »Was machst
du, wenn das länger dauert?« Sie googelte
»Berufe mit Menschen« und
fand »Altenpflegehelferin«. Sie suchte
weiter: »Altenpflege, was muss
man da machen?« Sie las: Menschen
waschen, ihnen beim An- und Ausziehen
helfen, sie aus dem Bett und
wieder hineinhieven. »Da habe ich
erst mal geschluckt«, sagt sie.
Aber ihr Interesse war geweckt.
Sie schrieb drei Bewerbungen. Ein
oder zwei Tage später kam die erste
Antwort, erzählt sie: Vorstellungsgespräch.
»Ich habe direkt gesagt,
dass ich null Erfahrung in dem Beruf
habe.« Ihre zukünftige Chefin fragte
nur: »Zu wann könnten Sie denn anfangen?«
Zum 1. Mai 2020 war aus
der Kellnerin eine Altenpflegehelferin
geworden.
Ihr erster Arbeitstag begann um
6.15 Uhr. »So früh war ich nicht mehr
zur Arbeit erschienen, seit ich in meiner
Ausbildung den Frühstücksservice
gemacht hatte«, sagt sie. Mit
einer Kollegin ging sie von Zimmer
zu Zimmer, weckte die Bewohnerinnen
und Bewohner. Als Erstes stehe
bei vielen das Waschen an, sagt Ferrari.
»Kannst du das, oder kannst du
das nicht?«, fragte sich Ferrari selbst.
Neben dem Bett einer Bewohnerin
stand eine Waschwanne im Zimmer.
Ferrari zog der freundlichen Frau,
weit über 80, das Oberteil aus. Sie
wusch ihr die Arme, das Gesicht, den
Oberkörper. »Die extreme Körpernähe«
sei ihr zunächst noch schwergefallen,
gibt Ferrari zu. Vom Kellnern
war sie es gewohnt, höflich und
nahbar zu sein, einen Plausch zu halten.
Hier nun hatte sie Menschen vor
sich, die ohne sie hilflos waren.
Abends holte ihr Partner sie mit dem
Auto ab. »Und?«, fragte er. »War
okay«, sagte sie, wie sie sich erinnert.
»Aber ich habe die ganze Zeit den
Geruch von Urin in der Nase.« Sie
fuhren heim. Ferrari dachte nach und
Marie Kondo,
Ordnungscoachin
Ein aufgeräumter
Haushalt
soll dabei
helfen,
geläutert
in ein neues
Leben
zu starten.
Seth Wenig / AP
4,3
Millionen
Amerikaner
kündigten
laut US-
Arbeitsministerium
allein
im Oktober
2021
ihren Job.
TITEL
merkte: »Es fühlte sich alles gut,
machbar und okay an. Und so ging es
weiter.«
Ihr Herz hänge immer noch an der
Gastronomie. »Aber ich bereue es
nicht, den Wechsel gewagt zu haben«,
sagt sie. Sie hat das Unvermeidliche
genutzt, um sich weiterzuentwickeln.
Gerade macht sie einen Fernkurs,
um sich zur Betreuerin ausbilden zu
lassen.
Es ist eine Leistung, so souverän
eine Veränderung zu meistern. Nicht
jede und jeder kann das gleichermaßen,
die Forschung zeigt das. Gene
spielen eine Rolle und biografische
Besonderheiten (siehe Interview
Seite 26).
Welche Chancen und Hürden sehen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
beim Neuanfang? In erster
Linie, so der Biologe und Hirnforscher
Gerhard Roth (SPIEGEL
CHRONIK 2021), agierten Menschen
impulsiv und nach Gefühl. 40 Jahre
lang untersuchte er mit Kollegen, wie
Einzelne und Gruppen mit Unsicherheiten
umgehen. Sein Fazit: Der
Mensch wolle Schutz und Sicherheit.
Gefühle und impulsive Reaktionen
seien die Antwort auf Unsicherheiten.
Rationalem weist er dabei eine weniger
große Bedeutung zu. »Der Verstand
und später die Vernunft haben
sich bei hoch entwickelten Tieren und
beim Menschen als Werkzeuge entwickelt,
mit denen sich Probleme
lösen lassen«, sagt Roth. »Aber sie
befriedigen weder elementare Bedürfnisse,
noch geben sie soziale
Sicherheit.«
Festhalten ist die Illusion von Sicherheit.
Der Neuanfang setzt voraus,
dass etwas Altes, Vertrautes losgelassen
wird. Sich von Vertrautem zu lösen
ist indes keine menschliche Stärke.
Je größer das Vorhaben für den Neuanfang,
umso schwieriger wird es.
Festhalten ist Sicherheit, Loslassen
ist Stress. Das Ende einer Liebesbeziehung
ist körperlich und seelisch
mit einem Drogenentzug vergleichbar,
fand ein Team um die US-amerikanische
Forscherin Helen Fisher
heraus. Der Dopaminspiegel sinkt
oder steigt in einigen Fällen so immens,
dass Menschen noch verliebter
sind, dass sie sich an die fast verlorene
Partnerin oder den Partner klammern,
dass sie festhalten.
Um das Loslassen zu überstehen,
braucht der Mensch das, was sich Resilienz
nennt: die Dicke des Tuchs, in
das man fällt, die psychische Widerstandsfähigkeit.
Ist das Tuch dünn
oder fest gewebt und sicher? Resilienz
meint somit auch den Prozess, das
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
27
TITEL
Loslassen zu verarbeiten. Der Mensch könne
Resilienz lernen, sagen Forscher. Manche Psychologen
und Ärztinnen sind der Meinung,
dass es wichtig sei, schon als Kind schwierige
Situationen zu durchleben, als Vorbereitung.
Die amerikanische Entwicklungspsychologin
Emmy Werner begann bereits 1955 daran
zu forschen, warum manche Menschen
resilienter sind als andere. »Selbstwirksamkeit«
lautet das Stichwort. Das Ergebnis ihrer
Langzeitstudie: Resilientere Menschen erkennen
die eigenen Bedürfnisse, sind selbstbewusst,
können Verantwortung übernehmen
und Ziele verfolgen, die sie als sinnvoll bewerten.
Und: Resiliente Menschen hatten in
der Kindheit meistens mindestens eine Vertrauensperson.
Selbst hinter dem kleinsten Vorhaben
steckt ein großes Sehnen: Letztlich geht es
immer darum, ein anderer Mensch zu werden.
Wer nicht sofort zur nächsten Zigarette greift,
sondern darum kämpft aufzuhören, ist schon
ein anderer geworden. Ein bisschen jedenfalls.
Wie aber ergeht es einem Menschen, der
das auf einer ganz anderen Ebene möchte?
Der sein Geschlecht anpassen möchte?
Da operative Geschlechtsangleichungen
heute medizinisch leichter möglich sind als je
zuvor und die Gesellschaft eine andere Toleranz
entwickelt hat, wagen wohl deutlich
mehr Menschen diesen Eingriff. Im Jahr 2020
wurden in deutschen Krankenhäusern 2155
operative Geschlechtsangleichungen durchgeführt,
2012 waren es noch 883.
Der Buchhändler, Autor, Blogger und Aktivist
Linus Giese, geboren 1986, hat sein
Coming-out als transgeschlechtlicher Mann
hinter sich. Er sagt einen Satz, der zu den
meisten Neuanfängen passt: »Es war kein
Aufbruch ins Glück, das sich sofort eingestellt
hat.« Sein neues Leben begann mit fünf Buchstaben.
Sie standen auf einem Pappbecher an
einem Mittwoch im Oktober 2017. In ihm: ein
Pumpkin Spice Latte. Auf ihm: schwarze Lettern,
geschrieben mit einem Filzstift. Als er
den Kaffee bestellte, hatte der Barista ihn
nach seinem Namen gefragt. Er nannte nicht
den Namen, der ihn bis dahin begleitete, seit
31 Jahren. Der in seinem Pass stand und auf
seiner Versichertenkarte. Er nannte nicht den
Namen einer Frau, sondern »Linus«.
Kurz danach machte er ein Foto des Bechers
und lud es auf Facebook hoch. Freundinnen,
Verwandte, Kollegen, auch seine Eltern
sollten es in den kommenden Stunden
und Tagen sehen. An diesem Tag im Oktober
begann für Linus Giese das öffentliche Leben
als transgeschlechtlicher Mann.
In den Wochen zuvor hatte er zum ersten
Mal in einer Herrenabteilung Kleidung gekauft.
Er hatte sich bei einem Herrenfriseur
zum ersten Mal einen Undercut schneiden
lassen. Hatte einem Freund zum ersten Mal
offenbart, dass er sich als transgeschlechtlicher
Mann fühlt. Und dann der Welt mitgeteilt,
dass er sich Linus nennt. Lauter erste Male.
Giese sagt, er habe damals gespürt, wie ihn
sein altes Leben einengte. Und wie ihn jeder
Schritt ins neue Leben glücklicher machte.
Begonnen hat dieser vierjährige Aufbruch
aber mit einem anderen Gefühl: Angst. Linus
Giese fragte sich, wie die Menschen, die ihn
kennen, wohl darauf reagieren würden.
Wenige Wochen nach seinem Coming-out
zog er von Hanau nach Berlin. Er hatte dort
einen Job als Buchhändler gefunden, seine
neuen Kollegen nannten ihn Linus. Doch manche
Kundinnen oder Kunden sprachen ihn
weiterhin als »Frau« an. Sie sahen ihn nicht
so, wie er gesehen werden wollte. »Das war
unheimlich schmerzhaft«, erinnert er sich.
Linus Giese merkte, wie er sich als transgeschlechtlicher
Mann immer wieder erklären
musste. Beim Arzt. Bei Behörden. Bei der
Post. Sein Personalausweis passte nicht mehr
zu dem Menschen, der er jetzt war.
Und dann schlug ihm noch dieser Hass entgegen.
Linus Giese hatte wenige Monate nach
seinem Coming-out begonnen, einen Blog
über sein Leben als transgeschlechtlicher
Mann zu schreiben. Für manche Menschen
im Internet wurde er damit zur Zielscheibe.
Er las Beleidigungen auf Twitter, Hasstiraden.
Fremde riefen bei seinem Arbeitgeber an, um
ihn bloßzustellen. Sie schickten Pakete an
seine Arbeitsstelle. Fanden seine Privatadresse
heraus und überklebten sein Klingelschild
mit seinem alten Namen. Einmal stand ein
Mann vor seiner Tür, 40 Minuten lang. Giese
zog daraufhin für vier Monate zu Freunden.
Er nennt das die »schrecklichen Seiten«
seines neuen Lebens. Giese hat über seine
Geschichte ein Buch geschrieben, 224 Seiten.
Linus Giese, 35
Der Blogger hat sein Coming-out als
transgeschlechtlicher Mann hinter
sich. Er sagt, das Glück habe sich nicht
sofort eingestellt. Der Aufbruch in ein
neues Leben habe vier Jahre gedauert.
Thomas Pirot / DER SPIEGEL
Damit transgeschlechtliche Personen wissen,
was sie erwartet, wenn sie öffentlich ihr Geschlecht
leben wollen. In der Fachsprache
heißt dieser Prozess »Transition«.
Anderthalb Jahre nach seinem Coming-out
ließ Linus Giese seinen Namen und sein Geschlecht
beim Standesamt offiziell ändern. Im
selben Monat bekam er die erste Testosteronspritze.
Weitere zwei Jahre vergingen, bis
Ärzte ihm seine Brüste entfernten.
Heute kann Linus Giese sagen. »Heute
führe ich das Leben, das ich mir wünsche.«
Nicht alle Menschen in seinem Umfeld sind
ihm dabei gefolgt. Zu manchen alten Freunden
brach der Kontakt ab. Einige konnten
den Weg nachvollziehen, den Linus Giese
ging. Am stärksten musste er sich überwinden,
mit seinen Eltern darüber zu sprechen.
Im vergangenen Jahr bekam er von seiner
Mutter ein Kissen geschenkt. Er hatte es schon
einmal überreicht bekommen, als Kind, mit
einer Stickerei: seinem alten Namen. Jetzt las
er einen neuen Namen auf dem Stoff: »Linus«
stand da.
Bei Olaf Scholz ist der Neuanfang längst nicht
so ausgeprägt. Nach Jahren des Hoffens, Bangens
und Wartens hat sich nur seine Funktionsbezeichnung
geändert, er ist das geworden,
was er so unbedingt hatte werden wollen:
Bundeskanzler. Auch bei ihm könnte der
Zauber des Neuen erst einmal überschattet
werden. Anders als der Chef des Robert Koch-
Instituts empfohlen hatte, verkündete Scholz
lediglich moderate Corona-Einschränkungen
über die Weihnachtsfeiertage. Sollte sich das
als Fehler herausstellen, wird er für einen
möglichen Zusammenbruch von Teilen der
Infrastruktur verantwortlich sein, weil zu viele
Leute gleichzeitig krank werden. Was für
ein Neuanfang.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
hatte im vergangenen Jahr in seiner Weihnachtsansprache
versprochen: Wir sähen das
lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels heller
werden. Alle dürften sich darauf freuen,
das nächste Weihnachten wieder im großen
Kreis zu feiern, mit Umarmungen und Gesang.
In diesem Jahr musste er einräumen,
dass es anders gekommen ist: »Seit bald zwei
Jahren bestimmt die Pandemie unser Leben,
hier und auf der ganzen Welt. Selten haben
wir so hautnah erfahren, wie gefährdet unser
menschliches Leben und wie unvorhersehbar
die Zukunft ist.« Diejenigen, deren Aufgabe
es nun sei, »Leib und Leben zu schützen«,
täten ihr Bestes: »Und sie alle gewinnen neue
Erkenntnisse, korrigieren Annahmen, die sich
als falsch erwiesen haben, und passen Maßnahmen
an. Menschen können irren, sie lernen
aber auch.« Auch so kann man auf einen
Neuanfang schauen.
Susanne Beyer, Anika Freier, Maik Großekathöfer,
Katharina Horban, Peter Maxwill, Christopher
Piltz, Hannes Schrader, Katja Thimm
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La Palma neu – dann bricht der Vulkan aus | 66
28 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
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DEUTSCHLAND
Der Ampel-Architekt
KARRIEREN FDP-Unterhändler Volker Wis sing setzte wegen schlechter
Erfah rungen mit der Union früh auf die Koalition mit SPD und Grünen. Der neue
Verkehrsminister und gläubige Calvinist aus der Pfalz kann Trickser nicht leiden.
Liberaler Wis sing
Zitat groß
Marginalie
hier wären
fünf Zeilen
sehr schön
Zitat Autor
Daniel Hofer / DER SPIEGEL
E
ine Woche nachdem er Minister
geworden ist, sitzt Volker Wissing
an einem runden Besprechungstisch
in dem Eckzimmer, das
er von seinem Vorgänger Andreas
Scheuer geerbt hat. Das Büro versprüht
den Charme eines ICE-Interieurs.
Der Holzton des Tischs beißt
sich mit dem des Parketts und dem
der Schränke.
Als Wis sing vor ein paar Tagen
sein neues Büro beziehen wollte,
musste er erst mal aufräumen. Überall
lagen Devotionalien von Flugzeugbauern,
Omnibusverbänden und
Eisenbahngesellschaften herum.
Wis sing steht auf und geht zu
einem Bündel aus rot-schwarz-blauem
Stoff, das auf einem Schrank in
der Ecke liegt. Es ist eine Badehose
der Berliner Verkehrsbetriebe im
Würmchenmuster der U-Bahn-Sitzbezüge.
Er hebt die Badehose in die
Höhe, als wollte er sagen: Würden Sie
Ihrem Nachfolger eine Badehose hinterlassen?
Die Amtsübergabe vom alten an
den neuen Bundesverkehrsminister
am 8. Dezember gehörte zu den wenigen
skurrilen Szenen dieses ansonsten
sehr deutschen, fast langweiligen
Regierungswechsels. Scheuer nutzte
den letzten Auftritt in seinem Haus,
um fast 20 Minuten über sich selbst
zu reden. Er gebrauchte Worte wie
»läuft«, »haben wir schon getan«,
»sind gut aufgestellt« und zählte seine
angeblichen Erfolge auf: »mehr
Mobilfunk, mehr Glasfaser, mehr
Lade infrastruktur, mehr Geld für Bus
und Bahn, mehr Radverkehr, die
Drohnen, die Flugtaxis, die synthetischen
Kraftstoffe, mehr Investitionen
in Infrastruktur als je zuvor«.
Dann ging Wis sing ans Rednerpult.
Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen,
darauf zu verweisen, was in
diesem Land nach 16 Jahren unionsgeführter
Regierungen alles nicht
funktioniert. Aber er wollte als neuer
Hausherr vor den neuen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern keinen politischen
Streit austragen. Stattdessen
sagte Wis sing: »Ein Regierungswechsel
ist ein sehr würdiger Akt in einer
Demokratie. Er kann eine große Ästhetik
haben.« Dann lobte er das
Knobelsdorff-Ensemble der Staatskapelle
Berlin, das den Termin im
Verkehrsministerium musikalisch begleitet
hatte. Die Musiker hätten »diese
Ästhetik auf sehr wunderbare Weise«
betont.
Es war Wis sings Art, seinem Vorgänger
zu sagen, dass dieser ein Rüpel
sei.
Für den Liberalen ist es kein Zufall,
dass ausgerechnet ein Vertreter der
30 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Unionsparteien, die sonst gern bürgerliche
Werte betonen, bei der Amtsübergabe Anstand
vermissen ließ. Wer Wis sing in den Wochen
der Sondierungen und Koalitionsverhandlungen
begleitet hat, erfährt, dass sich
die Scheuer-Episode einreiht in eine lange
Serie von Erfahrungen, die er in den vergangenen
Jahren mit Vertreterinnen und Vertretern
von CDU und CSU gemacht hat.
Diese Begegnungen hatten einen entscheidenden
Anteil daran, dass Wis sing in
Rheinland-Pfalz als FDP-Landeschef eine
Ampelkoalition ins Leben rief und ihr am
Ende als FDP-Generalsekretär auf Bundesebene
zum Durchbruch verhalf. Nun wird er
als Minister für Digitales und Verkehr am
Dreikönigstreffen der Liberalen am 6. Januar
teilnehmen.
Als FDP-Chef Christian Lindner den promovierten
Juristen im August 2020 für den
Posten des Generalsekretärs vorschlug, waren
viele in der Partei überrascht, auch Wis sing
selbst. Er galt mit damals 50 Jahren nicht gerade
als Hoffnungsträger, er ist kein Mann der
großen Worte, manche halten ihn für einen
Langweiler.
Die Partei befand sich in keinem guten Zustand.
In den Umfragen schrammten die Liberalen
an der Fünfprozenthürde entlang und
mussten um den Wiedereinzug in den Bundestag
fürchten. Die Wahl des FDP-Manns
Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten
im Februar 2020 mit den
Stimmen der AfD hatte bei vielen Zweifel am
Kurs der Liberalen geweckt. Und Wis sings
Vorgängerin Linda Teuteberg wirkte überfordert.
Sie scheute klare Entscheidungen und
brachte ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
damit an den Rand der Verzweiflung.
Wis sing hingegen war in der Partei bekannt
als Freund schneller Entscheidungen. Der
Pfälzer hat das in seiner Zeit als Richter gelernt.
Damals vertrat er manchmal einen Kollegen,
der als Betreuungsrichter schwierige
Entscheidungen in einer psychiatrischen Klinik
treffen musste, zum Beispiel ob Patienten
fixiert oder künstlich ernährt werden durften.
Im Büro dieses Richterkollegen stapelten sich
die Akten. Wenn Wis sing für ihn einsprang,
ging es hingegen ganz schnell.
Er sei meistens in der Klinik aufgetaucht,
die vorbereiteten Beschlüsse samt Amtssiegel
schon unterm Arm, erzählt Wis sing. Dann
sah er sich den Patienten an, hörte dem Arzt
zu, entschied und unterschrieb den Beschluss.
»Ich wundere mich manchmal, wie viele Leute
in der Politik sind, die Angst vor Entscheidungen
haben«, sagt Wis sing. »Als Politiker
müssen Sie ständig entscheiden. Und auch
wenn Sie nichts entscheiden, ist das eine Entscheidung.«
Eine seiner ersten Entscheidungen als Generalsekretär
in spe war ein Tweet, der die
FDP in Aufregung versetzte. Wis sing distanzierte
sich da von der CDU, die den meisten
Liberalen noch als bevorzugter Partner galt.
»Die #CDU nach so langer Zeit abzulösen,
Aufbruchstimmung
»Welche Partei würden Sie wählen, wenn
am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?«
15%
10
5
0
Juli
2020
Aug. 2020:
Volker Wissing wird als Generalsekretär
der FDP nominiert.
Jan.
2021
FDP
Sept.:
Bundestagswahl
Juli
Dez.
S ◆Quelle: Infratest dimap; Stand: 10. Dez.;
mehr als 1000 Befragte; die statistische Ungenauigkeit
der Umfragen liegt zwischen 2 und 3 Prozentpunkten
könnte ein wichtiges Signal des Aufbruchs für
unser Land sein«, twitterte er. Anlass war ein
SPIEGEL-Text, der spekulierte, dass ein
Ampel bündnis für den SPD-Kanzlerkandidaten
Olaf Scholz eine Machtoption sein
könnte.
In den meisten Umfragen lagen die Grünen
damals vor der SPD, eine Mehrheit für Scholz
schien unerreichbar. Als neuer Generalsekretär
sollte Wis sing Ruhe in die eigenen Reihen
bringen. Stattdessen erweckte er mit seiner
ersten prominenten Wortmeldung bei vielen
Liberalen den Verdacht, er wolle die Achse
der Partei nach links verschieben. »Der Tweet
war ein politischer Aufschlag, der sehr viele
Emotionen ausgelöst hat«, erinnert sich Wissing.
»Entscheidend war, damit anschließend
vernünftig umzugehen und sich nicht betont
in ein politisches Lager zu begeben.«
Wis sing ist in Wahrheit kein Linksliberaler.
Im Bundestag machte er sich zwischen 2004
und 2013 als Finanzpolitiker mit ordnungsrechtlichem
Kompass einen Namen. Er würde
damit wohl besser zu einem Friedrich Merz
als zu einem Olaf Scholz passen. Mit seinem
markanten Seitenscheitel gibt sich Wis sing
selbst eher konservativ.
Die Wahl des Finanzexperten mit Ampelerfahrung
sollte, so Lindners Kalkül, den Kurs
der Eigenständigkeit der FDP betonen. Programmatisch
waren, damals wie heute, die
Schnittmengen mit der Union größer, das
sieht Wis sing ebenso. Aber während Lindner
und die meisten anderen in der Parteispitze
»Ich wundere mich
manchmal,
wie viele Leute
in der Politik
sind, die Angst vor
Entscheidungen haben.«
12%
DEUTSCHLAND
sich auch kulturell der CDU näher fühlten,
hat sich der Pfälzer mit der Zeit von den Konservativen
entfremdet.
An einem Morgen Ende Oktober empfängt
Wis sing, damals Generalsekretär, in seinem
Büro im Hans-Dietrich-Genscher-Haus in
Berlin. Die Sondierungen sind abgeschlossen,
am nächsten Tag sollen die Koalitionsverhandlungen
beginnen, alles lief bislang nach
Plan. Es ist ein Erfolg der drei Generalsekretäre,
aber für Wis sing ist es auch eine Bestätigung,
dass er mit seinem politischen Instinkt
richtig lag.
»Ich hatte, auch durch meine Erfahrungen
in Rheinland-Pfalz, eine frühere und präzise
Analyse des Zustandes der CDU«, sagt er.
Eine Rolle spielte dabei die rheinland-pfälzische
CDU-Chefin Julia Klöckner, bis vor Kurzem
auch Bundeslandwirtschaftsministerin.
Sie hatte nach der Landtagswahl 2016 auf eine
Jamaikakoalition mit Wis sings FDP und den
Grünen gesetzt. Wis sing aber entschied sich
für die Ampel, er wurde Superminister für
Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft, Weinbau
sowie Stellvertreter der Ministerpräsidentin
Malu Dreyer (SPD). Fortan geriet er mit
Klöckner und der Landes-CDU immer wieder
aneinander, besonderen Ärger gab es, als Wissing
dafür sorgte, dass sich Rheinland-Pfalz
bei der Abstimmung über Klöckners Düngemittelverordnung
enthielt.
Immer wieder habe er erlebt, so Wis sing,
dass CDU-Vertreter ein ziemlich lockeres Verhältnis
zur Wahrheit pflegten. Während der
Jamaikasondierungen 2017 habe er den damaligen
Kanzleramtschef Peter Altmaier gefragt,
ob man nicht doch den Solidaritätszuschlag
vollständig abschaffen könne, wie es
die FDP forderte. Auf keinen Fall, entgegnete
Altmaier. Später, in der Großen Koalition,
zeigte sich Altmaier als Wirtschaftsminister
dann als derjenige, der den Soli am liebsten
für alle abschaffen würde, aber an der SPD
scheitert.
Selbst während der Sondierungen versuchten
einige in der CDU, zwischen den Ampelparteien
Zwietracht zu sähen. Wis sing holt
sein Handy hervor und liest aus einer Whats-
App-Gruppe vor. Julia Klöckner habe sich
gemeldet, schreiben die Fachpolitiker, die
CDU-Politikerin habe gewarnt, dass Noch-
Finanzminister Olaf Scholz einen Angriff auf
die Landwirte plane. Er wolle die seit Langem
existierende Sonderregelung abschaffen, dass
Bauern unbürokratisch einen pauschalen Umsatzsteuersatz
zahlen dürfen, statt ihre Umsätze
exakt mit dem Finanzamt abrechnen zu
müssen.
Wis sing wusste von Scholz, die EU-Kommission
habe die Bundesrepublik wegen der
Bevorzugung der Bauern vor dem Europäischen
Gerichtshof verklagt. Wenn Deutschland
wie zu erwarten das Verfahren verlöre,
müssten die Landwirte rückwirkend die gesparten
Steuern an den Fiskus zurückzahlen.
Scholz wollte das Problem durch eine Gesetzesänderung
lösen, aber Klöckner stelle sich
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
31
DEUTSCHLAND
quer, hieß es im Bundesfinanzministerium
(BMF). »Lasst euch die Sache
vom BMF erläutern«, rät Wis sing den
Parteifreunden, »die spielen garantiert
ehrlich.«
Es sei schon interessant, sagt Wissing
in seinem Büro. »Da ist auf der
einen Seite Olaf Scholz, den man
noch nicht so gut kennt, und auf der
anderen Seite die CDU. Bei dem
einen ist man überrascht, wie schnell
man Vertrauen fassen kann, bei der
anderen Seite überrascht einen nichts
mehr.«
Dass Wis sing so viel Wert auf Ehrlichkeit
und Disziplin legt, hat viel
mit seiner Herkunft zu tun. Er stammt
aus einer calvinistischen Familie. Seit
früher Jugend spielt er Orgel, absolvierte
eine Kirchenmusikerausbildung,
begleitete jahrelang Gottesdienste.
32 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Verkehrsminister
Wissing, Vorgänger
Scheuer bei Amtsübergabe:
Kein Streit
vor den Mitarbeitern
»Ein Regierungswechsel
kann eine
große Ästhetik
haben.«
Christoph Soeder / dpa
Wenn es um Musik geht, verändert
sich Wis sing Sprache, da verliert der
Jurist plötzlich das Spröde und
kommt ins Schwärmen. Eines seiner
Lieblingswerke ist eine Kantate von
Johann Sebastian Bach. In dem Text
geht es um die Gewissheit, dass alles,
was die Menschen tun, vergänglich
sei. Wis sing kennt die ersten Zeilen
auswendig: »Ach wie flüchtig, ach wie
nichtig ist der Menschen Leben! Wie
ein Nebel bald entstehet und auch
wieder bald vergehet, so ist unser Leben,
sehet!«
Der Text hat Bezug zu Wis sings
Leben. Während der Sondierungen
im Oktober starb sein Vater, er war
Winzer und ordinierter Prediger. Beinahe
hätte sich Wis sing nicht von ihm
verabschieden können, weil die Sondierungen
kurz vor dem Ende standen.
»Ich lasse mich leicht in die
Pflicht nehmen«, sagt er, und es ist
nicht klar, ob er das eher als Schwäche
oder als Stärke empfindet.
In den Koalitionsverhandlungen
ging er mehrmals bis an seine Grenze.
Mitte November saß er mehrere Tage
lang mit Schüttelfrost am Verhandlungstisch,
nachdem er eine Boosterimpfung
bekommen hatte. Er schluckte
Ibuprofen, um weiterverhandeln
zu können.
Ohne ihn wäre die Ampel wohl
nicht zustande gekommen. »Ich glaube,
dass ich an der Seite von Christian
Lindner mit meinen Erfahrungen,
einer klaren Meinung und Ruhe hilfreich
war«, sagt Wis sing. Der FDP-
Vorsitzende hatte in einer Vorstandssitzung
wenige Wochen vor der
Bundestagswahl die Frage aufgeworfen,
ob die Partei eine Ampel öffentlich
ausschließen solle. »Wir haben
uns alle gefragt, inwieweit die Wählerinnen
und Wähler diesen Weg mitgehen«,
sagt Wis sing. »Ich war der
Meinung, dass es natürlich ein Risiko
gewesen ist, in die Ampelsondierungen
zu gehen. Aber sie auszuschließen
wäre auch ein Risiko gewesen.«
Zum Dank bekam er das Verkehrsressort
und die Zuständigkeit für Digitalisierung.
Von seinem Eckbüro an der Berliner
Invalidenstraße schaut Wis sing
hinüber zum Wirtschaftsministerium,
wo der grüne Vizekanzler Robert Habeck
eingezogen ist. Als sich herumsprach,
dass Habeck eine Handvoll
Abteilungsleiter abgesetzt hatte, waren
die Beamten im Verkehrsministerium
gespannt, wie ihr neuer Hausherr
wohl agieren würde. Wis sing
erzählt, dass er alle Abteilungsleiter
versammelt habe und jede und jeden
gebeten habe zu berichten, was er
oder sie sich für den jeweiligen Bereich
vorstelle. Leute zu entlassen,
nur weil sie vorher einem anderen
Minister gedient haben oder einer
anderen Partei nahestehen – davon
hält Wis sing nichts.
»Straßen oder Ladesäulen für
E‐Autos«, sagt Wis sing, »kann man
ja nicht sozialdemokratisch, grün
oder liberal bauen.«
Das sieht man bei den Grünen vermutlich
anders. Sie sind unzufrieden,
weil die FDP das für den Klimawandel
wichtige Ressort bekommen hat.
Und weil die SPD der FDP in den
Verhandlungen dabei geholfen hat.
Einen Vorgeschmack auf zukünftige
Debatten bekam Wis sing, als er in der
»Bild«-Zeitung vor Belastungen für
Dieselfahrer gewarnt hatte: »Die FDP
wird dafür Sorge tragen, dass höhere
Energiesteuern auf Dieselkraftstoffe
durch geringere Kfz-Steuern ausgeglichen
werden.«
Eigentlich argumentierte der angehende
Verkehrsminister im Einklang
mit dem Koalitionsvertrag. Der
sieht nämlich vor, dass die höhere
Kfz-Steuer für Dieselfahrzeuge überprüft
wird, sobald die EU ihren Plan
umsetzt, dass Dieselkraftstoff und
Benzin steuerlich gleich behandelt
werden sollen. Aber die Grünen
schossen sich schnell auf ihn ein.
Dass er daraufhin, auch vom
SPIEGEL, als Anwalt der Autofahrer
bezeichnet wurde, findet er falsch. Er
wolle sich genauso für Radfahrer,
Bahnfahrer und Nutzer von öffentlichen
Verkehrsmitteln einsetzen, sagt
er. In seiner Zeit in Mainz reaktivierte
er unter anderem alte Bahnstrecken
und förderte die Wasserstofftechnik
für Lastwagen.
Wis sing sagt, er wolle nun den
Schienenverkehr mit mehr Geld ausbauen
als den Straßenverkehr, er wolle
dafür sorgen, dass mehr Radwege
gebaut werden und der öffentliche
Nahverkehr attraktiver wird. »Mein
Ziel ist es, den Umstieg auf klimafreundliche
Mobilität zu schaffen. Ich
stehe ohne Wenn und Aber hinter den
Pariser Klimaschutzzielen.«
Auch wenn im Koalitionsvertrag
kein Enddatum für die Zulassung von
Verbrennermotoren steht, sagt Wissing:
»Ich würde mir gut überlegen,
noch ein Auto mit fossilem Verbrennermotor
zu kaufen.« Daheim
in Landau fährt er seit Jahren einen
Plug-in-Hybrid – nach eigener Aussage
meistens im Elektrobetrieb.
Christoph Schult
n
DEUTSCHLAND
Tritte vors
Schienbein
PARTEIEN Die CSU schaut auf ein schlimmes
Jahr zurück. Dass Friedrich Merz bald
die CDU führt, macht es noch komplizierter
für die Bayern.
A
uch Politiker brauchen Auszeiten.
»Zwei oder drei Tage«
Pause will sich Markus Söder
in der Weihnachtszeit gönnen. Danach
werde er sich »grundlegende
Gedanken machen«, kündigte der
CSU-Chef nach der letzten Vorstandssitzung
des Jahres an.
Wahrscheinlich hätte sich Söder
als der Duracell-Hase der deutschen
Politik auch in weniger turbulenten
Zeiten nicht mehr als 72 Stunden zum
Innehalten genehmigt. Am Ende des
Jahres ist seine Rastlosigkeit allerdings
nachvollziehbar. Söders persönliche
Beliebtheitswerte befinden sich
im freien Fall. Laut einer Umfrage der
»Augsburger Allgemeinen Zeitung«
ist jeder zweite Bayer unzufrieden
mit der Arbeit des Ministerpräsidenten.
Der schlechteste Wert seit seinem
Amtsantritt im März 2018.
Eines seiner Kabinettsmitglieder
spricht von einem »Katastrophenjahr«,
das die Partei verdauen müsse.
Erst die Maskenaffäre, dann Söders
gescheiterte Kanzlerkandidatur, gefolgt
von einer verlorenen Bundestagswahl.
Außerdem hat die Pandemie
Bayern schwer gebeutelt. Söders Stellvertreter
als Ministerpräsident, Hubert
Aiwanger (Freie Wähler), sorgte
als Impfskeptiker für Schlagzeilen, was
die Koalition zwischen CSU und
Freien Wählern im Freistaat fast zum
Platzen brachte.
Als gäbe es angesichts der Katerstimmung
im Land der bayerischen
Löwen nicht schon genug Herausforderungen
knapp zwei Jahre vor der
nächsten Landtagswahl, muss sich die
CSU voraussichtlich auch noch mit
Friedrich Merz als neuem CDU-Parteivorsitzenden
arrangieren.
Die persönliche Freundschaft zwischen
Söder und Merz ist schnell beschrieben.
Es gibt sie nicht. Wie es
sich für zwei Politiker gehört, denen
die Fähigkeit zum verbalen Schien
Verlorener
Glanz
Zufriedenheit mit
der politischen Arbeit
von Markus Söder
60%
50
40
30
Jan.
Dez.
45%
S ◆Quelle: Infratest dimap
für ARD-DeutschlandTrend;
mehr als 1000 Befragte;
die statistische Ungenauigkeit
der Umfragen liegt
zwischen 2 und 3 Prozentpunkten
beintritt nachgesagt wird, gibt es stattdessen
unzählige Beweise ihrer gegenseitigen
Abneigung. »Seine Erfahrungen,
insbesondere aus den
Neunzigerjahren, die er damals als
aktiver Politiker hatte, die helfen uns
sicher«, hatte Söder im August zu
Protokoll gegeben. Friedrich Merz
hingegen hatte Söders mangelnde
Loyalität im Bundestagswahlkampf
immer wieder kritisiert. Zuletzt in
einem Newsletter nach der verlorenen
Wahl, als er den Umgang der
Schwesterparteien untereinander als
»stillos, respektlos und streckenweise
rüpelhaft« abgekanzelt hatte.
Die bayerische Landtagswahl, verkündete
der designierte CDU-Vorsitzende
Merz kurz nach der Mitgliederbefragung,
werde nur »gelingen,
wenn das Verhältnis zwischen CDU
und CSU sehr gut« sei. Es klang wie
eine Drohung. Von der sich Markus
Söder vermutlich nur deshalb nicht
provozieren ließ, weil Merz’ Prognose
richtig sein dürfte. Man werde so
»geschlossen und konsequent zusammenarbeiten,
wie es geht«, ließ Söder
nach der letzten CSU-Vorstandssitzung
knapp wissen.
Der neue CDU-Vorsitzende mit
seinem konservativen Profil stellt die
CSU strategisch vor Herausforderungen.
Auch um als Gegenpol zur Ampelregierung
in Berlin besser wirken
zu können, muss die CSU künftig die
Stammtische der Landgasthöfe wieder
stärker bedienen, statt sich am
hippen Zeitgeist der Großstädte zu
orientieren. Sie darf ihrem eigenen
Anspruch nach aber auch nicht wirken
wie eine Kopie des konservativen
Merz-Kurses.
Vergangene Woche pries Söder
seine Partei als »liberalkonservative,
bürgerliche Kraft der politischen Mitte«
an. Im Oktober 2019 hatten die
Christsozialen in einem Leitantrag
zur Parteireform das Ziel ausgegeben,
künftig »jünger, weiblicher, digitaler«
CSU-Chef Söder
Sven Hoppe / dpa
zu werden und den Klimaschutz als
eines der »großen Themen unserer
Zeit« zu ihrem Thema zu machen.
Diesen Anspruch scheint Söder vorerst
ruhen zu lassen.
Dafür spricht auch ein Fantasie-
Interview des CSU-Generalsekretärs
Markus Blume, das dieser mit dem
verstorbenen CSU-Vorsitzenden
Franz Josef Strauß geführt hat. Unter
der Überschrift »Das beste Grün ist
Weiß-Blau!« unterhalten sich Blume
und Strauß beim »himmlischen Interview«
im CSU-Magazin »Bayernkurier«
stolze vier Seiten lang. Das ist
streckenweise ganz witzig. Nur umfasst
Strauß’ Erfahrung als aktiver
Politiker noch nicht einmal die Neunzigerjahre.
Er starb 1988.
Die »Zeitenwende«, von der Markus
Söder im selben Blatt spricht,
klingt auch nicht besonders visionär:
»Es muss klar sein, dass wir die Partei
des gesunden Menschenverstandes
sind.« Man vertrete die »Interessen
der Mittelschicht und der Fleißigen«,
schreibt Söder. In den sozialen Netzwerken
posiert er auf Bildern auf fällig
oft neben Mitgliedern verschiedener
Handwerksinnungen, wenn er sich
zum Beispiel ein »Brot der Bayern«
überreichen lässt.
2022, erklärte Söder, würden keine
neuen Milliardenprogramme aufgestellt,
sondern es breche die »Zeit für
das Umsetzen« an. Was er damit
meint, darüber dürften sich seine Kabinettsmitglieder
über die Feiertage
den Kopf zerbrechen. Die mit Söders
Ankündigung verbundene Unterstellung,
sie seien die bisherige Legislaturperiode
über untätig gewesen,
fanden nicht alle motivierend. Ein
Landesminister hat seinen Ministerpräsidenten
so verstanden, dass Söder
sich künftig mehr zurückhalten
werde und nicht jede Woche ein neues
Ideenfeuerwerk abbrenne. Vermutlich
bleibt das Wunschdenken.
Derzeit testet Söder einen neuen
Slogan: »Leberkäs und Lasern« laute
das Lebensgefühl im Freistaat, sagte
er in seinen Weihnachtswünschen im
Landtag Anfang Dezember – nicht so
weit weg vom alten Slogan »Laptop
und Lederhose«. Ohne erkennbare
Ironie wiederholte er seine neue
»Grundidee« von Bayern letzte Woche
auf der Pressekonferenz nach
der Vorstandssitzung.
Vielleicht findet Söder irgendwann
ein wenig Muße, noch mal genauer
darüber nachzudenken. Leberkäse
schmeckt zwar gut, aber kaum einer
weiß, was wirklich drin ist. Will die
CSU Volkspartei bleiben, müsste ihr
inhaltlicher Anspruch ein anderer sein.
Anna Clauß
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
33
DEUTSCHLAND
»Es gilt der Satz:
Unsere Brandmauer
steht nach rechts
und nach links.«
Catarina dos Santos Firnhaber
»Wir müssen darüber
nachdenken, mit
der Union zusammenzuarbeiten.«
Gregor Gysi
Steffen Roth / DER SPIEGEL
»Auch wir haben ein
Problem mit unserem
Markenkern«
SPIEGEL-GESPRÄCH CDU gegen Linke, Jung gegen Alt – die Abgeordneten
Catarina dos Santos Firnhaber, 27, und Gregor Gysi, 73, über
Gemeinsamkeiten ihrer Parteien und die Frage, wie man junge
Menschen für die Politik gewinnen kann
SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber, Herr Gysi,
Sie beide trennen fast 50 Jahre Altersunterschied.
Daneben gehören Sie sehr verschiedenen
Parteien an. Aber es gibt auch eine
Überschneidung: Sie sind beide Rechtsanwälte.
Haben Sie doch mehr Dinge gemeinsam,
als man auf den ersten Blick erwarten würde?
Gysi: Der Anwaltsberuf verlangt eine bestimmte
Logik im Denken, die man nicht bereit ist
Das Gespräch führten der Redakteur Okan Bellikli und
die Redakteurin Sophie Garbe.
zu verlassen. Auch dann, wenn es eigenen
Überzeugungen widerspricht. Das ist uns
durch den beruflichen Hintergrund sicher gemein.
Das Zweite ist, dass unsere beiden Parteien
eine schwere Niederlage bei der Bundestagswahl
erlitten haben. Auch das ist eine
wichtige Gemeinsamkeit. Da ich Rechtsanwalt
bin, interessieren mich ohne hin immer Leute
und Einrichtungen mit Problemen. Zu uns Anwälten
kommen selten glückliche Menschen.
Dos Santos Firnhaber: Das trifft bei mir nicht
ganz zu. Ich habe als Rechtsanwältin vor
allem Unternehmensnachfolgen begleitet. Ich
hatte meistens glücklichere Klienten, wenn
es dann geklappt hat.
Gysi: Gut, dann ist das vielleicht keine Gemeinsamkeit.
Das Interesse an Problemen
zieht sich bei mir aber durch. Uli Hoeneß
interessierte mich erst, als es gegen ihn ein
Ermittlungsverfahren gab. Und die CDU interessierte
mich dann, als sie am Abgrund
stand (lacht). Aber meine eigene Partei steht
ja auch am Abgrund, also kann ich mich erst
mal mit ihr beschäftigen.
SPIEGEL: Jetzt, wo Sie sich für die CDU interessieren
– wollen Sie in der Opposition denn
auch mit ihr zusammenarbeiten?
Gysi: Tatsächlich gibt es ja drei Fraktionen in
der Opposition. Mit der AfD wird es aber
keine Zusammenarbeit geben, zumindest vonseiten
der Linken nicht.
Dos Santos Firnhaber: Da hat die Union ebenfalls
einen klaren Beschluss. Wir werden nicht
mit der AfD zusammenarbeiten. Die Wahrscheinlichkeit,
dass die AfD versuchen wird,
in der Opposition an die Union heranzurücken,
ist hoch. Dann hat uns die Ampel im
Parlament auch noch neben den Rechten
platziert. Sich da klar abzugrenzen – inhaltlich,
rhetorisch, im ganzen Stil – wird eine
wichtige Aufgabe für uns in den kommenden
vier Jahren sein.
Gysi: Das bedeutet aber natürlich schon,
dass wir neu darüber nachdenken müssen,
ob es nicht eine gewisse Zusammenarbeit
34 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
DEUTSCHLAND
zwischen Union und den Linken geben
muss. Keine überzogene, aber
eine gewisse. Dafür spricht, dass jetzt
die CDU-Abgeordneten in der Bezirksverordnetenversammlung
von
Lichtenberg einen Bürgermeister der
Linken gewählt haben. Das wäre früher
noch ein Skandal gewesen. Aber
ich glaube, dass sich das ein bisschen
ändert. Und es wird nach 31 Jahren
auch Zeit.
Dos Santos Firnhaber: Ich bin grundsätzlich
ein Fan davon, die Oppositionsarbeit
konstruktiv anzugehen.
Es ist ja auch nur demokratisch zu
sagen: Wir arbeiten zusammen, weil
es wichtig ist. Weil es für unser Land
wichtig ist, widmen wir uns manchen
Themen, wie Corona, eben gemeinsam.
Aber es gilt das Wort unseres
Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus:
Unsere Brandmauer steht nach
rechts und nach links.
SPIEGEL: Da wir über Gemeinsamkeiten
sprechen – CDU und Linke haben
bei der Bundestagswahl insbesondere
bei jungen Wählerinnen und Wählern
schlecht abgeschnitten. Warum?
Dos Santos Firnhaber: Es gibt keine
einfache Antwort auf diese Frage.
Gäbe es die, hätte ich das schon im
Wahlkampf vorgebracht und das
Schlimmste vielleicht verhindern
können. Es ist ein katastrophales Ergebnis,
dass die CDU nur zehn Prozent
der Erstwähler im Wahlkampf
überzeugt hat. Das ist für mich ein
riesiger Hilferuf, und dem will ich
mich auch in den kommenden vier
Jahren widmen.
SPIEGEL: Und wie?
Dos Santos Firnhaber: Ich bin mit 27
Jahren die jüngste Abgeordnete in der
Fraktion. Damit möchte ich ein Vorbild
sein, gerade für junge Menschen.
Ich bekomme schon jetzt auf Instagram
und anderen Kanälen viele
Nachrichten von jungen Frauen. Man
unterschätzt manchmal, was Vorbilder
auslösen können. Diese Rolle
möchte ich ganz bewusst nutzen und
an der Frage mitarbeiten, wie wir junge
Menschen erreichen. Die anderen
Parteien haben das mit ihren Kampagnen
im Wahlkampf offenbar besser
geschafft als wir. Dem müssen wir uns
jetzt stellen und überlegen: Welche
Gesichter sprechen zukünftig für uns?
Mit welchen Themen gehen wir raus?
Und wie schaffen wir es, junge Zielgruppen
wieder für die CDU zu begeistern?
SPIEGEL: Herr Gysi, wie schätzen Sie
das Ergebnis der Linken bei den Jungen
ein?
Gysi: Meine Partei hat mehrere Fehler
begangen. Der erste Fehler war, dass
wir leichtfertig unsere Ost-Identität
aufgegeben haben. Natürlich haben
wir jetzt mehr Mitglieder in den alten
Bundesländern als in den neuen.
Trotzdem dürfen wir den Osten nicht
der AfD überlassen. Der zweite Fehler
war, dass nicht mehr klar wurde:
Was ist eigentlich bei uns Mehrheitsmeinung
und was ist Minderheitsmeinung?
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Gysi: Es gibt Linke, die halten sich für
die besseren Menschen. Sind wir ja
auch ein bisschen, aber manche übertreiben
das. Die Auseinandersetzungen
bei uns waren deshalb katastrophal.
So hart, so unnachgiebig, so
intolerant. Es ist wichtig, dass man
unterschiedliche Positionen in einer
Partei haben kann. Aber wenn die
Wählerinnen und Wähler nicht mehr
wissen, wofür man steht, erreicht
man niemanden. Du musst dich an
eine Gruppe wenden, das haben die
Grünen vermocht. Die Grünen haben
ein Thema besetzt und damit
eine ganz bestimmte Klientel angesprochen.
Und wir haben für jeden
etwas gemacht, was aber nicht funktioniert.
Es gibt unterschiedliche Interessen
in der Gesellschaft, also
musst du dich für die Vertretung bestimmter
Interessen entscheiden. Wir
müssen uns auf bestimmte Themen
konzentrieren. Und das kann bei
Dos Santos Firnhaber,
Juristin, geboren in
Lissabon, wurde
in diesem Jahr erstmals
für die CDU in
den Bundestag gewählt.
Ihr Wahlkreis
liegt in Aachen.
Gysi,
Jurist, geboren in
Berlin, arbeitete in
der DDR als Rechtsanwalt.
1990 zog
er erstmals für die
PDS in den Bundestag
ein. Von 2005 bis
2015 war er Vorsitzender
der Linkenfraktion.
der Linken im Kern nur die soziale
Frage sein.
Dos Santos Firnhaber: Ich sehe da einige
Parallelen bei uns. Auch die
Union hat sich im Wahlkampf gestritten,
vor allem bei der Wahl des Kanzlerkandidaten.
Und streitende Parteien
werden nicht gewählt. Auch wir
hatten zudem ein Problem mit unserem
Markenkern. Dieses Sprichwort:
Ich wecke Sie um drei Uhr nachts,
und Sie müssen mir sagen, wofür die
CDU steht – das können viele wahrscheinlich
nicht mehr. Da müssen wir
dran arbeiten.
SPIEGEL: So weit also nur Gemeinsamkeiten
zwischen CDU und Linken.
Gysi: Ich sage immer, ich will keinen
Bundestag ohne CDU, weil es konservative
Interessen gibt, die ich nicht
vertrete. Also muss es ein anderer
machen. Die CDU kann aber natürlich
gerne kleiner werden.
Dos Santos Firnhaber: Da würde
ich jetzt mal nicht zustimmen, die
CDU muss natürlich wieder größer
werden!
SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,
in einem CDU-Fragebogen vor der
Wahl haben Sie geschrieben: »Wenn
wir weiter daran arbeiten, junge Menschen
abzuholen, ihre Sorgen ernst
zu nehmen und zeigen, dass ›konservativ
sein‹ weder rückwärtsgewandt
noch verstaubt ist, dann bin ich sicher,
dass wir mehr junge Menschen für
die Union gewinnen können.«
Dos Santos Firnhaber: Würde ich auch
heute noch so schreiben.
SPIEGEL: Für den CDU-Vorsitz sind
Friedrich Merz, Helge Braun und
Norbert Röttgen angetreten. Drei
Männer, keiner davon ein wirklich
neues Gesicht. Wirkt nicht genau so
etwas rückwärtsgewandt?
Dos Santos Firnhaber: Natürlich hätte
ich mir sehr gewünscht, dass eine
Frau für den CDU-Vorsitz kandidiert.
Aber die Kandidaten sind ja auch
nicht als Einzelpersonen angetreten,
sondern in Teams. Und in den Teams
Wir kennen uns aus.
Mit Baulücken und Vertragslücken.
Wenn’s ums Bauen geht, sind wir die Experten.
Seit 25 Jahren setzen wir uns für die Belange privater Bauherren
ein und bieten ihnen juristischen und technischen Rat.
Hier erfahren Sie mehr:
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DEUTSCHLAND
waren auch Frauen und jüngere Kandidaten
dabei.
SPIEGEL: Aber nur in der zweiten Reihe.
Dos Santos Firnhaber: Vergessen wir
mal nicht: Meine Partei hat in den
letzten 16 Jahren die Regierungschefin
gestellt. Aber natürlich stelle ich
mir in solchen Momenten die Frage:
Wird eine Frau als Generalsekretärin
nur deswegen aufgestellt, um sagen
zu können »Ich habe auch eine Frau
an der Seite«? Was genau ist die Rollenverteilung
in so einem Team? Aber
für mich ist das nicht gleich rückwärtsgewandt.
Es kommt auf die Vision
für die Zukunft der Partei an.
Rückwärtsgewandt wäre dann zu sagen:
Es bleibt alles, wie es ist, und wir
werden uns nicht bemühen, mehr
Frauen in die Partei zu bringen.
SPIEGEL: Herr Gysi, die Linke stellt
noch vor der CDU die zweitälteste
Fraktion nach der AfD. Warum wurden
nicht mehr Jüngere zur Bundestagswahl
aufgestellt?
Gysi: Man braucht eine richtige Mischung,
aber wir haben zu wenig Jüngere,
klar. Das liegt an einem Fehler,
über den ich mich immer ärgere – bei
allen Parteien: Wir haben lauter Listenaufstellungen
mit vorherigen Kungelrunden.
Da sagt die eine Truppe
dann: Wir wählen eure Leute, wenn
ihr unsere wählt, und so weiter. Da
braucht man den Landesparteitag
eigentlich gar nicht mehr durchzuführen.
Deshalb plädiere ich dafür,
dass die Wählerinnen und Wähler bei
der Zweitstimme für die Liste drei
Leute anzukreuzen haben, zum Beispiel
nehmen dann welche Listenplatz
18, 32 und 5.
SPIEGEL: Also ein sogenanntes Vorzugsstimmensystem.
Gysi: Dann würden junge Leute für
junge Leute stimmen, auch wenn die
auf Platz 18 stehen. Aber eine Partei
muss ihnen logischerweise auch selbst
bessere Chancen einräumen. Ohne
Junge hat eine Partei keine Zukunft.
Das Problem war aber zudem, dass
wir so schlecht abschnitten, dass nur
die vorderen Plätze in den Bundestag
einzogen.
SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,
Sie sind mit 27 Jahren die jüngste Abgeordnete
Ihrer Fraktion und die einzige
weibliche unter 30, während
zum Beispiel die Grünen gleich mehrere
Fraktionsmitglieder unter 25 haben.
Warum ist Jugend bei der Union
noch immer eher eine Ausnahmeerscheinung?
Dos Santos Firnhaber: Ich würde mich
jetzt nicht als krasse Ausnahmeerscheinung
sehen.
Gysi: Außerdem ist das doch schön,
eine Ausnahme zu sein.
Kopf an Kopf
Wem Erstwähler und
Erstwählerinnen ihre
Stimme bei der
Bundestagswahl
(2021) gegeben
haben, in Prozent
23 23
FDP
Grüne
15
SPD
10
CDU/CSU
8
Linke
S Quelle: infratest dimap;
an 100 fehlende Prozent:
»Sonstige«
6
AfD
»Wenn ich
Ihnen einen
Rat geben darf,
Frau dos Santos
Firnhaber.«
Gregor Gysi
»Ich geben
Ihnen gerne
einen Hinweis
zurück,
Herr Gysi.«
Catarina dos Santos
Firnhaber
Dos Santos Firnhaber: Wenn man es
so nennen will, dann bin ich gerne
jetzt die Ausnahme, um den Weg zu
ebnen. Denn ich möchte ja, dass noch
mehr junge Menschen nachkommen.
Ich bin aber keine Verfechterin davon,
zu sagen: Wir brauchen jetzt nur noch
Junge im Bundestag. Wir brauchen
auch Parlamentarier, bei denen nicht
die Büroleitung besser als der Abgeordnete
weiß, wie der Bundestag
funktioniert. Nur eine Mischung von
Ideen, Antrieben und Berufsalltagen
garantiert das Beste für das Land. Die
ist noch nicht gut genug, auch bei mir
in der Partei nicht.
SPIEGEL: Sie sind Mitglied in der
»Jungen Gruppe« von CDU und CSU,
in der sich Abgeordnete vernetzen,
die bei ihrer Wahl jünger als 35 Jahre
alt waren. Da gibt es nicht viele, oder?
Dos Santos Firnhaber: Wir sind jetzt
15, die Hälfte davon war schon vor
dieser Wahl im Bundestag. Natürlich
werden die auch älter, und wir müssen
sicherstellen, dass die Neuen hinterherkommen.
Aber dass ein 18-Jähriger
nicht unbedingt direkt ins Parlament
gewählt wird, kann ich mir
schon erklären. Viele wollen das in
dem Alter auch gar nicht. In meinem
Umfeld gibt es Leute, die sagen: Ich
könnte das nicht.
Gysi: Ich habe Kevin Kühnert geraten,
er solle nach zwei Legislaturperioden
– also acht Jahren – raus aus dem
Bundestag. Ich habe gesagt: Es ist
ganz egal, was du dann machst, nach
weiteren acht Jahren kannst du wiederkommen.
Wenn du diese Pause
nicht einlegst, dann glaubst du nach
zehn Jahren, dass die Drucksachen
des Bundestags das wahre Leben widerspiegeln,
und nach noch mal fünf
Jahren siehst du dann selbst aus wie
eine Drucksache. Da lachte er.
SPIEGEL: Und hat er Ihren Rat angenommen?
Gysi: Er meinte, er werde sich das
überlegen. Aber er wird natürlich
nicht auf mich hören, obwohl er damals
noch genickt hat. Ich weiß nicht,
ob er die Kraft dazu hat. Aber ich
sage das aus eigener Erfahrung. Meine
Stärke bestand darin, dass ich erst
mit über 40 ins Parlament kam. Das
heißt, dass ich bis dahin schon 20 Jahre
lang einen Beruf ausgeübt hatte.
Diese Erfahrung nutze ich bis heute.
Dos Santos Firnhaber: Für mich war
immer wichtig: Ich möchte eine abgeschlossene
Berufsausbildung haben,
bevor ich ein politisches Mandat annehme.
Mitglied des Bundestages zu
sein ist kein Automatismus. Es gibt
tausend Möglichkeiten, nach vier Jahren
wieder rauszufliegen. Daher war
da dieses Bewusstsein »Ich bin nicht
auf die Politik angewiesen, um meinen
Lebensunterhalt zu bestreiten«
etwas, das mich sehr geprägt hat.
Gysi: Das halte auch ich für ganz
wichtig: dass man jederzeit in einen
anderen Beruf zurückkehren kann.
Sonst wird man absolut abhängig.
Wenn ich nichts anderes kann als Politik
und ab der Jugend im Bundestag
sitze, bin ich ja darauf angewiesen.
Meine eigene Meinung wird dann immer
kleiner. Das ist gar nicht sinnvoll.
SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass Ihr
Alter Ihren Blick auf die Politik beeinflusst?
Dos Santos Firnhaber: Natürlich. Ich
habe noch keine Kinder, betrachte
also Familienpolitik zum Beispiel aus
einem anderen Blickwinkel als jemand,
der fünf Kinder hat. Trotzdem
vertrete ich selbstverständlich auch
Menschen, die Kinder haben. Denn
das heißt ja nicht, dass ich kein Bewusstsein
für so etwas habe, sondern
eben nur eine andere Perspektive.
Und das trifft sicher bei jedem Politikfeld
zu, dass wir durch unsere Hintergründe
verschiedene Perspektiven
mitbringen.
Gysi: Wenn ich Ihnen dazu einen Rat
geben darf, Frau dos Santos Firnhaber:
Man muss auch lernen, zu Einrichtungen
mit verschiedenen Perspektiven
zu gehen. Ich spreche beispielsweise
sowohl vor Immobilienmaklern
als auch vor dem Mieterbund.
Egal, welche Sichten ich teile,
ich höre sie mir an. Ich habe festgestellt,
das ist wichtiger, als ich ursprünglich
dachte.
SPIEGEL: Wieso?
Gysi: Man glaubt immer, die Probleme
zu kennen, und dann kommen die
Leute mit Sichten, auf die man gar
nicht gekommen ist. Und es gibt Politikerinnen
und Politiker, die sich immerzu
in nur einem Kreis aufhalten
und nur noch diesem Kreis gefallen
wollen. Die denken dann nicht mehr
an die Breite der Wählerinnen und
Wähler.
Dos Santos Firnhaber: Ich gebe Ihnen
gerne einen Hinweis zurück, Herr
Gysi: Schützenfeste und Kegelklubs
sind auch ein sehr realistischer Spiegel
der Gesellschaft, gerade im ländlichen
Raum.
Gysi: Ich ging mal mit meiner Tochter
kegeln, sie ist inzwischen Mitte zwanzig.
Und ich ärgerte mich. Denn in
der ersten Runde war ich besser, und
dann überholte sie mich, weil meine
Kraft nachließ – während sie, jung,
da immer noch die Kugeln problemlos
anschob.
SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,
Herr Gysi, wir danken Ihnen für dieses
Gespräch.
n
36 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
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DEUTSCHLAND
Bis zur letzten Ähre
ENERGIE Eckardt Heukamp will seinen Bauernhof nicht dem
Kohletagebau opfern. Aktivistinnen und Aktivisten kämpfen für ihn,
selbst Greta Thunberg war schon da. Denn seine
Äcker sind zum Symbol im Streit um die Klimapolitik geworden.
D
er Bauer bewaffnet sich mit einem
Schraubenzieher, so leicht gibt er nicht
auf. Eckardt Heukamp steht an einer
Werkbank, vor ihm liegt eine kaputte Personenwaage.
»Doofes Ding«, sagt er und fummelt
mit dem Schraubenzieher darin rum. Eine
Feder springt heraus, eine Mutter fällt zu Boden.
Heukamp braucht die Waage, er würde
gern ein paar Kilogramm abnehmen. Er spielt
Tennis im Verein, im zweiten Satz geht ihm
manchmal die Puste aus. Aber die Waage kann
er wohl nicht mehr retten. »Gerade erst gekauft
und schon Schrott«, sagt er. »Mannomann.«
Eckardt Heukamp, 57, Landwirt aus Lützerath
in Nordrhein-Westfalen, kann sich über
die kleinen Ungerechtigkeiten fast genauso
aufregen wie über die großen. Er kämpft vor
Gericht um seinen Bauernhof. Es ist ein
Rechtsstreit, der nicht mehr nur Menschen
im Rheinischen Braunkohlerevier bewegt,
sondern auch die Bundesregierung. Es geht
um die Fragen, wie viel Braunkohle Deutschland
noch braucht und vor allem: wo man sie
noch aus dem Boden holen sollte.
Gut möglich, dass Heukamp bald seinen
Hof und sein Zuhause verliert. Möglich ist
auch, dass das Gericht für ihn entscheidet und
nicht im Sinne des Energiekonzerns RWE.
Das würde Heukamp wohl endgültig zu einer
Legende der Klimabewegung machen, obwohl
das nie sein Plan war.
Heukamp packt den Schraubenzieher weg
und setzt sich an einen Holztisch im Innenhof
seines Gehöfts. Es ist ein kühler Dezembermorgen,
überall auf seinem Hof stehen Fahrzeuge
herum, hier vier Traktoren, dort ein
Mähdrescher, dazwischen mehrere Pkw mit
platten Reifen oder demolierten Türen. Die
Motorhaube seines BMW-Cabrios steht offen.
Heukamp ist ein Tüftler, ein Schrauber. Er
hat inzwischen genug Zeit, Sachen zu reparieren.
Auf seinen Feldern ist der Landwirt immer
seltener, im Herbst war er zuletzt dort, um zu
ernten. Von den einst rund 100 Hektar Ackerfläche
seien ihm noch 16,75 geblieben, in einer
Ortschaft, die mehrere Kilometer von Lützerath
entfernt liege, sagt er. Die Felder rund um
seinen Bauernhof habe er fast komplett an
RWE abtreten müssen. Wo Heukamp früher
mal Kartoffeln, Rüben und Mais säte, fressen
sich jetzt die Braunkohlebagger durch den Boden.
Ihre Schaufelräder kommen seinem Hof
jeden Tag ein Stückchen näher. Er oder die
Schaufeln – wer bleibt am Ende übrig?
Lützerath liegt südlich von Mönchengladbach,
die Ortschaft grenzt direkt an den Tagebau
Garzweiler. Hier, im Rheinischen Revier,
fördert RWE jedes Jahr rund 100 Millionen
Tonnen Braunkohle, um daraus vor allem
Strom zu erzeugen.
Damit die Bagger an die Kohle unter Lützerath
kommen, werden die Einwohner des
Orts seit 2006 umgesiedelt. Knapp 100 Menschen
sind seitdem fortgezogen. Sie wurden
von RWE entschädigt, viele haben ein neues
Leben in der Nähe von Erkelenz begonnen,
ungefähr zehn Kilometer von Lützerath entfernt.
Nur Heukamp blieb zurück, als Einziger.
Vermisst er seine Nachbarn? Er habe sowieso
nie viel Kontakt zu ihnen gehabt, jetzt
seien sie »halt weg«, sagt er. »Ich bin ein Einzelgänger,
das war ich schon immer.«
Teile seines Hofs wurden 1763 gebaut und
stehen unter Denkmalschutz. Heukamp
wuchs in Lützerath auf, wurde Landwirt. Er
führt den Bauernhof in der vierten Generation.
Er hat Geschwister, doch auch die sind
längst weggezogen.
An seinem Tisch verschränkt Heukamp die
Arme. »Ich sehe es einfach nicht ein«, sagt er.
»Hier habe ich meine Ruhe, kann Kaffee trinken,
abends grillen. Warum soll ich weg? Vielleicht
stehe ich danach schlechter da als jetzt,
und das alles, damit RWE Gewinne machen
kann?« Er erzählt, wie in den vergangenen Jahren
die anderen Dörfer in der Gegend umgesiedelt
wurden. Wie die Kirche zerstört wurde,
in der er seine Firmung hatte. Wie der Friedhof
verschwand, auf dem seine Eltern begraben
Lützerath
S Karte: OpenStreetMap
Mönchengladbach
Tagebau
Garzweiler
Düsseldorf
Rhein
10 km
waren. Den Grabstein hatte Heukamp noch
gerettet, er lehnt jetzt an seiner Hauswand.
»Es lohnt sich, für seine Heimat zu kämpfen«,
sagt er. Es ist ein langer Kampf geworden.
Seit sieben Jahren verhandeln RWE und
Heukamp, es gab immer wieder Treffen, Termine
mit Gutachtern und Anwälten. Für die
Felder, die Heukamp bereits abtreten musste,
bekam er Entschädigungen. Seinen Hof wollte
er bislang nicht hergeben.
Heukamp habe »einen Dickkopf und ein
ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit«, sagt
seine Anwältin Roda Verheyen. Er sei »eine
Besonderheit« und durchaus anstrengend.
Alles laufe übers Telefon oder per Post, denn
E-Mails schreibe Heukamp nicht.
Geht es nach RWE, wird Lützerath bis
Ende 2022 als Ortschaft verschwunden sein.
So sieht es auch die Leitentscheidung der
nordrhein-westfälischen Landesregierung vor.
Das, was der Konzern vorhat, ist längst genehmigt.
Doch ist alles, was rechtens ist, auch
richtig?
Deutschland will aus der Kohleverstromung
aussteigen, so hat es noch die alte Bundesregierung
beschlossen. Und im Koalitionsvertrag
der Ampel steht, dass die neue Bundesregierung
bestimmte Dörfer im Rheinischen Revier
erhalten wolle. Es geht um Ortschaften, die
laut RWE bereits zu rund 70 Prozent umgesiedelt
sind. Doch Lützerath, so schien es bislang,
wird bald Geschichte sein.
Fragt man bei RWE nach Heukamp, hört
man, es habe »eine Vielzahl von Gesprächen
mit konkreten Angeboten« gegeben. Stimmt,
sagt Heukamp, »aber die Angebote waren
alle untauglich für mich«. Er zeigt auf den
ehemaligen Kuhstall. Vor ein paar Jahren
habe er das Dach erneuern lassen, sagt er, für
10 000 Euro. RWE habe ihm für das Gebäude
insgesamt 37 000 Euro geboten. Lächerlich,
findet der Bauer. Er sagt, ihm seien Felder
in Brandenburg angeboten worden, bei
Frankfurt (Oder). »Was soll ich damit?«
Heukamp schwärmt vom fruchtbaren
Ackerland rund um Lützerath, von »Lössschichten
und Bördeböden«, die es eben nicht
überall gebe und mit denen man auch in trockenen
Jahren eine ordentliche Ernte einfahren
könne.
Irgendwann hatte RWE genug von dem
renitenten Bauern und seinem Faible für Bördeböden.
Seitdem geht es um die Eigenheiten
des Bergrechts, der Konzern und der Bauer
streiten über »Grundabtretungsbeschlüsse«
und »vorzeitige Besitzeinweisungen«. Es ist
kompliziert geworden, Behörden und Gerichte
befassen sich mit der Angelegenheit, es gibt
mehrere Klagen und laufende Verfahren.
Wäre es ein Tennisspiel, könnte man sagen:
Heukamp hat den ersten Satz verloren und
liegt im zweiten zurück. Er ist dennoch der
Meinung, dass seine Chancen 50:50 stünden.
Einen Großkonzern, das Bergrecht und Gerichte
mag er gegen sich haben. Richtig ist aber
auch, dass Heukamp nicht mehr allein kämpft.
Er steht von seinem Holztisch auf, läuft über
seinen Hof und auf die kleine Wiese dahinter.
38 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
DEUTSCHLAND
Henning Kaiser / picture alliance / dpa
Dort stehen Dutzende Zelte, in einem
angrenzenden Wäldchen werden
Baumhäuser gezimmert. Ungefähr 70
Klimaaktivisten leben zurzeit hinter
Heukamps Hof, er hat ihnen seine
Wiese überlassen und zwei Häuser
vermietet, die er neben seinem Hof
noch besitzt. In dem Camp trifft man
Menschen in Wanderstiefeln und
Wollpullovern, die gerade zusammen
Mittagessen. »Hi, Eckardt«, rufen sie,
als sie Heukamp sehen. Manche von
ihnen waren in den vergangenen Jahren
schon im Hambacher Forst unterwegs,
andere sind neu zur Anti-Kohle-
Bewegung hinzugestoßen.
Die Aktivistinnen und Aktivisten
haben Heukamps Einsatz gegen RWE
politisch aufgeladen, Lützerath und
sein letzter Bauer sind für sie zum
Symbol geworden. Über dem Eingang
zu Heukamps Hof hängt ein gelbes
Transparent: »1,5°C heißt: Lützerath
bleibt!« Für die Aktivisten ist das
Dörfchen der Praxistest für den Pariser
Vertrag. Wenn es die Politik mit
dem 1,5-Grad-Ziel ernst meint, dürfe
Lützerath nicht weggebaggert werden,
so sehen sie es.
vor die Gerichte habe bislang knapp
90 000 Euro gekostet, so erzählt es
zumindest Heukamp. Einen Teil davon
habe er über Spenden abdecken
können. Geld, das von den Aktivisten
akquiriert worden sei. Im Gegenzug
lässt sich Heukamp von ihnen zur
Ikone machen. Man könnte auch sagen,
er lässt sich instrumentalisieren.
Kurz hinter dem Camp beginnt das
Abbaufeld. Heukamp blickt auf die
Bagger, sie wühlen sich durch die Felder,
die einst ihm gehörten. Man sieht
Männer in gelben Westen. Es sind
Sicherheitsleute von RWE, sie sollen
verhindern, dass Aktivisten auf das
Gelände kommen und Maschinen besetzen.
»Die Aufpasser«, sagt Heukamp
und lacht.
Er wirkt nicht verbittert, eher
gleichmütig. Falls er vor Gericht recht
bekommt, hat er zwar vermutlich
vorerst seinen Hof gerettet. Doch wie
es für ihn als Landwirt weitergeht,
woher er neues Ackerland bekommt,
wisse er auch noch nicht, sagt er. Und
falls er vor Gericht verliert? »Es ist
klar, dass man das Bäuerchen nicht
mehr so einfach vom Hof tragen
kann«, sagt er. Sein Gehöft, sein Dorf
seien »ein Faustpfand« geworden.
Erst war Heukamp ein Mann, der
keine Lust hatte, sich verscheuchen
zu lassen, ein Neinsager aus Prinzip.
Dann kamen die Aktivisten, die Bedeutung
und die Popularität, die ihm
schmeicheln. Jetzt merkt Heukamp,
dass er Macht hat, dass der Preis für
seinen Hof gestiegen ist. Heukamp
Auf Twitter und Instagram posten Landwirt Heukamp, erzählt, manche der Polizisten, die
sie mehrmals täglich Fotos und Parolen
aus dem Camp, es gibt Presse-
Thunberg, Braun
ihn für seine Standhaftigkeit loben.
Klimaschützerinnen am Tagebau im Einsatz seien, würden
Luisa Neubauer,
mitteilungen und ein Videoblog. kohletagebau nahe Bei RWE heißt es, man sei weiter
Heukamp ist zum Zentrum einer PR- Lützerath: Praxistest für »eine einvernehmliche Lösung«
Kampagne geworden, die der eines für den Pariser Vertrag offen. Heukamp sagt, eine Einigung
Dax-Konzerns kaum nachsteht. Im
September schaute Greta Thunberg
vorbei, im Oktober demonstrierten
in Lützerath mehrere Tausend Menschen
gegen den Kohleabbau. Dem
Großteil der Aktivisten reicht es, in
Menschenketten zu stehen. Andere
stürmen immer wieder in den Tagebau,
besetzen Bagger und Gleise.
Was hält er davon, dass ihn die Aktivisten
zum Helden machen? »Ich bin
da nicht scharf drauf, aber ich brauche
die Öffentlichkeit«, sagt Heukamp. Ist
er selbst Aktivist? »Nein, mir geht es
um meinen Hof. Ich bin aber auch
überzeugt, dass der Wandel nötig ist.
Es gibt genügend Argumente gegen
die Kohle.« Was sagt er dazu, dass
manche Aktivisten Straftaten begehen?
»Ich finde das nicht gut, es bringt
uns nichts. Das sage ich denen auch.«
Er und die Aktivisten sind eine
sei »nicht ausgeschlossen«, das Angebot
müsse »akzeptabel« sein. Vielleicht
ist es am Ende wie so oft nur
eine Frage des Geldes. Doch was würden
die Aktivisten sagen, wenn er sich
doch noch kaufen ließe?
»Ich weiß nicht, ob ich an seiner
Stelle diesen Stress ertragen würde«,
sagt Anwältin Verheyen. »Er bekommt
von allen Seiten Druck. RWE
möchte, dass er aufgibt. Die Aktivisten
wollen, dass er weiterkämpft. Die
Journalisten wollen Interviews. Er
selbst würde wahrscheinlich einfach
gerne mal wieder Landwirt sein.«
Eckardt Heukamp deutet vom
Tagebaurand auf ein Stück Acker.
Obwohl es inzwischen RWE gehöre,
habe er dort kürzlich Weizen eingesät,
sagt er. »Auf Verdacht.« Sollten
die Bagger nicht schnell genug sein,
könne er ihn im Sommer ernten.
Symbiose eingegangen. Sein Gang Lukas Eberle n
Dominik Asbach / laif
Jochen Tack / picture alliance / dpa
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
39
DEUTSCHLAND
Der Weg
zum Geld
SUBVENTIONEN Wollte das Staatstheater
Darmstadt die Bundesagentur für Arbeit
um fast eine Million Euro erleichtern? Staatsanwälte
ermitteln, ihr Verdacht: Betrug.
I
m Märchen »Aladin und die
Wunderlampe« ist der Weg zum
großen Geld einfach: Kurz an
einem Öllämpchen reiben, schon ist
man alle materiellen Sorgen los.
Das Staatstheater Darmstadt, wo
das Stück zu Weihnachten noch auf
dem Spielplan stand, hat es im echten
Leben schwerer. Das landeseigene
Opern- und Schauspielhaus wird seit
Jahren von Krisen und roten Zahlen
geplagt, trotz hoher Zuschüsse der
Stadt Darmstadt und des Landes Hessen.
2019 musste es sogar eine Haushaltssperre
verhängen.
Im Coronajahr 2021 ersannen die
Geschäftsführung und der Intendant
einen Plan, der beinahe so wunderbar
erschien wie Aladins Zauber – der
aber nun die Darmstädter Staatsanwaltschaft
ins Spiel brachte. Frisches
Geld, so die Idee, könne doch die
Bundesagentur für Arbeit (BA) liefern.
Dort waren Milliarden an Kurzarbeitergeld
zu verteilen, um die Folgen
der Pandemie abzufedern.
Die Staatsbühne beantragte im Herbst
Kurzarbeitergeld für den Monat Juli.
516 Beschäftigte seien in diesem Monat
von Folgen der Krise betroffen,
heißt es im Antragsformular. Insgesamt
seien 924 404 Euro und 76 Cent
zu erstatten – inklusive Erstattung
von Sozialversicherungsbeiträgen.
Verwertbare Urlaubsansprüche, mit
denen die Kurzarbeit im Theater vermieden
werden könnte, gebe es nicht
mehr.
In Wirklichkeit, so berichten Theaterleute,
hätten sich viele Beschäftigte
im Juli sowieso in ihren Jahresurlaub
verabschieden wollen. Vom
4. Juli bis 17. August sollten ursprünglich
Theaterferien sein, in denen der
Spiel- und Probebetrieb ruht. Der
Zeitraum war schon 2020 verkündet
worden. Hinzu kam: Wegen der niedrigen
Inzidenzwerte waren die Beschränkungen
in Hessen Ende Juni
Intendant Wiegand,
Gelände vor
dem Staatstheater
Darmstadt: Von
roten Zahlen geplagt
stark gelockert worden. Die Pandemie
hätte den Theaterbetrieb kaum
noch einschränken müssen. Intendant
Karsten Wiegand wies diesen Einwand
gegenüber der Arbeitsagentur
zurück: »Ein Staatstheater kann nicht
so kurzfristig auf den Wegfall der Coronabedingungen
reagieren«, schrieben
er und eine Vizedirektorin. Ein
Haus mit mehr als 500 Beschäftigten
müsse erst »hochgefahren« werden.
Tatsächlich stand das Theater im
Sommer noch vor einem anderen
Problem. Es hatte die Pandemiezeit
für eine umfangreiche Sanierung nutzen
wollen, doch die Arbeiten kamen
nicht wie geplant voran. Mitte Juni
alarmierte eine Baumanagerin den
Intendanten über massive Verzögerungen
bis in den Herbst.
Die Theaterleitung zeigte sich »geschockt«
von den »Hiobsbotschaften«,
wie sie kurz darauf in einer
Nachricht an die hessische Kunstministerin
Angela Dorn (Grüne) schrieb.
Wegen der Baumaßnahmen sei der
Proben-, Arbeits- und Spielbetrieb
nicht wie geplant ab Mitte August
möglich, erfuhr die Ministerin. Die
Gründe dafür seien, neben Lieferverzögerungen
und Materialknappheit,
zum Teil in der Landesverwaltung
selbst zu suchen, nämlich »späte Vergaben
im Zuge der Freigabe des Landeshaushalts
im Februar dieses Jahres
und ähnliches«.
In derselben E-Mail lieferten der
Intendant und seine Geschäftsführer
Rolf Oeser
Dietmar Scherf / ullstein bild
der Ministerin eine Lösung: Man werde
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Theaters ab Anfang Juli »sehr
weitgehend in Kurzarbeit schicken«,
schrieben die Theaterleute unter anderem.
Die Theaterferien würden einfach
um einen Monat verschoben, in
Abstimmung mit dem Personalrat.
Dieser stimmte zwar zu, aber das
Gremium plagten offenbar Bedenken.
Eine Fachanwältin für Arbeitsrecht,
die der Personalrat einschaltete,
warnte: Weder die übliche Sommerpause
noch die technischen Arbeiten
rechtfertigten den Bezug von Kurzarbeitergeld.
Es handle sich vielmehr
um eine »vermeidbare Schließung
ausschließlich aus betriebsorganisatorischen
Gründen«.
So ähnlich sehen es auch Sachbearbeiter
der Bundesagentur. Nachdem
sie von Theater-Insidern informiert
worden waren, stoppten sie vorläufig
die Auszahlung. Ein Anspruch auf
Kurzarbeitergeld bestehe nur, wenn
der Ausfall »nicht auf branchenüblichen,
betriebsüblichen oder saisonbedingten
Gründen« beruht, so eine
Sprecherin der Agentur. Wer dazu
falsche Angaben mache, trage ein
»großes Risiko«.
Mehr als 250 Fälle habe die BA bis
Ende Oktober an Staatsanwaltschaften
und Polizei weitergeleitet. Auch
der mutmaßliche Staatstheater-Fall
landete dort: Die Staatsanwaltschaft
Darmstadt hat nach einer Vorprüfung
ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts
auf Subventionsbetrug eingeleitet,
bestätigt ein Sprecher.
Das Theater ließ auf SPIEGEL-Anfrage
eine Anwaltskanzlei erklären,
der Vorwurf entbehre »jeder Grundlage«.
Die Bauverzögerungen seien
keine betriebsorganisatorischen Versäumnisse,
sondern hätten, wie etwa
die Rohstoffknappheit, mit Corona
zu tun. Der Antrag sei »nach bestem
Wissen und Gewissen geprüft« worden
und gerechtfertigt. Es gebe auch
keinen kausalen Zusammenhang
zwischen den Umbauverzögerungen
und dem Antrag auf Kurzarbeitergeld;
die Verlagerung der Resturlaubsbestände
sei im Antrag schon
berücksichtigt gewesen.
Ministerin Dorn wiederum teilte
mit, ihr Haus habe damit so gut wie
nichts zu tun: Es sei »in die konkrete
Antragstellung auf Kurzarbeitergeld
nicht einbezogen« gewesen, so ein
Sprecher. Überdies handle es sich um
ein laufendes Verfahren der BA, das
noch nicht entschieden sei.
Im neuen Jahr steht »Aladin«, zumindest
bisher, nicht mehr auf dem
Spielplan des Theaters.
Matthias Bartsch
n
40 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
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DEUTSCHLAND
Stadtansicht von Erbach 2012
Stadtmarketing Erbach / dpa
»Gestapo go home«
AGGRESSIONEN In einem idyllischen Städtchen müssen zwei Cafés schließen, weil Corona-Auflagen
missachtet wurden. Kurz darauf beschimpfen »Querdenker«
Polizisten, der Bürgermeister und seine Familie werden bedroht. Was ist nur los im Land?
E
s ist Montagvormittag, der 29. November,
als in einer Telegram-Gruppe dazu
aufgerufen wird, den Bürgermeister der
hessischen Kleinstadt Erbach, Peter Traub,
und seine Familie zu bedrohen.
Jörg L.: »Jetzt sollte es an der Zeit sein,
dem Traub die Stirn zu bieten. So nicht! Wie
auch immer man es macht, er muss den Druck
spüren.«
»Wie?«
Jörg L.: »Wie ich sagte: Demo vor seiner
Haustür – er muss bedrängt werden. Die Familie
fühlt sich dann nicht mehr sicher. Auch
mal die eine oder andere laute Drohung.«
»Yeees!«
Jörg L.: »Der darf keine ruhige Minute
mehr haben. Das Haus muss im Prinzip tagtäglich
›belagert‹ sein. Natürlich vorher nicht
anmelden.«
Ein Abgeordneter des Stadtrats habe ihm
am Abend die Nachrichten auf seinem Handy
gezeigt, erzählt Traub. »Da wurde mir schon
mulmig«, sagt der Bürgermeister. Er benachrichtigte
die Polizei.
Peter Traub, 65, ist seit drei Jahren Bürgermeister
von Erbach, einem Städtchen im
Odenwald. Knapp 14 000 Menschen leben
hier, vier Polizisten gibt es im Ort. In normalen
Zeiten ist Erbach für sein Schloss und das
Deutsche Elfenbeinmuseum darin bekannt.
In diesen Tagen ist Erbach noch etwas anderes:
eine Art Wallfahrtsort für »Querdenker«. Und
ein Menetekel für das ganze Land. Denn in
dem Städtchen zeigt sich, wie tief die Spaltung
der Gesellschaft schon ist, selbst in der Idylle.
Der inzwischen offen rechtsextreme Attila
Hildmann hat die Stadt auf Telegram erwähnt,
und auch der Mediziner Bodo Schiffmann,
auf den sich viele Coronaleugner berufen,
teilte die Nachricht aus Erbach. Als
Politiker Traub
Dirk Zengel / pics4news.de
wäre hier ein Hort des Widerstands gegen ein
Unrechtsregime.
Politiker und Verfassungsschützer warnen
seit Längerem vor einer Radikalisierung der
»Querdenken«-Szene. Sie wird inzwischen
vom Verfassungsschutz beobachtet. Im September
erschoss ein Mann einen Angestellten
einer Tankstelle in Idar-Oberstein, weil der
ihn gebeten hatte, eine Maske zu tragen.
So weit ist es in Erbach nicht gekommen.
Aber die Geschichte des Städtchens ist die
einer Eskalation. Sie endet mit dem Aufruf,
einen Bürgermeister und seine Familie einzuschüchtern.
Und beginnt bei einem Bäcker.
Alexander Knierim betreibt im Ort zwei
Bäckereien mit Cafés. Auf seiner Website wirbt
er mit dem guten alten Handwerk, alle Produkte
werden »in der Backstube direkt vor Ort«
hergestellt. Was es lange nicht in der Bäckerei
von Knierim gab: Hygienekonzept, Masken
oder die Bereitschaft, die Regeln zu achten.
In den eigenen Geschäften habe der Bäcker
nie Maske getragen, sagt Traub, sein Personal
ebenso wenig. Die Inhaber anderer Geschäfte
hätten sich beschwert, nach dem Motto:
Wie kann es sein, dass wir uns an die Regeln
halten müssen und der nicht?
Ab Anfang Oktober kontrolliert das Gesundheitsamt
immer wieder das Café, führt
42 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
o2.de/netz
Eine Wiederholung,
die nie langweilig wird
wurde im connect Netztest zum zweiten Mal
in Folge mit sehr gut ausgezeichnet.
* connect Mobilfunk und 5G-Netztest, Heft 1/2022: „sehr gut“ (874 Punkte); insgesamt wurden vergeben: 3x „sehr gut“ (944, 913 und 874 Punkte).
Telefónica Germany GmbH & Co. OHG, Georg-Brauchle-Ring 50, 80992 München, WEEE-Reg.-Nr. DE 10160685
DEUTSCHLAND
Gespräche mit Knierim. Man macht ihm
klar, dass seine Cafés geschlossen würden,
sollte er so weitermachen. »Er hat alle Hinweise
demonstrativ provokant ignoriert«, sagt
Traub.
Knierim wehrt sich schriftlich gegen die
Maßnahmen. Er zweifelt die Autorität der
Polizei und des Gesundheitsamts an und fordert
sie auf, ihre »Legitimation« nachzuweisen.
In einem Schreiben schwurbelt er etwas
von »Hochverrat«.
»Der Mann bedient sich klassischer Reichsbürger-Gedanken«,
sagt Bürgermeister Traub.
»Er stellt die Legitimation der Institutionen
grundsätzlich infrage.« Der SPIEGEL hat
Knierim um eine Stellungnahme gebeten,
allerdings keine Antwort erhalten.
Am 25. November handelt das Gesundheitsamt.
Gegen Mittag wird Knierim verboten,
Waren zu verkaufen und das Café
zu betreiben. Die Tür wird mit einem
rot-weißen Flatterband gesperrt, Stadtpolizisten
stellen sich vor den Eingang. Erst
wenn Knierim ein Hygienekonzept vorlege
und sich an die Corona-Auflagen halte, dürfe
er wieder öffnen.
Die Nachricht verbreitet sich in der »Querdenken«-Szene
– per Telegram. Das Café sei
geschlossen worden, »weil es sich mit dem
System angelegt hat und Menschen nicht diskriminiert
hat«, heißt es in einem »Querdenker«-Kanal.
Diese Nachricht teilt der in der
Szene bekannte Arzt Bodo Schiffmann in
seiner Telegram-Gruppe, die 156 000 Menschen
abonniert haben. Auch ein Foto des
Cafés wird dort gezeigt.
In der Telegram-Gruppe »FREEodw« tummeln
sich Erbachs Impfskeptiker und Gegner
der Coronamaßnahmen. Etwa 200 Mitglieder
hat die Gruppe zu dem Zeitpunkt. Auch dort
veröffentlicht jemand ein Bild von der Schließung.
»Erinnert das nicht langsam doch an
gewisse Zeiten?«, fragt eine Nutzerin.
Im Kanal wird eine »Spontan-Versammlung«
angekündigt. »Solidarität mit unserem
Bäcker vom ›Café Zeitlos‹!! Heute um 18 Uhr.«
Ein Bild der Polizisten, die vor dem Café stehen,
kommentiert ein Nutzer mit den Worten:
»Da sind sie groß die SS-Söldner vom Matiaske.«
Frank Matiaske ist der Landrat des
Odenwaldkreises.
Ein Nutzer namens »Alex K.«, womöglich
der Betreiber des Cafés, bedankt sich für die
Unterstützung: »ihr seid Spitze, vielen Dank
dafür«, schreibt er, garniert mit drei Kuss-
Smileys. In den nächsten Stunden kommentieren
diverse Nutzerinnen und Nutzer in der
Gruppe die Ereignisse. »Das ist Faschismus
pur«, schreibt einer. Ein anderer: »Gestapo
go home«.
Noch am selben Abend versammeln sich
vor dem Café Demonstrantinnen und
Demonstranten. Die Menschen betreten das
Café, Bilder auf Twitter zeigen, wie sie ohne
Maske darin sitzen, an der Tür hängt ein Zettel:
» … wenn Unrecht zu Recht wird – wird
Widerstand zur Pflicht!!! … Solidarität für
Alex«. Auf Videos sind Menschen zu sehen,
»Es könnte
Trittbrett fahrer geben,
die sich
motiviert fühlen.«
die vor dem Café stehen und im Licht der
Polizeiwagen singen: »Ohne Knüppel, ohne
Helme seid ihr nichts.«
Am kommenden Tag kehren Leute des Gesundheitsamts
zurück zum Café und schließen
es mit einem amtlichen Siegel.
Am Vormittag des 29. November teilt
eine Nutzerin ein Foto eines Beitrags der
Lokalzeitung »Odenwälder Echo« zur
Schließung. Darin wird Bürgermeister Traub
zitiert: »Ich bedauere die jüngsten Entwicklungen.«
Er verweist auch darauf, dass man
sich an die Regeln halten müsse. Die Reaktion
in der Telegram-Gruppe ist deutlich.
Eine Nutzerin reagiert mit acht Mittelfinger-
Emojis und schreibt: »Fascholaden«. Dann
tippt Jörg L. seine Drohung in die Gruppe,
Traub und seine Familie sollen bedrängt
werden.
Einige in der Gruppe sind ver ärgert über
diese Eskalation. »Die Familie von dem
Mann hat damit nichts zu tun«, schreibt einer.
Jörg L. antwortet: »Geh Tanzen und werfe
mit Gänseblümchen – davon ist das Regime
bestimmt beeindruckt und die ziehen alles
zurück.«
Eine andere Nutzerin schreibt später, sie
sei erschrocken über den rauen Ton in der
Gruppe. »Wo bleibt der gegenseitige Respekt?«
L. findet mit seinem Aufruf wenig
Anklang, einige Mitglieder der Gruppe kritisieren
ihn scharf.
Bürgermeister Traub sagt, nach der Drohung
habe er mit den Initiatoren der Gruppe
gesprochen. Die hätten ihm gesagt, dass sie
diese Art von Nachrichten verurteilten und
L. aus der Gruppe ausgeschlossen hätten.
Traub sorgt sich dennoch. »Die Vernetzung
geht heute so schnell bundesweit. Es könnte
bei so etwas Trittbrettfahrer geben, die sich
motiviert fühlen.«
Telegram
Der Nutzer, der sich bei Telegram Jörg L.
nennt, kürzt zu diesem Zeitpunkt den Nachnamen
nicht ab. Dem SPIEGEL liegt ein
Screenshot der Nachricht vor. In der Nähe
von Erbach lebt ein Mann, der genauso heißt
wie dieser Nutzer.
Bürgermeister Traub hat keinen Zweifel,
dass L. derjenige ist, der die Drohung gegen
ihn und seine Familie verfasst hat.
Dieser Jörg L. ist kein Unbekannter im Ort:
Er saß mal – damals noch unter einem anderen
Namen – für die AfD im Kreistag. Auf
Facebook beschimpfte er Sozialdemokraten
als »rote Ratten« und Grüne als »Biomüll«.
Er schrieb auch: »Ich würde gern was ehrenamtlich
tun, Henker, Scharfrichter oder so.«
L. teilte auf Facebook mehrfach mit, was
er von den Coronamaßnahmen hält, und
schrieb etwa über Angela Merkel: »Das
Murksel traut sich wesentlich mehr als Erich
und Adolf je gewagt hätten!« L. gehört außerdem
wohl der »Reichsbürger«-Szene an: Er
bezeichnet sich selbst als Bürger des »Deutschen
Reichs«.
Kurz nachdem L. bei Telegram dazu aufruft,
den Bürgermeister zu bedrohen, löscht
er den Aufruf wieder. Er ändert seinen Profilnamen
in »Jörg der Löwe« und sein Profilbild,
auf dem nun keine Person abgebildet ist.
Doch auf Telegram kann weiterhin das alte
Profilbild eingesehen werden, das Jörg L.
zeigt.
Der SPIEGEL hat Jörg L. angefragt, ob er
sich zu dem Sachverhalt äußern wolle, allerdings
keine Antwort erhalten.
Am 1. Dezember veröffentlicht der Odenwaldkreis
eine Pressemitteilung auf seiner
Website. »Erbacher Café kann wieder öffnen«
ist dort zu lesen. »Der Betreiber hat ein Abstands-
und Hygienekonzept vorgelegt, das
vom Gesundheitsamt geprüft wurde.«
Der Sprecher des Landkreises betont
mehrfach, wie »konstruktiv« der Austausch
mit Bäcker Knierim gewesen sei. Auf Telegram
wird die Wiedereröffnung als Triumph
gefeiert. »Ich würde sagen Punktsieg für den
Bäcker« steht in einer Nachricht, die in der
Odenwald-Gruppe geteilt wird.
Es ist eine kuriose Dissonanz – für das Gesundheitsamt
geht es um einen Verwaltungsakt.
Für die »Querdenker«-Community geht
es um viel mehr.
Die Polizei in Erbach fährt weiterhin regelmäßig
am Haus des Bürgermeisters vorbei.
Am Nikolaustag, erzählt Traub, seien Polizisten
in sein Haus gekommen und hätten untersucht,
wie es um den »Objektschutz« bestellt
sei. »Es ist schon ein irritierendes Gefühl,
wenn man sein Haus nach solchen Kriterien
angeguckt bekommt«, sagt Traub. Und die
Polizei habe ihm einen Tipp gegeben: Bevor
er sich morgens in sein Auto setzt, erzählt er,
geht er jetzt einmal um das Fahrzeug.
Er sei wachsam, sagt Traub. Aber Angst
habe er nicht. »Wenn ich Angst hätte, würde
ich vielleicht nichts mehr sagen. So weit ist
es nicht.«
Telegram-Chat-Ausschnitt Hannes Schrader n
44 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
75 JAHRE DER SPIEGEL
1947 — 2022
18
SEITEN
JUBILÄUMS-
SPEZIAL
SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein,
Redakteur Conrad Ahlers 1965
mit einer Meldung über das Aus
des Strafverfahrens gegen sie
in der SPIEGEL-Affäre
75 JAHRE DER SPIEGEL
AUGSTEINS SCHWESTER ÜBER IHREN BRUDER • DIE SPIEGEL-AFFÄRE •
FÄLSCHER RELOTIUS • DIE GRÖSSTEN SCOOPS
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
45
Marcus Wiechmann / DER SPIEGEL
Originalversion des
SPIEGEL-Statuts von 1949
75 JAHRE DER SPIEGEL
»Nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch.«
D
iesen Satz hat Rudolf Augstein im SPIEGEL-Statut verankert,
zwei Jahre nach Gründung des Magazins. Der Satz prägt unseren
Journalismus bis heute. Jede gute Geschichte hat Protagonisten,
an denen sie entlangerzählt wird: Helden oder Staatsfeinde, Hasardeure oder Wunderkinder,
Mächtige oder Hilflose. Der SPIEGEL muss aktuell sein und neuigkeitsstark, heißt
es im Statut, die Artikel müssen ein allgemeines Interesse bedienen, hintergründig,
detailreich und fesselnd sein. »Der SPIEGEL darf erkennen lassen, wo seiner Meinung
nach das Schwergewicht der Argumente liegt«, schrieb Augstein, aber nicht mit erhobenem
Zeigefinger daherkommen.
Wenn man das so liest, 75 Jahre nach Gründung, ist das erstaunlich aktuell. Natürlich
sind wir heute längst mehr als nur ein Magazin. Wir bündeln unter der Marke SPIEGEL auch
Videos und Podcasts, machen Konferenzen und Live-Talks, haben unser Themenangebot erweitert:
um Rubriken wie »Leben« und »Start«, Beilagen wie »Bestseller« und »Geld«. Und
unseren Rhythmus bestimmt nicht mehr die Woche, sondern SPIEGEL.de. Die Website gibt
den Takt vor, sie ist die Nachrichtenmaschine und erreicht jeden Tag Millionen Menschen.
Ob wir uns denn selbst immer noch als »Sturmgeschütz der Demokratie« bezeichnen,
wurde ich unlängst gefragt. So militärisch würden wir es nicht mehr formulieren. Aber
die SPIEGEL-Affäre von 1962 hat sich eingebrannt ins Markenversprechen. »Vor keiner
Autorität zu kuschen« blieb laut Augstein der eiserne Grundsatz. Bis heute stehen wir
mit dem SPIEGEL für unabhängigen, unerschrockenen und unbeugsamen Journalismus, für
das Aufdecken von Missständen und Affären, das Einordnen komplexer Zusammenhänge,
das kritische Hinterfragen wohlfeiler Floskeln – und natürlich: das aufregende Erzählen,
detailgetreu und nah dran, im Heft wie im Digitalen.
Das alles lässt sich auf einen kurzen, großen Satz bringen: »Sagen, was ist.« Das
Augstein-Zitat hängt im Foyer unseres Verlagshauses und erinnert uns in Zeiten von zunehmendem
Aktivismus und gezielten Falschnachrichten an unseren Auftrag.
»Alle Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen«, heißt es
im Statut von 1949 – ein Grundsatz, gegen den wir mit den Fälschungen unseres damaligen
Reporters Claas Relotius massiv verstoßen haben, trotz aller Sicherungssysteme. Doch
wir haben Lehren daraus gezogen, haben unsere Erzähl-, Recherche- und Verifikationsstandards
überarbeitet und uns in einem neuen Leitfaden auf die alten Tugenden zurückbesonnen.
Die nächsten 75 Jahre können also kommen. Zumal wir mit dem SPIEGEL in der digitalen
Transformation wieder genau da aufsetzen, wo wir vor 75 Jahren gestartet sind:
bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Wir machen den SPIEGEL nicht für Anzeigenkunden,
Mäzene oder Mächtige, sondern für Sie. Und ganz im Sinne Augsteins machen wir ihn so,
wie wir ihn selbst gern lesen würden.
David Maupilé
Steffen Klusmann
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
47
Augstein-Schwester
Villwock im
Atrium des Hamburger
SPIEGEL-Gebäudes
75 JAHRE DER SPIEGEL
SPIEGEL-GESPRÄCH
»Er wollte geliebt
werden«
Ingeborg Villwock ist die Schwester des SPIEGEL-Gründers
Rudolf Augstein. Hier redet sie erstmals offen über den Mann,
der ihr noch immer ein Rätsel ist – und
die Frage, ob er sein Magazin heute mögen würde.
Die promovierte Biologin Villwock, 92,
arbeitete bis zu ihrem Ruhestand an
der Universität Hamburg. Als Studentin
jobbte die jüngste der sieben Augstein-Geschwister
in der SPIEGEL-
Dokumentation, heute gehört sie dem
Kuratorium der Rudolf Augstein Stiftung
an. Einmal im Monat trifft sie
sich in der SPIEGEL-Kantine mit Brigitte
Wulzinger, die im Wirtschaftsressort
des Magazins arbeitet und in
Augsteins letzten Lebensjahren dessen
Vorleserin war. Bei zweien der besagten
Mittagessen entstand dieses Gespräch,
das Wulzinger gemeinsam mit
Redakteur Alexander Kühn führte.
SPIEGEL: Frau Villwock, haben Sie
das Gefühl, Ihrem Bruder nahe zu
sein, wenn Sie hierher zum SPIEGEL
kommen?
Villwock: Ach, das ist mir zu pathetisch.
Die Besuche sind mir ein Anliegen,
so würde ich es ausdrücken. Ich habe
mich in meinem Leben über den
SPIEGEL gefreut, mich über ihn geärgert,
mich um ihn gesorgt – und finde
es schön, hier willkommen zu sein.
SPIEGEL: Wie viel von Rudolf Augstein
steckt noch in diesem Haus?
Villwock: Wenig. Mein Bruder hat das
heutige SPIEGEL-Gebäude ja gar
nicht mehr kennengelernt. Als Sie hier
2011 einzogen, war er bereits neun
Jahre tot.
SPIEGEL: Würde er das Haus mögen?
Villwock: Ich glaube, nicht. Es hat
etwas schrecklich Nüchternes, finden
Sie nicht auch? Nun ließe sich einwenden,
Rudolf hätte diese Kälte gar nicht
gespürt, weil er dafür zu wenig feinfühlig
war. Aber das Großspurige, das
Geschwister
Augstein, Villwock
2001: »Danach
dachte ich,
er enterbt mich«
hätte ihn gestört. Es wäre ihm hier zu
unübersichtlich, man verläuft sich ja.
SPIEGEL: Im Atrium hängt in großen
Lettern der berühmte Satz Ihres Bruders
»Sagen, was ist«, darunter seine
Unterschrift. Gefiele ihm das?
Villwock: Ja, und er würde sich darüber
ganz schön wundern. Gegen
Ende seines Lebens sagte er einmal:
Wenn ich weg bin, bin ich weg. Er war
schon sehr krank und merkte, dass
die hier nicht mehr so ticken wie er.
In seinen letzten Jahren hat die Chefredaktion
den SPIEGEL bereits ohne
ihn regiert, manchmal auch gegen ihn.
Seine Kommentare wurden überarbeitet,
bevor sie in Druck gingen –
zum Glück, muss man sagen. Als er
einmal anordnete, Magda Goebbels
aufs Titelbild zu nehmen, weil er gerade
ein Buch über sie und weitere
Nazi-Frauen gelesen hatte, weigerte
Chefredakteur Stefan Aust sich. Was
war Rudolf da empört!
Marc Darchinger
SPIEGEL: Dennoch begegnete man ihm
bis zum Ende mit Respekt. In der großen
Montagskonferenz wurde sein
Platz stets freigehalten, selbst wenn er
nur noch alle paar Monate teilnahm.
Villwock: Ich erinnere mich aber auch
an ein Interview, das junge SPIEGEL-
Redakteurinnen und -Redakteure anlässlich
seines 70. Geburtstags mit
ihm führten. Sie fragten ihn, warum
er so selten im Haus sei, welchen Nutzen
der SPIEGEL noch von ihm habe,
und bezeichneten ihn als »ressentimentgeladenen
Provokateur«. Das
war von einer Despektierlichkeit, die
fand ich unerhört. Immerhin waren
das seine Leute.
SPIEGEL: Die taten doch lediglich, was
er ihnen immer auferlegt hatte: ohne
Angst vor Autoritäten zu fragen. Nur
dass die Autorität in dem Fall er selbst
war.
Villwock: Er hatte es ihnen vorgelebt,
da mögen Sie recht haben. Unverschämt
fand ich es trotzdem. Ich meine,
wem von denen wäre es gelungen,
mit 23 Jahren so eine Zeitschrift zu
gründen?
SPIEGEL: Sie sind 92 Jahre alt und haben
sich über Ihren Bruder bislang
kaum öffentlich geäußert. Warum tun
Sie es jetzt?
Villwock: Ich spüre, wie sehr er mich
noch immer beschäftigt. Über niemand
anderen denke ich so oft nach
wie über Rudolf. Er wird mir zunehmend
rätselhafter, und ich finde keine
Ruhe. Mit meinen anderen fünf Geschwistern
kann ich leider nicht mehr
über ihn sprechen, sie sind alle tot.
SPIEGEL: Was macht ihn für Sie zu
einem Rätsel?
Foto: Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
49
75 JAHRE DER SPIEGEL
Villwock: Er besaß immens viel Bildung,
genoss ein so hohes Ansehen.
Ihm war bewusst, wie viel Glück er
in seinem Leben hatte. Dennoch zählt
er zu den traurigsten Menschen, die
ich kennengelernt habe. Ich behaupte:
Er ist nicht einmal in seinem Leben
etwas länger glücklich gewesen.
SPIEGEL: Trotz seiner Erfolge?
Villwock: Rudolf war vielschichtig,
voller Widersprüche. Da war die Aggression
in seinen Texten. Da war die
Lust, hart über andere zu urteilen,
Menschen mitunter zu vernichten. Er
spürte früh, dass er Furore machen
kann mit dieser Art von Journalismus.
Als die britische Militärregierung ihm
Ende 1946 die vorläufige Lizenz zur
Gründung eines Nachrichten-Magazins
erteilte, ergriff er das Glück und
nutzte die Macht, die man ihm gab.
Er war zu jung, um diesem Rausch
nicht zu erliegen. Aber wissen Sie, all
das entsprach nicht seiner Natur. Der
Rudolf, den ich vor dem Krieg kannte,
war ein anderer.
SPIEGEL: Wie haben Sie ihn vor dem
Krieg wahrgenommen?
Villwock: Mein Bruder war der friedlichste
Vertreter, den sich eine Familie
vorstellen kann. Ein Mensch, der
kaum auffiel und sich durch nichts
hervortat. Häufig absentierte er sich,
er saß dann allein da und las. Selbst
im Flegelalter hat Rudolf nie revoltiert,
er raufte sich nie mit Kameraden,
verbreitete keinerlei Häme über
sie. Vor allem unser Vater war sehr
stolz auf sein Rudolflein, er verlangte
die besten Noten, Rudolf hat sie
geliefert. Anders als unser älterer
Bruder Josef und ich, weshalb wir
beide, die nichts taugten, ins Internat
kamen. Josef wurde vom Vater geschlagen,
er nie. Rudolf wollte das
Wohlgefallen seiner Eltern.
SPIEGEL: Aus Furcht vor Züchtigung?
Villwock: Nein, er wollte geliebt werden,
das war zeitlebens seine Triebfeder.
Deshalb später die vielen Frauengeschichten,
deshalb seine fünf Ehen,
er raste von einer Liebschaft zur
nächsten. Auch wenn er manche Frau
behandelte wie eine trockene Zitrone:
Er war auf der Suche nach der Geborgenheit,
die ihm zu Hause vorenthalten
worden war.
SPIEGEL: Das klingt fast tragisch.
Villwock: Es war aber so. Unser Elternhaus
war sehr verstandesbedingt.
Als Leitmotiv galt: fördern statt verwöhnen.
Ich habe meine Eltern geachtet
und geehrt, doch wenn ich
zurückdenke, muss ich sagen: Es fehlte
an Herzlichkeit. Es gab Dienstmädchen,
die sich um uns kümmerten,
Rudolf hatte sogar eine eigene
Kinderfrau, die er sehr gern hatte.
»Rudolf
hatte
Charme und
verstand
es, Leute
für sich
einzunehmen.«
Augstein-Geschwister
Margret, Ingeborg,
Rudolf, Irmgard,
Anneliese, Josef 1933
Aber ich kann mich nicht erinnern,
dass meine Mutter uns jemals in den
Arm genommen hätte. Nur wenn
man krank war, hat sie sich um einen
gekümmert. Rudolf hat das ausgenutzt.
Er hat sogar Krankheiten simuliert.
SPIEGEL: Ihre Familie war sehr
gläubig.
Villwock: Die katholische Kirche bestimmte
unseren Alltag. Wir mussten
vor und nach dem Mittagessen beten,
jeden Sonntag ging es zur Messe.
Kam ich aus dem Internat zu Besuch
oder fuhr dorthin zurück, bekreuzigte
sich meine Mutter. Als Kind hatte
ich ständig Angst, ins Fegefeuer zu
kommen. Mariae unbefleckte Empfängnis,
die Himmelfahrt Jesu, all
dieses Zeug nahmen wir wörtlich.
Rudolfs späterer Hass auf die katholische
Kirche rührte aus dieser Zeit.
Wir haben gelitten unter diesem bigotten
Verhalten, ihm ist das nur
eher klar geworden als mir. Rudolf
fühlte sich betrogen, bis ins Mark. Er
trat allerdings erst 1968 aus der Kirche
aus, nachdem unsere Mutter gestorben
war. Dass er so ein kompliziertes
Wesen geworden ist, liegt
sicherlich auch daran, dass er seine
Opposition gegen das Elternhaus nie
ausgelebt hat.
SPIEGEL: Später trat Ihr Bruder umso
bestimmter auf.
Villwock: Er war nicht das, was er
nach außen darstellte. Er hatte ein
vermindertes Selbstbewusstsein. Ein
Grund mag sein frühes Scheitern als
Dramatiker gewesen sein, sein einziges
Stück »Die Zeit ist nahe« wurde
sogar vom SPIEGEL verrissen und
seit der Premiere 1947 nie wieder
auf geführt. Ein weiterer Grund, weshalb
er mit sich haderte, war sein
Aussehen.
SPIEGEL: Er sah doch ganz gut aus.
Villwock: Unser Bruder Josef, der Anwalt,
war ein schöner Mann. Groß,
von strahlendem Auftreten. Rudolf
war nicht hässlich, aber er war klein
Privat
und sah eher aus wie ich, bis hin zu
unserem leichten Schielen.
SPIEGEL: Sind Sie da nicht zu ungnädig,
auch mit sich selbst?
Villwock: Sprechen wir nicht über
mich, ich muss ja kein Model mehr
werden. Als Rudolf ein Kind war, hatten
die Eltern an der Wand ein Zentimetermaß
eingezeichnet. Dort wurde
er jeden Sonntag rangestellt. Weil
unser Vater es mit dem Messen weniger
genau nahm als unsere Mutter,
kam es vor, dass Rudolf an manchem
Sonntag kleiner war als an dem davor.
Er litt dann sehr, und dieses Gefühl
zieht sich durch sein Leben. Ihren
Charakter können Sie verbergen, sofern
Sie ein guter Schauspieler sind,
Ihre Größe nicht.
SPIEGEL: Kleine Männer, die Komplexe
mit Machtwillen kompensieren –
ist das nicht ein Klischee?
Villwock: Nein, für Rudolf war es eine
Triebfeder. Unser Vater war ein Zwei-
Zentner-Mann, ein Kerl wie ein Geldschrank,
und unsere Mutter das genaue
Gegenteil. Wenn Rudolf ihn
besuchte, sagte er jedes Mal: »Vater,
ich nehme es dir wirklich übel, dass
du so eine kleine Frau geheiratet
hast.« Und wer ihn beobachtete,
wenn er – häufig verspätet – zu Festlichkeiten
erschien, hatte das Gefühl:
Rudolf schämt sich, da aufzutreten.
Er hatte keine Angst vor Menschen,
aber er suchte sie nicht. Das mag auch
mit einem weiteren Erbe zu tun haben,
das er aus unserer Familie mitbekommen
hatte: etwas, das in Richtung
Autismus geht. Großvater Augstein,
ein Weinhändler aus Bingen,
hatte viel davon, der hat nicht einmal
seine eigenen Kinder wirklich wahrgenommen.
Rudolf muss ebenfalls
einen Schuss davon abbekommen
haben.
SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?
Villwock: Er tat sich schwer damit,
sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Stattdessen dachte er sie
sich so, wie er sie sich wünschte. Wie
wenn man sich einen Nikolaus aus
Hefeteig backt. Manche Menschen
verdorrten an seiner Seite, ohne dass
er es wahrnahm.
SPIEGEL: Sie urteilen sehr hart über
Ihren Bruder.
Villwock: Schauen Sie: Ich will ihn
bestimmt nicht miesmachen, das
wäre das Letzte. Andererseits wollen
wir ihn auch nicht zur Ikone erheben,
nicht wahr? Rudolf hatte ein gutes
Herz, auch das war eine Seite an ihm,
wenngleich er sie häufig verbarg. Er
hatte Charme und verstand es, Leute
für sich einzunehmen. Etwa den Verleger
John Jahr, der eine Zeit lang sein
Nachbar war, nachdem Rudolf 1952
50 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
75 JAHRE DER SPIEGEL
mit der Redaktion von Hannover nach Hamburg
gezogen war. Jahr beteiligte sich nicht
nur mit 50 Prozent am SPIEGEL, sondern lieh
Rudolf auch seine Esszimmerstühle, wenn
der mal wieder Gäste hatte. Er selbst sah es
zu der Zeit nämlich nicht ein, sich so viele
Stühle anzuschaffen, nur weil gelegentlich
Besuch kam. Jahr wiederum war stolz, ihn
zum Freund zu haben. Rudolf wusste auch
mit seinen Redakteuren umzugehen. Er konnte
zu Karasek gehen …
SPIEGEL: … dem langjährigen SPIEGEL-Kulturressortleiter
…
Villwock: … und sagen: »Hellmuth, da hast du
wieder einen Mist geschrieben.« Und der antwortete:
»Rudolf, wenn es weiter nichts ist,
ich schreib’s neu.«
SPIEGEL: Ihr Bruder soll einmal gesagt haben:
Alles, was er für den SPIEGEL brauchte, habe
er im Krieg gelernt.
Villwock: Dieses Zitat kenne ich nicht. Richtig
ist: Rudolf kam zurück als Fremder. Er war
nach dem Krieg ein anderer.
SPIEGEL: Inwiefern?
Villwock: Er war reservierter, zugleich aufsässiger.
SPIEGEL: Hat er jemals mit Ihnen darüber
geredet, was er an der Ostfront erlebt hat?
Villwock: Nie.
SPIEGEL: Haben Sie ihn danach gefragt?
Villwock: Nein.
SPIEGEL: Weil sich das nicht gehörte?
Villwock: Wahrscheinlich aus Angst, eine Antwort
zu bekommen, die mich verletzt. Ich
wollte nicht wissen, ob er jemals seine Knarre
eingesetzt hat gegen einen Menschen. Hätte
sich herausgestellt, dass er jemanden umgebracht
hat, dann hätte ich das nicht gut
verwunden. Wie bedrückend wäre es, wenn
jemand, den man gernhat, sich als Mörder
oder Totschläger herausstellt. Obwohl ich genau
weiß: So ist das nun mal im Krieg, du
musst dich wehren, sonst trifft es dich selbst.
SPIEGEL: Auf die Frage, welche militärischen
Leistungen er am meisten bewundere, gab Ihr
Bruder einmal an: »Meinen Rückzug aus der
Ukraine.«
Villwock: Solche Albernheiten gab er gern
von sich. Was der Krieg in ihm angerichtet
hatte, verbarg er hingegen.
SPIEGEL: Gelegentlich erzählte er, wie er aus
dem Krieg nach Hause geritten war: auf einer
trächtigen Stute, die sich nur in Bewegung
setzte, wenn er ihr an einem Stock eine Runkelrübe
vors Maul hielt.
Villwock: Ooch, das glaube ich alles nicht! Ich
habe diese Geschichte oft gehört, aber man
muss sie wohl infrage stellen. Rudolf neigte
zum Ausschmücken.
SPIEGEL: Gehört dazu auch seine Erzählung,
dass er 1944 um ein Haar von einem Granatwerfergeschoss
getötet worden wäre?
Villwock: Das wiederum stimmt, auch wenn
er davon bisweilen etwas zu dramatisch geredet
hat. Er konnte schon sehr wehleidig sein.
Dabei musste er sich später lediglich Splitter
aus dem Arm entfernen lassen. Er hatte ja
kein Bein verloren oder so.
BU mit Schmuckund
Sachzeile in
dieser Länge, kann
gern etwas umfangreicher
Zeitzeugin Villwock: »Wir wollen ihn nicht zur Ikone erheben, nicht wahr?«
SPIEGEL: Jetzt wirken Sie fast so zynisch, wie
Sie Ihren Bruder darstellen …
Villwock: … da würde ich widersprechen …
SPIEGEL: … der von sich selbst sagte, durch
Sarkasmus mache er sich sein Leben »erträglich
bis fröhlich«.
Villwock: Ich bin nicht sarkastisch, ich sehe
nur die Wirklichkeit.
SPIEGEL: Mit 27 Jahren soll Ihr Bruder gesagt
haben, er habe in seinem Leben alles erreicht.
Villwock: Ich fand es erschütternd, als ich davon
zum ersten Mal hörte. Das heißt doch,
man hat nichts mehr vor oder glaubt, nichts
mehr bewirken zu können.
SPIEGEL: Der SPIEGEL hat Ihren Bruder nicht
nur zu einem einflussreichen, sondern auch
sehr wohlhabenden Menschen gemacht. War
ihm das wichtig?
Villwock: Luxus hat ihm nichts bedeutet. Er
wollte es warm und trocken haben und nicht
aus dem Blechnapf fressen, alles andere hat
er nie wirklich begehrt. Rudolf schätzte es,
im Komfort zu reisen, wie er es nannte. Aber
ich vermute, dass er die schönen Häuser
in Hamburg, auf Sylt und in Saint-Tropez
eher seinen Frauen zuliebe unterhielt. Ich
weiß zum Beispiel gar nicht, wie oft er die
Schwimmbäder, die er in einigen dieser Häuser
hatte, überhaupt betreten hat.
SPIEGEL: Haben Sie Ihren Bruder für seine
publizistische Macht bewundert?
Villwock: Darf ich Ihnen etwas gestehen?
SPIEGEL: Bitte.
Villwock: Lange Zeit dachte ich, Rudolf müsste
zu etwas Höherem berufen sein, als nur
eine Zeitschrift mit Krawall und Affären herauszugeben.
Ich sah ihn eher in der Philosophie
oder als Verleger einer Kunst- und
Literaturzeitung. Die Trauerrede, die Joachim
Fest beim Staatsakt im Hamburger Michel
Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
51
75 JAHRE DER SPIEGEL
auf ihn hielt, hat in mir viel ausgelöst.
Fest sprach davon, »dass das Land
ohne ihn und sein Wirken ein anderes
Aussehen hätte«. Ein großes Wort. Ich
hätte das nie ausgesprochen, es nicht
einmal gedacht. Vielleicht war ich zu
dämlich, um Rudolfs Leistung zu begreifen.
Ich habe die Rede gestern
noch einmal gelesen. Sie berührt
mich. Zugleich ergeben sich für mich
neue Fragen.
SPIEGEL: Nämlich?
Villwock: Hatte Rudolf wirklich schon
in jungen Jahren hehre Ziele? Hat er
gehandelt aus Sorge, die Deutschen
könnten von der Verkommenheit der
Nazis noch so beeinflusst sein, dass
sie nicht zu einer aufrechten Demokratie
fähig sind? Oder ließ er sich
einfach treiben? Ich hielt ihn damals
nicht für einen Idealisten. Andere
Leute in dem Alter wollen die Erdachse
aufrichten, damit sie mehr Sonne
bekommen. So sah ich ihn nicht.
Vielleicht habe ich ihm unrecht getan,
ich weiß es nicht.
SPIEGEL: 1962 wurde Rudolf Augstein
verhaftet, es war der Beginn der
SPIEGEL-Affäre. 103 Tage lang saß
er in Untersuchungshaft. Auslöser
war ein Artikel im SPIEGEL, der die
mangelhafte Ausrüstung der Bundeswehr
beschrieben hatte und die atomare
Strategie von Verteidigungsminister
Franz Josef Strauß infrage
stellte. Haben Sie Ihren Bruder im
Gefängnis besucht?
Villwock: Das war nicht erlaubt. Unser
Bruder Josef, der ihn verteidigte, hielt
den Kontakt.
SPIEGEL: Hatten Sie Angst um Rudolf?
Villwock: Nein, denn ich vertraute in
den Rechtsstaat. Es war aber das erste
Mal, dass Rudolf Angst hatte. Der
SPIEGEL hatte in den Jahren zuvor
immer wieder gegen Strauß geschossen.
Manchmal sagte ich: Rudolf, du
bewegst dich auf dünnem Eis. Er tat
dann so, als wüsste er nicht, was ich
meine. Strauß war sein Antipode,
zugleich hat Rudolf ihn um seine
Macht beneidet, ihn insgeheim sogar
verehrt. Der Minister war mehrmals
bei ihm zu Hause, auch er saß auf
John Jahrs Stühlen. Ich hielt Strauß
für einen Widerling, war mir aber
sicher: Nur wegen eines Artikels
wird Rudolf nichts passieren. Zunächst
dachte ich sogar, die SPIEGEL-
Affäre wäre für Rudolf eine Lachnummer.
SPIEGEL: Obwohl ihm Bundeskanzler
Konrad Adenauer Landesverrat vorwarf?
* Mitarbeiterin Brigitte Wulzinger und Redakteur
Alexander Kühn vor einem Augstein-Foto
in Hamburg.
»Als er
zum Haftprüfungstermin
erschien,
war ich erschüttert,
wie fertig
Rudolf
aussah.«
Villwock, SPIEGEL-
Team*
Villwock: Ich dachte, wenn das einer
wegsteckt, dann er. Meine Einschätzung
wurde dadurch befeuert, dass
Josef anfangs recht lustig erzählte, wie
Rudolf versucht hatte, Akten aus der
Redaktion verschwinden zu lassen.
Als er jedoch zum Haftprüfungstermin
erschien, war ich erschüttert, wie
fertig Rudolf aussah. Aus SPIEGEL-
Sicht muss man allerdings sagen: Es
hat sich gelohnt, dank der SPIEGEL-
Affäre verdoppelte sich die Auflage.
Mein Bruder sagte später, das hätte er
sonst nie geschafft.
SPIEGEL: Auf die Frage, ob er den
SPIEGEL liebe, sagte er einmal:
»Nein, das kann man von mir nicht
verlangen!«
Villwock: Es gab Zeiten, da fühlte er
sich dem SPIEGEL nicht sonderlich
verbunden.
SPIEGEL: Der SPIEGEL war doch sein
Kind.
Villwock: Er hing an diesem Magazin
nicht, wie ein Vater es tut. Sonst hätte
er nicht zwischendurch überlegt,
den SPIEGEL zu verkaufen, als die
Redaktion ihm auf den Geist ging. Er
hätte um 1960 herum nicht versucht,
dem Magazinjournalismus zu entfliehen
durch das Bemühen, eine
Wochenzeitung zu gründen. Und er
hätte den SPIEGEL 1972 nicht schlagartig
verlassen, um in die Politik zu
gehen, als FDP-Bundestagsabgeordneter.
SPIEGEL: War das eine Midlife-Crisis,
kurz vor seinem 50. Geburtstag?
Villwock: Es war der Versuch, den
Moment zu erhaschen, noch etwas
anderes zu machen im Leben. Ach
Gott, wenn er in seinem katholischen
Wahlkreis Paderborn mit Nonnen
über den Paragrafen 218 diskutieren
musste oder Bürgern mal eben eine
Umgehungsstraße in Aussicht stellte –
da habe ich mich schon ein bisschen
geschämt. Rudolf war für die Politik
nicht gemacht, er war kein Großsprecher,
gab nie populistische Sätze von
Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
sich. Einer, der so viel Verstand hatte
wie er, hätte das wissen müssen.
SPIEGEL: Hatten Sie ihn gewarnt?
Villwock: Oh nein, er war sehr empfindlich,
was Kritik betraf. Ich habe
es nur zweimal gewagt, etwas infrage
zu stellen. Einmal, als mir ein Vortrag
von ihm nicht gefiel, schon damit kam
er schwer klar. Und dann im Jahr
2000, als er den Ludwig-Börne-Preis
für sein Lebenswerk erhalten sollte.
Rudolf wollte unbedingt nach Frankfurt
reisen, um die Auszeichnung in
der Paulskirche persönlich entgegenzunehmen,
dabei war er bereits zu
krank und auch zu weit weg vom logischen
Denken. Ich bin mit seinem
Arzt zu ihm gefahren, um ihm das
auszureden. Er protestierte, notfalls
werde er sich auf einer Trage hinbringen
lassen. Dann bin ich zum SPIEGEL
und habe zu Aust gesagt: »Ihr müsst
verhindern, dass er fährt.« Am Ende
haben wir erreicht, dass die Veranstaltung
fürs Erste abgesagt wurde.
Danach dachte ich, er enterbt mich.
SPIEGEL: Eingangs sagten Sie, dass
Sie mit dem SPIEGEL auch gelitten
haben. Wann denn zuletzt?
Villwock: Im Großen natürlich, als Sie
die Affäre hatten mit Herrn Relotius
und seinen erfundenen Reportagen.
Und im Kleinen immer wieder. Wenn
Sie Larifarithemen im Heft haben, die
man auch überall anders lesen kann,
wie diese Titelgeschichte Anfang des
Jahres, warum Haustiere uns glücklich
machen. Oder als Sie die Grünen-
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock
erst in den Himmel lobten, von
wo Sie sie ein paar Wochen später
wieder herunterholen mussten. Bei
wichtigen Themen vergleiche ich immer,
wer sie besser aufbereitet: die
»Zeit« oder Sie. Und freue mich,
wenn Sie es sind.
SPIEGEL: Würde Ihr Bruder den
SPIEGEL, wie er heute ist, mögen?
Villwock: Ich glaube, er sähe ihm zu
bunt aus. Andererseits war Rudolf
auch froh, wenn jemand anders das
Blatt weiterentwickelte. Einmal sagte
er selbstironisch, wenn es nach ihm
ginge, hätte der SPIEGEL immer noch
das Layout von 1947: viel Text, kleine
Bilder, alle in Schwarz-Weiß. Sie
sehen, auch darin war er widersprüchlich.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie das
Rätsel Rudolf Augstein noch lösen
werden?
Villwock: Ich gehe nicht davon aus,
zumal mir dafür nur noch begrenzt
Zeit bleibt. Aber dass ich so sehr über
ihn grüble, zeigt mir zumindest eines:
dass er mir nicht egal war.
SPIEGEL: Frau Villwock, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch. n
52 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
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Jahre DER SPIEGEL
1947 erschien die erste von mittlerweile 3931 Ausgaben.
Rund 400.000 Artikel wurden seitdem im Heft veröffentlicht.
Ein Rückblick.
1947
Der erste SPIEGEL
erschien am
4. Januar mit einer
Auflage von 15.000
Exemplaren, Chefredakteur
und
Herausgeber ist
Rudolf Augstein.
DER SPIEGEL 27/1948
»Gebundene Hände –
Louise Schroeder soll
vier Herren dienen«
DER SPIEGEL 50/1958
1962
Der Artikel »Bedingt
abwehrbereit« löst die
SPIEGEL-Affäre aus, die
mit einer Hausdurchsuchung
in den Redaktionsräumen
beginnt, Augstein wird
verhaftet.
Demonstranten am 31. Oktober 1962
vor der Gefängnisbehörde in Hamburg,
in der Augstein in Untersuchungshaft sitzt.
DER SPIEGEL 45/1962
»Rudolf Augstein«
DER SPIEGEL 1/1947
»Mit dem Hut in der Hand …
wird man ein befreites Land.
Österreichs Gesandter
Dr. Kleinwächter vor
dem Weißen Haus«
1948
Mit der Berliner
Oberbürgermeisterin
Louise
Schroeder ist zum
ersten Mal eine
Politikerin auf
dem Titelbild
zu sehen.
1958
Zweimal verzichtete
der SPIEGEL
auf jegliche
Schrift auf dem
Titel: zum geteilten
Berlin
und zum Attentat
auf John F.
Kennedy 1963.
DER SPIEGEL 48/1963
Unterzeichnung des
Mitarbeitervertrages
am 8. November 1974
im Büro Augsteins (links)
1974
Augstein schenkt die
Hälfte des Unternehmens
der Belegschaft. Heute
besitzen die stimmberechtigten
Mitarbeiter
50,5 Prozent. Die übrigen
Anteile gehören dem Verlag
Gruner + Jahr und den
Augstein-Erben.
Eingerahmt
Am häufigsten auf dem SPIEGEL-Titel war …
Nachgefragt
Die meisten SPIEGEL-Gespräche waren mit …
Helmut Kohl 80 Wolfgang Schäuble
59
Angela Merkel 46 Joschka Fischer
46
F. J. Strauß 45 Gerhard Schröder
46
Willy Brandt 44 Willy Brandt
40
Adolf Hitler 44 Oskar Lafontaine
34
Helmut Schmidt 41 Helmut Schmidt
30
Gerhard Schröder 32 Horst Seehofer
25
Der Papst* 28 Angela Merkel
24
Donald Trump 25 F. J. Strauß
24
Konrad Adenauer 22 H.-D. Genscher
23
Diskutiert
Leserdialog in Zahlen
103.000
Leserbriefe
wurden seit 1947 schätzungsweise
im SPIEGEL abgedruckt.
11.860 redaktionelle Leserbriefe sind
im Jahr 2020 im Verlag eingegangen,
davon sind 1090 Briefe erschienen.
Etwa 35.000 Kommentare werden
täglich von SPIEGEL.de-Nutzerinnen
und -Nutzern verfasst.
S ◆Auswertung gemäß Verschlagwortung im hausinternen Archiv: Titelbilder nach Abbildung, SPIEGEL-Gesprächspartner und Länder nach Nennung in der gedruckten Ausgabe
54 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
75 JAHRE DER SPIEGEL
1981
Der SPIEGEL enthüllt
Erkenntnisse von
Ermittlern über illegale
Parteispenden und
Steuerhinterziehung
des Flick-Konzerns.
DER SPIEGEL 48/1982
»Wohin flossen die Flick-Millionen?«
DER SPIEGEL 38/2001
»Der Terror-Angriff:
Krieg im 21. Jahrhundert«
2001
Die bestverkaufte SPIEGEL-Ausgabe
aller Zeiten erscheint unmittelbar
nach den Terroranschlägen in den
USA (1.446.325 Exemplare).
2015
Der SPIEGEL berichtet
über Indizien, dass
bei der Entscheidung
über die Vergabe der
Fußball WM 2006 an
Deutschland Bestechungsgelder
geflossen sein
könnten.
Frank Müller-May, Kai Greiser, SPIEGEL TV
1994
Der SPIEGEL geht
am 25. Oktober
als erstes Nachrichten-Magazin
weltweit online.
DER SPIEGEL 43/2015
»Das zerstörte Sommermärchen.
Schwarze
Kassen – die wahre Geschichte
der WM 2006«
SPIEGEL ONLINE,
1996
Maria Gresz
bei einer
der ersten
Sendungen
1988
Am 8. Mai wird
zum ersten Mal das
SPIEGEL TV Magazin
ausgestrahlt,
TV-Chefredakteur
wird Stefan Aust.
DER SPIEGEL 27/2013
»Allein gegen Amerika –
Edward Snowden:
Held und Verräter«
2013
Der SPIEGEL und wenige
andere Medien erhalten
exklusiven Zugang zu
den geheimen Unterlagen
des US-Whistleblowers
Edward Snowden.
DER SPIEGEL 52/2018
»Sagen, was ist –
In eigener Sache:
Wie einer unserer
Reporter seine
Geschichten fälschte
und warum er damit
durchkam«
2018
Der SPIEGEL
macht öffentlich,
dass Reporter
Claas Relotius
seine Geschichten
weitgehend erfunden
hat. Eine
unabhängige Kommission
untersucht
den Fall
und legt 2019
einen Abschlussbericht
vor.
2019
Nach rund 25
Jahren fusionieren
die
Print- und
die Onlineredaktion.
Seit 2020
erscheinen
alle Geschichten
unter der
Marke
DER SPIEGEL.
Berichtet
Über welche Länder außer der Bundesrepublik am häufigsten geschrieben wurde, nach Dekade
1
2
3
4
5
USA
Ital.
1947–
1949
Sowjetunion/Russland
DDR
Frankreich
Großbritannien
Iran
Großbritannien
China
1950er 1960er 1970er 1980er 1990er 2000er 2010er 2020–
2021
Recherchiert
SPIEGEL-Redaktion**
492
Redakteurinnen und Redakteure
sind in Deutschland und
19 ausländischen Redaktionsvertretungen
tätig.
Der Frauenanteil beträgt rund
42 Prozent, der Altersdurchschnitt
liegt bei etwa 44 Jahren.
An der ersten Ausgabe im Jahr 1947
haben vier Redakteure mitgearbeitet.
* amtierend oder ehemalig ** ohne SPIEGEL TV, Stand: Dez. 2021 Grafik: Anna-Lena Kornfeld, Bernhard Riedmann, Patrick Stotz
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
55
75 JAHRE DER SPIEGEL
ZEITGESCHICHTE
Um Kopf und Kragen
In der SPIEGEL-Affäre von 1962 rangen der deutsche Obrigkeitsstaat, die Medien und die liberale
Gesellschaft um die Pressefreiheit. Die Nachwirkungen sind bis heute spürbar.
V
orgesetzte beschrieben den
Bundesanwalt Dr. Albin
Kuhn, 52, als unauffällig, bescheiden,
pflichtbewusst. Ein Jurist
und promovierter Staatswissenschaftler
aus der bayerischen Provinz mit
freundlich blickenden Augen. Nur das
Fehlen von vier Fingern, abgefroren
an der Ostfront, fiel auf.
Im »Dritten Reich« hatte der
ehemalige Nationalsozialist am Sondergericht
Würzburg an sechs Todesur
teilen mitgewirkt, was einer Nachkriegskarriere
jedoch nicht entgegenstand.
In der Bundesanwaltschaft in
Karlsruhe leitete Kuhn das Arbeitsgebiet
Landesverrat. Landesverrat
beging, wer »vorsätzlich ein Staatsgeheimnis
… öffentlich bekannt macht
und dadurch das Wohl der Bundesrepublik
Deutschland … gefährdet«,
Höchststrafe 15 Jahre Zuchthaus.
Für Journalisten ein gefährlicher
Paragraf, vor allem wenn jemand wie
Kuhn ihn anwandte.
Am 8. Oktober 1962 sprach ihn
eine Angestellte in der Sitzungspause
eines Prozesses an. Im SPIEGEL sei
gerade ein »fundierter militärischer
Artikel« erschienen. Seit Längerem
verfolgte Karlsruhe voller Misstrauen
die immer aufmüpfiger werdende
Presse, die Missstände im Staat –
etwa in der jungen Bundeswehr – anprangerte.
Deutschland war geteilt, ein Atomkrieg
jederzeit möglich. Noch kurz
zuvor hatten sich am Checkpoint
Charlie in Berlin amerikanische und
sowjetische Panzer gegenübergestanden.
Ausdrücklich hatte Kuhns Behörde
die Journalisten des Landes
davor gewarnt, das »Wohl der Bundesrepublik
zu beeinträchtigen«. Den
respektlosen SPIEGEL hatten Kuhn
und Kollegen besonders auf dem
Kieker, zumal Herausgeber Rudolf
Augstein – scharfer Kritiker des Verteidigungsministers
Franz Josef
Strauß (CSU) – immer wieder Geschichten
über die Bundeswehr drucken
ließ.
So wie in Ausgabe 41/1962, die
Kuhn sich nun anschaute. Eine 17-seitige
Titelgeschichte zum desaströsen
Zustand der westdeutschen Streitkräfte,
denen es an fast allem mangelte:
Soldaten, Gerät, Waffen. Nach
dem gerade abgelaufenen Nato-
Manöver »Fallex 62« hatte die Bundeswehr
die schlechteste aller Noten
bekommen. Überschrift der SPIEGEL-
Geschichte: »Bedingt abwehrbereit«.
Es war eine mühsame Lektüre,
wie Hauptautor Conrad Ahlers selbst
einräumte. Der Bundesgerichtshof
urteilte später, es handle sich um
»keine bedeutende geistige Leistung«.
Für Experten enthielt der Text
kaum Neues. Aber Staatsanwalt
Kuhn war kein Experte, und so nahm
das Verhängnis seinen Lauf.
Ausgerechnet im Verteidigungsministerium,
das in dem SPIEGEL-
SPIEGEL-Titelbild
41/1962
Herausgeber
Augstein vor dem
Bundesgerichtshof
in Karlsruhe 1963:
»Wesenselement des
freiheitlichen Staates«
picture-alliance / dpa
Artikel scharf kritisiert wurde, ließ
Kuhn ein Gutachten einholen. Die
Strauß-Leute ergriffen die Chance, es
dem Hamburger Magazin heimzuzahlen.
»Bundesanwaltschaft und
Verteidigungsministerium hatten beide
ein großes Interesse daran, gegen
den SPIEGEL vorzugehen, und das
machten sie in Kooperation«, so die
Wissenschaftler Friedrich Kießling
und Christoph Safferling, die im Auftrag
der Bundesanwaltschaft kürzlich
deren Geschichte erforscht haben.
Der damalige Justizminister, der Bundesanwaltschaft
vorgesetzt, wurde
nicht informiert.
Die entscheidenden Infos lieferte
ein Referent aus dem Führungsstab
der Bundeswehr, ein glühender
Strauß-Bewunderer. Das »streng geheime«
Gutachten listete schließlich
41 Passagen auf, die angeblich »geheimhaltungsbedürftig
im Sinne des
§ 99,1 StGB« waren: Landesverrat
also. Und Kuhn glaubte wirklich, es
gebe eine »weit verzweigte, gegen die
Verteidigungspolitik gerichtete Verschwörung«.
Verräter aus Regierung,
Parlament und Armee stächen brisante
Interna an den SPIEGEL durch
oder verkauften sie gar.
Knapp drei Wochen nach Erscheinen
des Artikels, am 26. Oktober,
schlug die Staatsmacht zu.
Polizisten, Beamte des Bundeskriminalamts
und Soldaten des Militärischen
Abschirmdienstes durchsuchten
die SPIEGEL-Zentrale im Hamburger
Pressehaus sowie das Hauptstadt büro
in Bonn; sie drangen in Privatwohnungen
von SPIEGEL-Mitarbeitern
ein und verhafteten schließlich Herausgeber
Augstein und sechs Redakteure
und Verlagsmitarbeiter. Titelautor
Ahlers wurde im Urlaub in Spanien
festgesetzt.
Die Beamten suchten Schriftstücke,
»deren Inhalt über die Bundeswehr
schlechthin und über getätigte
Zahlungen an irgendwelche Informanten
Auskunft« gibt, wie ein Kripo-
Mann in einem Vermerk festhielt. Mit
56 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
dem Bestechungsverdacht ließ sich das gesetzlich
verankerte Redaktionsgeheimnis aushebeln:
Journalisten dürfen Unterlagen zurückhalten,
um Informanten zu schützen – es sei
denn, sie haben diese bestochen.
Wochenlang konnte die SPIEGEL-Redaktion
ihre Räume und auch das umfangreiche
Archiv nicht oder nur eingeschränkt nutzen.
Am längsten blieb Augstein in U-Haft, für
103 Tage.
Die Vorwürfe gegen den SPIEGEL waren
laut der Historikerin Ute Daniel »beispiellos«
– und die Reaktion der Öffentlichkeit
entsprechend. Professoren, Literaten, Intellektuelle,
Studenten protestierten, in der Bundespressekonferenz
kam es zu tumultartigen
Szenen, als der Pressesprecher Fragen empörter
Journalisten nicht beantwortete. Vor
dem Hamburger Untersuchungsgefängnis, in
dem Augstein einsaß, demonstrierten Tausende
und riefen: »SPIEGEL tot – die Freiheit
tot.« Man könne das öffentliche Interesse
kaum überschätzen, kabelte ein US-Diplomat
nach Hause.
Aufmerksam verfolgte das Ausland,
wie es die Deutschen 17 Jahre nach dem
Untergang des »Dritten Reichs« mit der
Pressefreiheit hielten. Die Londoner »Daily
Mail« beorderte ihren Sonderkorrespondenten
aus dem Himalaja, wo gerade Krieg
herrschte, nach Bonn. Der SPIEGEL war jetzt
wichtiger.
Schon bald wurde aus der Polizeiaktion
eine Krise der schwarz-gelben Regierung
unter Bundeskanzler Konrad Adenauer
(CDU). Verteidigungsminister Strauß hatte
persönlich durch einen nächtlichen Anruf bei
einem Bekannten an der deutschen Botschaft
in Madrid dafür gesorgt, dass Ahlers festgenommen
wurde. Er hatte sich damit »objektiv«
der Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung
schuldig gemacht, wie die Staatsanwaltschaft
Bonn später feststellte. Um seine Rolle
zu vertuschen, belog Strauß das Parlament,
was jedoch aufflog.
Adenauer redete sich im Bundestag ebenfalls
um Kopf und Kragen. Als ob es keine
Unschuldsvermutung gäbe, nahm er das Ergebnis
der Ermittlungen vorweg: »Wir haben
einen Abgrund von Landesverrat im Lande.«
Zwischenruf der SPD: »Wer sagt das?«. Adenauer:
»Ich sage das.« Und legte nach: »Wenn
von einem Blatt, das in einer Auflage von
500 000 Exemplaren erscheint, systematisch,
um Geld zu verdienen, Landesverrat getrieben
wird …« Der Rest des Satzes ging im
lautstarken Protest der Sozialdemokraten
unter.
Am Ende wurden zwei Staatssekretäre geschasst.
Alle FDP-Minister traten zurück, um
ein neues Kabinett zu erzwingen, dem Strauß
nicht mehr angehörte. Und der greise Kanzler
Adenauer, der bereits grundsätzlich zugesagt
hatte, im Laufe der Legislaturperiode das Amt
aufzugeben, musste sich nun festlegen, auf
den Herbst 1963.
Vergessen wurde dieser Ausgang nie. Ins
kollektive Gedächtnis hat sich eingegraben,
AP
Demonstranten in Frankfurt am Main 1962: Auflehnung gegen Autoritätshörigkeit
dass die Staatsmacht nicht so einfach gegen
die Presse vorgehen kann, sondern hohe juristische
Hürden nehmen muss.
Und dennoch haben Historiker in den
vergangenen Jahren gemahnt, die Bedeutung
der SPIEGEL-Affäre nicht zu überschätzen.
Sie sei nicht jener Urknall, aus dem die wilden
Sechzigerjahre hervorgegangen sind, an
deren Ende die Studentenbewegung und die
Kanzlerschaft Willy Brandts standen. In der
Tat hatte es schon zuvor eine kritische Öffentlichkeit
gegeben, wie Historikerin Daniel
argumentiert. Sie half dem SPIEGEL ja in der
Krise.
Auch war der westdeutsche Obrigkeitsstaat
mit dem Ende der Affäre keineswegs
verschwunden. Die Bundesanwaltschaft etwa
tat, als wäre nichts gewesen. Im Januar 1963
eröffnete sie ein Ermittlungsverfahren gegen
den Hamburger Senator und späteren Kanzler
Helmut Schmidt (SPD), den sie fälschlicherweise
für einen Informanten des Magazins
hielt. Dass kein SPIEGEL-Mitarbeiter
verurteilt wurde, der Bundesgerichtshof vielmehr
die Eröffnung eines Hauptverfahrens
gegen Augstein und Ahlers ablehnte, weil die
Verratsvorwürfe so nicht zu halten waren,
hielt die Staatsanwälte nicht von weiteren
Ermittlungen ab. Erst die Drohung des vorgesetzten
Justizministers mit einer Dienstanweisung
beendete 1966 den Spuk.
»SPIEGEL tot –
die Freiheit
tot.«
75 JAHRE DER SPIEGEL
Unbestritten bleibt, dass die Affäre in Politik
und Gesellschaft einen »kräftigen Liberalisierungsschub«
auslöste, wie es der Historiker
Heinrich August Winkler ausdrückte. Mit
dem Protest wuchs die Bereitschaft, insbesondere
der jüngeren Generation, sich gegen
die verbreitete Autoritätshörigkeit wilhelminischer
Prägung aufzulehnen.
Für den SPIEGEL ging die Geschichte
glücklich aus. Die Unterstützung anderer Verlage
in der Medienhauptstadt Hamburg –
SPIEGEL-Leute durften etwa Büros des
»Stern« oder der »Zeit« nutzen – half über
die ersten Wochen. Die Auflage stieg rasant
an, der SPIEGEL etablierte sich als Leitmedium.
Ausgerechnet der dröge Artikel von
Conrad Ahlers dürfte der wohl wirkmächtigste
Text sein, der je im Heft erschienen ist. Bis
heute profitiert der SPIEGEL davon, im entscheidenden
Moment für die Pressefreiheit
eingestanden zu haben.
Festgeschrieben wurde die historische Bedeutung
der SPIEGEL-Affäre schließlich am
5. August 1966. Augstein hatte gegen das Vorgehen
der Staatsmacht Verfassungsbeschwerde
eingelegt, und das Bundesverfassungsgericht
verkündete sein Urteil. Zwar wies das
Gericht die Beschwerde bei Stimmengleichheit
zurück, doch in den allgemeinen Ausführungen,
die alle Richter mittrugen, wurde
erstmals eine freie Presse zu einem »Wesenselement
des freiheitlichen Staates« erklärt.
Der Staat müsse »in seiner Rechtsordnung
überall, wo der Geltungsbereich einer Norm
die Presse berührt, dem Postulat ihrer Freiheit
Rechnung tragen«.
Mit dem Urteil legte das Verfassungsgericht
den »Grundstein für einen hohen Schutz
der Pressefreiheit«, wie später Wolfgang Hoffmann-Riem
schrieb, von 1999 bis 2008 selbst
Richter in Karlsruhe. Noch heute verweisen
Gerichte auf die Ausführungen von damals.
Ruf der Demonstranten vor dem
Untersuchungsgefängnis in Hamburg,
in dem Augstein einsaß Klaus Wiegrefe n
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
57
75 JAHRE DER SPIEGEL
RELOTIUS-SKANDAL
Der Schock
Vor drei Jahren erschütterten die Fälschungen des Reporters
Claas Relotius den SPIEGEL und stellten die Glaubwürdigkeit des
Magazins infrage. Was folgte daraus? Von Brigitte Fehrle
Fehrle, 67, ist
ehe malige Chef -
re dak teurin der
»Berliner Zeitung«.
Sie arbeitet als freie
Journalistin in Berlin.
A
m 19. Dezember 2018 sah sich
der SPIEGEL gezwungen,
einen bis dahin in dieser Form
nie da gewesenen Fälschungsfall zu
veröffentlichen. Der junge Reporter
Claas Relotius hatte über Jahre hinweg
Texte geschrieben und veröffentlicht,
von denen die meisten zwar
einen wahren Kern hatten, zum großen
Teil aber frei erfunden waren.
Seine Geschichten waren fast immer
außergewöhnlich, einzigartig,
spektakulär. Sie spielten in unzugänglichen
Kriegsgebieten, in der
amerikanischen Provinz oder hinter
den Mauern von Gefängnissen. Die
vermeintlichen Fakten in seinen Texten
komponierte er geschickt, nutzte
damalige Lücken im System und
überlistete Kolleginnen und Kollegen
aus Redaktion und Dokumentation,
die ihm zu sehr vertrauten.
Relotius bekam für diese Texte –
meist Reportagen – viel Lob und
zahlreiche renommierte Journalistenpreise.
Im Dezember 2018 war er
nach Jahren der freien Mitarbeit beim
SPIEGEL fest angestellt und stand am
Beginn einer, wie man damals vermuten
konnte, großen Karriere. Die
Geschichte, die ihn schließlich enttarnte,
trug den Titel »Jaegers Grenze«.
Eine Story über eine Bürgerwehr,
die in Selbstjustiz illegale Migranten
an der Grenze aufspürt.
Für die Redaktion des Nachrichten-Magazins,
die am Mittag des
19. Dezember von der Chefredaktion
informiert wurde, war die Enthüllung
ein Schock. Zumal es nicht die Redaktion
selbst war, nicht aufmerksame
Ressortleiter oder Chefredakteure,
die Relotius enttarnt und damit
gestoppt hatten. Es war ein Kollege,
der unfreiwillig mit dem Starreporter
für eine Recherche über Flüchtlinge
an der Grenze zwischen den USA
und Mexiko zusammengespannt
worden war.
Juan Moreno, ein erfahrener Reporter,
stellte offenbar als Erster an
einen Text von Relotius die Frage:
Kann das sein? Ist diese drehbuchhaft
stimmige Geschichte tatsächlich so
passiert? Moreno recherchierte auf
eigene Faust Relotius’ Story nach,
suchte Orte und handelnde Personen
auf und stellte fest: frei erfunden.
Es dauerte einige Wochen, bis man
Juan Moreno beim SPIEGEL glaubte.
Er lief damals, wie er später selbst
formulierte, »gegen Wände«. Moreno
war freier Mitarbeiter, Relotius sah
man als den talentierten, aufstrebenden
Kollegen. Man vermutete Konkurrenz
und Eifersucht als Motiv
für Morenos Anschuldigungen. Aber
das ist eine eigene, für den SPIEGEL
nicht rühmliche Geschichte in der
Geschichte.
Der Fall Relotius führte zu einer
intensiven öffentlichen Debatte über
die Glaubwürdigkeit des Journalismus.
Zu Recht wurde die Frage aufgeworfen,
wie sicher sich Leserinnen
oder Leser sein könnten, dass die
Informationen und die erzählten Geschichten
stimmten, wenn schon in
einem Medium wie dem SPIEGEL mit
seiner umfangreichen Dokumentationsabteilung,
die jeden Text im Heft
auf Faktentreue prüfte, ein Fälscher
über Jahre hinweg unentdeckt bleiben
konnte.
Auch die zahlreichen Ausrichter
von Journalistenpreisen, deren Jurys
mit namhaften Chefredakteuren und
erfahrenen Reportern und Rechercheuren
besetzt sind, mussten sich
fragen, warum ihnen gerade diese
Texte so gut gefallen haben, dass sie
Preis um Preis vergaben. Und da es
Reportagen waren, für die Relotius
ausgezeichnet worden war, stellte sich
die Frage, ob dieses Genre, das wie
kein anderes aus der oft nicht nachprüfbaren
Beobachtung entsteht, besonders
anfällig ist für Fälschungen.
Dass der Skandal um Relotius für
den SPIEGEL nicht nachhaltig zu
einem Verlust von Image und Glaubwürdigkeit
führte, hatte auch mit dem
Wechsel der Chefredaktion zu tun.
Steffen Klusmann war im Dezember
2018 zwar schon im Haus, aber noch
nicht im Amt. Es war also nicht sein
Fälschungsskandal, es war der Skandal
seiner Vorgänger. Ein glücklicher
Zufall also, der es Klusmann leichter
gemacht hat, sich für Offenheit und
konsequente Aufarbeitung zu entscheiden.
Eine eigene Aufklärungskommission,
deren Mitglied ich war, sollte
den Fall aufarbeiten.
Die dreiköpfige Kommission,
außer mir waren das der gerade frisch
eingestellte Nachrichtenchef Stefan
Weigel und der langjährige SPIEGEL-
Mann Clemens Höges, bekam drei
Aufgaben: Alle Texte von Relotius
auf Fälschung hin zu überprüfen. Die
Frage zu beantworten, ob und wie die
Strukturen innerhalb des Hauses
dazu beigetragen haben, dass Relotius
so lange nicht enttarnt wurde.
Und Vorschläge zu machen, wie dies
künftig verhindert werden kann.
Die erste Aufgabe war aufwendig,
aber im Ergebnis eindeutig. Sämtliche
Texte von Claas Relotius wurden mithilfe
der Dokumentation und der Redaktion
auf Richtigkeit nachgeprüft.
Das Resultat war so klar wie niederschmetternd:
Fast alle Texte waren
fehlerhaft bis komplett gefälscht. Herauszufinden,
ob die redaktionellen
Strukturen mit dazu beigetragen haben,
dass der Fälscher Relotius so
lange nicht entdeckt wurde, war die
ungleich schwierigere Aufgabe.
M
ir begegneten im Januar 2019,
als wir mit der Recherche im
Haus begannen, überwiegend
Redakteurinnen und Redakteure, die
buchstäblich die Welt nicht mehr verstanden.
Ein Fälscher beim SPIEGEL!
Bei einem Nachrichten-Magazin.
Dem Nachrichten-Magazin. Oft hörte
ich die ungläubige Frage: Wieso
fälscht jemand in einer Redaktion,
die weder Geld noch Mühen scheut,
die ihre Journalisten bis ans Ende
der Welt fliegen lässt, um Informationen
zu beschaffen? Viele nahmen
es auch sehr persönlich, fühlten
sich betrogen, hintergangen, ja missbraucht
und sahen sich in einer Opferrolle.
Am schwersten fiel es den meisten,
den Gedanken zuzulassen, dass
nicht allein die besonders raffinierten
Fälschungen von Relotius verantwortlich
waren für die Blindheit der
Redaktion.
Am anderen Ende der Gefühlsskala
bin ich Menschen begegnet, die
auf mich wirkten, als empfänden sie
eine klammheimliche Freude über
den Skandal. Aus ganz unterschiedlichen
Motiven, wie ich vermute:
Eifersucht auf einen erfolgreichen
58 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
75 JAHRE DER SPIEGEL
Kollegen; Neid, weil das Reportage-
Ressort Privilegien hatte, die man sich
selbst auch wünschte; oder Genugtuung,
weil man den publizistischen
Kurs nicht teilte, für den einer wie
Relotius stand, der Preise mit schön
geschriebenen Texten gewann.
Zumindest in den ersten Monaten
unserer Recherchen stieß ich überall
auf großes Aufklärungsinteresse. Es
schien den meisten klar zu sein, dass
Vertuschen oder taktisches Manövrieren
mit der Wahrheit dem SPIEGEL
und dem Ansehen des Journalismus
schaden würde. Ein paar ganz wenige,
die dann auch eher wortkarg waren,
wünschten sich wohl alte Zeiten
zurück, in denen der SPIEGEL Kritik
von außen mit Abwehr oder hermetischem
Schweigen quittierte.
D
er allgemeine Aufklärungseifer
schwand naturgemäß, als das
öffentliche Interesse am Fall
Relotius nachließ und wieder Alltagsroutine
einkehrte. Aber da hatten wir
als Kommission unsere Recherchen
schon weitgehend abgeschlossen.
Es mag zynisch klingen, aber zum
Glück hatte Relotius nicht nur im
SPIEGEL gefälscht. Zum Glück, denn
so konnten andere seriöse Redaktionen
in Deutschland nicht den Staatsanwalt
spielen. Überall mussten sich
Chefredakteure, Ressortleiterinnen
und Ressortleiter fragen: Hätte mir
das auch passieren können? Mit Ja
antwortete, wer ehrlich war. Damals
trafen die Gründe, die im SPIEGEL
zu der Blindheit hinsichtlich der
Fälschungen führten, in unterschiedlicher
Weise auch auf andere Redaktionen
zu:
‣ die Überbewertung des Genres Reportage,
der vermeintlichen »Königsdisziplin«
des Journalismus, die zu
dramaturgischen Kompositionen,
Ausschmückungen und – wie im Fall
Relotius – zum Erfinden verführt.
‣ die mangelnde Transparenz und
Nachprüfbarkeit von Recherchen,
die es Leserinnen und Lesern nicht
ermöglichen, Hintergrund und Umfeld
zu verstehen, in denen ein Text
entsteht.
‣ eine schwach ausgeprägte Fehlerkultur
im Reporter-Ressort, die
gegenseitige Kontrolle als Misstrauen
fehlinterpretiert.
Die Redaktion des SPIEGEL hat
aus dem Fälschungsskandal weitreichende
Konsequenzen gezogen. Nach
einem langen Diskussionsprozess gab
sich die Redaktion neue, strengere
Regeln für Recherche, Dokumentation
und Texte. Leserinnen und Lesern
soll es so leichter gemacht werden,
die Entstehung von Texten nachzuvollziehen.
Auch die Reporterinnen
und Reporter müssen ihre Recherchen
umfangreicher und nachprüfbarer
dokumentieren.
Ein Fall Relotius, der Vorgesetzte
und Kollegen mit erfundenen Personen,
Orten und Dokumenten täuschen
konnte, ist unter Einhalten
dieser Regeln eigentlich nicht mehr
möglich. Pessimisten könnten sagen:
Fälschen ist deutlich aufwendiger geworden.
Damit, wie im Fall Relotius geschehen,
Zweifel von Leserinnen und Lesern
am Wahrheitsgehalt von Texten
nicht untergehen, wurde im SPIEGEL
eine Ombudsstelle geschaffen. Hier
gehen der Leiter der Rechtsabteilung,
eine Dokumentarin und der Nachrichtenchef
des SPIEGEL Hinweisen
konsequent nach.
Es ist also einiges geschehen, nicht
nur im SPIEGEL. Auch in anderen
Medien hat der tatsächliche oder mindestens
drohende Glaubwürdigkeitsverlust
durch die Fälschungen zu ähn-
Ausrisse gefälschter
Relotius-Artikel
[M] DER SPIEGEL
lichen Diskussionen und Konsequenzen
geführt. Als Leserin oder Leser
kann man also inzwischen im besten
Fall mit mehr Transparenz und Genauigkeit
in Texten rechnen.
Claas Relotius hat vor vielen Jahren
einmal bei einer Veranstaltung
mit jungen Journalisten gesagt, er erwarte
von seinen Lesern, dass sie ihm
vertrauen. Man wünschte, er hätte
nicht recht. Aber ohne das Vertrauen
in die Rechtschaffenheit der Redaktionen
geht es trotz guter Regeln,
mehr Transparenz und neuer Beschwerdestellen
nicht. Gerade weil
die Leserinnen und Leser vertrauen
müssen, weil für sie eben nicht alles
nachprüfbar ist, darf sich ein Fall Relotius
nicht wiederholen, egal wie unbedeutend
oder in welcher Gestalt er
daherkommt.
Dieser Satz ist natürlich richtig.
Und doch scheint er für eine vergangene
Zeit geschrieben.
Als im Dezember 2018 der Fall
Relotius öffentlich wurde, geschah
dies in einem medialen Umfeld, das
heute fast harmlos wirkt. Es gab zwar
Fake News, der damalige US-Präsident
versuchte mit plumpen Mitteln
durchaus perfide, die Öffentlichkeit
zu manipulieren, russische Trolle
spielten mit. Aber dies schien eine Art
abweichendes Verhalten, ein Phänomen,
von dem man noch hoffte, dass
es vorübergehend sein würde, vertrauend
auf die Medienkompetenz
der Menschen und die Qualität und
Präzision der Gegeninformation –
der echten Fakten.
H
eute, nur drei Jahre später, erleben
wir eine Globalisierung
der neuen Art. Sie folgt nicht
den Wirtschaftskreisläufen oder den
Finanzströmen. Ja, nicht einmal dem
Klimawandel. Sie reist mit dem Virus.
Die böswilligen Verschwörer haben
erstmals ein weltumspannendes Thema
gefunden. Menschen rund um
den Globus sind für ein und dasselbe
zu agitieren.
Die Leugner der Pandemie konnten
die Schranken von Reich und
Arm, von Kultur und Religion überspringen.
In Echtzeit mit der Verbreitung
des Virus sind weltweit radikale
Gruppen entstanden, die sich jeder
politischen oder sozialen Einordnung
entziehen und demokratische Regeln
missachten. Die Völker hören jetzt
tatsächlich die Signale, aber ganz andere,
als die Vordenker des Sozialismus
sich das erhofft hatten.
Für Medien, die sich der Wirklichkeit
und Wahrhaftigkeit verpflichtet
fühlen, ist der Kampf um Gehör in
deren Welt wohl verloren. n
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
59
»SAGEN, WAS IST«
Die größten
Enthüllungen und
Skandale
Seit 75 Jahren steht der SPIEGEL für
investigative Recherche – und macht
dabei weder vor der Politik noch vor
Unternehmen halt.
1948 (Heft 35/1948)
NS-Vergangenheit eines Prinzen
Der SPIEGEL berichtet, dass Prinz Bernhard der
Niederlande SS-Sturmführer war.
1950 (Heft 39/1950)
Bestechung bei der Wahl der
Bundeshauptstadt?
Bestechlichkeitsvorwürfe gegen Abgeordnete
bei der Abstimmung über den
provisorischen Regierungssitz der BRD.
1952 (Heft 28/1952)
Die Schmeißer-Affäre
Adenauer soll dem französischen Nachrichtendienst
geheime Informationen zugespielt haben.
1953 (Heft 33/1953)
NS-Vergangenheit des Politikers Rudolf Vogel
Der SPIEGEL enthüllt, dass der CDU-Politiker
Rudolf Vogel glühender Anhänger Hitlers war.
1957 (Heft 51/1957)
Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland
Der SPIEGEL macht antisemitische Beschimpfungen
eines Studienrats publik.
1958 (Heft 8/1958)
Saufgelage von Verfassungsschützern
Der Generalbundesanwalt ermittelt, weil der
SPIEGEL über Interna der Geheimdienstler
berichtet.
1961 (Heft 23/1961)
Die Fibag-Affäre
Verteidigungsminister Franz Josef Strauß will
einem Freund einen Bauauftrag vermitteln.
1962 (Heft 41/1962)
»Bedingt abwehrbereit« – die SPIEGEL-Affäre
Der SPIEGEL deckt Schwachstellen der
Bundeswehr und der Verteidigungspläne auf.
1966 (Heft 5/1966)
Die »Starfighter«-Affäre
In dem Artikel »Ein gewisses Flattern«
wird die Pannenserie des Jagdbombers
Lockheed F-104 beschrieben.
1972 (Heft 3/1972)
Heinrich Bölls provokanter Meinhof-Essay
Der Schriftsteller nimmt Ulrike Meinhof und
die RAF gegenüber der »Bild« in Schutz.
1972 (Heft 11/1972)
Die Paninternational-Affäre
Nach einem Flugzeugabsturz mit 22 Toten berichtet
der SPIEGEL über Korruptionshinweise.
1972 (Heft 16/1972)
NS-Vergangenheit von Hans Filbinger
Der SPIEGEL outet den CDU-Ministerpräsidenten
als ehemaligen Marinerichter der Wehrmacht.
1977 (Heft 10/1977)
Verfassungswidriger Lauschangriff
Der Manager Klaus Traube wurde widerrechtlich
abgehört, weil er Kontakt zu
Linksextremisten gehabt haben soll.
1978 (Heft 1+2/1978)
Manifest aus dem Osten
DDR-Dissidenten kritisieren im SPIEGEL die
»Arschkriecher und Speichellecker« in der SED.
1979 (Heft 10/1979)
DDR-Spionage-Chef enttarnt
Der SPIEGEL druckt auf dem Titel ein Foto von
Markus Wolf, dem »Mann ohne Gesicht«.
1982 (Heft 2/1982)
Die Flick-Affäre
Der Konzern hat verdeckt hohe Summen an alle
etablierten Parteien gespendet.
1982 (Heft 6/1982)
Bei Mietern abkassiert
Manager des Wohnungsbaukonzerns
Neue Heimat haben über Tarnfirmen in
die eigene Tasche gewirtschaftet.
1984 (Heft 3/1984)
Die Kießling-Wörner-Affäre
Der SPIEGEL über die Entlassung eines Generals
wegen vermeintlicher Homosexualität.
1987 (Heft 38/1987)
Der Barschel-Skandal
Mutmaßliche Kampagne des CDU-Ministerpräsidenten
gegen seinen SPD-Rivalen.
1990 (Heft 13/1990)
Rumäniens Todeshaus
SPIEGEL und SPIEGEL TV enthüllen katastrophale
Verhältnisse in einem Kinderheim.
1991 (Heft 2/1991)
Die Traumschiff-Affäre
Bericht über die gesponserten Auslandsreisen
des BW-Ministerpräsidenten Lothar Späth.
1993 (Heft 21/1993)
Industriespionage bei Opel
VW-Manager José Ignacio López soll von seinem
Ex-Arbeitgeber Geheimpapiere entwendet haben.
Fotos v.l.n.r.: Presse-Foto Agentur Schüller Fosch; UPI / SZ Photo; ZUMA Wire / IMAGO; Cornelia Gus / picture-alliance / dpa; Tim Brakemeier / picture-alliance / dpa; Joel Saget / AFP; GlobalImagens / IMAGO
60 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
75 JAHRE DER SPIEGEL
1994 (Heft 14/1994)
Affäre um »Bäderkönig« Eduard Zwick
Wie der bayerische Ministerpräsident Strauß
sich vom Thermalbadbetreiber bestechen ließ.
1995 (Heft 17/1995)
Plutonium-Schmuggel beim BND
Im Auftrag von V-Leuten des BND wird auf
einem Flug aus Moskau hochgiftiges Plutonium
nach Deutschland geschmuggelt.
1995 (Heft 34/1995)
Fundamentalkritik von Marcel Reich-Ranicki
Der Literaturkritiker verreißt im SPIEGEL den
Günter-Grass-Roman »Ein weites Feld«.
1996 (Heft 24/1996)
Steuerskandal bei Steffi Grafs Vater
Der SPIEGEL berichtet über schwarze Konten,
Briefkastenfirmen und Bargeldverstecke.
1999 (Heft 29/1999)
Spendenaffäre bei der Hessen-CDU
Der SPIEGEL konfrontiert die Partei mit einer
schwarzen Kasse im Ausland.
2003 (Heft 21/2003)
Missbrauch von Heimkindern
Der SPIEGEL enthüllt, wie Kinder in kirchlichen
Heimen misshandelt und missbraucht wurden.
2004 (Heft 15/2004)
Spesenskandal bei der Bundesbank
Bankchef Ernst Welteke ließ einen privaten
Berlin-Aufenthalt von der Dresdner Bank bezahlen.
2007 (Heft 18/2007)
Doping beim Team Telekom
Im SPIEGEL beschuldigt der Masseur
Jef D’hont sein einstiges Team, das
Dopingmittel Epo eingenommen zu haben.
2008 (Heft 23/2008)
Spitzelaffäre der Deutschen Telekom
Die Telekom ließ systematisch Betriebsräte und
Gewerkschaftsfunktionäre überwachen.
2008 (Heft 41/2008)
Brisanter Datenklau
T-Mobile werden die Daten von Millionen Kunden
gestohlen, das Leck wird erst mal vertuscht.
2009 (42/2009)
Skandal bei der HSH Nordbank
Der SPIEGEL berichtet, wie die HSH Nordbank mit
dubiosen Geschäften ins Trudeln geriet.
2009 (Heft 9/2009)
Der Fall Thomas Middelhoff
Der SPIEGEL berichtet über Untreue und
Steuerhinterziehung des Arcandor-Managers.
2010 (Heft 10/2010)
Afghanistan-Leaks
Mit Medienpartnern analysiert der SPIEGEL
Dokumente zur geheimen US-Spezialeinheit 373.
2010 (Heft 43/2010)
Die WikiLeaks-Irak-Protokolle
Der SPIEGEL berichtet mit anderen Medien
über die Grausamkeiten des Kriegs im Irak.
2012 (SPIEGEL ONLINE 22.8.2012)
Der Prunk-Bischof von Limburg
Erste-Klasse-Flüge und ein Protzbau bringen
Franz-Peter Tebartz-van Elst in Bedrängnis.
2013 (Heft 44/2013)
Lauschangriff auf Merkels Handy
Der SPIEGEL berichtet, dass der US-Geheimdienst
jahrelang ein Handy der Kanzlerin
überwachte.
2014 (Heft 40/2014)
Verbrauchsskandal bei deutschen Autokonzernen
Der SPIEGEL zeigt, wie VW & Co. CO 2 -Ausstoß und
Verbrauch ihrer Fahrzeuge geschönt haben.
2015 (Heft 17/2015)
Das Innenleben des »Islamischen Staats«
Auf Basis exklusiver Dokumente beschreibt der
SPIEGEL die Struktur der Terrororganisation.
2015 (Heft 43/2015)
Das zerstörte Sommermärchen
Vor der Austragung der Fußball-WM 2006 in
Deutschland floss Geld an Fifa-Funktionäre.
2016 (Heft 49/2016)
Football Leaks
Mithilfe der Plattform Football Leaks
deckt der SPIEGEL zahlreiche Fußballskandale
auf.
2017 (Heft 28/2017)
Das deutsche Autokartell
Durch geheime Absprachen hebelten unter anderem
VW, Daimler und BMW den Wettbewerb aus.
2019 (Heft 21/2019)
Die Ibiza-Affäre
Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache
wird dabei ertappt, Medien steuern zu wollen.
2019 (Heft 50/2019)
Der Berliner Tiergartenmord
Der SPIEGEL und Bellingcat zeigen, dass ein
Georgier im Auftrag Russlands ermordet wurde.
2020 (SPIEGEL.de 14.12.2020)
Drahtzieher des Giftanschlags enttarnt
Enthüllungen über die mutmaßlichen
Hintermänner des Attentats auf Alexej Nawalny.
2020 (Heft 25/2020)
Philipp Amthor und Augustus Intelligence
Das CDU-Bundestagsmitglied nutzte
sein Amt, um Lobby-Arbeit für das Unternehmen
zu betreiben.
2021 (Heft 11/2021)
Die Maskenaffäre der Union
Der SPIEGEL berichtet, dass Politiker in
zweifelhafte Maskendeals verwickelt waren.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
61
75 JAHRE DER SPIEGEL
GRATULATION
Das Beste von damals,
nur anders
Für Barbara Junge war der SPIEGEL immer eine Instanz, aber auch
ein schwer erträgliches Herrenmagazin. Inzwischen hat sich
vieles verändert, aber die Aufgabe bleibt: bissig, unbequem und bloß nicht
beliebig zu sein. Und den Mächtigen auf die Finger zu schauen.
Junge, 53, ist seit
Mai 2020 eine
der beiden Chefredakteurinnen
der »taz«. Davor
arbeitete sie beim
Berliner »Tagesspiegel«,
wo sie
zuletzt als USA-Korrespondentin
das
Washingtoner Büro
leitete. Ihr Mann war
einige Jahre beim
SPIEGEL angestellt.
Anja Weber
A
riane Barth war 25 Jahre alt,
als sie 1967 zum SPIEGEL
stieß, eine der ersten Frauen
überhaupt in der Geschichte des Blattes.
Der Tabubruch war ein doppelter,
weil sie nicht nur weiblich war, sondern
auch eine verheiratete Mutter.
Als Ehefrau mit Kind sei sie fehl am
Platz in der Redaktion, das hätten ihr
ihre Kollegen damals deutlich gemacht,
erinnert sie sich heute im Gespräch.
Auch ihre Chefs sprachen so,
gerade sie, die großen Namen, die
Ariane Barth so bewunderte.
Barth verarbeitete den brutalen
Druck auf ihre Art. Morgens, wenn
sie mit dem Auto von Eilbek aus die
gut 15 Minuten in die Redaktion fuhr,
damals noch an der Brandstwiete,
hielt sie oftmals auf halbem Weg zur
Redaktion an einer Ampel. Auf der
Höhe einer Beate-Uhse-Filiale öffnete
sie die Fahrertür – und erbrach sich
aus Angst vor dem, was sie in der
Redaktion erwartete. Barth erzählt
diese Geschichte heute mit einem bittersüßen
Tonfall, sie wurde trotzdem
eine begnadete Reporterin, 35 Jahre
blieb sie dem SPIEGEL treu.
Was sagt das über eine Redaktion,
wenn sich eine so große Journalistin
wie Ariane Barth allmorgendlich so
klein fühlte, dass sie sich aus Angst
übergeben musste?
Es ist, zunächst, ein Ausdruck davon,
dass der SPIEGEL der ersten
Jahrzehnte ein mitunter schwer erträgliches
Herrenmagazin war. Über
Jahrzehnte hießen die SPIEGEL-Leute
Conrad, Michael oder Joachim,
ihre Chefs Erich, Hans Werner, später
Stefan und, natürlich, Rudolf. Nur ab
und zu verirrte sich eine Michaela
oder Britta in die illustre Runde der
Ressortleiter. Einem Yassin, einer Özlem
oder einer Samira öffneten sich
die Türen des SPIEGEL erst viel später,
lange nach dem Mauerfall.
Die Wucht des autoritären innerredaktionellen
Umgangs traf allerdings
nicht nur Frauen. Der SPIEGEL
war mehr als nur ein Nachrichten-
Magazin, dahinter stand ein Prinzip,
das größer war als jeder Einzelne seiner
Mitarbeitenden. Ein Prinzip, das
hervorragend dazu geeignet war,
Autorinnen wie Ariane Barth kleinzumachen.
Als »Arbeitsredakteure«
hätten sie sich damals gegenseitig bezeichnet,
erinnert sich Barth heute.
Hellmuth Karasek, der langjährige
Feuilleton-Chef des SPIEGEL, hat dieses
Prinzip in seinem Roman »Das
Magazin« über den fiktiven jungen
SPIEGEL-Redakteur Daniel Doppler
boshaft genau beschrieben. Als
Doppler beim SPIEGEL anfängt, erfährt
er von einem Kollegen, wie es
in dem Laden zugeht: »Normalerweise
sind die Redakteure hier noch kleiner.
So groß mit Hut … Klein, das
heißt, dass dein Scheißartikel so lange
redigiert wird, bis er nicht mehr
dir gehört. Die Chefredaktion praktiziert
da die Synonym-Redigiererei.
Schreibst du ›riesig‹, redigieren sie
›gigantisch‹, schreibst du ›gigantisch‹,
verbessern sie zu ›riesig‹, bloß um
dich fühlen zu lassen, dass du in
Wahrheit der letzte Dreck bist und
nur von ihren Gnaden lebst.«
Zumindest in den ersten Jahrzehnten
war der SPIEGEL nicht nur ein
Herrenmagazin, sondern auch so
herrlich exklusiv, dass er beim Diversitätscheck
gnadenlos durchgefallen
wäre, und nur deshalb so lange damit
durchkam, weil es in der alten Bundesrepublik
normal erschien, dass in
den Redaktionen westdeutsche weiße
Männer über westdeutsche weiße
Männer in der Politik schrieben.
Der SPIEGEL war damit, wie andere
Redaktionen auch, Abbild einer
mittlerweile untergegangenen Zeit.
Einer Zeit, in der Pressefreiheit in
Deutschland bedeutete, das zu drucken,
was rund 20 Millionärsverleger
gern gedruckt sehen wollten (die
»taz«, dieser Schlenker sei mir erlaubt,
wurde 1978 gegründet, um
ebenjenes Oligopol reicher Männer
zu durchbrechen). Rudolf Augstein
war einer dieser Multimillionäre, und
vielleicht verklären wir heute bei aller
historischen Leistung Augsteins ein
wenig, dass sein Blatt nicht immer so
liberal und aufgeklärt war, wie es gern
dargestellt wird. Auch linksliberale
Männlichkeit kann toxisch sein. Um
bei Ariane Barth zu bleiben: Manchmal
war der SPIEGEL schlicht zum
Kotzen.
Es gibt aber auch eine andere Seite
des Prinzips SPIEGEL, das zugegeben
nicht nur bei mir eine Mischung aus
Faszination und Bewunderung auslöst.
Der SPIEGEL war immer schon
mehr als nur eine Redaktion. Er war,
in der alten Bundesrepublik, eine
eigene Instanz. Die vom SPIEGEL,
das waren die Erwachsenen im
Raum, an denen sich die anderen Medien
orientierten. Ich mag das Gerede
von der vierten Gewalt nicht
sonderlich, weil es uns Journalistinnen
und Journalisten überhöht und
wichtiger nimmt, als es uns zusteht.
Aber für den SPIEGEL traf dies fraglos
zu: Sein Einfluss war gigantisch
(also: riesig), er nahm die Rolle einer
vierten Gewalt im bundesrepublikanischen
Staat ein.
Weil das Prinzip SPIEGEL größer
ist als jeder Einzelne, erschienen Artikel
lange Zeit ohne Namen. Es war
nicht wichtig, wer etwas geschrieben
hatte; was zählte, war, was geschrieben
wurde. Im Zeitalter des Instagram-Ichs
hat der Gedanke an eine
namenlose Kollektivität etwas Herzerwärmendes.
Und zum Kleinmachen durch den
SPIEGEL zählte eben auch: das Kleinmachen
der Halunken und der Hintermänner
in Politik und Wirtschaft.
Das Konfrontieren der Mächtigen,
die sich sonst kaum jemand zu konfrontieren
traute, nicht nur in der
SPIEGEL-Affäre. Das ist das eigentliche
Verdienst des SPIEGEL für die
Demokratie, und dafür kann man ihm
gar nicht oft genug danken.
Dass die Versuchung groß gewesen
sein muss, Kontrolle der Macht mit
eigener Bedeutung zu verwechseln,
ist dabei eine vielleicht unvermeidliche,
zugegeben aber auch desillusionierende
Begleiterscheinung. Nur
so lässt sich erklären, dass manch
SPIEGEL-Chefredakteur sich im Flieger
die Buchungsklasse »First« vorbehielt,
in der ein Transatlantikflug
locker 8000 Mark kosten konnte.
62 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
75 JAHRE DER SPIEGEL
Man war ja auf Augenhöhe mit den
Mächtigen, warum also sollte ein
SPIEGEL-Chef schlechter reisen als
ein Dax-Vorstand? Und wenn die Recherchen
besonders drängten, wurde
schon mal ein Privatjet gechartert.
Dann geschahen zwei Dinge: Die
Mauer fiel, Deutschland wurde größer.
Und jemand kam auf die Idee,
dass man Journalismus auch im Internet
machen kann, sogar ganz gut (zu
denen, die das schnell verstanden,
gehörte der SPIEGEL, ein großes
Glück für das Haus). Eine neue, andere
und unerwartete Form von Diversität
entstand: eine diversifizierte
Medienlandschaft, die dem SPIEGEL
einiges seiner Dominanz nahm.
Wenn dem SPIEGEL heute vorgeworfen
wird, er sei nicht mehr das,
was er mal war, ist das ein bisschen
wahr, vor allem aber wohlfeil (und
wird vorzugsweise von Mitbewerbern
oder Politikern vorgetragen, die sich
schlecht behandelt fühlen). Das Prinzip
SPIEGEL, furchtlosen Journalismus
angelsächsischer Prägung mit
scharfer politischer Kritik und herausragender
Erzählkunst zu kombinieren,
hat den Journalismus in Deutschland
verändert. Andere haben aufgeholt
(auch die »taz« hat sich einiges
vom SPIEGEL abgeschaut).
Wie sollte der SPIEGEL also sein,
was er mal war, in einer so gewandelten
Welt? Und wäre das wirklich gut,
wenn er sich nicht verändert hätte?
Die Mobilität, Spontaneität und
Pionierstimmung des Onlinejournalismus
jedenfalls hat die Hermetik des
gedruckten SPIEGEL aufgebrochen.
Im Vergleich zur journalistischen
Aristokratie der Printkollegen, bei
denen das ungeschriebene Gesetz
galt: je höher das Büro an der Brandstwiete
und je mehr Fensterachsen,
desto wichtiger der Redakteur und
desto fetter das Bankkonto – im Vergleich
dazu also nahmen sich die
Onlinekollegen und -kolleginnen aus
wie Hungerlöhner am Fließband
einer malaysischen Manufaktur. Sie
waren, wenn auch im Branchenvergleich
nicht wirklich schlecht bezahlt,
das journalistische Prekariat in der
Klassengesellschaft des SPIEGEL.
Der Bluthochdruck-Journalismus
von SPIEGEL ONLINE hat fraglos
manche SPIEGEL-Qualität verwässert,
angefangen bei der Qualitätskontrolle
der Texte (wo ist eigentlich
die legendäre SPIEGEL-Dokumentation?)
bis hin zum Kolumnenjournalismus,
der Meinung im Dutzendpack
billiger macht. Etwas
nachlässig im Stil sei der SPIEGEL
heute, findet Ariane Barth, dafür sei
die Kon formität verschwunden.
Man kann nicht alles haben. Die
wechselsei tige Befruchtung und die
2019 vollzo gene Fusion der Redaktionen
von Print und Online haben
dem Haus jedenfalls wohltuende
Frischluft zugeführt.
Zugleich wirkten das Blatt und die
Website in den vergangenen Jahren
mitunter so, als hätte sie eine mittelschwere
Identitätskrise erfasst, und
zwar schon bevor mit Claas Relotius
die Schwindelei Einzug hielt. Als
wäre nicht mehr ganz klar, wofür der
SPIEGEL heute steht.
Wofür also sollte er stehen? Es
mag aus der Feder einer »taz«-Chef-
SPIEGEL-Redaktionskonferenz
1988
Kritische
Schärfe
kann diesem
Land
mit all
seinen
Verwerfungen
und
merkeligem
Scholzismus
nur
guttun.
Monika Zucht
redakteurin merkwürdig klingen,
aber die Antwort lautet: für das
Beste von damals, nur anders. Heute
gilt ein modernes, geweitetes Verständnis
von Macht, das nicht nur
politischen und ökonomischen Einfluss
umfasst, sondern auch gesellschaftlichen.
Macht besitzen nicht
nur politische Alphafiguren und
Konzernvorstände, nicht nur Annalena
Baerbock, Markus Söder und
Herbert Diess. Macht besitzen auch
Dieter Wedel, Jérôme Boateng und
die katholischen Priester, die Myriaden
unschuldiger Jugendlicher missbraucht
haben. Machtstrukturen
verlaufen ökonomisch und sozial,
anhand von Herkunft, zwischen Geschlechtern
und Identitäten. Das Leben
ist unübersichtlich geworden,
und sosehr uns das nerven und überfordern
mag, so zentral ist es doch
für ein Leitmedium wie den SPIEGEL,
diesen erweiterten Machtbegriff nicht
zu ignorieren.
Bedeutet das, einer Gegenwartsströmung
nachzugeben, die nur die
eigene Befindlichkeit in den Mittelpunkt
der Debatte stellt? Bitte nicht.
Wach zu sein – »woke« hieß das,
bis der Begriff zum Instrument ideologischer
Auseinandersetzungen wurde
– bedeutet , immer wieder zu hinterfragen,
wer Macht ausübt, und
dieser hinterherzurecherchieren, sie
im besten demokratischen Sinne zu
kon trollieren. Augsteins »Im Zweifel
links« bedeutet immer auch: im Zweifel
für die Schwachen und Wehrlosen.
Das »Im Zweifel links«-Diktum umfasst
übrigens auch die Klimakrise,
deren Verursacher und Verharmloser
angeprangert gehören wie korrupte
Konzernbosse oder lügende Politikerinnen.
Danke, lieber SPIEGEL, dass
du das Anschreiben gegen die Klimakrise
so ernst nimmst.
Im SPIEGEL arbeiten die meisten
der besten Journalistinnen und Journalisten
des Landes, und ich sehe das
als Verpflichtung. Die Demokratie
braucht den SPIEGEL, um den Mächtigen
auf die Finger zu schauen, das
war gestern so und wird morgen so
sein. Weich sind andere zur Genüge.
Kritische Schärfe kann diesem Land
mit all seinen Verwerfungen und
merkeligem Scholzismus nur guttun.
Das können nicht viele, und nur der
SPIEGEL kann es wie der SPIEGEL.
Wenn diese Wächterfunktion noch
etwas empathischer und diverser, etwas
weniger herrschaftlich-unerbittlich
und dafür unbestechlich präzise,
bissig, aber nicht verbissen ausgeübt
würde: Dann käme der SPIEGEL meinem
Traummedium noch näher, als
er es ohnehin schon ist.
n
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
63
Reporter
Die Geschichten hinter den Geschichten –
der besondere Rückblick
Mit Esel und Pony
NR. 32/2021 »Last Warning« – Der Terminator will die Welt retten, diesmal vor dem Klimawandel.
Wie genau das gehen soll? Marc Hujer hat das Arnold Schwarzenegger in seinem Haus in Los Angeles gefragt.
I
m
Sommer, drei Monate vor der Weltklimakonferenz
in Glasgow, besuchte
ich Arnold Schwarzenegger auf seinem
Anwesen in Los Angeles, wo er zusammen
mit vier Tieren lebt: dem Schlittenhund
Dutch, den er nach seiner Rolle im Film
»Predator« genannt hat, seinem Yorkshireterrier
Cherry sowie Whiskey, dem Pony,
und Lulu, seinem Esel. Schwarzenegger, der
von 2003 bis 2011 Gouverneur von Kalifornien
war, redete über seine neue Rolle als
Klimaaktivist; seit fünf Jahren veranstaltet
Schwarzenegger eine eigene Klimakonferenz,
den Austrian World Summit in Wien,
auf dem auch Greta Thunberg aufgetreten
ist. In seinem Haus in Los Angeles plädierte
Schwarzenegger für einfachere Sprache und
mehr Optimismus in der Klimadebatte, nur
so könne man Menschen mitnehmen, die
sich von wissenschaftlichen Berichten nicht
erreichen ließen. Statt über »Klimawandel«
solle man lieber über »Verschmutzung reden«,
sagte Schwarzenegger, das sei eingängiger,
man könne sie sehen, wie sie aus den
Schornsteinen komme. »Verschmutzung ist
es, was die Menschen tötet. Verschmutzung
ist der Feind Nummer eins, Verschmutzung
lässt die Korallenriffe sterben, lässt die Eisberge
schmelzen, wenn wir die Verschmutzung
in Griff kriegen, lösen wir auch alle
anderen Probleme. Warum also reden wir
immer über Klimawandel?« Er habe dafür
immer wieder geworben, aber verändert,
sagt Schwarzenegger im Dezember, fast ein
halbes Jahr später, habe sich nicht viel; es
gebe zwar in Kalifornien ein paar Leute, die
jetzt auch von »Verschmutzung« sprächen,
aber auf der Weltklimakonferenz habe er
von einem Wandel nichts gemerkt. »Wenn
man sich die Kommunikation in Glasgow
anschaut«, sagt Schwarzenegger, »war das
ein Desaster.«
Schleppende
Aufklärung
NR. 46/2021 »Niemand soll
erleben, was ich erlebt habe« –
Was passiert, wenn Kinder
in ein System gelangen, in dem
keiner auf sie achtet, hat
Frauke Hunfeld recherchiert.
Dass »unsere Kinder Tyrannen
werden«, hatte der Bonner
Kinderpsychiater Michael
Winterhoff über Jahre behauptet
und war damit berühmt
geworden. Was öffentlich
nicht bekannt war: dass
er über Jahrzehnte Kindern ab
drei Jahren massenweise
Psychopharmaka verordnete.
Vor allem die vielen Heimkinder,
die er behandelte, fühlten
sich machtlos. Viele, die
der SPIEGEL in diesem Jahr
traf, leiden bis heute unter
Nachwirkungen der Behandlung.
Die Recherche war auch
eine Reise in das System der
Jugendhilfe, das Schutzbedürftige
nicht ausreichend schützt
und Machtmissbrauch nicht
verhindert. Inzwischen ermittelt
die Staatsanwaltschaft.
Michael Winterhoff hat seine
Praxis seit Mitte Dezember
geschlossen. Trotzdem geht
die Aufklärung nur schleppend
voran, fast alle involvierten
Behörden verweisen auf Nichtzuständigkeit,
auf Datenschutz,
auf Unkenntnis. Womit
die Frage, warum
geschehen konnte, was geschehen
ist, zum Teil auch schon
beantwortet wäre.
64 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL
Plakate in Hanau
#saytheirnames
NR. 7/2021 »Die Hanau-
Protokolle« – Özlem Gezer und
Timofey Neshitov haben
Über lebende und Angehörige
der Opfer des Attentats von
Hanau monatelang begleitet
und interviewt.
Ferhat Unvar
Hamza Kurtović
Said Nesar Hashemi
Vili-Viorel Păun
Boateng,
Lenhardt 2020
»Die Trauer ist
unbeschreiblich«
NR. 34/2021 »Eine moderne
Hexenjagd« – Nora Gantenbrink,
Isabell Hülsen und Antje
Windmann recherchierten
nach dem Tod des Models Kasia
Lenhardt die Hintergründe.
Warum wollte Kasia Lenhardt
sterben? Diese Frage
stellten sich Anfang dieses
Jahres Redakteurinnen des
SPIEGEL. Im Februar hatte
sich das Berliner Model das
Leben genommen. Dem Suizid
vorausgegangen war eine
Hetzjagd in den sozialen Medien,
ausgelöst durch ein
Interview, das ihr Ex-Freund,
der Profifußballer Jérôme
Boateng, der »Bild«-Zeitung
gegeben hatte. Darin hatte er
Lenhardt auch vorgeworfen,
ihn zu der Beziehung erpresst
zu haben. Dutzende Chat- und
Sprachnachrichten sowie Dokumente,
die dem SPIEGEL
vorliegen, zeichneten ein anderes
Bild. In dem Text, der
im Spätsommer erschien, äußerten
sich Vertraute des ehemaligen
Paares. Auch Adrianna
Lenhardt, Kasias Mutter,
sprach zum ersten Mal nach
dem Tod ihrer Tochter. Boateng
hatte sich zu den SPIEGEL-
Recherchen nicht äußern wollen.
Mittlerweile spielt er
bei Olympique Lyon in Frankreich.
Im September verurteilte
ein Münchner Gericht den
33-jährigen Fußballprofi zu
einer Strafe von 1,8 Millionen
Euro wegen Körperverletzung
an Sherin S., der Mutter seiner
Töchter. Sowohl Boatengs Anwalt
als auch Nebenklage und
Staatsanwaltschaft haben
dagegen Berufung eingelegt.
Adrianna Lenhardt nach Erscheinen
des Artikels: »Mir hat
es viel bedeu tet, dass nicht
mehr nur noch die eine Seite
der Geschichte in der Öffentlichkeit
kursiert. Ich hatte den
Glauben an Gerechtigkeit
schon verloren. Dennoch bringt
mir all das mein Kind nicht
mehr zurück. Ich würde lügen,
wenn ich sage, es ginge uns
gut. Die Trauer ist un beschreiblich.
Kasias Ge schwister
vermissen ihre Schwester, und
Kasias Sohn vermisst seine
Mama. Eine Leerstelle in unseren
Herzen wird für immer
bleiben.«
Mercedes Kierpacz
Kaloyan Velkov
Fatih Saraçoğlu
Sedat Gürbüz
Gökhan Gültekin
Neun junge Menschen, ermordet
am 19. Februar 2020 in Hanau,
von einem rechtsextremen
Attentäter aus rassistischen
Motiven.
#saytheirnames
ddp socialmediaservice
Milos Djuric / DER SPIEGEL
»Banane im Kopf«
NR. 29/2001 »Der Trip« –
Der Berliner Unternehmer Carl
Philipp Trump verkaufte legal
ein Derivat der Droge LSD.
Max Polonyi begleitete ihn.
Im Juli berichtete der
SPIEGEL über Carl Philipp
Trump, der in Berlin eine Gesetzeslücke
nutzte: Trump hatte
einen Millionenumsatz mit
der Forschungschemikalie
»1CP-LSD« gemacht, die bei
Konsum einen zwölfstündigen
Rausch aus Wahnvorstellungen
versprach. Ende Juni wurde
sein Produkt verboten. Nur
wenige Wochen später eröffnete
Trump neu, mit einer
Nachfolgesubstanz namens
»1V-LSD«, die laut Trump
eine identische Wirkung haben
soll wie ihre Vorgängerin.
Drei Monate lang verkaufte
Trump wie zuvor – ohne Altersbeschränkung
und mit
Umsätzen von bis zu 50 000
Euro pro Woche. Ende September
schloss die Berliner
Polizei sein Geschäft, »zum
Zwecke der Verhinderung und
Fortsetzung weiterer Straftaten
und Ordnungswidrigkeiten«.
Der Laden ist jetzt amtlich
versiegelt, Trump darf ihn
nicht mehr betreten.
Keineswegs
greisenhaft
NR. 37/2021 »Die ganzen
Filme sind auch Schreie nach
Liebe« – Am 10. Dezember
2021 wurde Georg Stefan Troller
hundert Jahre alt. Hauke
Goos und Alexander Smoltczyk
haben ihn besucht.
Er ist eine Legende und dazu
noch bei bester Gesundheit.
Aber wie ein Interview führen
mit jemandem, der selbst ein
Meister dieses Fachs ist? Der
schon alle kritisch und liebevoll
vernommen hat, von
Coco Chanel und Romy
Schneider bis Muhammad Ali
und Alain Delon? Wir hatten
Troller bereits früher, für
unser SPIEGEL-Buch »Ein
Sommer wie seither kein anderer«,
in Paris getroffen.
Nein, es sei kein Problem,
noch einmal zu kommen, sagte
Troller am Telefon, keineswegs
greisenhaft, sondern mit
einer leicht wienerisch gefärbten
tiefen Katerstimme: »Nur
eine Bedingung: Wir reden
nicht über die alten Dinge,
Jugend in Wien, Krieg, Befreiung
von Dachau.« Das habe
er schon zu oft erzählt, und
das Leben eines Hundertjährigen
ist zu kurz für Wiederholungen.
So trafen wir uns
zwei Tage lang in der Normandie,
im Garten von Trollers
Bauernkate. Auf dem Tisch
standen Kaffee und Kuchen
und Foxy, der Kater. Wir sprachen
über Träume und Albträume,
über nicht Erledigtes,
Versäumtes und vor allem
über die Kunst, Menschen zu
beschreiben, ohne ihnen wehzutun
und ohne dabei die eigene
Aufrichtigkeit zu betrügen.
Es war ein beglückendes
Gespräch, und manchmal, so
möchten wir uns einbilden,
ein Gespräch unter Reporterkollegen.
»Danke, Kinder,
aber jetzt werde ich mich ein
wenig hinlegen«, sagte Troller
zum Abschied.
Trump
Trump sagt, ihm fehlten nun
Tausende Euro Einnahmen pro
Woche. Seinen Onlineshop
betreibt er wie gehabt. Er ist
überzeugt von Qualität und
Legalität seines Produkts, er
selbst konsumiere davon jeden
Morgen zehn Mikrogramm.
Trump blickt optimistisch in die
Zukunft, er suche nach Immobilien
in Hamburg und München,
um weitere Läden zu eröffnen.
Allein die Ankündigung der
Ampelkoalition, Cannabis zu
legalisieren, bereite ihm Sorgen.
Trump hält Cannabis für gefährlicher
als sein LSD. Vor
Kurzem habe er sich von einem
seiner Mitarbeiter trennen
müssen. Dieser habe begonnen
zu kiffen und sei im Büro zu
nichts mehr zu gebrauchen gewesen.
»Das Zeug macht dich
total Banane im Kopf«, sagt
Trump.
Milos Djuric
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
65
REPORTER
Tanz auf dem Vulkan
KATASTROPHEN Fast drei Monate lang spuckte der Cumbre Vieja auf La Palma Lava und Gas,
zerstörte Häuser, veränderte Leben. Unterwegs mit Auswanderinnen,
die einst Deutschland verließen, um auf den Kanaren neu anzufangen. Und die nun noch einmal
neu anfangen müssen. Von Barbara Hardinghaus
66 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Spanish Institute of Oceanograph / ddp
E
s hatte sich früh angekündigt,
schon um die Jahreswende
2017/18, mit vielen kleinen Beben
in wenigen Stunden. Der Anfang,
viele Jahre vor dem Ausbruch.
Katharina, Fotografin, geboren
1958 in Hersbruck bei Nürnberg,
wusste noch nicht, dass ein Vulkan
ihr Leben verändern würde, sie arbeitete
damals in einem Hotel bei Nürnberg
als Animateurin.
Barbara, Hebamme, geboren 1965
in Oranienburg, hatte wieder mal
alles aufgegeben. Sie hatte in der
Schweiz ihren Renault vollgepackt
und ein Ticket für die Fähre nach La
Palma gebucht. Silvester 2017/18 saß
sie in Montpellier in einem Airbnb-
Zimmer, allein am Fenster, vor ihr die
Nacht.
Carla, Künstlerin, geboren 1952 in
Hannover, war schon auf der Insel,
als der Vulkan sich vorbereitete. Sie
habe sich keine Sorgen gemacht,
ohnehin könnte man sagen, sie ist
unerschütterlich. Mit 54 Jahren hatte
sie Spanisch gelernt, erst »buenos
días«, dann »por favor«, und ein neues
Leben begonnen.
Drei deutsche Neuanfängerinnen.
Drei Frauen, die sich auf den Weg
gemacht hatten, um ein neues Leben
zu beginnen, auf La Palma, der
nordwestlichsten der Kanarischen
Inseln, 45,2 Kilometer lang, 27,3 Kilometer
breit, rund 86 000 Einwohner.
Eine Insel, die es nur gibt,
weil vor knapp zwei Millionen Jahren
ein Vulkan sie aus dem Meer
emporsteigen ließ.
Seit vielen Wochen leben die
drei nun mit der Lava, der Asche.
Anfang 2021 hatte der Cumbre Vieja,
der »Alte Gipfel«, erneut viele
kleine Erdbeben vorausgeschickt.
Am 19. September um 15.12 Uhr
Ortszeit brach er schließlich aus,
Asche regnete nieder, eine Lavafront
rollte mit mehr als zehn Metern pro
Stunde über Häuser. Explosionen
ließen Fensterscheiben brechen.
Ende September erreichte die Lava
den Atlantik.
Barbara Bresgott, die Hebamme,
lebt seit fast vier Jahren auf der
Insel. Sie trägt die grauen Haare
kurz, einen Ohrring rechts, und
steht an einem Abend Ende November,
mehr als zwei Monate nach dem
Beginn des Ausbruchs, am Haus
ihres Freundes Diego, wo sie Kisten
ins Auto packt. Avocados, Orangen,
Bananen.
Der Himmel hinter ihr ist rot eingefärbt
vom Licht der Lava, die unterhalb
des Hauses am Hang gegenüber
durch das Tal läuft. Die Bananenstauden
sind von Asche bedeckt.
Ladenbesitzer
in Los Llanos beim
Aschefegen: Die
Erde bebt bis
zu 200-mal am Tag
Soldaten
warfen an
Allerheiligen
von einem
Helikopter
aus Blumenblüten
auf
den
Friedhof.
Barbara steht in Tajuya, einem Teil
von El Paso. Auf der einen Seite La
Palma, wie man es kennt: hügelig,
kräftig, grün, beliebt bei Touristen, die
dort wandern, baden, selbst im Winter.
Auf der anderen Seite die Lava.
Ihr Blick geht über die Lava ins
schwarze Nichts, unter dem Häuser
liegen, Weiden, Felder und auch der
Campingplatz, der wie ein Zuhause
war.
Am 12. Januar 2018 hatte Barbara
La Palma erreicht, sie wusste zunächst
nicht, wo sie leben würde, wo
sie arbeiten würde, sie konnte die
Sprache nicht. Sie kellnerte im La
Pergola und zog ins Aridane-Tal an
der Westseite von La Palma. Es war
das am dichtesten besiedelte Tal der
Insel, dort lebten viele deutsche
Auswanderer. Heute ist es das am
schwersten betroffene Tal, 7000 Menschen
wurden evakuiert.
Die Erde hat sich hier neu sortiert,
an manchen Stellen bis zu 80 Meter
hoch aufgebaut, sie liegt in Wellen,
bildet flache Ausläufer, steile Wände.
Im November ist alles noch im
Werden, der Vulkan noch immer
aktiv, die Erde bebt bis zu 200-mal
am Tag, die Ursache der Beben liegt
bis zu 40 Kilometer tief unter der
Erdoberfläche, der Vulkan schießt
Schwefeldioxidfontänen aus, Zehntausende
Tonnen Gas am Tag.
Barbara sagt, sie habe schon kurz
nach dem Ausbruch die Idee gehabt,
den Menschen nach ihren Verlusten
zu helfen. Sie holte Bananen von
ihrem Freund Diego, der Bananenbauer
ist. Holte Seifen aus einem Laden
in Los Llanos, weil dorthin kaum
noch Kunden kommen. Holte Hefe,
Anna Tiessen / DER SPIEGEL
REPORTER
Chutneys, Milch von Sandra, die
einen Bioladen führte, den es nicht
mehr gibt. Heute hat sie 19 Kilogramm
Kartoffeln im Wagen, von
Sybille, die Physiotherapeutin ist und
einen Garten hat.
Barbara fährt gerade zum sechsten
Mal ihren kleinen mobilen Markt
um die Insel, macht fünf, sechs Stationen,
insgesamt 170 Kilometer
Strecke, um Waren zu denen zu bringen,
die gerade nur wenig haben. Sie
sagt, sie könne es nicht ertragen,
nichts zu tun.
Sie schließt die Heckklappe, lacht
Diego kurz an, es liegen kleine graue
Partikel auf ihrer Stirn, Asche auf ihrem
Haupt, Partikel aus feinstem Glas.
Nachdem sie auf die Insel gekommen
war, hatte sie eine Anzeige geschaltet:
»Deutsche Hebamme und
Sozialarbeiterin bietet Betreuung an«.
Sie wurde Lehrerin für schwer erziehbare
Kinder, half bei einer dementen
Frau, arbeitete als Altenpflegerin.
Ihr Leben sei schon immer in Bewegung
gewesen, sagt sie. Drei Kinder,
Trennung. Chor gegründet, Klavierunterricht
gegeben, Jugendklub
aufgemacht, städtische Angestellte in
Festanstellung, Weiterbildung, Sprechstundenhilfe,
wieder selbstständig,
wieder Hebamme, Expertin für Veränderung.
Ein Mensch auf der Suche.
Jemand, der Neuanfänge nicht scheut,
sondern sie zulässt.
Barbara sagt solche Sätze wie:
»Augen auf und durch!« Sie gründete
zu Beginn der Pandemie einen Gruppenchat,
lud Menschen ein, rief einen
Verein ins Leben. Sie schuf einen
Platz für die Vereinstreffen, mit
einem großen Tisch und Bänken
unter einem Maulbeerbaum, unten
im Aridane-Tal, mit Bar, Bambus,
hippiemäßig, auf dem Campingplatz.
All das liegt jetzt unter der Lava, als
wäre es nie gewesen.
Am Abend vor dem Ausbruch,
dem Samstag, hätten sie ihre erste
Party gefeiert, sagt Barbara, mit Musik,
Wein, Nüsschen, geviertelten
Eiern auf dem Salat. Diego spielte
Gitarre; da ruckelte die Erde schon
ordentlich, die Behörden warnten,
Gefahrenstatus »orange«.
Sie hätten gewusst, dass es wieder
losgehen würde, aber keiner habe es
so richtig geglaubt, sagt Barbara.
Carla Helga Culemann, die Künstlerin,
die schon lange hier ist, hat wilde
graue Locken, trägt ein rotes Tuch,
hat rote Lippen. Sie hat sich ein wenig
hübsch gemacht, Katastrophe hin
oder her.
Sie hatte auf dem Campingplatz
ihr Atelier und eine kleine Casita zum
Schlafen. Carla, die eh eher der re-
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
67
REPORTER
laxte Typ ist, dachte noch am Tag des Ausbruchs:
»Ihr spinnt doch!«, als ihr Leute sagten,
sie solle besser etwas einpacken und den
Campingplatz verlassen.
Sie war am Morgen noch im Meer geschwommen
und hatte auf dem Flohmarkt
Blumen gekauft für das Atelier. Sie hatte mittags
Pasta mit Tomatensoße gekocht und wollte
eine Siesta einlegen, als sie um 15.13 Uhr
die Rauchwolke sah und dann doch schnell
einpackte: zuerst den Aktenordner mit Pass
und den Autoversicherungsunterlagen, den
Computer, einen Schlafanzug.
Carlas Leben war seinen Gang gegangen,
irgendwann war dann ihr großer Ausbruch
gekommen, ohne Vorbeben, die ihn angekündigt
hätten. Sie hatte Kunst studiert, einen
Demeter-Landwirt geheiratet, drei Kinder
bekommen, 18 Jahre Schwäbisch Hall. Dann
kam La Palma.
Sie wohnt jetzt oberhalb des Aussichtspunkts
El Time, bei einer Freundin in einem
kleinen Zimmer mit einem Bett und einem
Stuhl, er ist das einzige Möbelstück, das Carla
geblieben ist.
Was nimmt man noch mit, wenn man nur
zehn Minuten hat?
Wolldecken, die teuren Farben, Tassen, die
sie an etwas oder jemanden erinnern, und
eben den Stuhl, aus Holz, leinenbespannt,
blau lasiert.
Warum genau den?
Sie sagt: »Er ist ein Erinnerungsstück noch
aus meiner Ehe. Mein Schwiegervater war
Architekt, er hatte ihn entworfen, wir haben
ihn bauen lassen.«
Ein Einzelstück.
Andere packten ein: eine Badehose. Einen
Gummitrog.
Millisekunden-Entscheidungen, so verschieden,
wie die Menschen es sind.
Katharina Hubner, die Fotografin, war am
20. März 2018 im Flugzeug auf die Insel gekommen.
Sie war 40 Jahre alt, als sie und ihr
Mann sich trennten. Bis dahin war sie wohlbehütet,
sehr gut versorgt gewesen. Firma,
Porsche, Jaguar, Haus, mal schnell auf die
Kanaren fliegen. Das war nach der Trennung
plötzlich alles weg. Sie hatte sich in die Insel
verliebt, in die Esskastanien, die Steineichen,
die alten Drachenbäume und die Vielfalt. Regengegenden,
Nebelgegenden. Wärme.
Katharina lebte zur Zeit des Ausbruchs
drei Kilometer Luftlinie vom Vulkan entfernt,
in Tajuya, in einer kleinen Casita. Sie hatte
die »Casa Monarca«, ihr vorheriges Zuhause
mit den prächtigen Obstbäumen, den Hühnern
und der Monarchfalterzucht, gerade erst
verlassen, alles sollte verkauft werden, doch
ihr Herz hing noch dran.
Ihr neues Heim wurde evakuiert und auch
das alte, wo sie vergaßen, die Hühner freizulassen.
Jetzt lebt Katharina in einem Raum mit
einem noch kleineren Raum daneben, wo ihr
Bett steht, das Ganze ist mehr ein Verschlag,
mit einem kleinen Fenster, von dem aus sie
das Meer sieht.
Barbara, die Hebamme, wartet an einem
Morgen Mitte November am Busbahnhof von
Los Llanos de Aridane, hinter dem Kreisel
bei Lidl. Sie hat sechs Brote gebacken und
mit ihren Kindern telefoniert. In der Nacht
hat wieder die Erde gebebt. Noch immer rieseln
kleine schwarze Partikel auf sie hinab
durch die Sonnenstrahlen. In der Stadt fegen
die Menschen ihre Markisen ab, ihre Windschutzscheiben
befreien sie mit den Scheibenwischern,
bevor sie losfahren, Straßenreiniger
räumen die Gehwege, an manchen Stellen
mit Räumfahrzeugen wie im Skigebiet; sie
fegen jeden Tag 200 Tonnen Asche zusammen
in Los Llanos. Der zerstörte Streifen ist
so groß wie 1700 Fußballfelder, nur 1,7 Prozent
der Inselfläche sind direkt betroffen, aber
die Asche findet ihren Weg.
Einige klagen über Kopfschmerzen, ihre
Augen brennen. Manche nahmen ihre Sachen
und fuhren in den Norden. Einige wohnen da
jetzt, das sind die, die nichts mehr sehen oder
hören wollen. Wenn man dort ist, ist es, als
wäre nichts gewesen.
Andere bleiben da, wie aus Trotz oder aus
Liebe.
Sie sehen ständig nach ihm, nach dem alten,
cholerischen Bekannten, dem Vulkan.
Was macht er heute?
Er nimmt den Menschen das Licht, wirft
riesige Schatten auf sie, türmt Rauchsäulen
auf, seine Lava sucht sich immer neue Wege,
verästelt sich.
Es ist noch früh an diesem Novembermorgen,
aber Barbara, die Hebamme, hat sich
schon warm geredet. Sie spricht immer viel,
als würde sie sich die Dinge im Leben noch
»Schon kurz nach dem
Ausbruch hatte ich die Idee,
den Menschen zu helfen.«
Barbara Bresgott, Hebamme
Anna Tiessen / DER SPIEGEL
mal selbst erklären. Der schwerste Neuanfang?
Ihre Jungs waren 2008 alle drei innerhalb
von einer Woche ausgezogen.
Wie das war?
»Schlimm«, sagt sie.
Sie schaut, bevor sie ihre Tour startet, kurz
in den Himmel und sagt: »Was bedeutet schon
Sicherheit? Für wen ist sie? Für was? Warum?
Und für wie lange?«
Barbara steuert das bepackte Auto aus Los
Llanos in Richtung El Paso, in eine Wohngegend
mit Villen, höher gelegen. Dort trifft
sie Uli und Elke, die bei Freunden eingezogen
sind nach dem Ausbruch, weil ihr Haus auch
unter der Lava liegt, seit 41 Tagen jetzt.
D
ie erste Explosion, so erzählen es
die Menschen auf der Insel, sei klein
gewesen, der Knall fast unmerklich,
bis zu 25 Kilometer tief unter der Erdoberfläche
dehnten sich die Gase aus, die Magmaströme
brauchten Zeit, bis sie oben ankamen.
Ein Lärm wie am Flughafen, dann
ein Donnern.
Schließlich kam die Lava. Der Strom suchte
sich seinen Weg, in Richtung Westen, Richtung
Meer. Lava besteht aus geschmolzenen
Steinkristallen und Gasen, während sie an
der Oberfläche fließt, kühlt sie ab, entgast,
wird langsamer, stockt.
Am zweiten Tag hatte der Strom die Grenze
zu Todoque erreicht, die Landstraße LP 2
überschritten, er stoppte kurz an der Hauptstraße,
rollte auf die Kirche San Pio X zu. Es
gibt die Kirche nicht mehr.
Die Lava begrub Häuser, manche brannten,
Mauern glühten, sie begrub die Weinbar, die
Autovermietung, das Yogastudio, den Supermarkt.
Die Lava floss weiter auf die Küste zu,
arbeitete sich voran mit 120 Metern pro Stunde,
brüllend, launisch, rollte über alles Gewesene.
Am 19. Oktober war das Atelier von
Carla dran.
Was sie nicht mitgenommen hat?
Schreinerschrank, Sofa, Bildhauerwerkzeug,
Klavier, Trichter.
Am selben Tag war auch der Campingplatz
komplett weg, der Vereinsort, Bar, Kino, Wolkenhaus,
hellblau und weiß, für die Kinder.
»Is weg«, sagen die Deutschen hier.
Laut Katasteramt fehlen nun mehr als
1345 Wohnhäuser von 2329 gemeldeten Personen,
weitere 5000 Menschen haben immer
noch keinen Zugang zu ihren Häusern, die
teils zerstört oder beschädigt sind. Insgesamt
438 Evakuierte musste die Inselregierung
zunächst in Hotels, Schulen, Sporthallen
unterbringen. Stromleitungen müssen erneuert
werden, Wasserleitungen, 73 Kilometer
Straßen sind nicht nutzbar. Der geschätzte
Schaden: rund 900 Millionen Euro.
Barbara war gerade auf einer ihrer ersten
Markttouren nach dem Vulkan ausbruch im
Auto, als jemand ein Video in ihrer Chatgruppe
postete und schrieb: »Brennt hier die Bananenpackerei
neben dem Campingplatz?«
»Das sieht so aus«, antwortete Barbara nur
kurz.
68 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
REPORTER
Sie wurde als ältestes von vier Kindern
geboren, ihr Vater war Pfarrer,
sie war keine Pionierin und durfte in
der DDR kein Abitur machen. Sie
wurde Hebamme an der Charité,
arbeitete in Ludwigslust in einem
Stift, wo sie im Kreißsaal das Anpacken
lernte. Ihre erste große Veränderung
im Leben, sagt sie, war die
Wiedervereinigung, die zweite, als sie
ihren Mann verließ, mit 27.
Sie spricht schnell, fröhlich, hat ihr
Handy auf dem Tisch mit dem Foto
der Enkelkinder.
Als ihre Jungs weg waren, ging sie
in die Schweiz und machte eine Ausbildung,
Pränatal- und Geburtstraumatherapie,
sie heiratete ein zweites
Mal, wohnte bald wieder allein.
Irgendwann machte sie Urlaub auf
La Palma, merkte, »hier könnte ich
leben!«, und brach wieder auf. Diesmal
für immer, »dieses Mal komme
ich nach Hause«, dachte sie bei sich,
als sie 2017 den Renault packte.
Die erste Nacht auf La Palma
schlief sie in Todoque, dem Dorf, das
es heute nur noch auf Karten gibt und
im Internet.
Nichts ist für die Ewigkeit, vielleicht
nur Vulkane.
Unter dem Streifen der Zerstörung
liegen auch: 1000 Hektar Land,
340 Hektar Anbaufläche, davon
wiede rum 206 Hektar Bananenplantagen,
60 Hektar Weinberge, 26 Hektar
Avocadoplantagen.
Mit Drohnen haben Tierschützer
in El Paraíso vier Hunde mit Wasser
und Futter versorgt, die eingeschlossen
waren, an einer anderen Stelle
fütterten sie eine Katze.
Zu Allerheiligen warfen spanische
Soldaten von einem Helikopter aus
Blumenblüten auf den Friedhof von
Las Manchas.
Carla, die Künstlerin, auf die Insel
gekommen vor 15 Jahren, hatte vor
ihrem ersten Neuanfang mit 51 Jahren
bei ihrem Coach in Schwäbisch
Hall gesessen, der sie gefragt habe:
»Willst du den Rest deines Lebens in
der Kleinstadt verbringen?«
Sie ging dann erst mal auf Reisen,
begann eine Coachingausbildung in
den USA, ein vierwöchiges Training
absolvierte sie auf den Bahamas in
einem Hotel am Strand, wo sie am
Abend im Sand tanzte. Dann: New
York, Hawaii, Berlin, Ibiza.
Im Juli 2006 fuhr sie nach La Palma
in den Urlaub, übernachtete
günstig auf dem Campingplatz, lernte
den Platzwart, Hannes, kennen.
Half ihm mit den Blumen und kehrte
dann im November zurück, die Haare
hennarot, ohne Rückflug ticket,
und zog in einen der Wohnwagen.
Anna Tiessen / DER SPIEGEL (2)
»Ich wollte
gerade eine
Siesta machen,
als ich
die Rauchwolke
sah.«
Carla Helga Culemann,
Künstlerin
Katharina, die Fotografin, sagt, sie
spüre die Erdbeben schon, bevor sie
da sind, ein Dröhnen, aus der Tiefe.
Dann schläft sie nicht mehr weiter.
Sie erzählt das am Hang in der Nähe
ihres neuen Hauses mit den Katzen,
Mogli ist dabei, ihr Lieblingstier, gerettet.
Sie hat schon alles durch, war reich,
war arm. Sie war liiert und ist jetzt
seit 13 Jahren Single.
Von ihrem weißen Schreibtisch aus
schaut sie mehrmals am Tag mit dem
Laptop im Internet nach, wohin die
Lava fließt, nach den vergangenen
Erdbeben, welche Stärken sie hatten.
3,5. 4,7. Die Zahlen geben ihr Auskunft
über die Kraft der Natur und
auch darüber, wann sie zurückkann
in ihre kleine Casita.
»Vielleicht sind es Senkungsbeben«,
sagt sie und erklärt. Wenn
schon viel Magma raus ist, sackt der
Untergrund zusammen. Lässt der
Vulkan es also schon gut sein?
»Schaun mer mal«, sagt sie, als
spräche sie über den nächsten Regen.
Sie ist gern draußen, sie mag keine
Enge. Sie läuft hoch zu den Bienenstöcken
oder in die Wälder, es scheint,
als wäre die Natur über die Jahre ein
Stück bei ihr eingezogen. In ihrer
neuen Unterkunft ist alles klein,
voll mit Asche, der Wind vom Meer
trägt sie hinein, auf ihr Bett, in die
Küche.
Sie hat an die Wände selbst gemalte
Bilder geklebt, eine Sonne, die
»Spirale des Lebens« in Gelb und
Violett. Sie verdient als Fotografin
gerade nichts und baut mit Photoshop
ein Katzenorakel, das sie verkaufen
will, 42 Karten.
Die Trennung von ihrem Mann
damals sei hart gewesen, sagt sie. Das
ging von ihm aus, und sie musste damit
leben. Sie hat dann eine Massageausbildung
begonnen und eine weitere
als Gesundheits- und Ernährungsberaterin.
Sie wurde selbstständig.
Sie ist schon mal aus der Asche auferstanden,
wenn man so will.
Sie sagt, es habe seinen Preis, dieses
Leben, ein Rückhalt fehle ihr an
manchen Tagen. Das ehrlichere Leben
sei manchmal das einsamere.
Man müsse es aushalten können.
Dennoch: Wenn sie in Deutschland
ist und die gepflegten Vorgärten
sieht, denkt sie daran, dass die Scheidung
ihr ein neues Leben ermöglicht
hat, und sagt Danke.
Jetzt wartet sie nachts auf La Palma
darauf, dass die Erde wieder wackelt,
oder sie schaut, was die anderen
auf Facebook dazu schreiben.
»Rumpel-Rumpel alle wach?«
Oder: »Guten Morgen! Noch alle
Tassen im Schrank?«
Carla, die Künstlerin, war am
Nachmittag mit ihrem roten Subaru
unterwegs, sie will zeigen, wo ihr Atelier
stand, sie will so dicht ranfahren,
wie es geht. Überall sind aber Absperrungen,
spanische Polizisten in
gelben Westen, es stehen Pick-ups
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
69
REPORTER
bereit für diejenigen, die noch mal, begleitet,
an ihr evakuiertes Haus dürfen.
Sie kurbelt das Fenster runter und fragt
freundlich nach, mit einem Honiglächeln. Der
Polizist mit Walkie-Talkie erwidert unter der
Schirmmütze: »Wenn Ihre Adresse nicht mehr
da ist, haben Sie keinen Zugang mehr.«
Sie fährt ein Stück in eine andere Richtung
bis an das Schild »La Laguna«, Durchfahrt
verboten. Es kommen Menschen an diese
Stelle, die sich an den Armen halten und weinen
wie an einem Grab.
Carla, die ihr Atelier verloren hat, ihr großes
Werkzeug, malt in ihrem kleinen Zimmer
jetzt kleine Aquarelle. Sie beugt sich über
den Tisch und streicht über das Papier, als
wäre es lebendig. Im neuen Zuhause hat sie
ein Ikea-Regal aufgebaut, Bücher hineingestellt,
Jackson Pollock, und das Foto ihrer
Mutter. Sie hat mit ihrem Coach gesprochen,
der sagte: »Geh auf Reisen mit dem Wohnmobil!«,
aber das ginge ihr jetzt doch zu
schnell.
Sie überlegt, noch ein Buch zu schreiben.
Das erste Buch heißt »Die mit dem Glück
tanzt«. Das zweite Buch soll heißen: »Die auf
dem Vulkan tanzt«. Sie lacht selbst lange und
herzlich, wenn sie das erzählt.
S
ie wollte nach dem ersten Ausbruch den
Vulkan nur noch ein einziges Mal sehen
und fuhr an die Aussichtsplattform El
Time, an der die Touristenbusse jetzt halten.
Schaute kurz, überlegte es sich anders, ging
in das Café nebenan, setzte sich an das Klavier
und spielte »Fly Me to the Moon«.
An diesem Nachmittag fährt Barbara jetzt
an El Time vorbei, mit ihren Kisten. Sie will
noch ein Stück weiter. In Puntagorda, im Zentrum,
wartet Melanie, 71, die vor elf Jahren
losgezogen ist, die Rente war klein, die Kinder
groß. Sie steht da ziemlich gut gelaunt mit
roten Chucks, Strohhut.
Sie kauft Öl von Sandra aus dem Bioladen
und Schokomüsli, sagt: »Das Leben geht seinen
Weg, und ich folge ihm.«
Eine Station weiter: Gabriela, 56, vier Kinder:
»Es gibt noch ein Leben nach den Kindern.«
Gabriela wohnt mit Blick aufs Meer,
bei einer Witwe, die 82 ist und der sie hilft.
Um das Haus am Hang wachsen Mandelbäume,
Strelitzien, Weihnachtssterne. Im Auto
zurück schwärmt Barbara von dem Garten
und sagt, so könne sie auch leben. 56 Jahre
war die ältere Dame mit ihrem Mann verheiratet.
Sie haben sich gemeinsam etwas aufgebaut,
auch diesen Garten, in dem alles gewachsen
ist, jahrzehntelang.
»56 Jahre. Hochachtung«, sagt Barbara,
»aber das wirft auch Fragen auf.«
Vielleicht ist das so für Menschen, die weiterziehen,
dass lange Verbindungen sie skeptisch
machen.
Die Palmeros, die Inselbewohner, wünschen
sich ihr Dorf zurück, Todoque soll wiederaufgebaut
werden. Barbaras Eltern haben
dort bereits gewohnt, ihre Großeltern. 1971
war der Cumbre Vieja an der Südspitze der
»Ich halte nichts davon,
Todoque einfach
wiederaufzubauen.«
Katharina Hubner, Fotografin
Anna Tiessen / DER SPIEGEL
Insel ausgebrochen, weit weg von Todoque.
Ein Ereignis, das mit diesem vergleichbar
wäre, liegt mehr als 340 Jahre zurück.
Barbara, Carla und Katharina halten nichts
davon, Todoque wiederaufzubauen. Es könne
sich natürlich gutes Neues ergeben, aber
nicht an derselben Stelle.
Barbara sucht einen neuen Ort für ihren
Verein, an dem sie sich alle wieder treffen
können. Carla sucht nach einem neuen Platz,
in der Nähe von Puerto Naos hat sie etwas in
Aussicht, einen großen Wohnraum mit Garten
in La Bombilla.
Katharina will zurück in die kleine Casita,
aus der sie evakuiert wurde und über die sie
mittlerweile denkt, dass sie doch ein schöner
Platz sei, zwar anders als die »Casa Monarca«,
aber auch mit alten Bäumen.
Sie macht das Kartenspiel fertig und kauft
ein neues Auto.
Es ist Abend geworden, in einer Kirche
steht die Tür offen, es scheint hell heraus,
18.11 Uhr, Barbara ist auf dem Rückweg in
der Dämmerung. Sie will zu Diego, die Kisten
zurückbringen.
Diego ist auch Palmero, er hat die Bananen-Finca
von seinem Vater übernommen, er
steht da und klopft die Asche vom Basilikum,
von den Tomaten. Viele Pflanzen sind tot. Die
Folie über den Bananenstauden hält nicht, sie
liegt laternenpfahlhoch über den Bananen,
sinkt ab, hat Löcher.
Diego beugt sich über die Asche, greift in
die Erde, er wühlt. Asche mache den Boden
dynamisch und damit fruchtbar, sagt er.
Draußen sitzt Barbara auf einer Mauer. Sie
ist an diesem Tag einmal um die Insel gefahren.
»Miteinander und Füreinander«, heißt
die Chatgruppe, die sie gegründet hat. Was
macht sie, wenn sie müde ist?
»Mich zurückziehen, an einen schönen
Ort«, sagt sie. Aber den einen Ort für immer
suche sie noch.
Wie geht Veränderung?
»Es zu tun!«, sagt Barbara.
»Braucht Mut!«, sagt Katharina.
»Das Herz fragen!«, sagt Carla.
Es gibt keine Sicherheit, das haben sie mal
wieder gelernt.
Was sie vermissen?
»Es sind viele Dinge, die mit Erinnerungen
aus meinem Leben verbunden sind«, sagt
Barbara.
»Meinen friedlichen Lebensplatz, wo ich
mich frei und ungestört bewegen kann«, sagt
Katharina.
»Das Klavier und den Arbeitsplatz im Atelier«,
sagt Carla.
Michael und Karin aus Hannoversch Münden
lebten auch in Todoque, 21 Jahre lang.
Sie hatten sich gerade wieder alles schön gemacht
in ihrem Haus, die antiken Fässer der
Bodega restauriert, die Wände gestrichen.
Michael ist Fischer, sie haben Wein angebaut,
Zimmer vermietet, saßen gern im Licht
des Sonnenuntergangs in der kleinen Bar
hinter der Kirche von Todoque. Früher in
Deutschland hatte Michael als Fliesenleger
und Klavierspieler gearbeitet, Karin hatte
einen Supermarkt geleitet.
Als der Vulkan ausbrach, flohen sie sofort.
Ihr Haus war zuerst nur eingeschlossen von
der Lava links und rechts. Und dann, an Tag
zwei, war es weg.
Sie wohnen jetzt in einem Apartment in
Tazacorte, das sie gemietet haben. Karins
Vater, der über 80 ist, lebt bei ihnen. Michael
erträgt den Stillstand nicht. Er muss dann weg,
schnappt sich sein Boot und fährt weit hinaus.
Am Abend kehrt er zurück und sieht im Dunkeln
durch die Scheibe die Insel, die vor ihm
liegt wie ein Wimmelbild in der Ferne; links
noch die Lichter, unten die Promenade, rechts
der Streifen Lava, der glühend ins Meer fließt.
300 Meter neues Land sind am unteren
Saum von La Palma durch den Vulkan entstanden,
heißt es.
Im Dezember wird sich der Vulkan beruhigen.
Zum ersten Mal seit Langem hören sie
auch im Süden der Insel dann wieder die Vögel
zwitschern. 85 Tage und 18 Stunden nach
dem ersten Ausbruch schließlich, an Weihnachten,
erklärt die spanische Regierung den
Ausbruch offiziell für beendet.
Michael hatte im November gesagt, in seinem
Boot, er gebe niemandem die Schuld.
Wem auch? Der Erde?
Bevor er und Karin ihr Haus verließen,
hatten sie gepackt, was sie konnten, in einen
Fahrradanhänger. Hundebox, Werkzeug,
Angelschnüre. Auch 1000 Vakuum tüten.
Warum? Er weiß es nicht.
Sie sind um die 60 und hatten ihr Leben
anders geplant. »Aber klar«, sagt Michael.
»Fangen wir eben wieder von vorn an.« n
70 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
REPORTER
Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL
Kann man seinen
Computer töten?
HOMESTORY Das Navi, die Spülmaschine, das Handy – Technik soll unser Leben
eigentlich einfacher machen. Warum klappt das nicht, fragt sich Frauke Hunfeld.
I
ch sitze im Auto, wieder ein neues
Navi. Warum muss in jedem
Mietauto ein anderes Navigationsgerät
sein? Wenn man es gerade
bedienen kann, nützt es einem schon
nichts mehr. Ich hacke auf die Tasten,
ich reiße an den Knöpfen, ich drehe
Regler rauf und runter. Die Welt
bleibt schwarz. Es gibt eine Hotline,
aber die kann ich nicht anrufen. Das
Handy hat in der Tiefgarage des Flughafens
keinen Empfang. Und wenn
es Empfang hätte, würde ich nur eine
Maschine erreichen und müsste 1000-
mal »Ja«, »Nein« und »weiter« ins
Mikro brüllen, bis ich die Nummer
meines Mietwagenvertrags aufsagen
darf. Eine gedruckte Bedienungsanleitung
ist nirgendwo zu finden.
Eine Landkarte auch nicht. Dass ich
überhaupt danach suche, ist für die
Generation nach mir wahrscheinlich
ein Witz. Ich bin schon erschöpft, bevor
ich einen Meter gefahren bin.
Das Navi geht nur an, wenn ich
den Motor laufen lasse, was man nicht
darf, Kohlenmonoxid, sofort jault irgendein
Alarm los, das ist so eingestellt.
Sonst passiert nichts. Niemand
kommt angerannt, niemand fragt, ob
ich Hilfe brauche oder überfallen
wurde, nur der Alarm heult und ich
gleich auch. Das Radio ist zu laut,
aber wenn ich es leise stelle, wird
auch die Stimme aus dem Navi zu leise.
Ich hatte das Problem schon mal,
vor Wochen, andere Stadt, anderes
Auto, anderes Navi. Ich hab vergessen,
wie es ging. Das Radio macht
mich aggressiv.
Mein Handy hat viele Funktionen,
aber ich benutze maximal 20 Prozent.
Die, die ich brauche. Und die, die ich
verstehe. Ich habe gerade meine Kreditkarte
auf dem Telefon installiert,
aber wenn ich damit zahlen will,
erscheint sie nicht. Warum bin ich zu
blöd, ein Smart TV korrekt zum Laufen
zu bringen, eine Soundbar zu programmieren
und dafür zu sorgen, dass
unser bescheuertes Küchenradio
nicht immer um 3.24 Uhr morgens
von allein angeht? Warum streiten
wir immer sofort, wenn etwas am
Computer nicht funktioniert? Warum
machen uns diese Geräte so wütend?
Wir haben uns eine Welt geschaffen,
der wir nicht gewachsen sind. Sie
funktioniert besser ohne uns. In der
Küche einer Freundin steht eine Spülmaschine,
die sieht aus wie ein Raumschiff
und war auch fast so teuer. Aber
man kann von außen nicht erkennen,
ob sie läuft. Irgendwo im Internet gibt
es eine Bedienungsanleitung, aber das
Problem ist nicht aufgeführt. Man
muss sich hinknien und horchen, ob
sie brummt, bevor man seine Tasse
reinstellt, weil sonst das Wasser rausspritzt.
Neulich ist das wieder passiert.
Und ich habe gesehen, wie ihr
Mann die superteure Spülmaschine
einfach in die Seite getreten hat.
Kein Einzelfall. 62 Prozent aller
PC-Nutzer, so eine ältere Studie, haben
ihren Computer schon mal angeschrien,
31 Prozent die Maus geschlagen
oder auf den Boden geworfen,
15 Prozent gegen das Gehäuse
62 Prozent
aller PC-
Nutzer haben
ihren Computer
schon mal
angeschrien,
31 Prozent
die Maus
geschlagen.
getreten. Und vermutlich sind diese
Zahlen in den vergangenen zwei Jahren
genauso deutlich angestiegen wie
unsere Abhängigkeit von und unsere
Ohnmacht angesichts der Technik.
Ein IT-Fachmann des eigenen Hauses
hat mir kürzlich erzählt, dass er öfter
mal mit der Faust mitten in die Tastatur
schlägt. In Colorado hat ein
Mann vor einigen Jahren seinen
Computer erschossen. Achtmal hat
er mit einer Neun-Millimeter-Pistole
abgedrückt. Overkill nennt man
so etwas unter Kriminalisten, ein
klares Indiz dafür, dass jemand von
Wut, Verzweiflung und Ohnmacht
überwältigt wurde.
Die Logik der Maschinen hat sich
längst auf die Logik der Prozesse
übertragen. Im neuen Regierungsprogramm
steht Digitalisierung ganz
oben. Im Großen bin ich natürlich
dafür. Im Alltag denke ich manchmal:
bitte nicht. Die Digitalisierung soll
alles einfacher machen und schneller.
Ich frage mich oft: für wen? Und
wann? Wenn ich endlose Nummern
in Formulare für die Paketnachverfolgung
eintrage und am Ende doch
durch die Nachbarschaft irre, um meine
Sendung zu finden? Wenn ich für
eine Karte im Freiluftkino ein Konto
»im System« anlegen muss, noch
eines zu den vielen anderen Konten,
die ich in anderen Systemen angelegt
habe? Wenn das Kino-Konto mit
einem Code bestätigt werden soll,
aber der erst mal im Spam-Ordner
landet und dann die vorgesehene
Antwortzeit abgelaufen ist?
Ich mache mit, weil es nicht anders
geht. Ich klicke und drücke, ich bestätige
und speichere, ich sende. Was
ich damit genau in Gang setze, weiß
ich meistens nicht – ein großes Mysterium,
ein Nebel, ein Rätsel.
Was wir zu sehen bekommen von
unserer Wirklichkeit ist nur noch die
Benutzeroberfläche, nicht mehr die
Wirklichkeit selbst. Ursache und Wirkung
sind nicht mehr nachvollziehbar,
man kann keinen mehr fragen,
verantwortlich ist immer »das System«.
Wir drücken Knöpfe, wir klicken
Links, aber was dahinter geschieht:
keine Ahnung. Wir sind wie
die Kinder im Kasperletheater, die
mit dem Kasperle mitfiebern und
schreien, wenn sie das Krokodil sehen.
Die meisten von uns ahnen zwar,
dass da hinter dem Vorhang einer sitzen
muss, der die Puppen führt. Aber
wer genau das ist und was er bezweckt
und wie man im Notfall an ihn
rankommt, wissen wir nicht. Können
wir nicht wissen. Hauptsache, das
Stück funktioniert und hat ein Happy
End. Und das Kasperle überlebt. n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
71
Wirtschaft
Die Geschichten hinter den Geschichten –
der besondere Rückblick
Die »Bild«-Affäre
NR. 43/2021 »Der Schöngeist und das Biest« – Isabell Hülsen über Ex-Chefredakteur Julian Reichelt
und seinen Vorwurf einer Kampagne
J
ulian
Reichelt, 41, ehemaliger Kriegsreporter
und bis vor Kurzem Chefredakteur
der »Bild«, kennt nur Freund
oder Feind. So gesehen ist es bloß konsequent,
dass er seinen Rauswurf Mitte Oktober
als Ergebnis eines politisch motivierten
»Vernichtungsfeldzuges« gegen ihn deutete,
wie er der »Zeit« verriet. An der Spitze dieses
vermeintlichen Feldzugs: der SPIEGEL.
Wahr daran ist nur, dass der SPIEGEL als
erstes Medium Reichelts mutmaßliches
Fehlverhalten im Job öffentlich machte, das
schließlich zu seinem Karriereende beitragen
sollte: Der »Bild«-Chef hatte sexuelle
Beziehungen mit jungen Mitarbeiterinnen,
Auszubildende am Anfang ihrer Karriere.
Im März berichteten wir, dass der Axel-
Springer-Verlag die Kanzlei Freshfields mit
einem Compliance-Verfahren beauftragt
hatte, um Vorwürfen des Machtmissbrauchs
nachzugehen. Reichelt wurde freigestellt –
durfte aber nach wenigen Wochen zurück
auf seinen Posten. Ja, es habe Fehlverhalten
gegeben, räumte Springer ein, aber keinen
Machtmissbrauch. Reichelt triumphierte
und zog gegen den SPIEGEL vor Gericht.
Einerseits, weil wir vor der Veröffentlichung
die Springer-Pressestelle konfrontiert
hatten, nicht ihn persönlich. Andererseits,
weil wir nach Reichelts Meinung über das
Verfahren gar nicht hätten berichten dürfen,
weil an den Vorwürfen nichts dran sei. Das
Gericht folgte ihm, was die Konfrontation
anging, der Text wurde erst mal von der
Seite genommen – anders, als Reichelt heute
behauptet, jedoch nicht, weil der SPIEGEL
Sachverhalte »erfunden« hätte. Wir haben
gegen die Entscheidung Beschwerde eingelegt.
Die Gründe für seinen Rausschmiss
lieferte der »Bild«-Chef am Ende selbst.
Während Springer-Boss Mathias Döpfner
von Hintermännern fabulierte, die Reichelt
zu Fall bringen wollten, pflegte der weiter
eine Beziehung zu einer jungen Kollegin.
Mitte Oktober publizierte erst die »New
York Times« Details zu Reichelts Verquickung
von Bett und Beruf. Den Kollegen
und Kolleginnen des Ippen-Verlags untersagte
der eigene Verleger, Dirk Ippen, eine
Berichterstattung. Und so war es der
SPIEGEL, der seine Recherchen und die von
Ippen zu einem Text verband. Wenige
Stunden vor der Veröffentlichung gab
Springer Reichelts Rauswurf bekannt.
72 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL
Joop im Shitstorm
Reportergold in
Juristendeutsch
NR. 46/2021 »Die dunkle Seite
von SAP« – Tim Bartz ist
kein Fan von Gutachten, doch er
macht Ausnahmen.
Juristische Gutachten sind
selten vergnügsam – nur Masochisten
tun sich so etwas freiwillig
an. Ein ausnahmsweise
unterhaltsames, vor allem aber
aufschlussreiches Exemplar
hielten Christian Bergmann,
Kollege und Kooperationspartner
vom Mitteldeutschen Rundfunk,
und ich dieses Jahr in den
Händen. Schon der Name des
Dokuments verspricht Entertainment:
»Golden Eye«, wie
der Bond-Film. Auch der Inhalt
des von Topanwälten der Wirtschaftskanzlei
Linklaters im
Jahr 2010 verfassten Papiers hat
Thriller-Format. Es geht um
Machenschaften des SAP-Konzerns
in den Jahren 1997 ff., die
im Kern darauf hinauslaufen,
dass sich die Softwareschmiede
unter anderem mit üblen Tricks
an die Weltspitze gekämpft hat.
Geheimlabors, falsche Visitenkarten,
dubiose Zuwendungen:
Joop
NR. 46/2021 »Wenn einer sich
schlampig anzieht, denkt er auch
schlampig« – Martin U. Müller
und Tobias Rapp über ein Interview,
bei dem sie hartnäckiger
hätten nachfragen können
Wolfgang Joop war in Plauderlaune,
als wir ihn zum Gespräch
darüber trafen, was Corona
mit der Modewelt gemacht
hat. Zugleich schien er in sentimentaler
Verfassung, wollte
erzählen, wie rasant sich die
Branche verändert hat. Er habe
bei Karl Lagerfelds Tod geweint,
weil damals eine Ära zu
Ende gegangen und »diese Welt
so wunderbar frivol und frigide«
gewesen sei. Dann fielen
die Sätze, die später für Empörung
sorgten, in sozialen Netzwerken,
in Medien und in persönlichen
Gesprächen: »Alles
war käuflich. Die Agenturen gaben
die Schlüssel zu den Zimmern
der Models, die nicht so
viel Geld brachten, an reiche
Männer. Und wenn sich ein
Mädchen beschwerte, hieß es:
Wir können auch auf dich verzichten.«
Als reiner Text mussten
diese Sätze verstörend wirken.
Beim SPIEGEL führte die
Passage intern zu hitzigen Diskussionen.
Im Rückblick ist zu
sagen: Wir hätten an der Stelle
hartnäckiger nachfragen, Belege
für die Behauptungen fordern
können. Aber als wir Joop gegenübersaßen,
hatten wir den
Eindruck, dass er die Vergangenheit
nur beschrieb, nichts daran
verteidigte oder gar zurückwünschte.
Doch ein gedrucktes
Interview kann eine Atmosphäre
nur sehr eingeschränkt
wiedergeben. Joop entschuldigte
sich später und bezeichnete
die Geschehnisse in der Branche
als das, was sie waren: ein
respektloser und missbräuchlicher
Umgang mit Models.
Was die Linklaters-Advokaten
da im Auftrag des SAP-Aufsichtsrats
über interne Geschäftsvorgänge
schwungvoll
aufgeschrieben hatten, war
pures Reportergold. Seinen
speziellen Charme entfaltete die
Enthüllung auch vor dem
Hintergrund der angeblich so
porentief reinen Aufstiegsgeschichte
der SAP-Überväter
Dietmar Hopp und Hasso Plattner.
Die Konzerngründer sonnen
sich gern im Glanz ihrer
mildtätigen Gaben für Kinder,
Kunst und Wissenschaft, doch
ihre Milliardenvermögen gründen
offenbar auch auf finsteren
Methoden. Dass der SAP-Aufsichtsrat,
gegen den Rat der
Linklaters-Anwälte, keinen der
damals Verantwortlichen absetzte
und einer von ihnen,
Gerhard Oswald, heute sogar
im Kontrollgremium sitzt,
wundert schon fast nicht mehr.
Ebenso wenig wie die Reaktion
des Konzerns auf unsere Nachfragen:
Die Ereignisse seien
ewig her und aufgearbeitet.
Überhaupt lege SAP beim Thema
Integrität höchste Standards
an. Amen.
Eva Tuerbl / DER SPIEGEL
Rupert Oberhäuser / IMAGO
Hildmanns
Radikalisierung
NR. 45/2021 »Querdenker vom
Amt« – Max Hoppenstedt fragt
sich, wann man Rechtsex tremen
die falsche Bühne bietet.
Wer jahrelang über die Aktionen
des Hacker-Kollektivs Anonymous
berichtet, ist Überraschungen
gewohnt. Was jedoch
Mitte September auf einer
virtuellen Pressekonferenz
geschah, war auch für mich unerwartet:
Der 22-jährige Kai
Enderes, Mitglied der verschwiegenen
Hacker-Gruppe,
packte darüber aus, wie er monatelang
als IT-Administrator
an der Seite des ultrarechten
Gegners von Coronamaßnahmen
Attila Hildmann unterwegs
war. So etwas hatte es hierzulande
noch nicht gegeben.
Gleichzeitig bekamen
SPIEGEL und SPIEGEL TV Zugang
zu mehr als zwei Terabyte
an internen E-Mails, Chats und
Daten des ehemaligen Vegan-
Kein Wort des
Bedauerns
NR. 44/2021 »Die Milliarden-
Abzocke« – Frank Dohmen über
die Recherche eines Skandals
und das Schweigen danach
Es begann mit einem Telefonat,
wie sie Journalisten zu
Hunderten führen. Ein Mann
aus einer großen Institution
wollte seine Besorgnis ausdrücken
ȟber diese Sache mit der
Scheibenpacht« und dass normale
Stromkunden von der Industrie
um Milliarden »beschissen«
würden. Nun kenne ich
mich ein wenig in der Strombranche
aus, aber von Scheibenpacht
hatte ich noch nie
gehört. Das sollte sich ändern.
Bayer-Chempark in
Leverkusen
Kochs. Sie zeigen, wie er schon
vor der Pandemie Ärger mit
Polizei und einer Lebensmittelkontrolle
hatte und auch geschäftlich
in Schieflage war.
Manche Leserinnen und Leser
kritisierten uns: Wir sollten
Hildmann doch bitte keine Bühne
bieten. Das ist oft ein wichtiger
Einwand, doch bei dieser
Recherche sehe ich es anders.
Die Enthüllung gab neue Einblicke
in Hildmanns Radikalisierung
und seine Nähe zu Rechtsextremen.
Sie widersprach zudem
seinem Narrativ, dass es
nur die Coronamaßnahmen
gewesen seien, die ihn in einen
Konflikt mit dem Staat getrieben
hätten. Schließlich wurde
eine Querdenkerin in der Generalstaatsanwaltschaft
Berlin enttarnt,
die einen Haftbefehl an
Hildmann durchgesteckt haben
soll. Es zeigte sich, dass sie auf
Telegram sogar zum Sturm aufs
Kanzleramt aufgerufen hatte.
Ich finde, all das gehört unbedingt
in die Öffentlichkeit.
Nach vielen Gesprächen, der
Lektüre etlicher Protokolle und
Gerichtsurteile wurde klar, dass
es sich um einen gewaltigen Betrug
handelt. Konzerne wie
Evonik, Bayer, Currenta oder
Daimler hatten mithilfe von Anwälten
und Politik rund zehn
Milliarden Euro auf Kosten normaler
Stromzahler eingesackt.
Sie konnten sogar eine Amnestie
durch das Parlament schleusen.
Seit der SPIEGEL über das
Treiben berichtete, ist die Zahl
der Amnestieanträge sprunghaft
angestiegen. Ansonsten: kein
Wort der Verteidigung, kein
Wort der Erklärung oder gar
des Bedauerns. Man will den
zweifelhaften Erfolg in letzter
Minute nicht aufs Spiel setzen.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
73
WIRTSCHAFT
Wer will da noch bauen?
IMMOBILIEN Die Wohnungsnot wird zur ideologischen Streitfrage, bis hin zu Enteignungen.
Die neue Bundesregierung verspricht Abhilfe – doch allein ist sie machtlos.
Mietpreisentwicklung in deutschen Großstädten
zwischen 2011 und 2021, Veränderung in Prozent
Berlin
Leipzig
München
+59 %
56
58
Stuttgart
54
Köln
47
Frankfurt am Main
41
Dresden
34
Hamburg
26
S ◆Quelle: Empirica; jeweils 3. Quartal
Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL
74 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
D
as Problem mit den Mieten,
sagt Jenny Stupka, 32, verstehe
man am besten, wenn man mit
ihr um ihren Häuserblock gehe. In
Berlin-Wedding, direkt oberhalb des
S-Bahn-Rings, der Berlin in innen und
außen trennt, die Mietpreise in bezahlbar
und unbezahlbar teilt. Zumindest
sagte man das einmal so.
Heute, sagt Stupka, gehöre der Kiez,
in dem mehr Menschen Transferleistungen
beziehen als sozialversicherungspflichtig
arbeiten, zu denen mit
dem höchsten Verdrängungsdruck
Berlins.
Verdrängungsdruck klingt bürokratisch.
Was das Wort bedeutet, ist
sehr konkret: rasant steigende Mieten,
bis sich die Bewohnerinnen und
Bewohner die Wohnung nicht mehr
leisten können und wegziehen müssen.
Stupka selbst lebt im Wedding in
einem Altbau, Wohngemeinschaft.
Ihre Staffelmiete steige seit acht Jahren
jährlich um fast sieben Prozent.
Sie läuft am türkischen Kulturzentrum
vorbei. »Uns kommt unsere
eigene Stadt abhanden«, sagt sie und
zeigt auf ein neues Apartmentgebäude,
neben einem Spätkauf. Voll möblierte
Wohnungen für Kurzzeitmieter
werden hier angeboten. 32 Quadratmeter
für knapp 3000 Euro im
Monat.
Stupkas Horrorvorstellung ist eine
Stadt, die immer mehr auseinanderdriftet,
deren Einheit zerfällt. Innen
nur Büroflächen und Wohnungen für
Menschen mit Vermögen. Außen die
Mittel- und Unterschicht. Die könnte
irgendwann noch weiter hinausgetrieben
werden, wie der schwedische
Großvermieter Roger Akelius es einmal
in einem Interview beschrieben
hat, in eine Schwesterstadt: 20 Kilometer
außerhalb, ein Ausweichquartier
für 400000 Personen. »Ein Albtraum«,
sagt Stupka.
Mit ihren Mitstreitern hatte Stupka
einen spektakulären Volksentscheid
auf den Weg gebracht, der in
ganz Deutschland für Furore sorgte:
Ende September stimmten die Berlinerinnen
und Berliner darüber ab, ob
Immobilienkonzerne mit mehr als
3000 Wohnungen enteignet werden
sollen. Warum dieser radikale Schritt?
»Wohnen ist ein Grundbedürfnis«,
sagt sie. »Riesige Unternehmen sol -
len das nicht ausnutzen können, um
ihren Aktionären Dividenden auszuschütten.«
Als Mieterin mag sie eine Betroffene
sein – politisch hat Stupka eine
Menge erreicht. Der Frust über kaum
noch bezahlbaren Wohnraum, die
Wut über eine Stadtregierung, die das
Problem nicht in den Griff bekommt,
Mieterin Stupka:
Traum von ruppigen
Berlinern und
linken Aktivisten
»Die Blockadehaltung
in
den Behörden
trägt zur
Wohnungsnot
bei.«
Jens Kahl,
Vorstand Berliner
Baugenossenschaft
Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL
WIRTSCHAFT
das Ohnmachtsgefühl vieler Mieterinnen
und Mieter haben dazu geführt,
dass 59,1 Prozent für die Enteignungspläne
gestimmt haben – trotz
Unmengen an juristischen Fallstricken,
trotz der Aussicht, dass jahrelange
Rechtsstreitigkeiten folgen
könnten und die Unternehmen mit
enormen Summen entschädigt werden
müssten. Und obwohl das Vorhaben
schätzungsweise eine zweistellige
Milliardensumme kosten würde,
Geld, das an anderer Stelle fehlen
könnte: etwa für den Bau von neuen
Wohnungen.
Die Wohnungsnot ist längst kein
rein ökonomisches Problem mehr,
keine Frage mehr nur von Markt und
Marktversagen. Die Misere ist eine
durch und durch politische – mit dem
Hang zur Ideologie. Wer Lösungen
verspricht, kann sicher sein, dass ihm
die Stimmen von Millionen Wählerinnen
und Wählern zufliegen.
Auch Olaf Scholz (SPD) und die
neue Ampelregierung haben auf dieses
Thema gesetzt. Der Bundeskanzler
hält sich viel auf die Wohnungsbaupolitik
in seiner Hamburger Zeit
zugute und würde diesen Imageerfolg
gern auf den Bund ausdehnen. Sein
Mantra: bauen, bauen, bauen. Im ersten
Regierungsjahr sollen 400 000
neue Wohnungen entstehen, davon
100 000 Sozialwohnungen. So steht
es im Koalitionsvertrag.
Scholz hat ein eigenes Bauministerium
geschaffen – das hat es seit
1998 nicht mehr gegeben. Die Ressortleiterin
Klara Geywitz (SPD) ist
in der Baupolitik zwar bisher nicht
aufgefallen. Dafür hat sie einen engen
Draht zu Kanzler Scholz, gemeinsam
kandidierten sie vor zwei Jahren für
den SPD-Parteivorsitz. Geywitz gilt
als nüchterne Analytikerin, was in
den hochemotional geführten Debatten
eine Stärke sein kann. Von Enteignungen,
machte sie gleich klar, hält
sie nicht viel. Dadurch entstünde keine
einzige neue Wohnung, sagte sie
dem »Tagesspiegel«, es ändere sich
nur die Eigentümerstruktur.
Doch reichen die Rezepte aus
Scholz’ Hamburger Regentschaft aus,
um die Probleme der kommenden
Jahre zu lösen? Zumal auch noch der
Klimaschutz hinzukommt. Der verlangt,
dass in den nächsten Jahren
unzählige Gebäude saniert werden
müssen – das wird Mieten und Wohnungspreise
weiter treiben. Zudem
müssen alle, die weiter mit fossilen
Energieträgern heizen, mit steigenden
Kosten rechnen, was die Nebenkosten,
die sogenannte zweite Miete,
erhöhen wird.
Für mehr Klimaschutz müssen die
Bauvorschriften strenger werden. Um
mehr Wohnungen zu bauen, müsste
die Regulierungswut eigentlich eingedämmt
werden. Ein schier unlösbares
Dilemma.
Die Zahl der Bauvorschriften hat
sich laut Angaben des Branchenverbands
Zentraler Immobilien Ausschuss
(ZIA) in den vergangenen
30 Jahren auf 20 000 vervierfacht.
Das Bauministerium könnte sich
die Niederlande zum Vorbild nehmen:
Dort hat die Regierung vor
einigen Jahren das Baurecht grundlegend
entrümpelt. Heute kommt das
niederländische Baugesetzbuch mit
25 Prozent weniger Regeln aus als
früher.
Eine Baustelle im Zentrum des
kleinen Ortes Michendorf, 43 Kilometer
südwestlich von Berlin. Jens
Kahl, Vorstand der Berliner Baugenossenschaft,
sitzt in einem grauen
Baucontainer und sagt: »Zum ersten
Mal seit Jahren bauen wir wieder im
Umland, weil es hier deutlich einfacher
ist als in Berlin.«
Er erzählt von seiner letzten Erfahrung
aus Tempelhof-Schöneberg,
der Genehmigung eines Dachausbaus.
Statt teurer Penthäuser, wie sie
wohl ein privater Investor beantragt
hätte, wollte er zusätzlich zu den
Wohnungen mehrere Dachgärten als
Gemeinschaftsfläche errichten. »Das
wäre ein zeitgemäßer und klimafreundlicher
Ansatz gewesen«, sagt
Kahl. Nachdem sein Unternehmen
das Bauvorhaben den Genehmigungs-
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
75
WIRTSCHAFT
Viel, aber nicht genug
SPD-Politiker Geywitz, Scholz im September: Bauen, bauen, bauen
Baufertigstellungen von Wohnungen*
in Deutschland, in Tausend
300
150
0
306
2001 2010 2020
* in Wohn- und Nichtwohngebäuden (weniger als die Hälfte der
Gesamtnutzfläche wird für Wohnzwecke genutzt)
S ◆Quelle: Destatis
behörden vorgestellt hatte, äußerten die Beamten
unzählige Bedenken. Etwa, dass ein auf
dem Dach installiertes Treppenhäuschen
nicht ins städtebauliche Konzept passe. »Für
mich wirkte es so, als ob die Behörde nach
Problemen suchte, anstatt lösungsorientiert
zu denken«, sagt Kahl. Am Ende verzichtete
die Genossenschaft darauf, einen Bauantrag
zu stellen.
Das sei nach seinen Erfahrungen in Berlin
kein Einzelfall, sondern die Regel. Statt
Bauen zu ermöglichen, würden Vorhaben
blockiert, so Kahls Eindruck. Dass man ausgerechnet
gemeinwohlorientierten Genossenschaften,
die sozial verträgliche Mieten anböten,
das Leben schwer mache, könne er
nicht verstehen. »Die Blockadehaltung in den
Behörden trägt zur Wohnungsnot bei«, sagt
er. Im ersten Halbjahr 2021 brachen die
Baugenehmigungen in Berlin um fast 30 Prozent
ein.
Den Berliner Mietendeckel sieht Kahl als
besten Beleg für eine investorenfeindliche
Politik. »Der hätte uns wirtschaftlich eingeschränkt
und damit auch zukünftige Bauvorhaben
massiv erschwert.«
Doch auch der Widerstand der Bevölkerung
steht Neubauten immer wieder im Weg.
Da erkämpfte eine Bürgerinitiative auf dem
Gelände eines ehemaligen Friedhofs einen
Park; eine Gartenbaufirma weigerte sich in
Friedrichshain, Bäume zu fällen, damit die
Bauarbeiten für eine längst genehmigte Nachverdichtung
beginnen können. Im günstigen
Fall verzögert das den Wohnungsbau nur,
häufig aber strecken die Investoren schon vorher
die Waffen. Bekanntestes Symbol des
Widerstands ist das Tempelhofer Feld, ein 355
Hektar großes Areal gut sechs Kilometer vom
Brandenburger Tor entfernt, das seit 2010 als
Park- und Freizeitfläche dient.
In Michendorf haben Kahl und seine Genossenschaft
keine Widerstände zu befürchten.
Dort errichten sie jetzt rund 100 Wohnungen
im Zentrum eines Brandenburger
Dorfs, verteilt über sieben mehrstöckige Häuser.
Nachdem die Genossenschaft Kontakt
zur Gemeinde aufgenommen hatte, vergingen
nicht mal anderthalb Jahre bis zur Grundsteinlegung.
»In Berlin hatten wir schon Projekte,
wo solche Prozesse acht Jahre gedauert
haben«, sagt Kahl.
Nach Ausbruch der Pandemie hatten viele
Experten damit gerechnet, dass der jahrelange
Immobilienboom enden würde. Ein
Anstieg der Arbeitslosigkeit würde für niedrigere
Immobilienpreise und damit sinkende
Mieten sorgen, so die damalige Prognose. Es
kam anders. Vielerorts klettern die Mieten
weiter.
Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung
aus diesem Sommer kann »Wohnen arm
machen«. Knapp 1,1 Millionen Haushalten
mit mehr als zwei Millionen Menschen bleibe
nach Abzug der Miete und der Heiz- und
Nebenkosten sogar weniger als das im Sozialrecht
festgelegte Existenzminimum übrig.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Preise
seit Monaten stark steigen. Im November
Clemens Bilan / epa
lag die Inflationsrate bei 5,2 Prozent – der
höchste Wert seit 1992. Wenn Lebensmittel,
Strom und Benzin teurer werden, bleibt weniger
Geld für die Miete. Wer einen sogenannten
Indexmietvertrag abgeschlossen hat, hat
doppelt Pech: Denn diese Verträge orientieren
sich an der Teuerungsrate. Vielen drohen
jetzt Mieterhöhungen.
Selbst bei Gutverdienern komme die Wohnungsnot
inzwischen an, sagt Reiner Braun
von Empirica. Wer in Deutschland heute umzieht,
muss laut dem Forschungsinstitut für
eine neue Bleibe in den kreisfreien Städten
im Schnitt 40 Prozent mehr Miete bezahlen
als noch vor zehn Jahren.
Warum bekommt die Politik den Markt
nicht in den Griff?
Als Hamburger Bürgermeister hatte Scholz
mit seinem »Bündnis für Wohnen« für deutlich
mehr Neubauten in der Hansestadt gesorgt.
Der größte Vermieter in Hamburg ist
kein Immobilienhai, sondern das kommunale
Wohnungsunternehmen Saga. Auch deshalb
hätte in der Stadt ein Enteignungsbegehren
kaum eine Chance.
Nur lassen sich diese Erfolge auf Bundesebene
wiederholen? »Ein Bundesbauministerium
kann mitnichten zentralistisch durchregieren,
wie es Olaf Scholz damals im Stadtstaat
Hamburg gemacht hat«, sagt Andreas
Schulten, Generalbevollmächtigter beim Analyseunternehmen
Bulwiengesa. Der Bund
könne zwar Geld bereitstellen und einzelne
Rahmenbedingungen verbessern, genehmigen
oder bauen aber müssten die Länder und
Kommunen selbst.
Bundesweite Neubauoffensiven sind in der
Vergangenheit schon öfter gescheitert. 2018
hatten sich Bundesregierung, Ministerpräsidenten
und Verbände zu einem großen Wohngipfel
im Kanzleramt getroffen. Ressortchef
Horst Seehofer (CSU) kündigte den Neubau
von 1,5 Millionen Wohnungen an und prägte
den oft zitierten Satz, die Wohnungsfrage sei
»die soziale Frage unserer Zeit«.
Seine Zielmarke verfehlte er dennoch: In
der vergangenen Legislaturperiode kamen
nur 1,2 Millionen Wohnungen neu hinzu. Laut
einer Untersuchung des IW Köln allerdings
nicht dort, wo es eigentlich nötig gewesen
wäre, also in den sieben größten Städten Berlin,
Hamburg, München, Köln, Düsseldorf,
Frankfurt am Main und Stuttgart. Stattdessen
wird in schrumpfenden Regionen viel zu viel
gebaut. Das pauschale Ziel der neuen Bundesregierung,
400 000 Wohnungen zu schaffen,
halten die Autoren deshalb »für zu hoch angesetzt«.
Es könnten abseits der Ballungsräume
zu viele Einheiten gebaut werden, die
dann später leer stehen.
Mieterverbände und linke Ökonomen
reagieren inzwischen genervt auf das ewige
»Bauen, bauen, bauen«. Denn selbst wenn
es gelänge, in den Städten mehr Wohnungen
zu errichten: Es werden Jahre vergehen, bis
sich das neue Angebot spürbar auf die Mieten
auswirkt. Sie fordern deshalb eine Regulierung
auf Bundesebene, die den Mietern eine
76 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
WIRTSCHAFT
sofortige Atempause verschafft, bis neuer
Wohnraum geschaffen ist. Die SPD hat in
ihrem Wahlprogramm ein Moratorium in
angespannten Wohnlagen vorgeschlagen, das
künftige Mietsteigerungen nur in Höhe der
Inflationsrate vorsieht. Die Grünen beabsichtigten,
die Betrachtungszeiträume der Mietspiegel
auf 20 Jahre auszuweiten, was de
facto einem Mietenstopp gleichgekommen
wäre. Das Problem: All das konnte die FDP
verhindern.
Den Rest erledigt der deutsche Föderalismus.
So wie in München, der Stadt mit der
größten Wohnungsnot und den höchsten
Miet- und Immobilienpreisen in Deutschland.
Münchens Oberbürgermeister Dieter
Reiter (SPD) würde im Kampf gegen die rasanten
Mietsteigerungen gern richtig loslegen.
Doch seine eigene Landesregierung lässt
ihn hängen.
Es war noch die Große Koalition, die im
Frühjahr nach langem Streit das Gesetz mit
dem sperrigen Namen »Baulandmobilisierungsgesetz«
verabschiedete, Seehofer hatte
es auf Druck der SPD gegen seine eigene Fraktion
durchgesetzt. Es sieht vor, dass Kommunen
die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen
erschweren oder Baugebote an
Eigentümer von baureifen Grundstücken aussprechen
können.
Denn immer wieder hocken Spekulanten
jahrelang tatenlos auf Baugrundstücken, in
der Hoffnung auf noch höhere Kauf- oder
Mietpreise in der Zukunft. Das Problem: Die
bayerische Landesregierung hat den Erlass
einer entsprechenden Verordnung bislang
verschleppt. Reiter kann die Instrumente
nicht anwenden.
»Es ist fatal, dass die Landesregierung Mieterschutz
nicht ernst nimmt und Reformen
verhindert«, sagt er. Vor Monaten schon hat
er einen persönlichen Brandbrief an Ministerpräsident
Markus Söder (CSU) geschrieben.
Er fürchtet, dass sich die Wohnungsnot noch
verschlimmern könnte.
Reiter blieb zuletzt nichts anderes übrig,
als auf die sozial gerechte Bodennutzung zurückzugreifen,
kurz: Sobon. Sie besagt, dass
sich Investoren an den Kosten für Infrastruktur
in Neubaugebieten beteiligen müssen,
zum Beispiel an Grünanlagen oder Kindergärten.
Außerdem müssen sie nach einem komplexen
Punktesystem neuerdings bestimmte
Kriterien erfüllen, um das volle Baurecht zu
bekommen. Die Stadt geht davon aus, dass
Investoren deshalb künftig rund 80 Prozent
Mietwohnungen bauen, drei Viertel davon
preisgedämpft. Ob das reicht, die Mietexplosion
in München zu beenden?
Es gibt jedenfalls Politiker, die beim Kampf
gegen steigende Mieten noch weiter gehen.
Als erster Baustadtrat Deutschlands hat Florian
Schmidt (Grüne) in seinem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg
das sogenannte Vorkaufsrecht
in großem Stil angewandt. Bei rund
800 Wohnungen hat Schmidt in den vergangenen
fünf Jahren dafür gesorgt, dass die
Bleiben Sie in Kontakt
mit Ihren Liebsten.
Und mit der Straße.
Sicherheit entwickelt in Deutschland. Verlassen Sie sich auf uns,
wenn sich andere auf Sie verlassen.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
77
continental-reifen.de
WIRTSCHAFT
»Das gesamte
Bodenrecht
muss neu
gedacht
werden.«
Stephan Reiß-
Schmidt, ehemaliger
Stadtdirektor
Berliner
Baustadtrat Schmidt:
Vorkaufsrecht
in großem Stil
angewandt
Marlene Garwisch / WELT / ullstein bild
Häuser nicht an den eigentlichen Interessenten
verkauft wurden, sondern
in den Besitz städtischer Gesellschaften,
Genossenschaften oder privater
Eigentümer übergingen. Und 1200-
mal konnte er Investoren unter Androhung
dieser Option dazu bringen,
sogenannte Abwendungsvereinbarungen
zu unterzeichnen. In diesen
erklären sich Eigentümer bereit,
Mietwohnungen nicht in Eigentumswohnungen
umzuwandeln oder luxuszusanieren.
Letzteres praktizieren Investoren
in Berlin häufig: Die Käufer modernisieren
aufwendig und legen einen
Teil der Kosten auf die Miete um. Die
Folge: Gentrifizierung.
»Wir gehen als Bezirk voran und
zeigen, was möglich ist«, sagt Schmidt
stolz. Er hat natürlich ebenfalls für
die Enteignung der Wohnungskonzerne
gestimmt. Seine Politik belege,
dass die Stadt vor profitgierigen Immobilienspekulanten
durchaus zu
retten sei. Kürzlich hat der selbst ernannte
»Stadtaktivist« ein Buch veröffentlicht,
in dem er seine Erfahrungen
schildert. Der Titel lautet: »Wir
holen uns die Stadt zurück.«
Bei einem Spaziergang zeigt er
auf dem Kreuzberger Mehringdamm
auf zwei direkt aneinandergrenzende
Wohnblöcke: Das eine
Wohnhaus habe die Stadt Investoren
überlassen müssen, mit den üblichen
Folgen: neue Stahlbalkone,
vergoldete Klingelschilder, 25 Euro
den Quadrat meter. Die Altmieter
seien ausgezogen.
Für das daran angrenzende Wohnhaus,
das ein wenig in die Jahre gekommen
ist, hat der Bezirk das Vorkaufsrecht
ausgeübt. »Hier kosten die
Mieten nicht einmal halb so viel«,
sagt Schmidt. Alle Altmieter seien
noch da.
Was er damit illustrieren möchte:
Ohne ihn würde es in seinem Kiez
nur so von goldenen Klingelschildern
wimmeln.
Schmidts Idylle ist allerdings akut
gefährdet. Anfang November schob
das Bundesverwaltungsgericht seiner
Praxis einen Riegel vor. Allein die
Befürchtung, ein Mehrfamilienhaus
könnte in Eigentumswohnungen aufgeteilt
werden, reicht dem Urteil zufolge
nicht aus, um ein Vorkaufsrecht
zu begründen.
Nach dem Fiasko um den Mietendeckel
die zweite Klatsche für die
Berliner Baupolitik. Die neue Bürgermeisterin
Franziska Giffey (SPD) ist
jedenfalls gewarnt, den Enteignungsvolksentscheid
will sie nicht in ein
Gesetz gießen: Berlin dürfe sich kein
weiteres negatives Urteil beim Bundesverfassungsgericht
holen. »Ich
kann nur vor zunehmenden Regulierungen
warnen«, sagt Andreas Mattner,
Präsident des Zentralen Immobilien
Ausschusses. »Denn damit
vertreiben wir Investoren aus den
Städten.«
Stephan Reiß-Schmidt war 20 Jahre
lang Stadtdirektor und Leiter der
Stadtentwicklungsplanung in München.
Er glaubt, dass es einen grundlegenden
Wandel in der Politik
braucht. Nur dann könnten gemeinwohlorientierte
Vermieter noch mit
Bauflächen versorgt werden; egal ob
in Berlin oder in München.
»Die Gesetze des freien Marktes
funktionieren beim Boden nicht«,
sagt er. Das zeige sich etwa bei Neubauten.
Der Bodenpreis mache dort
bis zu 80 Prozent der Kosten aus, deshalb
rentierten sich nur noch Luxuswohnungen.
Gerade für Genossenschaften
seien solche Projekte nicht
darstellbar.
»Das gesamte Bodenrecht muss
neu gedacht werden«, sagt er. Denn
hier liege die wahre Ursache des
Problems. Grund und Boden seien
keine normale Ware, die beliebig vermehrt
werden könnte. Es handle sich
vielmehr um ein Gemeingut wie Luft
und Wasser, das der Allgemeinheit
dienen sollte. Über die vom Finanzmarkt
getriebenen Baulandpreise
werde viel zu wenig gesprochen. Der
neue Koa litionsvertrag bringe da
wenig Entlastung, so Reiß-Schmidt.
»Die beschlossenen Maßnahmen
werden die Situation kaum entschärfen.«
Und wenn, dann brauchten
sie Jahre, bis sie ihre Wirkung entfalteten.
Er fordert Maßnahmen, »die sofort
wirken«. Etwa einen Bodenpreisdeckel,
der in überhitzten Märkten
Preissteigerungen bei Grundstücken
nur noch in Höhe der Lebenshaltungskosten
erlaubt. Oder die Einführung
eines sogenannten Planungswertausgleichs,
mit dem sich Wertsteigerungen
rausrechnen lassen, für
die der Eigentümer selbst nichts getan
hat. Beispielsweise, wenn eine Kommune
überhaupt erst Bauland ausweist.
»Das würde Bodenspekulation
unattraktiver machen«, sagt Reiß-
Schmidt. Die Einnahmen könnten
direkt in den geförderten Wohnungsbau
investiert werden.
Solche Forderungen sind nicht
neu. Hans-Jochen Vogel, einst Oberbürgermeister
in München und später
Justizminister, hatte bis zu seinem
Tod im Jahr 2020 für eine Bodenrechtsreform
gekämpft. Er konnte
sich damit in der SPD-Fraktion nicht
durchsetzen. Reiß-Schmidt und seine
Mitstreiter vom »Bündnis Bodenwende«
fordern nun eine Enquetekommission,
die Lösungsvorschläge auf
Bundesebene erarbeiten soll.
Auch das Land Berlin sucht sein
Heil inzwischen in einem Arbeitskreis.
Da der Volksentscheid kein
konkretes Gesetz zum Inhalt hatte,
ist die Regierung nicht gezwungen,
das Ergebnis umzusetzen. Bei den
Koalitionsverhandlungen zwischen
SPD, Grünen und Linken einigten
sich die in der Frage der Enteignung
zerstrit tenen Parteien erst einmal
darauf, eine Kommission zu bilden.
Sie soll in den ersten 100 Tagen entstehen
und rund ein Jahr später Ergebnisse
liefern.
Aktivistin Jenny Stupka befürchtet,
dass das Problem so lediglich verschleppt
wird. Mitte Dezember sitzt
sie auf einem Podium in der Berliner
Volksbühne. Das Thema: »Keine Enteignung
ist auch keine Lösung«. Der
Moderator hat »Das Kapital« von
Karl Marx dabei.
In der Fragerunde meldet sich eine
junge Frau aus dem Publikum: »Wie
sollen wir denn unseren Schwung behalten,
wenn es so langsam vorangeht?
Im Sommer waren wir so viele.
Jetzt holt uns der Alltag wieder ein.«
Stupka antwortet: »Wir müssen in
längeren Zeithorizonten arbeiten.
Uns noch besser vernetzen.« Sie träume
von einer Allianz: ruppige Berliner,
die die Schnauze voll haben, und
linke Aktivisten. Plätze besetzen,
demonstrieren, Druck machen. »Ziviler
Ungehorsam, aber mit Kaffee
und Kuchen.«
Die akute Wohnungsnot kann allerdings
auch das nicht lindern.
Henning Jauernig, Janne Knödler,
Michael Kröger
n
78 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Für die ganze Vielfalt
des Journalismus.
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2022
WIRTSCHAFT
»Endlich haben wir die
richtige politische Führung«
GELDPOLITIK Andrea Orcel, 58, Chef der italienischen Großbank
UniCredit, über das Comeback seiner Heimat, die Fähigkeiten von Premier
Draghi und die Angemessenheit seiner 68-Millionen-Euro-Abfindung
Touristen in Einkaufspassage in Mailand
SPIEGEL: Herr Orcel, jahrelang galt Italien als
Europas kranker Mann, aber 2021 gelang
Ihrem Land das Comeback. Die Italiener sind
Fußballeuropameister, ihre Wirtschaft wächst
schneller als die deutsche, sie haben eine der
höchsten Impfquoten in Europa und sogar
den Eurovision Song Contest gewonnen. Erkennen
Sie Ihr Land wieder?
Orcel: Absolut. Italien hatte immer eine Menge
Potenzial. Und jetzt haben wir auch endlich
die richtige politische Führung, um daraus
etwas zu machen. Es tut gut, das zu sehen.
SPIEGEL: Wie viel davon geht auf Ministerpräsident
Mario Draghi zurück?
Orcel: Für so eine Entwicklung kommen mehrere
Faktoren zusammen, aber Draghi ist
der, der alles zusammenführt und hinter dem
sich die Italiener versammelt haben. Das ist
gut für uns, Europa und Deutschland, so eng,
wie unsere Länder miteinander verflochten
sind.
SPIEGEL: Draghi war Investmentbanker, Sie
auch. Sind Manager in Krisenzeiten die besseren
Anführer als Berufspolitiker?
Orcel: Das lässt sich nicht verallgemeinern.
Eine Volkswirtschaft ist letztlich wie eine riesige
Organisation, mit all ihren Schwierigkeiten.
Regierungen, nicht nur in Italien, müssen
harte Entscheidungen treffen, um Dinge
zu bewegen. Draghi zeigt eindrucksvoll, dass
er das kann. Ich bin fest davon überzeugt,
dass seine Einstellung und sein internationales
Ansehen für Italiens weitere Entwicklung
entscheidend sein werden.
SPIEGEL: Einen wichtigen Wunsch haben Sie
ihm trotzdem nicht erfüllt. UniCredit sollte
dem Staat die Monte dei Paschi di Siena
(MPS) abnehmen. Die Bank ist das größte
Risiko für Italiens Finanzsystem und musste
mit Milliarden Euro gerettet werden. Da hätten
Sie Ihren Patriotismus beweisen können.
Orcel: Ganz so einfach ist eben nicht. Wir haben
mit dem Finanz- und Wirtschaftsministerium
darüber gesprochen und klare Leitlinien
vereinbart. Aber es war beiden Seiten
immer klar, dass das kompliziert werden würde.
Am Ende hat es nicht gereicht.
SPIEGEL: Weil die Regierung Ihnen keine milliardenschwere
Mitgift geben wollte.
Orcel: Daran lag es nicht. Wir hatten gemeinsam
einen klaren Rahmen für eine mögliche
Vereinbarung abgesteckt. Letztlich war es
aber nicht möglich, innerhalb dieses Rahmens
zu einer Einigung zu kommen.
Beata Zawrzel / NurPhoto / Getty Images
SPIEGEL: Die Europäische Zentralbank, Draghis
alte Wirkungsstätte, kämpft mit der Inflation.
Hoffen Sie als Banker darauf, dass die
EZB die Leitzinsen anhebt? Zumindest behaupten
die Geschäftsbanken, dass sie unter
Null- und Negativzinsen leiden.
Orcel: Natürlich hoffen wir, dass sich das ändert.
Wir haben uns inzwischen zwar fast daran
gewöhnt, dass die Leitzinsen bei null Prozent
liegen und Geschäftsbanken Strafzinsen
zahlen müssen, wenn sie Kundengelder bei
der EZB parken wollen. Aber das ist nicht
normal. Derzeit ist alles noch sehr fragil, wegen
der Pandemie und der Inflation. Aber das
wird sich beruhigen. Und wenn die EZB die
Leitzinsen aus dem Grund anhebt, dass Europas
Wirtschaft wieder deutlich wächst, wäre
das für alle ein gutes Zeichen.
SPIEGEL: Geschäftsbanken können sich in
Frankfurt frische Liquidität mit 1,0 Prozent
Rabatt abholen und dort zu 0,5 Prozent Strafzins
wieder parken. Bleiben 0,5 Prozent Gewinn,
risikolos. Ein Bombengeschäft, Ökonomen
nennen das einen »free lunch«, und
den dürfte es definitionsgemäß nicht geben.
Orcel: Das sind nun einmal die Regeln. Aber
glauben Sie mir: Sie werden keinen Banker
finden, der die Situation nicht eintauschen
würde gegen eine Welt, in der die Zinsen wieder
positiv sind und der Markt funktioniert.
SPIEGEL: Auch UniCredit war in der Krise,
inzwischen läuft es besser. Der Aktienkurs
hat seit Ihrem Amtsantritt um mehr als die
Hälfte zugelegt, und gerade erst haben Sie
angekündigt, bis 2024 rund 16 Milliarden
Euro an die Aktionäre ausschütten zu wollen.
Das sind neue Töne für eine kontinentaleuropäische
Bank. Sind Sie Fantast?
Orcel: Ich möchte zeigen, dass Dinge möglich
sind, wenn man diszipliniert und fokussiert
ist. Wenn sich das Umfeld, vor allem in Bezug
auf die Pandemie, normalisiert, wir die Erträge
bis 2024 jährlich um zwei Prozent steigern
und die Kosten um 500 Millionen Euro
senken, dann können wir es schaffen. Wir
schauen uns alles an. Wenn ein Bereich der
Bank weniger als zehn Prozent Rendite erwirtschaftet,
optimieren wir ihn. Wir müssen
im Interesse unserer Aktionäre mit unserem
Eigenkapital einfach effizienter umgehen.
SPIEGEL: Für Ihre deutschen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter könnte das zynisch klingen.
Bei der früheren HypoVereinsbank sollen
wieder einmal Stellen wegfallen, 1100 von
11 500. Ist Ihr Deutschlandableger der kranke
Mann im UniCredit-Imperium?
Orcel: Absolut nicht. Wir sind auch dieses Jahr
wieder zu einem der beliebtesten Arbeitgeber
in Deutschland gewählt worden, so schlecht
können wir also nicht sein. Aber es ist so, dass
wir in Deutschland einfach mehr machen
müssen, um die Kosten zu senken. Nicht in
den Filialen oder den kundennahen Bereichen.
Es sind insbesondere die Zentralfunktionen,
in denen wir noch deutlich effizienter
werden können. Das gibt uns die Möglichkeit,
wieder zu investieren, insbesondere in den
Ausbau der Digitalisierung und unserer Tech-
80 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
WIRTSCHAFT
nologie. So stärken wir unser Deutschlandgeschäft
im Interesse unserer
Kunden.
SPIEGEL: UniCredit hat mehr als andere
Banken einen paneuropäischen
Ansatz, ist traditionell stark in Mittelund
Osteuropa. Macht Ihnen die politische
Entwicklung dort Sorge?
Orcel: Sie können nicht alle Länder
über einen Kamm scheren, das wird
der Situation nicht gerecht. Die
Transformationsländer haben wirtschaftlich
enorm aufgeholt, auch zum
Vorteil von UniCredit, aber sie sind
noch nicht so weit wie Deutschland,
Italien oder Österreich.
SPIEGEL: Ganz so geschmeidig scheint
es nicht zu laufen. Aus der Türkei,
bis vor Kurzem einer von UniCredits
Kernmärkten, ziehen Sie sich zurück.
Ministerpräsident Erdoğan fährt
einen wirtschaftlichen Harakiri-Kurs
und lässt die Inflation explodieren.
Orcel: Diese Entscheidung wurde vor
meinem Amtsantritt getroffen, aus
einer Reihe von Gründen. Wir konzentrieren
uns jetzt auf die für uns
wichtigsten Märkte, dabei bleibt es.
SPIEGEL: Es heißt, Europa brauche
große, starke Banken, um endlich der
Wall Street Paroli bieten zu können,
das sei auch wirtschafts- und machtpolitisch
enorm bedeutsam. Aber die
Europäer bekommen nicht einmal die
Kapitalmarkt- und Bankenunion hin,
die die Voraussetzung für grenzüberschreitende
Bankfusionen wäre. Ist
der Zug nicht längst abgefahren und
die Kapitalmarktdominanz der Amerikaner
auf ewig zementiert?
Orcel: Leider spielt der Kapitalmarkt
in Europa eine viel geringere Rolle
als in den USA oder auch Großbritannien.
Vereinfacht gesagt: Wenn
Unternehmen Geld brauchen, gehen
sie zu ihrer heimischen Hausbank und
nicht an die Börse, wie im angelsächsischen
Raum. Das ist ein Problem,
und vielleicht muss sich hier auch die
Denkweise ändern, wenn der europäische
Kapitalmarkt wachsen soll.
Auch wir werden in den 13 Ländern,
in denen wir präsent sind, nicht als
paneuropäische Bank wahrgenommen,
die wir ja tatsächlich sind. Auch
das muss sich ändern.
SPIEGEL: Sie könnten sich zumindest
in Deutschland verstärken und die
neue Bundesregierung von einer Last
befreien, indem sie die Commerzbank
kaufen. Die Ampel braucht
Geld und wird ihren 15-Prozent-Anteil
loswerden wollen, UniCredit ist
mit der HVB bereits in Deutschland
vertreten. Wann schlagen Sie zu?
Orcel: Es gab hierzu immer viele
Gerüchte, aber so etwas ist auch eine
Frage des Timings. In Bezug auf stra-
Banker Orcel: »Ich
bin froh, dass meine
Ansprüche anerkannt
wurden«
Katapultstart
Börsenwert von
Unicredit seit Antritt
von Orcel im Vergleich
zur Konkurrenz, Veränderung
gegenüber
15. April in Prozent
60
40
20
0
Unicredit
Commerzbank
Deutsche Bank
Intesa Sanpaolo
Apr.
2021
Aug.
Dez.
tegische Übernahmen haben wir sehr
klare Kriterien, aber gleichzeitig gilt
es jetzt, unseren strategischen Plan
umzusetzen. Wir wollen schließlich
unsere Aktionäre nicht enttäuschen.
SPIEGEL: Die Commerzbank ist jetzt
zu haben und nicht in ein paar Jahren.
Orcel: Es bleibt dabei, dass wir erst
einmal unseren strategischen Plan
umsetzen.
SPIEGEL: Vielleicht kauft ja ein Finanzinvestor
die Commerzbank. Immer
öfter steigen Private-Equity-Fonds bei
Banken ein oder kaufen sie gleich
ganz. Sind »Heuschrecken«, wie sie
früher hießen, politisch und gesellschaftlich
akzeptiert?
Orcel: Das ist fraglos ein spannendes
Thema. Ich glaube, das hängt von der
Größe der Banken ab. Generell sind
Finanzinvestoren akzeptierter als früher,
auch weil viele nicht mehr so aggressiv
auftreten wie früher. Aber bei
einer großen Bank von nationaler
oder internationaler Bedeutung sähe
die Sache anders aus.
SPIEGEL: Finanzinvestoren haben
nicht den besten Ruf, Banker auch
nicht. Sie sollten 2019 Santander-
Chef werden, die Verträge waren
unterschrieben. Dann entschied sich
die spanische Großbank um, und Sie
pochten auf Auszahlung der vereinbarten
Gehälter und Boni. Die Sache
landete vor Gericht, das Ihnen soeben
68 Millionen Euro Kompensation zugesprochen
hat, auch wegen des »moralischen
Schadens«, den Sie erlitten
hätten. Glauben Sie nicht, dass so
etwas das öffentliche Bild des gierigen
Bankers festigt?
Orcel: Das ist eine persönliche Sache,
mir blieb keine andere Wahl. Die Verträge
waren nun einmal unterschrieben,
und nun hat das Gericht entschieden.
Ich bin froh, dass meine
Ansprüche anerkannt wurden.
SPIEGEL: Dann lassen Sie uns über Ihr
Image sprechen. Sie waren jahrzehntelang
Investmentbanker und Dealmaker
und gelten als jemand, der wie
kaum ein anderer Mitarbeiter über
ihre Belastungsgrenzen treibt. Zuletzt
aber haben Sie sich dafür ausgesprochen,
dass auch Banker auf ihre Work-
Life-Balance achten sollten. Wo her
der Sinneswandel?
Orcel: Ich glaube nicht, dass ich mich
gewandelt habe. Ich habe mich bei
bestimmten Themen vielleicht nur
stärker zu Wort gemeldet, weil es
wichtig ist, sie anzusprechen.
SPIEGEL: Ist das eine gute oder
schlechte Nachricht?
Orcel: Schauen Sie: Wer für die deutsche
Nationalmannschaft spielen will,
muss hart trainieren. Das fällt umso
leichter, wenn man liebt, was man tut,
und etwas gewinnen will. Das ist im
Beruf genau dasselbe.
SPIEGEL: Das klingt hübsch, aber unkonkret.
Orcel: Jeder hat doch die Wahl: Will
ich weniger arbeiten, weil mir andere
Dinge wichtiger sind? Oder mehr,
weil ich Karriere machen möchte?
Jeder Arbeitgeber sollte mir die Möglichkeit
geben, diese Wahl zu treffen,
gerade auch als Lehre aus der Pandemie.
Bei einem meiner Ex-Arbeitgeber
kamen meine Mitarbeiter auf
mich zu und fragten, ob das Wochenende
schon am Freitagnachmittag
beginnen könne. Ich habe sie gefragt:
Wie gehen wir damit um, wenn unsere
Kunden am Freitagmittag etwas
von uns wollen? Am Ende haben wir
uns darauf geei nigt, dass jeder einen
halben Tag pro Monat komplett zur
freien Verfügung hat und machen
kann, was er will. Natürlich nach Absprache,
sodass immer jemand für
unsere Kunden da ist. Ich bin also
nicht dogmatisch. Aber ich denke, es
ist unsere Aufgabe, unsere Kun den
bestmöglich zu unterstützen, und das
erfordert manchmal Flexibilität.
SPIEGEL: Wegen Ihres Aussehens werden
Sie auch der »Ronaldo des Bankings«
genannt, angelehnt an den
portugiesischen Fußballstar. Gefällt
Ihnen das eigentlich?
Orcel: Nicht wirklich. Meine Frau ist
Portugiesin. Für ihre Familie gibt es
nur einen Ronaldo, und der spielt
Fußball.
jeweils Freitagswerte
S ◆Quelle: Refintiv DatatreamInterview: Tim Bartz n
UniCredit
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
81
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SP22-101
WIRTSCHAFT
E-Autos an Ladestation in Berlin
Jens Kalaene / picture alliance / dpa
Ladehemmung
ELEKTROMOBILITÄT E-Autos boomen, doch der Aufbau des Stromtankstellennetzes kommt kaum voran.
Politik und Industrie schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Derweil baut Tesla seine Vorherrschaft aus.
M
anchmal ist auch der mächtigste
Lobbyverband der
Republik nicht stark genug.
Der Verband der Automobilindustrie
(VDA), bekannt für seine kurzen
Drähte ins Kanzleramt, müht sich
seit Jahren vergebens an der Aufgabe
ab, eine Ladesäule für Elektroautos
an seiner Zentrale in der Berliner
Behrenstraße aufzustellen. Der
Betreiber des dortigen Parkhauses
lehnt das Ansinnen ab. Der VDA
darf nicht einmal eine eigene Anlage
installieren. Selbst die Nutzung der
vorhandenen Steckdosen ist ihm
untersagt – angeblich aus Haftungsgründen.
Die Symbolik ist mehr als peinlich:
VDA-Präsidentin Hildegard Müller
fährt ein Hybridauto, und kann es an
ihrem Arbeitsplatz nicht mit Strom
betanken. Dabei würde sich Deutsch-
1
Million
Ladepunkte
sollen 2030 in
Deutschland
öffentlich
zugänglich
sein. Aktuell
sind es
gut 50 000.
Quelle: Bundesnetzagentur
lands Leitindustrie so gern als grüne
Vorreiterin präsentieren.
Wenn es bloß Symbolik wäre! Tatsächlich
illustriert die Episode ein
Grundproblem der Mobilitätswende.
Wie soll Deutschland die Diesel- und
Benziner-Ära beenden, wenn es an
ausreichender Infrastruktur für Elektroautos
fehlt? Während die Nachfrage
nach Stromern geradezu explodiert,
schleppt sich der Ausbau der
Ladepunkte dahin. Immer mehr
Autos müssen sich eine öffentliche
Säule teilen. Kamen vor einem Jahr
auf einen frei zugänglichen Ladepunkt
noch 13 E-Autos und Plug-in-
Hybride, sind es heute bereits 22.
Die Energiewirtschaft verweist
zwar gern darauf, dass rund 80 Prozent
der Ladevorgänge zu Hause oder
am Arbeitsplatz stattfänden, öffentliche
Säulen also gar nicht so wichtig
seien wie bei Verbrennern die Tankstellen.
Doch um die Verkehrswende
zu schaffen, reicht es ja nicht, dass
Eigenheimbesitzer auf E-Autos umsteigen.
Um die geplante Zielmarke
von einer Million Ladepunkte bis
2030 zu erreichen, müsse sich »die
derzeitige Geschwindigkeit beim Ausbau
der Ladeinfrastruktur verachtfachen«,
sagt VDA-Präsidentin Müller.
Die Leidtragenden sind Kundinnen
und Kunden, die frühzeitig auf
E-Autos umgestiegen sind. Sie müssen
sich mit einem Wirrwarr aus Anbietern,
Preis- und Bezahlmodellen
herumschlagen – sofern sie überhaupt
eine freie Säule finden.
Im überwiegenden Rest Europas
ist das Ladenetz noch lückenhafter.
Zwar haben die Staaten der Gemeinschaft
mittlerweile rund 300 000 öffentliche
Ladesäulen an ihre Strom-
84 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
WIRTSCHAFT
netze angeklemmt. Das dürfte allerdings bei
Weitem nicht ausreichen. Allein zwischen
Januar und September wurden in der EU fast
570 000 Elektroautos und 640 000 Plug-in-
Hybride neu zugelassen.
Hinzu kommt: Fast zwei Drittel der Ladepunkte
stehen in Deutschland, Frankreich und
den Niederlanden. Die übrigen Länder präsentieren
sich den Autofahrern als Elektrowüste,
in der sie weite Strecken zurücklegen
müssen, bevor die nächste Oase zum Auftanken
kommt. In zehn EU-Staaten gibt es
weniger als eine Säule pro 100 Autobahnkilometern,
und nur ein Bruchteil davon sind Expressautomaten,
mit denen die Batterien binnen
30 Minuten wieder auf volle Leistung
gebracht werden können. An dem Desaster
will niemand schuld sein. Die Autohersteller
verweisen auf die Parkplatzbetreiber; die
Stromkonzerne auf die Regierung in Berlin;
die wiederum auf Brüssel. Was fehlt, ist ein
gemeinsamer Masterplan. Und wieder einmal
zeigt sich, wie schwer sich die Nation damit
tut, Megatrends wie Elektrifizierung oder Digitalisierung
durchzusetzen – obwohl am
Ende alle davon profitieren könnten und der
Wohlstand des Landes daran hängt.
Dabei wurde das Thema in Deutschland
sogar rechtzeitig erkannt. Seit 2010 mühten
sich Politik, Industrie und Wissenschaft in der
sogenannten Nationalen Plattform Elektromobilität,
den Absatz von Batterieautos und
Ladesäulen anzukurbeln. Unter der Leitung
des Ex-SAP-Chefs Henning Kagermann trafen
sich rund zwei Dutzend Konzernbosse,
Spitzenpolitiker und Forscher zu regelmäßigen
»Elektrogipfeln« im Kanzleramt, um sich
mit entschlossenen Mienen vor Elektroautos
aus deutscher Produktion ablichten zu lassen.
Auch an Arbeitsgruppen fehlte es nicht.
Eine Geschäftsstelle, ein Lenkungskreis und
ein Redaktionsteam wurden eingerichtet. Ein
halbes Dutzend Kommissionen produzierte
»Fortschrittsberichte« zu »Marktvorbereitung«
und »Markthochlauf«. Doch nach achtjähriger
Arbeit an Förderprogrammen und
Forschungsprojekten kam das Gremium 2018
zu einem ernüchternden Ergebnis: Die geplante
Million Elektromobile im Jahr 2020
sei leider nicht auf die Straßen zu bringen.
Tesla-Chef Musk
Brendan Smialowski / AFP
Unterversorgt
E-Autos pro öffentlichem Ladepunkt
EU
2016
2021
Deutschland
2016 4
2021
Ladepunkte nach Bundesländern,
Stand: 1. Dezember 2021
372
5
278
8270
1578
1839
2848
7235
4613
11
1292
821
708
9096
S ◆Quellen: EAFO, VDA, Bundesnetzagentur
463
1281
914
1717
22
Was nicht geht, geht eben nicht? Oder war
der Leidensdruck einfach nicht hoch genug?
Tatsächlich wollten die Bosse von Daimler,
BMW und Volkswagen noch vor wenigen
Jahren nur wenig von einer E-Wende wissen.
Und selbst nach dem Abgasskandal protegierten
sie zunächst weiter ihren alten, gewinnträchtigen
Exportschlager mit Verbrennungsmotor.
»Nichts deutet auf einen Tod des
Diesels hin«, tönte der damalige BMW-Chef
Harald Krüger im Jahr 2017. Sein damaliger
Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich behauptete
noch 2019, es gebe »keine Nachfrage
von Kunden nach batterieelektrischen
Fahrzeugen«.
Entsprechend gering ausgeprägt war die
Bereitschaft der Konzerne, eine eigene Ladeinfrastruktur
aufzubauen. Jede Verantwortung
wischte man lässig beiseite mit dem Hinweis,
man betreibe ja auch keine Tankstellen.
Und während sich die deutschen Autobosse
damit begnügten, das Problem auf Politik und
Steuerzahler abzuschieben, hatte ein Rivale
aus Kalifornien längst einen mutigeren Weg
eingeschlagen.
Die Revolution begann im Oktober 2013
am Autohof Jettingen-Scheppach, irgendwo
an der A 8 zwischen Augsburg und Ulm. Ein
US-Unternehmer ließ dort seinen bundesweit
ersten »Supercharger« aufstellen – eine futuristisch
anmutende Säule, an der seine Kunden
Strom zapfen konnten, zunächst sogar
kostenlos. »Wir machen eine Wette in
Deutschland«, verkündete der damals noch
weitgehend unbekannte Investor. Sein Name:
Elon Musk.
Schon bald wolle er in der Autonation
1000 Elektroautos der Marke Tesla verkaufen
– pro Monat. Dass er dafür gleich die
nötige Infrastruktur mitlieferte, war für den
Unternehmer selbstverständlich. Seine Kunden
sollten beim Umstieg von Verbrenner auf
Stromer keinerlei Komforteinbußen erleiden.
»Wenn die Reichweite eines Elektroautos
groß genug ist und es ein Netz von Schnellladestationen
gibt«, erklärte Musk 2014 im
SPIEGEL-Gespräch, »besteht absolut kein
Grund mehr für einen zusätzlichen Antrieb.«
Es war eine Kampfansage an die etablierte
Autoindustrie, die Bosse indes nahmen davon
kaum Notiz. In der VW-Zentrale in Wolfsburg
spottete man noch Jahre später über den »Ankündigungsweltmeister«.
Musks Wette ist aufgegangen. Mittler weile
hat er allein in Deutschland 1250 Ladepunkte
aufgestellt, Teslas Model 3 gehört zu den
meistverkauften E-Fahrzeugen der Republik.
Die einheimische Konkurrenz kommt nicht
hinterher, trotz milliardenschwerer E-Offensiven.
Auch mit vereinten Kräften schaffen es
die etablierten Autokonzerne bislang nicht,
dem Kalifornier Paroli zu bieten. 2017 gründeten
BMW, Daimler, Ford und Volkswagen
die Ladesäulenfirma Ionity. Seither haben die
Partner rund 1500 Schnellladepunkte entlang
europäischer Autobahnen aufgestellt. Das
entspricht ungefähr der Anzahl der Stationen,
die Tesla allein in den vergangenen acht Monaten
installiert hat: Seit März wuchs das
Tesla-Netz in Europa von etwa 6000 auf mehr
als 7300 Supercharger.
Am Ladekomfort des Ionity-Netzes wird
Kritik geübt – aus den eigenen Reihen. In
seinem Sommerurlaub am Gardasee meldete
sich VW-Boss Herbert Diess wutentbrannt
per Karrierenetzwerk LinkedIn. Es gebe in
der Nähe der Ladestation kein WC und keinen
Kaffee. Eine der Säulen sei kaputt. »Das
ist alles andere als ein Premium-Ladeerlebnis,
Ionity!«, lautet Diess’ vernichtendes Urteil.
Die EU-Kommission will die Ladelücke
nun schließen und hat dafür sogar einen Plan.
Für jedes verkaufte Elektroauto, so sieht es
der jüngste Vorschlag vor, sollen die Mitgliedstaaten
künftig ein Kilowatt Ladekapazität
bereitstellen. Alle 60 Autobahnkilometer ist
zudem eine Expresssäule vorgesehen, an der
bequem mit jeder Kreditkarte bezahlt werden
kann. So will die Behörde für ein »dichtes und
weitgespanntes Netz von Infrastrukturen«
sorgen, in dem sich Elektromobile »problemlos
bewegen« können.
Die europäische Autoindustrie trägt indes
nur wenig dazu bei, diese Strategie in die Tat
umzusetzen. Statt den Ausbau der Ladekapazitäten
entschlossener voranzutreiben, setzen
die Konzerne den Mangel als politisches
Druckmittel ein. Solange es in Europa zu wenig
Ladesäulen gebe, dürften die Emissions-
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
85
WIRTSCHAFT
grenzwerte für Benzin- und Dieselautos nicht
weiter verschärft werden, argumentieren ihre
Lobbyisten in Brüssel. Auch gegen ein generelles
Verbrennerverbot ab 2030, vom
Ex-Mitglied Großbritannien längst verabschiedet,
stemmen sich die Autobauer unter
Verweis auf die lückenhafte Infrastruktur.
»Die Hoffnung, dass dann alle nur noch elektrisch
fahren, wird sich nicht erfüllen«, sagt
etwa BMW-Chef Oliver Zipse, »in erster Linie,
weil die dazu nötigen Rahmenbedingungen
fehlen.«
Es ist ein typischer Fall von Henne-Ei-Ausrede,
mit der die Bosse den Notstand noch
verschärfen. Warum sollten die Regierungen
im Süden und Osten Europas Ladesäulen aufstellen,
wenn die Hersteller signalisieren, dass
sie dort noch jahrelang vornehmlich Dieselund
Benzinautos verkaufen wollen? Entsprechend
reserviert reagieren viele Mitgliedstaaten.
In ihrer jetzigen Form, so stellte die
slowenische Ratspräsidentschaft nach wochenlangen
Beratungen fest, würden die Brüsseler
Pläne kaum eine Mehrheit finden.
Die grüne EU-Abgeordnete Jutta Paulus
wirft der Industrie ein »dreistes Ablenkungsmanöver«
vor. Sie plädiert dafür, »die Autohersteller
in die Pflicht zu nehmen« und die
Flotten-Grenzwerte schneller anzuheben.
»Wenn wir den Umstieg auf die Elektromobilität
beschleunigen«, sagt sie, »machen
wir zugleich die Installation und den Betrieb
von Ladesäulen lukrativer.«
So sehen das auch EU-Staaten wie Dänemark
oder die Niederlande. Und die Experten
der deutschen Denkfabrik Agora Verkehrswende
haben bereits ausgerechnet, was möglich
ist. Sie schlagen vor, dass die europäische
Autoflotte in zehn Jahren 75 Prozent weniger
Treibhausgase ausstoßen dürfe als heute. Bislang
ist lediglich ein Rückgang von 55 Prozent
geplant. »Je klarer die Industrie signalisiert,
dass sie auf Elektromobilität setzt, desto
schneller kommt auch der Aufbau der Ladekapazitäten
voran«, sagt Agora-Experte Günter
Hörmandinger.
Immerhin: Der Wettbewerb wird allmählich
schärfer, was gut ist für die Kundinnen
und Kunden. Tesla hat angekündigt, sein Netz
für Dritte zu öffnen. Versuche laufen bereits
in den Niederlanden. Und auch Ionity gelobt
Besserung. Mithilfe des neuen Großinvestors
Blackrock sollen in den kommenden Jahren
700 Millionen Euro in den Ausbau des
Schnellladenetzes fließen. Volkswagen hat
Verträge mit Netzbetreibern wie BP, E.on oder
Enel abgeschlossen. VW-Kunden können jetzt
mit einer einzigen Ladekarte europaweit auf
270 000 öffentliche Säulen zu greifen. Damit
komme jeder Urlauber pro blemlos von Dänemark
nach Südeuropa, verspricht der Konzern.
BMW macht ähnliche Angebote.
Selbst die Stromriesen sind aufgewacht.
Mitte Dezember hat der Energiekonzern
EnBW einen der größten Schnellladeparks in
Europa eröffnet, auf einem Parkplatz nahe
dem Kamener Kreuz. Sechsspurig ausgebaut
verbindet der Autobahnknoten bei Dortmund
EnBW-Schnellladepark bei Kamen
»Ein krasser Fall von
Marktversagen.«
Markus Adam, Chefjustiziar bei Lichtblick
EnBW Energie Baden-Württemberg / EnBW
die beiden ältesten Trassen des Landes. Man
kann von dort aus auf der A 1 durchbrausen
bis nach Heiligenhafen oder Köln, auf der A 2
bis nach Oberhausen und fast bis Berlin. Acht
Millionen Fahrzeuge rauschen jeden Monat
vorbei. Europaweit ein Spitzenwert. Künftig
lässt sich dort Strom tanken.
52 Ladepunkte, ein jeder geeignet, binnen
20 Minuten Energie für 400 Kilometer in
einen Pkw zu pumpen. EnBW will künftig
Jahr für Jahr 100 Millionen Euro in Ladestationen
investieren, viele weitere Millionen
gehen in die Technik dahinter. Bis 2025 werde
EnBW ein Netz bauen, so dicht wie das
heutige konventionelle Tankstellennetz, verkündet
Konzernchef Frank Mastiaux. Was
ihn nervt, ist die »Überregulierung« durch
die Politik. Allein die Verpflichtung, Kreditkartenterminals
an den Säulen anzubringen,
koste EnBW viele Millionen. »Da wird eine
Bezahlform der Vergangenheit in die Zukunft
perpetuiert«, ätzt der Konzernboss.
Tatsächlich sei die Ladesäulenverordnung
der alten Bundesregierung ein »bürokratisches
Monster«, kritisiert auch Verkehrsforscher
Andreas Knie. EC-Karten-Lesegeräte
hätten im Zeitalter der Digitalisierung nichts
mehr verloren, so der Leiter der Forschungsgruppe
»Digitale Mobilität und gesellschaftliche
Differenzierung« am Wissenschaftszentrum
Berlin. Zumal Tesla auch hier weiter ist.
Musks Kunden müssen nicht mit irgendwelchen
Karten hantieren, sondern nur den Stecker
einstöpseln, die Abrechnung erfolgt dann
automatisch. Die deutschen Hersteller bieten
das sogenannte Plug-and-Charge erst schrittweise
in ihren neuen Modellen an.
»Wenn Politik und Industrie die Technologie
nicht schleunigst auf den Weg bringen«,
warnt Knie, »ist das der endgültige Beweis,
dass Deutschland an der Digitalisierung gescheitert
ist.« Effektiv wäre außerdem eine
Verpflichtung für Tankstellen, endlich Ladesäulen
aufzustellen. Die Idee verschwand
immer wieder im Giftschrank der Regierungsbeamten.
Auch faire Wettbewerbsbedingungen
für Stromanbieter fehlen bis heute.
Stattdessen gibt es viele regionale Monopole,
die zu einem verlangsamten Ausbau und
überhöhten Preisen führen, wie Markus
Adam, Chefjustiziar des Hamburger Ökostromanbieters
Lichtblick, kritisiert.
In Städten wie München, Dortmund, Hamburg
und Hannover beherrschen regionale
Stromanbieter teils 90 Prozent der Ladesäulen.
Am Urlaubsparadies Timmendorfer
Strand kontrolliert die E.on-Tochter Innogy
den Markt gar komplett. Ein »krasser Fall von
Marktversagen«, meint Adam. An Schnellladesäulen,
so die Lichtblick-Analyse, müssten
die Kunden bis zu 140 Prozent mehr bezahlen
als für herkömmlichen Haushaltsstrom.
Für Strom von Drittanbietern, die
eigentlich günstigere Angebote machen wollen,
verlangen die Monopolisten sogar Aufschläge
von 25 bis 300 Prozent. Aus Adams
Sicht sind das »kartellrechtswidrige Preisdiskriminierungen
von Drittanbietern«.
Die neue Bundesregierung belässt es in
ihrem Koalitionsvertrag bei vagen Absichtsbekundungen.
Sie wolle den Ausbau der
Schnellladepunkte fördern, und wo der Markt
versage, sollen Versorgungsauflagen helfen.
Für Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)
zählt das Ladenetz zur Daseinsvorsorge, den
Aufbau solle der Staat mit unterstützen. Er
möchte die Deutsche Bahn um Hilfe bitten,
um die Schnellladepunkte mit Strom zu versorgen:
Entlang seiner Gleise verfüge der
Staatskonzern schließlich über die erforderlichen
Trassen. VDA-Präsidentin Müller fordert
von der Ampelkoalition einen branchenübergreifenden
Ladenetzgipfel: Tankstellen,
Gebäudewirtschaft, Parkplatzbetreiber, Kommunen
und Energieversorger sollten endlich
»einen konkreten Plan entwickeln, wie der
Ausbau beschleunigt und Laden für die Menschen
einfacher sowie schneller wird«.
Wie es geht, demonstrieren die Niederlande.
Dort sind fast 22 000 Ladesäulen mehr
am Netz als in der Bundesrepublik, obwohl
die Fahrzeugflotte des Nachbarlands sehr viel
kleiner ist. Auch das Öko-Musterland Norwegen
demonstriert seit Jahren, wie sich mit
dem Absatz von E-Autos die Installation von
Ladesäulen steigern lässt. In Großstädten wie
Oslo oder Bergen haben es sich die Kommunalverwaltungen
zur Aufgabe gemacht,
öffentliche Parkplätze oder Einkaufszentren
elektrokompatibel zu gestalten.
Während Europa und seine Autokonzerne
noch zaudern, setzt Elon Musk seinen Eroberungszug
fort. So wie einst Deutschland
nimmt er nun die letzten Benziner- und
Diesel paradiese in den Blick: Märkte wie
Ungarn, Tschechien oder Slowenien versorgt
er pa rallel mit E-Autos und der passenden
Infrastruktur. Diesmal spottet kein deutscher
Autoboss mehr über den Amerikaner.
Simon Book, Simon Hage, Michael Sauga,
Gerald Traufetter
n
86 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
MEDIEN
»Angela Merkel hat mir
immer misstraut«
SPIEGEL-GESPRÄCH Claus Kleber, 66, nach fast 19 Jahren »heute journal«
über einen Abschied ohne Floskeln und Interviews ohne Antworten
SPIEGEL: Herr Kleber, wir beginnen das Interview
mit drei Minuten Verspätung. Wären
wir im ZDF live auf Sendung, hätten Sie jetzt
ein Problem.
Kleber: Ich bin im »heute journal« tatsächlich
berüchtigt dafür, dass ich meine Moderationen
furchtbar spät abliefere. Manchmal muss
ich im letzten Moment ins Studio sprinten,
hin und wieder schreibe ich noch während
der Beiträge. Das klingt vielleicht cool, ideale
Arbeitsbedingungen für die Redaktion sind
das aber nicht. Ich bin schon öfter am Rande
des Unfalls entlanggeschlittert.
SPIEGEL: Ihre Kollegin Gundula Gause rettet
Sie da nicht?
Kleber: Wir hatten eine halbwegs ernst gemeinte
Abmachung, dass sie einspringt, wenn
ich es nicht rechtzeitig schaffe. Ein paarmal
wurde es knapp, aber ich musste ihre Treue
zum Glück nicht mehr testen.
SPIEGEL: Sie moderieren in diesen Tagen Ihr
letztes »heute journal«, nach fast 19 Jahren.
Als Sie dieses Jahr den Abgang von Angela
Merkel anmoderiert haben, dachten Sie da
auch an Ihren Abschied?
Kleber: Natürlich denkt man einen Moment
darüber nach. Je nachdem, wie lange so eine
Regierungsbildung dauert, hätte es ja sein
können, dass ich sie beim Abschied noch
überhole. Aber für größere Parallelen ist der
Unterschied zwischen unseren Jobs zu groß,
und mir fehlt die persönliche Nähe. Ich fragte
mich eher, ob es jetzt irgendwann mal möglich
sein wird, mit ihr ein unbefangenes Gespräch
zu führen.
SPIEGEL: Warum?
Kleber: Angela Merkel hat mir immer misstraut,
wie überhaupt dem journalistischen
Stand. Einmal sagte ich vor einer Schalte zu
ihr: »Frau Merkel, ich will Sie heute wirklich
nicht kontrovers stellen, ich bin ehrlich daran
interessiert, wie Sie die Sache sehen.« Ich
dachte, dadurch könnte sie sich öffnen.
SPIEGEL: Hat es funktioniert?
Kleber: Sie meinte nur: »Das weiß ich schon
von Ihnen, Herr Kleber. Sie kommen so
freundlich daher – und dann kommt die
Kinke.« Ein merkelscher Ausdruck, aber ich
wusste, was gemeint war: Sie kam aus der
Das Gespräch führten die Redakteure Marc Hujer und
Anton Rainer.
Thomas Pirot / DER SPIEGEL
Journalist Kleber
Verteidigungshaltung nicht heraus. Damit war
ein unbefangenes Gespräch über die eigentliche
Sache unmöglich.
SPIEGEL: Merkel hat 16 Jahre lang kaum Interviews
gegeben. Olaf Scholz redet viel, sagt
aber nichts. Eine deutsche Tradition?
Kleber: Ja, bei Merkel war es fast eine royale
Attitüde: »Der Herrscher wird schon anrufen,
wenn er was mitzuteilen hat.« Olaf Scholz
wiederum hat erkennbar eine diebische
Freude daran, Fragen nicht zu beantworten.
Beides ist in meinen Augen Arbeitsverweigerung.
All diese Medientrainer, die der Politik
eingeredet haben, dass man ein Gespräch gewinnt,
wenn man möglichst wenig sagt,
sollten gefeuert und durch Menschen ersetzt
werden, die etwas von inhaltlichen Argumenten
verstehen. Man darf die Leute nicht für
dumm verkaufen, die merken doch, wenn
jemand ständig ausweicht.
SPIEGEL: Die Strategie scheint aber aufzugehen,
Olaf Scholz ist Kanzler.
Kleber: Langfristig ist es keine gute Strategie.
Wer Fragen nicht beantwortet, hat in den
Augen des Publikums entweder keine Ahnung
oder dunkle Absichten. Beides sind keine
schmeichelhaften Attribute.
SPIEGEL: Ihre Möglichkeiten als Interviewer
waren begrenzt. Alles, was Sie tun können,
ist, eine Frage wieder und wieder zu stellen.
Kleber: Oder ein bisschen anders, kreativer.
Bei Friedrich Merz wusste ich zuletzt zum
Beispiel, dass er mir die Frage nicht beantworten
wird, ob er Ralph Brinkhaus ablösen
und als CDU-Chef den Fraktionsvorsitz beanspruchen
will. Also fragte ich ihn, was
eigentlich dagegenspricht, das zu tun. Vielleicht
hätte er ja gesagt, es wäre nicht unbedingt
schön, so brutal vorzugehen wie Angela
Merkel seinerzeit mit ihm.
SPIEGEL: Und?
Kleber: Seine Antwort war leider dieselbe wie
immer, ein Nullsatz.
SPIEGEL: Eine ziemlich aussichtslose Lage.
Kleber: Es ist schlimmer geworden mit den
Jahren, die gucken das alle voneinander ab.
Und es ist ein merkwürdiges Wettrennen darum
entstanden, in Interviews möglichst wenig
preiszugeben und sich dann mit einem
triumphierenden Lächeln zu verabschieden.
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DER SPIEGEL
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MEDIEN
Es gibt eine auffällige Ausnahme: Robert
Habeck. Er gesteht in Interviews
Schwächen ein, denkt über Fragen
nach, sagt auch mal: »Wissen wir
nicht, müssen wir noch rausfinden.«
Auch amerikanische Präsidenten wie
Barack Obama und Bill Clinton gaben
selbst mir gegenüber, einem Fremden,
mehr von sich preis als Angela Merkel
oder Olaf Scholz.
SPIEGEL: Dabei finden sich in den
USA, wo Sie jahrelang als ARD-Korrespondent
gearbeitet haben, mit Sicherheit
mehr Medientrainer.
Kleber: Aber es gibt eine Tradition in
der Beziehung von Journalisten und
Politikern. Man ist höflich und anständig,
sagt »Sir« und »Mister President«,
begegnet sich aber auf Augenhöhe.
Jeder akzeptiert, dass man
das Ziel hat, erbarmungslos bis zum
Kern der Nachricht vorzudringen.
Mittlerweile gibt es leider auch dort
Charaktere wie Donald Trump. Er
war der erste Präsident, den zu interviewen
ich nicht die geringste Lust
hatte. Es würde nichts bringen.
SPIEGEL: Für den Interviewstil Ihrer
Kollegin Marietta Slomka gibt es ein
eigenes Verb: Fällt ein Verhör besonders
hart aus, wird der Gesprächspartner
»geslomkat«. Was bedeutet
es, wenn jemand »geklebert« wird?
Kleber: Das kann ich nicht beurteilen.
Ich weiß nur, dass es nicht ans Original
heranreicht. Wer »geslomkat«
wird, wird durch gute Nachfragen so
auseinandergenommen, dass er oder
sie sich nicht mehr davon erholt. Marietta
gelingt das immer wieder, mir
nur selten. Das gebe ich neidlos zu.
SPIEGEL: Die Deutsche Welle hat Sie
einmal so beschrieben: »Seriosität,
Standesbewusstsein, Nüchternheit,
journalistischer Erfolg, gepflegtes Äußeres
und ein Feuereifer für die Sache«.
Die perfekten Eigenschaften
eines Anchorman?
Kleber: Für einen Grabstein ist es ein
bisschen lang. Aber es wäre schön,
wenn ich diese Ansprüche einigermaßen
erfüllt hätte.
SPIEGEL: Wie würden Sie die formulieren?
Kleber: Ein Anchorman muss eine
Regel befolgen: Was man nicht erklären
kann, hat man auch nicht
verstanden. Man muss die Materie
durchdringen und den Kern herausarbeiten.
Und es braucht eine gewisse
Ausstrahlung. Ich versuche den
Menschen zu sagen: »Sie können mir
vertrauen, ich lege Sie nicht rein.
Während Sie den ganzen Tag Häuser
gebaut, Autos repariert und Menschen
gepflegt haben, habe ich mich
informiert, und das ist mein Ergebnis.
Geben Sie mir 28 Minuten.«
»Manchmal
wirkt man
besserwisserisch,
wenn
man es
tatsächlich
besser weiß.«
Moderator Kleber
mit US-Prä sident
Obama 2014
Lawrence Jackson / ZDF / picture alliance / dpa
SPIEGEL: In den vergangenen 18 Jahren
wurde das Mediensystem auf den
Kopf gestellt. Nur der Anchorman
musste sich nicht verändern?
Kleber: Kaum, die Rolle ist eher noch
wichtiger geworden. Der Fels, der
schon immer im Nachrichtenstrom
stand, muss jetzt sehr viel stärker sein
– denn der Strom ist massiv geworden.
Eine vertrauenswürdige Instanz
muss die Kakofonie von Meinungen,
von Fakten und Behauptungen professionell
sortieren. Verändert hat
sich allerdings meine Einstellung zur
Welt. Ich habe viel von meinem Optimismus
verloren, ich mache mir
mehr Sorgen als je zuvor.
SPIEGEL: In den USA klagen Medien
über einen Niedergang der Debattenkultur,
in der die nüchterne Nachricht,
anders als in Deutschland, keine
Chance mehr hat.
Kleber: Ich bin in einer Zeit nach Amerika
gekommen, Anfang der Achtziger,
als es umgekehrt war. In meiner
Jugend standen sich hierzulande die
Lager erbittert gegenüber, man stritt
über das Verhältnis zu Russland, über
Willy Brandt, über Paragraf 218 und
die Notstandsgesetzgebung. Es war
teilweise hasserfüllt. In den USA fühlte
sich die Gesprächskultur dagegen
fast sportlich an, zwischen konservativen
Knochen und liberalen Städtern
gab es einen Konsens, ich habe das
bewundert. Diese Eleganz der Debatte
ist völlig verloren gegangen. Heute
verlaufen Trennlinien überall.
SPIEGEL: Ist es die Aufgabe des »heute
journals«, derartige Spaltungen zu
verhindern?
Kleber: Nein. Aber die Aufgabe eines
Moderators ist es, alle Menschen zu
erreichen, unabhängig von ihrer Einstellung.
Als es 2018 in Chemnitz zu
den rassistischen Ausschreitungen
und Demonstrationen kam, war es
mir wichtig, schon in der Begrüßung
zu sagen, wie alles angefangen hat –
nämlich mit der Ermordung von Daniel
H., Täter waren allem Anschein
nach ein Syrer und ein Iraker. Wer das
vergisst und nach wenigen Sekunden
des Mitgefühls nur noch über die Auswirkungen,
die Proteste, die verderblichen
Einflüsse der AfD spricht, verliert
die Menschen auf dem Weg.
SPIEGEL: Ihre Moderationen wurden
über die Jahre immer wieder kritisiert,
wegen verkopfter Formulierungen,
aber auch wegen Ihrer eindeutigen
Haltung. Der Kolumnist Jan
Fleischhauer warf Ihnen einmal »Erziehungsjournalismus«
vor.
Kleber: Manchmal wirkt man besserwisserisch,
wenn man es tatsächlich
besser weiß – ich versuche das eigentlich
zu vermeiden. Ich habe insgesamt
2977 Sendungen moderiert, da ist es
bestimmt hin und wieder misslungen,
diesen Unterton wegzulassen. Es ist
nicht meine Aufgabe, meine persönliche
Sicht der Dinge zu verbreiten.
Egal wie sehr sich die Leute dafür interessieren,
es geht nicht um mich.
SPIEGEL: Die meistgesehenen Nachrichtensendungen
in den USA laufen
nicht beim trockenen CNN, sondern
bei Fox News und Sendern, die sich
einem Lager verschrieben haben.
Kleber: Umgekehrt ist die »Washington
Post« zu einem Anti-Trump-
Kampfblatt geworden. Parteiisch für
Trump zu sein ist nicht wesentlich
schlechter als parteiisch gegen ihn
sein. In Amerika regiert das Geld den
Markt. Sender wie Fox News haben
festgestellt, dass sich Einseitigkeit,
Hass und Spaltung auszahlen. Das
kleine öffentlich finanzierte Fernsehen
kommt dagegen nicht an. Das
schauen nur die ohnehin verteufelten
liberalen Eliten. In Deutschland liefern
die Öffentlich-Rechtlichen einen
Standard, an dem sich Fox-News-
Varianten orientieren müssen.
SPIEGEL: Welche wären das?
Kleber: »Bild TV« schickt sich an, in
diese Richtung zu marschieren. Die
aufgebauschte Information hat dort
mehr Chancen als ein fundierter
Bericht.
SPIEGEL: Warum sollten sich Politiker
dem »heute journal« stellen, wenn sie
bei parteiischen Medien oder gar
ihren eigenen Parteimedien verhätschelt
werden?
Kleber: Komischerweise suchen die
Leute, die da so erfolgreich sind, immer
noch ihren Platz im »heute journal«.
Nichts ist so reizvoll wie die
Kontroverse, es ist eine Bewährungsprobe,
der sich ein Politiker stellen
muss. Wenn sich der AfD-Abgeordnete
Brandner auf Facebook von der
eigenen Parteifreundin interviewen
lässt, die in jeder Frage jubelnd zum
Ausdruck bringt, wie sehr sie seiner
88 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
MEDIEN
Meinung ist, merken sogar seine Fans, dass
das niemandem etwas nützt.
SPIEGEL: Das trockene Ablesen von Nachrichten,
haben Sie selbst einmal gesagt, gebe
es nur noch im nordkoreanischen Fernsehen
und um 20 Uhr im Ersten. Ist die Zeit der
nüchternen Nachrichtensendung vielleicht
einfach vorbei?
Kleber: Der Korea-Satz ging in der ARD rum,
als ich dort noch gearbeitet habe. War ein
Spaß. Als ich ihn dann als ZDF-Mann bei
einer Podiumsplauderei wiederholt habe,
fanden die »Tagesschau«-Kollegen und -Kolleginnen
ihn nicht mehr lustig, ich im Nachhinein
auch nicht.
SPIEGEL: Sie schreiben Ihre Texte selbst, in
der »Tagesschau« werden hingegen vorgeschriebene
Moderationen vorgelesen. Das
könnte auch ein Bot übernehmen.
Kleber: Die Bots werden noch lange brauchen,
bis sie an die Professionalität der »Tagesschau«-
Redaktion rankommen. Und auch dann würde
das niemand sehen wollen. Wir Menschen
interessieren uns nun mal am allermeisten für
andere Menschen. Und wenn jemand jeden
Abend um 20 Uhr im Wohnzimmer auftaucht,
entwickelt man automatisch eine Beziehung
zu dieser Person. Wir wissen aus unserer Medienforschung,
dass Zuschauer des »heute
journals« ein festgefügtes Weltbild über die
Beziehung zwischen Gundula und mir haben.
SPIEGEL: Was soll das heißen?
Kleber: Die Menschen glauben, genau zu wissen,
wie gut wir uns gerade verstehen und welche
Atmosphäre im Studio herrscht. Sogar zur Frage,
was unsere jeweiligen Ehepartner davon
halten, gibt es festgefügte Vermutungen. Dabei
sind wir nur viermal pro Sendung für ein paar
Sekunden gemeinsam zu sehen. Das reicht trotzdem
als Basis für ein Weltbild, weil sich Menschen
für das Verhalten anderer interessieren.
SPIEGEL: Von dem früheren »Tagesthemen«-
Moderator Hajo Friedrichs gibt es das berühmte
Zitat, dass sich ein Journalist mit keiner
Sache gemeinmachen soll, auch nicht mit
einer guten. Es wird oft als Appell gegen Aktivismus
verstanden, dabei ging es ihm in erster
Linie um Emotionen vor der Kamera. Wie
haben Sie den Rat verstanden?
Kleber: Als Jurist und früherer Anwalt fand
ich es immer wichtig, die Argumentation der
Gegenseite so zu verstehen, dass man in der
Lage ist, sie mit einer Überzeugung wiederzugeben,
als wäre es die eigene. Erst dann
kann man neutral berichten.
SPIEGEL: Das hielt Sie nicht davon ab, Emotionen
vor der Kamera zu zeigen. 2015 lasen
sie die Ansprache eines Busfahrers vor, der
in gebrochenem Englisch Flüchtlinge an Bord
willkommen hieß. Man konnte hören, wie Sie
vor Rührung mit den Tränen kämpften.
Kleber: Diese schöne Meldung kam während
der Sendung rein, ich hatte sie vorher nicht
gesehen. Und sie war ein Lichtblick in einer
damals aufgepeitschten Debatte. Mir hat es
wieder gezeigt, dass ich bei schönen Dingen
emotionaler bin als bei hässlichen. Und ich
habe nicht geweint, der Frosch in meinem
Anchorman Kleber
Thomas Pirot / DER SPIEGEL
Hals war eher eine Kaulquappe. Ich bin sicher,
Hajo Friedrichs hätte mir verziehen.
SPIEGEL: Junge Generationen suchen ihre Information
oft in der Unterhaltung, etwa bei
Comedians wie John Oliver und Satirikern
wie Jan Böhmermann. Ist das Journalismus?
Kleber: Ich bin ein großer Fan dieser Sendungen,
gerade wenn sie wie bei Böhmermann
richtige journalistische Kapitel haben. Aber
wir und die spielen nach unterschiedlichen
Regeln. Das »heute journal« ist in erster Linie
der Wahrheit verpflichtet, Jan Böhmermann
der Zuspitzung.
SPIEGEL: Der Wahrheit nicht?
Kleber: Man kann die Wahrheit so auf die
Spitze treiben, dass sie Satire wird. Und man
kann Fakten, die nicht ganz auf festen Beinen
stehen, als Erkenntnis verkaufen. Böhmermann
darf das, wir im »heute journal« dürfen
das nicht – und ich finde, beides gehört in den
medialen Mix.
SPIEGEL: Glaubt man Böhmermann, muss
man sich für viele Gespräche schämen, weil
man die falschen Leute einlädt. Die ständige
Präsenz des Virologen Hendrik Streeck etwa
würde für eine »false balance« von Minderheitenmeinungen
sorgen.
Kleber: »False balance« ist eine ständige
Gefahr, das bestreite ich nicht. Es ist aber
genauso gefährlich, wenn man, um der Balance
aus dem Wege zu gehen, gewisse Interpretationen
von Fakten nicht mehr zulässt.
Hendrik Streeck ist kein Verschwörungstheoretiker,
er hält die Erde nicht für flach
und Elvis nicht für lebendig. Natürlich kann
und soll man ihn nach seiner Meinung zu
Coronamaßnahmen fragen. Unabhängig
davon, dass ihm Christian Drosten beim Verstehen
der Viren vermutlich turmhoch überlegen
ist. Aber ich bin weder der Schiedsrichter
in diesem Wissenschaftsstreit noch der
Obervirologe.
SPIEGEL: Als 2001 das World Trade Center in
New York angegriffen wurde, waren Sie Washington-Korrespondent
und haben sich beklagt,
dass ARD und ZDF keine Live-Sendung
machen wollten.
Kleber: Das ist falsch, ich habe mich nicht beklagt.
Ich war stinksauer.
SPIEGEL: Fast 20 Jahre später stürmten
Trump-Fans das Kapitol. Sie mussten auf
Twitter dazu aufrufen, CNN einzuschalten.
Kleber: Auch da waren wir nicht schnell genug.
Ich habe an dem Tag, wie an vielen anderen,
zu denen gehört, die sofort rausgehen
und senden wollten. Übrigens auch, als in
Paris Notre Dame gebrannt hat. Aber Kollegen
und Kolleginnen, die ich sehr respektiere,
haben anders entschieden. Im Haus ist das
bis heute umstritten.
SPIEGEL: Wie erklären Sie Kritikern des Rundfunkbeitrags,
dass sie künftig trotzdem mehr
bezahlen müssen?
Kleber: Mit einer Preis-Leistungs-Rechnung.
Wer sich einmal ansieht, was man für die wenigen
Groschen am Tag bekommt, kann gar
nicht ernsthaft darüber diskutieren, ob sich
das lohnt oder nicht.
SPIEGEL: Für manche Familien sind 18 Euro
im Monat mehr als nur ein paar Groschen.
Kleber: Haushalte, denen der Rundfunkbeitrag
wirklich wehtut, müssen ihn meistens
nicht bezahlen. Wir wissen, dass ein hoher
Prozentsatz der Menschen, die aus sozialen
Gründen davon befreit sind, nebenbei Sky
abonniert haben. Ich halte das Geldargument
für eine vorgetäuschte Debatte.
SPIEGEL: Sie haben kurz vor der Rente damit
begonnen, in Moderationen zu gendern. Sie
hätten diese Debatte aussitzen können.
Kleber: Warum sollte ich? Ich habe in privaten
Diskussionen gelernt, dass es valide Argumente
dafür gibt, es in meine Moderationen
einfließen zu lassen. Ich mache es meistens
dann, wenn ich damit etwas transportieren
kann. Wer immer nur von Truckern spricht
und nie von Truckerinnen, vergisst eher mal
die Gefahren, denen Fernfahrerinnen nachts
auf überfüllten Parkplätzen ausgesetzt sind.
SPIEGEL: Manche haben das Gefühl, Sie würden
ihnen eine Art zu sprechen vorschreiben.
Kleber: Dabei ist es umgekehrt. Diese Menschen
wollen mir eine Sprache vorschreiben
und mir genderneutrale Formulierungen verbieten.
Ich habe noch nie jemanden dafür
kritisiert, dass er nicht gendern wollte.
SPIEGEL: Mit welchem Satz verabschieden Sie
sich von Ihren Zuschauern?
Kleber: Hoffentlich ohne Floskel, ich habe die
immer vermieden, das ist fast eine Manie bei
mir. Beim ZDF hatte ich mich ein Jahr lang
intensiv darum bemüht, die Floskel »Alle Angaben
ohne Gewähr« nach den Lottozahlen
zu streichen. Natürlich sind sie ohne Gewähr,
nennen Sie mir eine Situation, wo uns jemand
verklagen könnte! Am Ende gab es einen dicken
Aktenordner mit meiner Beschwerde,
der durch alle Abteilungen ging – und die
Formulierung ist immer noch da. Nur einer
meiner vielen Fehlschläge.
SPIEGEL: Herr Kleber, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
n
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DER SPIEGEL
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Ausland
Die Geschichten hinter den Geschichten –
der besondere Rückblick
Jenseits von Kabul
NR. 40/2021 »Der Landraub der Taliban« – Nach der Machtübernahme der Islamisten ist Christoph Reuter per
Bus durch afghanische Provinzen gereist, um die neue Unordnung im Land zu erleben und zu beschreiben.
D
iese
Geschichte handelt davon, wie
sich die Taliban in einem der abgelegensten
Winkel Afghanistans gemeinsam
mit einem brutalen Landbesitzer
Grundstücke unter den Nagel reißen wollten
– und wie es war, darüber zu berichten.
Die Taliban hatten nicht damit gerechnet,
dass einige Tausend Menschen in den
schwer zugänglichen Tälern sich wehren
würden. Auf Facebook. Hier kommt ein Ex-
Dorfschuldirektor ins Spiel: Ghulam Hazrat
Mohammadi. Er versammelte Menschen
für ein Protestvideo, schlug sich über
Schleichwege nach Kabul durch und startete
eine Social-Media-Kampagne. Wir Reporter
fanden Mohammadi, sprachen andere
Geflohene, brachen auf nach Daikundi.
Google Maps gibt 7:47 Stunden Fahrtzeit
von Kabul bis in die Provinzhauptstadt
an. Nur hat niemand Google Bescheid gegeben,
dass die Straße über weite Teile von
Erdrutschen weggerissen wurde. Auf der
Umgehungsstrecke kollabiert das Auto. Im
Schritttempo landen wir in einem Kaff,
tun selbst den Taliban am Posten leid, die
sich für die Straßen entschuldigen.
Im »Flying Coach«, einem hochgelegten
Kleinbus mit der gefühlten Motorleistung
eines Schützenpanzers, geht es weiter, am
Abend des zweiten Tages gelangen wir im
nächsten »Flying Coach« in der Dunkelheit
über kaum sichtbare Pisten zu den Dörfern.
Zum Sonnenaufgang vor einer spektakulären
Gebirgskulisse bricht die Achsfederung.
Einer der Männer rennt eine Bergkuppe
hoch, schafft es zu telefonieren, dann rast
ein Motorradfahrer heran, auf dem Gepäckträger
eine Blattfeder balancierend.
Die anschließende Geschichte über Willkür
und Vertreibung der Bauern trifft bei
der Taliban-Führung in Kabul auf einen
wunden Punkt: ihr Bemühen, sich dem
Westen als geläuterte Herrscher zu präsentieren.
Wider Erwarten erlässt einer der
obersten Taliban-Richter Wochen später ein
Dekret, dass die Enteignungen rückgängig
gemacht werden müssten.
Doch dann zeigt sich die neue Unordnung
Afghanistans: Die lokale Führung akzeptiert
zwar das Diktum, lässt die Geflohenen
zurückkehren, aber nur, um sie erneut
zu vertreiben. Der Grundbesitzer habe Einspruch
eingelegt. Mohammadi ist inzwischen
nach Iran geflohen, andere Bauern
protestieren weiter. Der Grundbesitzer ruft
beim SPIEGEL an: Wir sollten aufhören,
uns einzumischen. Er werde jeden Bauern
aus dessen Haus vertreiben, »und wenn
der und seine Kinder dann auf der Straße
erfrieren, haben sie das verdient!«
90 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL
Erschütterndes Leid
NR. 26/2021 »Tötet sie« –
Afrikakorrespondent Fritz
Schaap traf Frauen aus der
Kriegsregion Tigray, ihre
Erzählungen und Erlebnisse
wird er nicht vergessen.
Es war eine Reise in eine Region
der Angst, voller Geschichten,
die uns Frauen in stickigen
Zimmern, an versteckten Orten
mit leisen, tränenerstickten
Stimmen erzählten. Geschichten
von Vergewaltigungen, so
grausam, dass auch ich keines
der Interviews ohne Tränen in
den Augen beendete. Die Frauen
erzählten, wie ihnen heiße
Eisenstäbe eingeführt wurden,
wie ganze Gruppen von Soldaten
über sie herfielen. Man
wolle ihre Blutlinie reinigen,
wurde ihnen gesagt. Eine Frau
konnte nicht mehr liegen vor
Schmerzen. »Ich brauche Hilfe«,
flehte sie uns an. Krankenschwestern
erzählten von Familien,
die gezwungen wurden zuzusehen,
während ihre Töchter
vergewaltigt wurden.
Die Uno ging im April von
mindestens 22 500 solcher Fälle
»You have to leave!«
NR. 45/2021 »Der gefährlichste
Rentner der Welt« – USA-Korrespondent
René Pfister ist bemüht,
Politik mit professioneller
Distanz zu betrachten. Bei einer
Kundgebung von Trump-Fans
aber war er mittendrin.
Dass ich auffiel, merkte ich
nach den ersten Schritten. Ich
trug ein weißes Hemd und Sakko
und setzte mich direkt vor
die Bühne – zwischen Männer,
die T-Shirts trugen, auf denen
stand: »Don’t blame me, I voted
for Trump«. Seit ich im Sommer
2019 in die USA kam, habe ich
Dutzende Veranstaltungen von
Trump-Fans besucht, nie habe
ich um meine Sicherheit gefürchtet.
Aber diese hier in Tampa,
Florida, war anders. Sie hieß
»Reopen America« und war
eine Art Open-Air-Gottesdienst
für Menschen, die glauben, dass
Trump der Wahlsieg gestohlen
worden ist. Journalisten durften
nicht hinein, weswegen ich mir
für 250 Dollar ein Ticket kaufte.
Neben mir saßen blonde Zwillinge,
um die 40, sie trugen Minikleider
in Stars-and-Stripes-
aus. Es sind monströse Zahlen,
hinter denen erschütterndes
Leid steht. All diese Menschen
können wir seit unserer Abreise
nicht mehr erreichen. Denn die
äthiopische Regierung hält eine
De-facto-Blockade von Tigray
aufrecht, und weder Telefonnoch
In ternetdienste funktionieren.
Nachdem tigrayische
Soldaten Zentral- und Osttigray
zurückerobert und die eritreischen
Truppen sich weitgehend
zurückzogen haben, gingen die
Berichte über Misshandlungen
zurück. Dass die Opfer ausreichend
behandelt werden, ist unwahrscheinlich.
Die medizinische
Infrastruktur in Tigray ist
zerstört. »Ich weiß nicht, was
die Zukunft bringen wird. Ich
sehe nur Hunger und Tod«, sagte
uns eine der Frauen.
Betende Frau in
Mekelle, Tigray
Optik. Wir plauderten, bis eine
der Schwestern fragte, ob ich
ein Fan »unseres Präsidenten«
sei. Sie meinte Trump, nicht Joe
Biden. »I’m not so sure about
that«, antwortete ich.
Daraufhin schlug die Stimmung
um. »I don’t want to sit
next to you! You have to leave!«,
kreischte die Frau. Als die Zuschauer
hinter mir begannen,
gegen meinen Stuhl zu treten,
blieb mir nichts anderes übrig,
als mich unter dem Gejohle der
Menge nach hinten zu verziehen.
Dann führte mich ein
Wachmann mit Sturmgewehr
zur Veranstaltungsmanagerin.
Sie fragte, ob ich Journalist sei.
Ich antwortete, dass sie dies
nichts angehe. Sie könne mich
nicht zwingen, sagte sie, aber
ihr Rat sei, schnell zu verschwinden
– was ich tat. Es war
das erste Mal, dass ich am eigenen
Leib spürte, wie es ist,
einem aufgepeitschten Mob gegenüberzustehen.
Ich war nicht
ernsthaft in Gefahr. Aber man
blickt anders auf Trump und
seine Fans, wenn man erlebt, wie
dünn der Firnis der Zivilisation
bei ihnen ist.
Daniel Etter / DER SPIEGEL
Tee und Torte
Der Pfau, er lebt
NR. 24/2021 »Die mutigen
Frauen von Minsk« – Knapp
1000 politische Gefangene
sitzen in Belarus in Haft. Korrespondentin
Christina Hebel
traf Frauen, die dennoch gegen
Machthaber Lukaschenko
protestieren.
Es ist schon spät an einem
Novemberabend in Minsk,
als Olesja fragt: »Nimmt man
uns in Deutschland überhaupt
noch wahr?« Ich bin gerade zurückgekommen
aus dem Grenzgebiet
nahe Grodno, wo ich mit
Flüchtlingen gesprochen habe.
Diktator Alexander Lukaschenko
hatte sie zu Tausenden mit
Touristenvisa ins Land locken
und an die Grenze schaffen lassen,
um Druck auf die EU auszuüben.
Nun hat Polen die
Grenze dichtgemacht.
Ich weiß nicht recht, was ich
antworten soll. Seit Monaten
habe ich das Gefühl, dass wir
Journalistinnen und Journalisten
nicht mehr hinterherkommen
bei den immer düster werdenden
Nachrichten aus Belarus
über Festnahmen von Regimekritikern.
Ich hatte Olesja und vier weitere
Aktivistinnen im Juni das
erste Mal getroffen. Damals
führten sie mich in ein verlassenes
Waldstück, wo wir unentdeckt
waren, und erzählten von
ihrem Protest. Sie sehen müder
aus als im Sommer, viele ihrer
Freunde sind ins Exil gegangen.
»Noch hat Lukaschenko uns
nicht zu Flüchtlingen gemacht,
wir bleiben«, ruft eine, die anderen
lachen. Es ist trotz allem
eine fröhliche Runde in dieser
Nacht, bei Torte und Tee. Sie
schenken mir eine schwarze
Tasse, die sich durch die Wärme
verfärbt. Zum Vorschein kommt
das Emblem der Opposition:
ein Reiter mit Schwert auf weißrot-weißem
Grund. Eine Partisanen-Sonderanfertigung.
Ich
solle sie nicht vergessen, bitten
die Frauen zum Abschied.
NR. 36/2021 »Das Wunder
von Yunnan« – Korrespondent
Georg Fahrion über einen
unerschrockenen Studenten, der
den Bau eines Staudamms in
China verhinderte
In China liegt die wahre Geschichte
oft ganz anders, als es
zunächst den Anschein hat.
Beim Grünen Pfau lauteten die
Meldungen etwa so: Aktivisten
klagen gegen Umweltzerstörung,
die Gerichte geben ihnen
recht, die Baufirma muss den
Staudamm einstampfen – ein
Beleg dafür, dass der chinesische
Rechtsstaat funktioniert.
Dass sich hinter dieser Oberfläche
aber eine ganz andere
Dynamik vollzogen hat, nämlich
offenbar der oberste Pekinger
Machtzirkel zugunsten des
Artenschutzes intervenierte,
erfuhren wir erst durch unsere
Recherchen vor Ort.
In anderen Ländern sind solche
Erkenntnisse Journalistenalltag,
in der Volksrepublik sind
sie ein Ausnahmefall. Denn viele
Chinesen vermeiden es, mit ausländischen
Journalisten zu reden.
Im Ranking der Pressefreiheit
liegt das Land auf Platz 177
von 180. Der Druck der Kommunistischen
Partei auf Gesprächspartner
ist seit dem Beginn
der Pandemie noch gestiegen.
Umso mehr freuten wir uns,
dass sich der Held der Geschichte
davon nicht einschüchtern
ließ. Gu Bojian entschloss sich,
mit uns durch Yunnan zu reisen,
an die Stätten seines Kampfes.
Ob er das Auto bemerkt hat, das
uns folgte, weiß ich nicht. Konsequenzen
hatte seine Redebereitschaft
für ihn nicht.
Gu schreibt in Shanghai seine
Doktorarbeit, die sich mit Schutzmaßnahmen
für den Grünen
Pfau befasst. Mittels Videokameras
beobachtet er die Vögel,
im Frühjahr sah er sogar ein frisch
geschlüpftes Pfauenküken.
Fahrion, Gu
Gilles Sabrie / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
91
AUSLAND
»Es ist noch nicht vorbei«
USA Der Polizist Harry Dunn war im Dienst, als vor einem Jahr Hunderte Trump-Anhänger das Kapitol
in der Hauptstadt Washington stürmten. Er wurde rassistisch beschimpft, er leidet
noch immer unter den Folgen des Angriffs – der heute das ganze Land spaltet. Von Alexandra Rojkov
E
r sagt, er hätte es ahnen müssen. Als der
Polizist Harry Dunn am Morgen des
6. Januar zur Arbeit fährt, sieht er die
Vorboten der Ereignisse, die Amerika verändern
sollen.
Es ist ein kalter, grauer Mittwoch, das
Thermometer zeigt wenige Grad über null.
Die Pandemie hat das Leben in den USA weitgehend
stillgelegt: Viele Geschäfte sind geschlossen,
die Innenstadt von Washington,
D. C., ist eigentlich verwaist. Doch als Dunn
an diesem Morgen gegen 6 Uhr zu seiner
Schicht fährt, sind die Straßen voller Leute.
Dunn sieht Hunderte Männer und Frauen,
die sich in Richtung des Kapitols schieben,
der Herzkammer der amerikanischen Demokratie.
Sie haben Flaggen dabei, auf denen
Trump zum »wahren« US-Präsidenten erklärt
wird, und Plakate, auf denen sie fordern, den
vermeintlichen »Stimmenklau« der Demokraten
zu beenden. Die offizielle Kundgebung,
zu der US-Präsident Donald Trump
aufgerufen hat, ist für 11 Uhr angesetzt, doch
bis dahin sind es noch fünf Stunden, und
schon jetzt sammeln sich viel mehr Menschen
auf den umliegenden Plätzen, als Dunn erwartet
hat. »Im Rückblick gesehen war es
unheimlich«, sagt er heute.
Doch Dunn hat in seinen 14 Jahren als Polizist
Hunderte Proteste erlebt, und immer
waren sie friedlich geblieben. »Klar, es gab
schon mal ein paar Festnahmen«, sagt er.
»Aber in meinen wildesten Träumen hätte ich
nicht mit dem Ausmaß an Gewalt gerechnet,
das folgte.«
Harry Dunn, 38 Jahre alt, wirkt wie ein
Mensch, den so schnell nichts erschüttern kann.
Er hat die Figur eines Giganten und den Humor
eines Teenagers, zwei Eigenschaften, die ihn
umgeben wie ein Schutzschild. Seine Größe
lässt Dunn felsenfest wirken, seine Scherze,
vorgetragen in kantigem Slang, entwaffnen die
Realität. Doch je länger Dunn erzählt, was er
am 6. Januar 2021 erlebte, desto spärlicher
werden seine Witze, desto weniger Standhaftigkeit
strahlt seine Statur aus. Am Ende des
Gesprächs wirkt er wie jemand, der tief verletzt
wurde. Eine Verletzung, die auch heute,
ein Jahr später, nicht ganz verheilt ist.
Am 6. Januar 2021 stürmte ein Mob das
Kapitol in Washington, D. C. Die Demonstranten
brachen durch Barrikaden und verschafften
sich einen Weg ins Gebäude, wo der
Zeuge Dunn bei Anhörung
Jim Bourg / ZUMA Wire / IMAGO
Kongress gerade den Wahlsieg von Joe Biden
bestätigen sollte. Die Zeremonie musste abgebrochen,
die Politikerinnen und Politiker
mussten in Sicherheit gebracht werden. Sie
versteckten sich in Räumen, die einst für den
Fall eines Terrorangriffs geschaffen wurden –
jetzt mussten sie vor ihren eigenen Bürgern
fliehen.
Der Angriff dauerte nicht einmal fünf Stunden,
doch seine Folgen sind bis heute spürbar.
Für die Polizisten, die damals im Dienst waren.
Und für Amerika.
»Dort oben begann mein Tag«, sagt Harry
Dunn. Er zeigt mit dem Finger auf die Stufen
des Kapitols, eines Gebäudes, so riesig, dass
es mehr als 500 Räume fasst. Am Morgen
treffen sich Dunn und seine Kollegen hier zu
einer kurzen Vorbesprechung, dann beziehen
sie ihre Posten für den Tag. Dunn und ein
Kollege sollen den Ostflügel des Kapitols
sichern.
Trotz der Kälte und des trüben Wetters
füllt sich die Wiese vor dem Gebäude mit
jeder Stunde weiter. »Es wurden immer mehr
Leute«, sagt Dunn – Menschenmengen, wie
er sie noch nie gesehen hatte. Aber seine Vorgesetzten
wirkten bei der Besprechung am
Morgen entspannt, und er verlässt sich auf
ihre Einschätzung. »Sie sagten: Es wird ein
langer Tag, vielleicht länger als eure acht
Arbeitsstunden. Aber sie gaben mir keinerlei
Grund zur Beunruhigung.«
Während Dunn auf der Ostseite des Kapitols
Wache schiebt, beginnt etwa drei Kilometer
entfernt, in der Nähe des Weißen Hauses,
die offizielle Kundgebung. Donald Trump
hat seine Anhänger dazu aufgerufen, »Amerika
zu retten«, so das Motto. Aus dem ganzen
Land folgen die Menschen seinem Ruf: Rentner
aus Pennsylvania fahren stundenlang
durch die Nacht, Bürgerwehren aus Florida
sammeln sich auf der Grünfläche. Aus Wisconsin,
Texas und Minnesota reisen ganze
Familien an. Als Trump um etwa 11.50 Uhr
Ortszeit die Bühne betritt, jubeln ihm mehrere
Tausend Menschen zu.
Trump wiederholt die Lüge, die US-Wahl
sei gestohlen worden. Wahlhelfer, Gerichte,
sogar viele von Trumps Parteimitgliedern
haben da schon festgehalten, dass Joe Biden
der rechtmäßige Präsident ist. Trump bleibt
noch eine letzte Waffe: seine Anhänger.
»Wenn ihr nicht wie verrückt kämpft, dann
werdet ihr kein Land mehr haben«, ruft er
den Demonstranten zu. »Wir gehen ins Kapitol.«
Viele Teilnehmer verstehen das als
Appell: Stoppt die Stimmenauszählung, die
Trumps Niederlage zementieren wird. Um
jeden Preis.
Auf seinem Posten vor dem Kapitol bekommt
Harry Dunn davon nichts mit. Noch
immer glaubt er, dass die Menge, die sich um
das Gebäude zusammenzieht wie eine Gewitterfront,
friedlich bleiben wird. Erst als ihn
zwei Notrufe erreichen, versteht er, »dass
etwas Schreckliches passiert«.
Zunächst verbreitet sich über Funk die
Nachricht, zwei Rohrbomben seien gefunden
worden. Kurz darauf hört Dunn die Stimme
eines Kollegen und Freundes, der auf der
Westseite des Kapitols Wache hält. »Wir brauchen
Hilfe«, schallt es aus Dunns Funkgerät.
»Sie haben die Polizeilinie durchbrochen.«
Fast ein Jahr später, an einem kalten Dezembertag,
erzählt Dunn, wie er die folgenden
Stunden erlebte. In einem Ton, der mal
voller Sarkasmus ist und mal voller Zorn, erinnert
er sich, wie er seinen Posten aufgibt
und um das Kapitol herumrennt, um seinem
Kollegen zu helfen. Als er um die Ecke biegt,
steht Dunn plötzlich vor einem »Meer von
Menschen«. Tausende Demonstranten stürmen
auf das Gebäude zu. Dunn sieht, wie
einige Dutzend Polizisten versuchen, die
Übermacht zurückzuhalten: Sie werden geschlagen,
zu Boden gedrückt, mit Pfefferspray
besprüht. Mindestens ein Beamter wird von
den Demonstranten mit Stromschlägen trak-
92 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
AUSLAND
Brent Stirton / Getty Images
tiert. Es gibt Videos davon, die so
schmerzhaft anzusehen sind, dass sie
mit einem Warnhinweis versehen
werden mussten.
Besonders verstört Dunn der Rassismus,
der ihm an diesem Tag entgegenschlägt.
Irgendwann findet er
sich in der Krypta des Kapitols wieder,
einer Halle mit Sandsteinsäulen und
Kronleuchtern. Dort stehen zwölf Statuen
von berühmten Ameri kanern:
Samuel Adams, einem Revolutionär,
Robert L. Li vingston, einem der Gründerväter
der Vereinigten Staaten. Als
Dunn dort ankommt, sieht der Raum
aus »wie eine Studentenparty«:
Demonstranten lehnen sich gegen die
Statuen, brüllen herum wie auf einem
Ver bindungstreffen. Mindestens einer
schwenkt eine Konföderiertenflagge,
ein Symbol für die angebliche »Überlegenheit
der weißen Rasse«.
Trump-Anhänger bei
Angriff auf das
Kapitol: Tausende
Demonstranten
stürmen auf das
Gebäude zu
»Ist das Amerika?
Wie zur
Hölle konnte
so etwas
passieren?«
Harry Dunn war Mitte zwanzig,
als er zur »Capitol Police« stieß. Er
hatte eigentlich Gesundheitswesen
studiert, aber als man ihm die Stelle
auf einer Jobmesse anbot, sagte er
auch zu, weil sie symbolisch bedeutsam
war: Das Kapitol war einst auch
von schwarzen Sklaven erbaut worden,
und Dunn sagt, ihm habe der
Gedanke gefallen, dass er – ein
Schwarzer – es nun schützen würde.
Dass er sehen musste, wie es am
6. Januar in die Hände von Rassisten
fiel, traf ihn tief.
Mehrfach, so erzählt es Dunn
heute, beschimpfen ihn Demonstranten
in jenen Stunden mit dem
N-Wort. »Noch nie hat mich jemand
so genannt, während ich eine Uniform
trug«, sagt Dunn. »Das zu erleben,
warf mich an einen dunklen
Ort.«
Es dauert etwa vier Stunden, bis
es der Polizei gelingt, die Randalierenden
aus dem Gebäude zu drängen:
Um 17.50 Uhr wird das Kapitol für
»sicher« erklärt. In den Minuten danach
setzt Dunn sich auf eine Bank
und wartet, bis sich das Adrenalin des
Tages verflüchtigt. Es macht der Erschöpfung
Platz – und der Traurigkeit.
Dunn kommen die Tränen, er
schluchzt, brüllt um sich, so erzählt
er es heute. »Ist das Amerika?«, habe
er geschrien. »Wie zur Hölle konnte
so etwas passieren?«
Dunn ist mit dieser Frage nicht allein:
Die halbe Welt blickt an diesem
Tag mit Schrecken auf die USA. Und
mit Erstaunen. Warum hat niemand
eine solche Menschenmasse vorhergesehen?
Wieso waren nur so wenige
Polizisten im Einsatz? Und wie ist es
möglich, dass ein wütender Mob, im
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
93
AUSLAND
mächtigsten Land der Welt, den Staat
überrennt?
Ein Jahr später sind die meisten
dieser Fragen noch immer nicht beantwortet.
Zwar hat das US-Repräsentantenhaus
einen Ausschuss eingesetzt,
der klären soll, warum es geschehen
konnte. Doch die Untersuchung
wird nur von einem Teil der
US-Politik getragen: Zwar setzt sich
neben den Demokraten auch die prominente
Republikanerin Liz Cheney,
Tochter des früheren US-Vizepräsidenten,
für umfassende Aufklärung
ein. Doch die meisten Republikaner
im Kongress lehnen den Untersuchungsausschuss
ab. Sie folgen damit
dem Willen der Menschen, die sie gewählt
haben: Ein Teil der amerikanischen
Gesellschaft verehrt Donald
Trump noch immer und glaubt, dass
Biden sich die Präsidentschaft ergaunert
habe. Für diese Menschen sind
die Aufständischen des 6. Januar
Helden.
Mehr als 700 Randalierer wurden
inzwischen angeklagt, die Vorwürfe
reichen vom illegalen Betreten des
Kapitols bis zu schwerer Körperverletzung.
Trotzdem tun viele Re publikaner
so, als wäre es kein Putschversuch
gewesen. Sondern ein
friedlicher Protest, der irgendwie missverstanden
wurde.
Für die Polizisten, die an jenem
Tag an vorderster Front kämpften,
fühlt es sich an wie Hohn. Manche
Beamte standen vielen Dutzend
Demonstranten allein gegenüber: Sie
wurden beschimpft, bedroht und körperlich
angegriffen. Nun will ein Teil
der Öffentlichkeit ihnen weismachen,
dass es diese Attacken nie gab.
Vier Beamte, die damals im Dienst
waren, haben sich seit dem 6. Januar
das Leben genommen – eine »außergewöhnlich
hohe Zahl«, wie John
Violanti, Professor an der State University
of New York at Buffalo, bestätigt.
Violanti forscht seit Jahrzehnten
zur psychischen Belastung von
Polizisten, eine solche Häufung an
Suiziden in so kurzer Zeit hat er selten
erlebt. Er erklärt sie mit der doppelten
Traumatisierung der Beamten.
»Einmal durch die Todesangst, die
sie erlebten. Und einmal durch die
mangelnde Unterstützung der Öffentlichkeit,
die sie jetzt erfahren.«
Harry Dunns Dienst geht am
6. Januar bis weit in die Nacht. Am
Morgen danach schiebt er wieder vor
dem Kapitol Wache. »Du kannst dir
als Polizist nicht einfach freinehmen«,
sagt er. »Wenn alle das tun, wer macht
dann die Arbeit?« Doch Dunn merkt,
wie der Angriff etwas in ihm zerbrochen
hat.
»Ich wurde
verletzt.
Ich brauche
Unterstützung.«
Harry Dunn
Polizist Dunn (l.) bei
Begehung des
Kapitols: Amerika
kann sich nicht
einmal einigen, ob
den Beamten
Dank gebührt oder
Verdammung
In den folgenden Tagen und Wochen
verliert Dunn den Glauben
an sein Land und die Lust am Leben.
Er sei kein Mensch mehr gewesen,
sagt er, sondern nur noch eine »leere,
depressive Hülle«. Schon einfache
Gespräche überfordern ihn, er
will Freunde und Familie nicht mehr
sehen. Dunn geht weiter zur Arbeit,
aber er ist dünnhäutig, gereizt. Auf
ein einfaches »Wie geht’s?«, so erzählt
er es, habe er mit einem wütenden
»Lass mich in Ruhe« geantwortet.
Vielen Kollegen scheint es ähnlich
zu gehen. Allein in der »Capitol
Police«, Dunns Einheit, quittieren
in den Monaten danach mehr als
130 Mitarbeiter ihren Dienst.
Nach den Anschlägen vom 11. September
2001 stellte sich eine ganze
Nation hinter die Polizisten und
Feuerwehrleute, die an jenem Tag im
Einsatz waren. Zwanzig Jahre später
kann sich Amerika nicht einmal darauf
einigen, ob der 6. Januar nun ein
Angriff auf die Demokratie war oder
eine friedvolle Demonstration. Ob
die Beamten, die das Kapitol beschützt
haben, dafür Dank verdienen.
Oder Verdammung.
Im Sommer 2021 wird Dunn gebeten,
vor dem Ausschuss auszusagen,
der die Ereignisse untersucht. Im
Zeugenstand erzählt er von der Menschenmenge,
die vor seinen Augen
anschwoll, und davon, wie er versuchte,
seine Kollegen aus der Masse
zu retten. Er berichtet von dem Rassismus,
der ihm entgegenschlug, und
von den dunklen Stunden, die er seitdem
durchlebt. Der Auftritt wird im
Fernsehen übertragen, einige Menschen
bedanken sich daraufhin bei
Dunn. Du bist ein Held, schreiben sie
auf Twitter, toll, dass du unser Land
beschützt.
Doch er bekommt auch Nachrichten,
die ihn noch tiefer ins Dunkel
ziehen. Trump-Anhänger nennen ihn
Alex Brandon / AP
einen »Lügner« und einen »Verräter«,
werfen Dunn vor, er habe seinen Eid
als Polizist gebrochen, weil er nicht
verhindert habe, dass Joe Biden Präsident
wurde. »Ich liebe mein Land«,
sagt Dunn. »Diese Dinge zu hören
hat mir wehgetan.«
Inzwischen helfe ihm ein Psychologe,
»anzuerkennen, dass es okay
ist zu sagen: Ich wurde verletzt. Ich
brauche Unterstützung.« Langsam,
sagt Dunn, werde er wieder »er
selbst«: Er trainiert im Fitnessstudio
und tobt mit seiner zehnjährigen
Tochter auf dem Spielplatz. Er
hat wieder begonnen, Whiskey zu
verkosten – ein Hobby von früher –,
und sich mit Freunden zum Essen zu
treffen.
Dunn versucht, nicht zu oft an das
Erlebte zu denken – aber es gelingt
ihm nicht. Die Kommission, die den
Angriff untersucht, fördert ständig
neue Erkenntnisse zutage. Zuletzt
kam heraus, dass Trumps Umfeld
früh Kontakt zu zentralen Demonstranten
pflegte und dass sein Sohn
versuchte, den Präsidenten dazu
zu bringen, den Sturm aufs Kapitol
zu stoppen. Der Stabschef von
Trump, Mark Meadows, hat dem
Ausschuss zwar Unterlagen übergeben,
weigerte sich aber, davor auszusagen,
weswegen ihm eine Anklage
droht.
Jede Enthüllung ist begleitet von
politischem Gezeter: Republikaner,
die sich weigern, die Kommission anzuerkennen;
Demokraten, die versuchen,
unkooperative Zeugen per
Gericht zur Aussage zu zwingen. »Oft
kann Aufklärung helfen, mit dem Erlebten
abzuschließen«, sagt der Polizei-Experte
John Violanti. »Aber so,
wie sie im Moment geschieht, verlängert
sie stattdessen das Trauma der
Polizisten.«
Doch auch ohne die Kommission
fiele es Harry Dunn schwer, den
6. Januar 2021 zu vergessen. Seit Monaten
häufen sich die Zeichen, dass
Donald Trump, der zum Angriff aufs
Kapitol aufrief, in die Politik zurückkehren
könnte: Berichten zufolge erwägt
Trump, sich für die Präsidentschaftswahl
im Jahr 2024 aufzustellen.
In vielen Teilen der USA ist er
noch immer so beliebt, dass er gewinnen
könnte. Trotz oder vielleicht sogar
wegen der Attacke auf Amerikas
Demokratie.
Harry Dunn hofft, irgendwann
wieder der Mensch zu sein, der er vor
dem 6. Januar war. Aber Amerika,
sagt er, werde nie mehr dasselbe Land
sein. »Ich verstehe nicht, was mit uns
passiert«, sagt Dunn. »Aber eines ist
sicher: Es ist noch nicht vorbei.« n
94 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
AUSLAND
Bulgarische Schwarzmeerküste: »Wir haben immer mehr Zulauf von Menschen, die nur noch wegwollen«
Zuflucht Corona Beach
BULGARIEN Deutsche Impfgegner haben sich in Urlaubskolonien
am Schwarzen Meer zurückgezogen: Dort ist das Leben
günstig, Pandemiemaßnahmen werden großzügig ausgelegt. Besuch
bei Menschen, die sich in ihrer Heimat verfolgt fühlen.
S
ie sind gekommen, um zu bleiben. Ihre
Autos mit Nummernschildern aus Ostfriesland,
Berlin, Bayern haben sie abgestellt
vor dem »Château Aheloy« an der
bulgarischen Schwarzmeerküste. Die Apartmentanlage
im Ort Aheloy gilt als Hochburg
deutschsprachiger »Querdenker« und Coronaskeptiker.
Hinter dem eisernen Eingangstor wacht
ein Sicherheitsmann. Wer angibt, hier heimisch
werden zu wollen, wird durchgelassen
zu Dirk Gelbrecht. Der Norddeutsche gründete
im Januar die Telegram-Gruppe »Deutsche
Auswanderer in Bulgarien«. Weniger als
ein Jahr später zählt sie mehr als 2500 Mitglieder.
Unter den Zugezogenen im Château hat
Gelbrecht das Sagen. Der kräftige Kerl in
schwarzem Kapuzenpulli zeigt zur Begrüßung
erst einmal eine heftige allergische
Reaktion. Unangekündigter Journalistenbesuch?
Kein Bedarf. »Für euch sind wir alle
nur Schwurb ler, Aluhüte«, schimpft Gelbrecht,
»ihr wollt uns in eine Ecke drängen,
an die Wand stellen.«
Stimmt es, dass hier Deutsche und Österreicher
landen, die vor den strengeren Maßnahmen
gegen die Pandemie in ihren Heimatländern
flüchten? »Wir sind eine private
Mehrgenerationen-Lebensgemeinschaft«,
erwidert Gelbrecht vage, »unter den Bewohnern
sind auch Armutsrentner wie meine Eltern.«
An die 60 Auswanderer lebten inzwischen
allein auf dem Château-Gelände,
bald sollen es 100 sein: »Wir haben immer
mehr Zulauf von Leuten, die nur noch wegwollen.«
Nimmt Gelbrecht selbst Corona ernst, ist
er geimpft? Schweigen. Ein Blick in die Telegram-Gruppe
liefert Antworten. Da beklagt
Gelbrecht den deutschen »C-19-Wahnsinn« –
»C« für Covid –, fordert die Auslieferung der
Verantwortlichen an den Internationalen Gerichtshof
und noch mehr: Das »verlogene und
heuchlerische politische & mediale System in
Deutschland muss zerstört werden«.
Bevor es so weit kommt, noch kurz eine
Frage: Bezeichnet der heimliche Chef im
Château sich als Querdenker? »Der Begriff
ist zweckentfremdet worden, wahre Querdenker
waren Albert Einstein oder Stephen
Hawking«, entgegnet Gelbrecht. Er selbst
sehe sich vor allem als Rettungsanker für Verzweifelte:
»Bei vielen Deutschen nimmt die
Angst zu, ohne Impfung ausgegrenzt zu
werden, am Leben nicht mehr teilhaben
zu können, die Kinder zwangsimpfen lassen
zu müssen.«
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit
organisiert sich die coronaskeptische
Auswandererszene im Nachrichtenkanal Telegram.
Parallel dazu bewegt sich ein beachtlicher
Tross in Richtung Bulgarien, ins Armenhaus
der EU. Objekte, bevorzugt an der
Schwarzmeerküste zwischen Burgas und
Warna, werden gekauft oder gemietet. Der
Traum: Leben in einem Land, in dem keine
»Kinnwindeln« oder »Filtertüten« über
Mund und Nase gestülpt werden müssen, in
dem Ungeimpfte in Restaurants bedient und
Kinder in »Freilernergruppen« an den Strand
geschickt werden können.
Unter den tatsächlichen und angehenden
Bulgarienflüchtlingen finden sich viele
Frauen. Da ist die Betreiberin eines »tierleidfreien«
Lebenshofs im Rheinischen, die
sich sorgt wegen der bulgarischen Einreisebedingungen
für Kühe, Schafe und Schweine.
Da sind selbst ernannte »Löwenmamas«, die
ihre Kinder in Bulgarien in Sicherheit bringen
wollen und zu diesem Zweck »Dörfer
der neuen Zeit« gründen. Vor allem aber
sind da Menschen mit exotischen Berufen:
von der »Online Geburtshüterin« bis zur
»Expertin für Tiefenentspannung«, vom
»Life-Crash-Coach« bis zur Fachfrau für
»Trauer-, Geburts- und Schwangerschaftsbegleitung«
ist viel deutsches Wissen im
Martina Katz / imageBROKER / picture alliance
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
95
AUSLAND
Angebot, das in Bulgarien noch
keiner braucht.
Temperaturen um die 20 Grad im
Schatten noch Anfang Dezember und
das günstigere Leben hier locken die
Neuankömmlinge. Durch Horrorstatistiken
sind sie schwer zu beirren.
Bulgarien verzeichnet mit mehr als
4000 Toten pro Million Einwohner
die höchste Corona-Sterberate aller
EU-Staaten. Fast jeder Zehnte im
Land war bereits infiziert. Die Impfquote
liegt trotz aller Mahnungen der
Regierung nur um die 30 Prozent. In
Aheloy, einem öden Nest, das zu
kommunistischer Zeit von Billigtourismus
lebte, sagt einer der Einheimischen:
»Aus historischer Erfahrung
misstrauen wir allem, was von der
Regierung kommt.«
Die Deutschen in ihrer mit Pool
und Tennisplätzen ausstaffierten
Trutzburg am Ortsrand finden die
Verweigerungshaltung der Bulgaren
erfrischend. Ines, eine ältere Dame
aus Berlin-Lichtenberg, hat es ungeimpft
über Warschau und Sofia nach
Aheloy geschafft. Ihre Ausreise schildert
sie wie die Flucht aus einer Diktatur:
»Ich hielt die Maßnahmen dort
nicht mehr aus.«
Nun bewohnt sie ein kleines
Apartment für monatlich 232 Euro,
geht dienstags um elf zum Brunch mit
anderen Deutschen ins Hotel »Provence«
und erfährt dabei Neues, aber
auch Unwahres aus der alten Heimat:
»In Deutschland sollen demnächst die
Straßen und Autobahnen gesperrt
werden, damit niemand mehr unbemerkt
von einem Bundesland ins andere
kommt«, behauptet sie erschüttert
– ehe sie aufbricht zum Spaziergang
ans Meer.
Die Mit-Auswanderin Ursulina hat
sich ihr Zielland unter dem Aspekt
ausgesucht, wo »man am ehesten
unter dem Radar bleiben kann – und
da biete sich ein Land mit so einer
geringen Bevölkerungsdichte und
eher ›faulen‹ Behörden« an, urteilt
sie. Allerdings: »Auch hier wird wie
überall der ›Great Reset‹ umgesetzt.«
Der Begriff »Great Reset« – großer
Neustart – geht auf eine Initiative des
Weltwirtschaftsforums im Juni 2020
zur Neuausrichtung des Kapitalismus
zurück. Inzwischen steht der Terminus
im Sprachgebrauch coronaskeptischer
Kreise für einen Verschwörungsmythos,
demzufolge globale
Finanzeliten mithilfe der Pandemie
eine neue, unternehmerfreundlichere
Weltordnung schaffen wollten.
Für Menschen wie Ursulina steckt
hinter allem ein großer Plan, folgerichtig
nennen sie die Pandemie auch
»Plandemie«. In wesentlicher Rolle
BULGARIEN
Warna
Aheloy
100 km
Schwarzes
Meer
S Karte: OpenStreetMap
Ferienanlage
Château Aheloy, Auszug
aus Telegram-
Gruppenchat:
»Für euch sind wir alle
nur Schwurbler«
Hristo Rusev / DER SPIEGEL
sehen sie dabei die Bill-and-Melinda-
Gates-Stiftung. Die befasst sich seit
Langem mit drohenden Pandemien
und beteiligte sich im Oktober 2019
an der Finanzierung einer Veranstaltung
des »Johns Hopkins Center for
Health Security« und des Weltwirtschaftsforums,
bei der eine »fiktive
Coronavirus-Pandemie« als Planspiel
durchdekliniert worden war.
»Ob hinter alldem eine globale
Agenda steht, weiß ich nicht, aber sicher
ist: Früher war das Leben in
Deutschland freier«, sagt Château-
Chef Gelbrecht, ehe er sich in einem
strandnahen Restaurant einen Kaffee
mit »maslo« bestellt, was die Kellnerin
mit diskretem Lächeln erwidert –
»maslo« heißt Butter, gemeint war
»mljako« (Milch). An seinem Bulgarisch
arbeitet Gelbrecht noch, so wie
an seinen Zukunftsplänen: Mit Stanko
Gyurov, dem Besitzer der Apartmentsiedlung,
plant er eine Ladenzeile,
einen weiteren Pool und einen
Biergarten für die Neuankömmlinge:
»Stanko kann sein Glück kaum fassen,
früher hatte er vier Monate Betrieb
zur Hochsaison, das war’s; jetzt
ist hier dank den Auswanderern ganzjährig
was los.«
Lockerer ist das Leben mit dem
Coronavirus in Bulgarien allemal.
Zwar müssen bei Lidl, wo Schwarzwälder
Schinken und Perlenbacher
Hefeweißbier vorrätig sind, mittlerweile
Masken getragen werden. Aber
in kleineren Läden und vielen Restaurants
werden die Vorschriften
großzügig ausgelegt, was deutsche
Expats als ein Stück wiedergewonnener
Freiheit feiern. »Abstände: zero;
Lockdown oder Ausgangssperre:
zero«, freut sich eine Rheinländerin
und vermeldet weitere erfreuliche
Neuigkeiten: In Sofia habe sie »glutenfreie
Bio-Cookies und vegane
Rohkostriegel« entdeckt.
Er finde das Verhalten der zugewanderten
Deutschen schwer verständlich,
sagt der junge Arzt Swetoslaw
Todorow im Universitätsklinikum
Burgas: »Das ist fast schon kriminell,
weil verantwortungslos nicht
nur gegenüber sich selbst, sondern
auch gegenüber anderen.« 108 Betten
auf drei mit lindgrünem Linoleum
ausgelegten Etagen sind allein in
To dorows Krankenhaus für Covid-
Kranke reserviert – hinzu kommen
die wirklich schweren Fälle auf der
Intensivstation im Seitenflügel des
Gebäudes. Kranke jeden Alters, halb
nackt in Windeln, hängen dort an den
Beatmungsgeräten.
Sähen sie das Elend der Schwerkranken,
wie würden sich die angehenden
deutschsprachigen Auswanderer
entscheiden? Männer wie Emanuel,
der sich in Aheloy bereits für
einen »Spottpreis« eingekauft hat
und es kaum erwarten kann, aus »Absurdistan«
(Deutschland) in Richtung
Balkan aufzubrechen? Frauen wie die
Lehrerin Nikola, die sich, frustriert
durch die Coronapolitik der Ex-Kanzlerin
– die sie »Frau Ferkel« nennt –,
nach neuen Ufern im Osten sehnt?
Und wie beurteilt all das einer, der
bis vor Kurzem noch unter den prominentesten
»Querdenkern« Österreichs
war und nun in Bulgarien lebt –
Armin Elbs?
Der kräftige Mann mit Kinnbart
und einem Mastertitel in Gesundheitswissenschaften
machte noch im
Sommer 2020 in Österreich und
Deutschland mobil gegen die Corona-
Schutzmaßnahmen in beiden Ländern.
Bei einem Auftritt im Wiener
Resselpark warf er der Regierung des
damaligen Kanzlers Sebastian Kurz
vor, den »Weg in einen illegalen Terror-
und Lagerstaat« beschritten zu
haben. Auch bei Kundgebungen in
Stuttgart und Ravensburg trat Elbs
auf und verkündete sein Engagement
für »Freiheit und Demokratie«.
Seit seiner Auswanderung nach
Bulgarien aber ist Elbs verstummt.
Mehrere Anfragen des SPIEGEL ließ
er unbeantwortet. Einem Bekannten
96 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Dicht an dicht stehen
Autos mit deutschen
Kennzeichen.
erzählte er, zuerst eine Auswanderung nach
Ecuador erwogen zu haben. Auf Bulgarien
sei die Wahl schließlich deshalb gefallen, weil
die dortige extrem niedrige Impfquote auf
eine aufmüpfige Bevölkerung schließen lasse.
Vom Château Aheloy ist Elbs angeblich
inzwischen ins Hinterland übersiedelt – dort
lebte auch sein österreichischer Landsmann
Gregor M. Der Unternehmer soll vor wenigen
Wochen verhaftet und in sein Heimatland
ausgeliefert worden sein. Unter dem Aktenzeichen
4St8/19z ermittelt die Wiener Wirtschafts-
und Korruptionsstaatsanwaltschaft
gegen M. und andere wegen »schweren Betruges«.
Es geht um mutmaßliche Zockerei
mit Kryptowährungen. Für M. gilt die Unschuldsvermutung.
Gleichfalls ins Bild passt da, dass nahe Aheloy
ein Deutscher lebt, der auf seiner Auswanderer-Website
das Leben in Bulgarien
samt »steueroptimierter Niederlassung« bewirbt
und behauptet: »Man kann hier problemlos
ne chicke Villa besitzen, seinen Porsche
fahren und sein überschaubares Business machen.«
Der ehemalige Theologiestudent bietet
ein Analysepaket zum Preis von 2499 Euro
an, samt einem »hammer« Fahrplan zum erfolgreichen
Geschäftsmodell, der es ermögliche,
»endlich Nägel mit Köpfen einzuschlagen«.
Viele Coronaskeptiker seien blauäugig und
kämen ohne ausreichende finanzielle Absicherung
in Bulgarien an, sagt im Château Dirk
Gelbrecht. Das mache sie anfällig für das Versprechen,
ohne viel Mühe »passives Einkommen«
erzielen zu können. 3000 Euro teure
Intensivlehrgänge zur Blockchaintechnologie
mit »No-Bullshit-Ansatz« werden in Auswanderergruppen
beworben.
Zwei Autostunden nördlich vom Château
Aheloy, am Rand der Hafenstadt Warna, ist
eine zweite Bastion deutschsprachiger Auswanderer
entstanden: Vor der Strandresidenz
»South Bay« stehen Wagen mit deutschen
Kennzeichen dicht an dicht. 16 Aufgänge, jeweils
10 Stockwerke, im Innenhof ein gewaltiger
Swimmingpool. Jetzt, im Winter, ist es
in der Siedlung still.
Betrieb rund um die Uhr herrscht nur in
den sozialen Netzwerken, in denen sich die
Zugewanderten austauschen. Im Zentrum der
in Warna entstandenen Gemeinde steht Leni,
nach eigenen Angaben eine türkischstämmige
Bulgarin mit langjähriger Erfahrung als
Grundschullehrerin in Potsdam. Sie ist der
Leitstern für all jene, die sich im fremden
Land erst einmal zurechtfinden müssen.
Leni antwortet nur schriftlich, ein Treffen
lehnt sie ab. Sie will nichts zu tun haben mit
Journalisten, die in ihren Augen »als Heinzelmännchen
daran mitwirken«, dass Millionen
AUSLAND
Menschen hinters Licht geführt würden wie
dumme Schafe, weil sie ihren »Medien blind
glauben« – Opfer perfekter Gehirnwäsche,
die »nicht mehr unterscheiden können zwischen
eigenen und fremden Gedanken«. Aus
Leni spricht Bedauern, wenn sie an geimpfte
Deutsche denkt: »Den Maschendrahtzaun,
der durch ihre Köpfe geht, spüren sie nicht,
solange sie noch eine und noch eine Testspritze
in die Blutbahn bekommen.«
Die Frau aus der »South Bay« unterrichtet
Auswandererkinder am Strand, sofern das
Wetter es erlaubt: Lesen, Schreiben, Rechnen
mit Stöckchen im Sand, später steht Häkeln
oder Brotbacken auf dem Programm. In
Deutschland verbliebenen Unentschlossenen
ruft Leni zu: »Wie haltet ihr es dort aus und
vor allem warum?? In Kriegszeiten sind die
Menschen immer geflüchtet. Bringt die Kinder
in Sicherheit!« In Bulgarien lebe man,
»ohne von Blockwarten ermahnt zu werden
oder stolze Geimpfte zu treffen«.
Natürlich hat das Leben am Schwarzen
Meer auch Nachteile. Der eine vermisst »echte
Weihnachtsbäume in Warna«, die andere
Zitronat und süße gehackte Mandeln für ihren
Christstollen. Und wenn Mario Baumgarten
in seinem Gasthaus oberhalb von Warna
unter dem Motto »Futtern wie bei Muttern«
»Königsberger Klopse« oder »Bouletten mit
Zigeunersauce« anbietet, dann muss er das
Ganze mit dem Hinweis »garantiert kontrollfrei«
als Privatveranstaltung ankündigen – in
Bulgarien gilt offiziell, dass Ungeimpfte daheim
speisen sollten.
Die Deutschsprachigen aber wissen sich
zu helfen. Die eine vermittelt einen impfkritischen
Arzt, der andere kennt eine Pizzeria,
in der die Kellner ungeimpfte Gäste rechtzeitig
vor Polizeikontrollen warnen. Eine
Dritte empfiehlt »Restaurants, Bars, Thermen,
Saunen«, die noch immer allen offen
stehen. Warum? Weil sie »zu diversen mafiotischen
Strukturen beziehungsweise Politikern
gehören, die sich ihr Business nicht kaputt
machen lassen wollen«.
»Alles in allem läuft das sicher lockerer ab
hier bei uns in Bulgarien, kaum ein Greenpass
wird gescannt«, räumt Nedyalko Nedelchev
ein, Honorarkonsul der Bundesrepublik
Deutschland in seinem Büro in der Hafenstadt
Warna: »Aber davon, dass es hier so viele
Deutsche gibt, die wegen Corona fliehen, höre
ich zum ersten Mal – zu mir kommen die vermutlich
erst, wenn etwas passiert ist.«
Bislang bleiben die Bulgarien-Auswanderer
weitestgehend unter dem Radar. Sollte
allerdings die eben erst vereidigte Regierung
in Sofia die Maßnahmen im Kampf gegen Corona
verschärfen, dann könnte die Stimmung
am Schwarzen Meer schnell kippen. Schon
die Bilanz des Jahres 2020 erzählt von etlichen
gescheiterten Versuchen, Fuß zu fassen
in der Fremde. Die Zahl der Auswanderer
nach Bulgarien lag trotzdem noch um rund
die Hälfte höher als jene der reumütigen
Rückkehrer.
Walter Mayr
n
Das
Drama-Jahr
Kanzlerwechsel, Klimawandel
und Coronakrise –
was die Welt 2021
bewegt hat.
Eine Sonderausgabe zu
den großen Ereignissen
dieses Jahres.
Jetzt
im Handel
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
97
AUSLAND
Der falsche Krieg
UKRAINE Während Russland Streitkräfte nahe den Grenzen zusammenzieht und
der Westen eine Invasion fürchtet, kämpft Präsident Wolodymyr Selenskyj in
Kiew mit den Oligarchen. Nimmt er die viel größere Bedrohung gar nicht ernst?
N
eulich hat der ukrainische Präsident
Wolodymyr Selenskyj
wieder mal das getan, was er
am besten kann: Der ehemalige TV-
Comedian hat im Fernsehen gute
Stimmung verbreitet. Es war für eine
Weihnachtsansprache, im Video sah
man ihn vor einem Weihnachtsmarkt,
den er am Präsidentensitz hat aufbauen
lassen. Zu hören gab es Kinderlachen,
Festmelodien und warme
Worte über das »unglaubliche Gefühl
der Einheit«, das man doch bitte über
die Feiertage hinaus bewahren solle.
Der Auftritt steht im Kontrast zur
bedrohlichen Lage, in der sich die
Ukra ine diesen Winter befindet. Russlands
Präsident Wladimir Putin hat
im Norden, Osten und Süden der Ukraine
rund 100000 Soldaten und
schwere Waffen zusammengezogen,
Moskaus Diplomaten stoßen Warnungen
gegen Kiew aus, im russischen
TV wird über die Zerschlagung der
ukrainischen Armee spekuliert. Putin
spricht von einem angeblichen »Genozid«
an der russischsprachigen Bevölkerung
in der Ostukraine. EU und
USA sind alarmiert.
Zu alledem hat Selenskyj in seiner
Ansprache nicht einmal andeutungsweise
etwas gesagt. Es wirkt, als sähen
dieser Mann und mit ihm weite
Teile der politischen Elite keine ernste
Kriegsgefahr. Sie sind mit innenpolitischen
Kriegen beschäftigt.
Kira Rudyk, 36, gehört zu denen,
die darüber besonders unglücklich
sind. Die Parlamentsabgeordnete
sitzt im Hauptquartier der kleinen
Partei »Golos«, die sie führt. Neben
der Parteifahne hängen die Flaggen
der Ukraine, der EU und der Nato.
Die Partei ist liberal und prowestlich,
gegründet hat sie der bekannteste
Rockmusiker des Landes.
Wie kommt es, so fragt sich Rudyk,
dass die US-Botschaft bereits vor Reisen
in die Ukraine warnt, der eigene
Präsident aber beharrlich zur Kriegsgefahr
schweigt? »Selenskyj ist nie
aufgetreten und hat gesagt: Bürger
der Ukraine, wir halten diese Bedro-
Manche
vergleichen das
Vorgehen des
Präsidenten
mit dem des
jungen Putin.
Politiker Selenskyj
ITAR-TASS / IMAGO
hung für übertrieben. Oder: Bürger
der Ukraine, wir halten sie nicht für
übertrieben, und deshalb machen wir
jetzt Folgendes.« Er habe noch nicht
mal mit dem Parlament oder den
Fraktionschefs darüber geredet. Er
hat in ihren Augen einen historischen
Moment verpasst, die Gesellschaft zu
einen oder zumindest den Menschen
ihre Anspannung zu nehmen.
Nun leben die Ukrainer seit Langem
in Anspannung. Der Krieg im
Donbass dauert faktisch siebeneinhalb
Jahre, trotz Waffenstillstand
sterben regelmäßig Soldaten an der
Front. Und schon im Frühjahr gab es
einen russischen Truppenaufmarsch
an der Grenze.
Im November war Rudyk in Washington,
dort sprachen alle bereits
von neuen Truppenbewegungen auf
der russischen Seite. Sie war verblüfft,
sie hörte das zum ersten Mal.
»Es dauerte zweieinhalb Wochen, bis
auch die Kiewer Führung davon
sprach. Das war ein Alarmzeichen für
mich – wie konnte die Lage so unterschiedlich
eingeschätzt werden?«
Mittlerweile fallen die Einschätzungen
zusammen, zumindest was
die Daten und Fakten angeht. Wadym
Skibizky, Vertreter des ukrainischen
Militärgeheimdiensts, hat zum Gespräch
mit dem SPIEGEL eine Karte
mitgebracht. Er versucht, die vielen
Truppenbewegungen zu erklären, die
Russland in diesem Jahr in Grenznähe
einschließlich der annektierten
Krim vollzogen hat. Er zählt derzeit
51 »taktische Bataillonsgruppen«,
also für Gefechte zusammengestellte
Einheiten, und 102 000 Mitglieder
der Landstreitkräfte. Aber er betont:
Seit 2015 habe Russland kontinuierlich
neue Streitkräfte in der Nähe zur
Ukraine aufgebaut, Flugplätze modernisiert,
die Mobilität erhöht. »Wir
reden nicht von einer neuen Bedrohung,
sondern von einem neuen
Niveau der Bedrohung.«
Unter einem Vorwand könne Russland
diese Truppen jederzeit einsetzen
– nicht um die ganze Ukraine zu
besetzen, sondern um die von Moskau
kontrollierten Gebiete auszuweiten.
»Was wir fürchten, ist eine
Provokation.«
Es scheint, dass Kiew erst aus US-
Quellen das Ausmaß der russischen
Truppenbewegungen erfahren hatte.
Das an sich sei nicht erstaunlich, sagt
Olexander Danyljuk, ehemaliger Sekretär
des Nationalen Sicherheitsrats
unter Selenskyj. »Unsere Möglichkeiten
sind begrenzt.«
Laut einer Umfrage von Mitte Dezember
halten knapp 50 Prozent der
Ukrainer die Gefahr eines russischen
Einmarschs für real. Ihr Präsident
scheint zur anderen Hälfte zu gehören.
»Selenskyj glaubt nicht wirklich
an eine Bedrohung aus Russland«,
sagt Danyljuk. Das erkläre, warum er
ausgerechnet während des russischen
Truppenaufmarschs den Konflikt mit
mächtigen Gegnern im eigenen Land
vorantreibe. Tatsächlich scheint Selenskyj
gerade seinen eigenen, internen
Krieg zu führen.
Ende November griff er Rinat Achmetow
an, den reichsten Ukrainer.
Dem Oligarchen gehören Kohlegruben,
Stahlwerke, Finanzinstitute, zwei
beliebte Fernsehkanäle und der erfolgreichste
Fußballklub des Landes.
In einem Interview ließ Selenskyj
ganz nebenbei die Bemerkung fallen,
am 1. Dezember sei in der Ukraine ein
Staatsstreich prorussischer Kräfte geplant.
Diese versuchten, Achmetow –
womöglich ohne dessen Wissen – zu
involvieren. Belege für Selenskyjs
kühne These gab es nicht, der Staatsstreich
fand nicht statt.
Rudyk, die liberale Politikerin, war
entsetzt. »Es war das Unbesonnenste,
was er in zweieinhalb Jahren im Amt
gesagt hat. Wie können wir von anderen
Ländern Waffen und Geld verlangen,
wenn unser Präsident behauptet,
es sei ein Staatsstreich im Gange?«
»Warum ausgerechnet jetzt so ein
Konflikt, wo der Feind vor den Toren
steht?«, fragt der Militärexperte Danyljuk.
Mitte Dezember knöpfte sich Selenskyj
seinen Vorgänger und politischen
Konkurrenten Petro Poroschenko
vor. Ukrainische Ermittler
passten ihn vor dem Parlamentsgebäude
ab, um ihm eine Vorladung in
einem neuen Strafverfahren in die
Hand zu drücken. Der Milliardär und
Parlamentsabgeordnete Poroschenko
stieg hastig in seine Limousine, rief
dem Fahrer »Fahr los« und einen saftigen
russischen Fluch zu, dann brausten
sie mit offenen Türen davon.
Der Verdacht gegen den Oligarchen
Poroschenko lautet offiziell auf
Landesverrat und Finanzierung von
98 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
AUSLAND
Yuri Kochetkov / epa
Ukrainische Reservisten bei Übung nahe Kiew: »Warum ausgerechnet jetzt so ein Konflikt, wo der Feind vor den Toren steht?«
Terrorismus. Faktisch geht es um den Kauf
von Kohle aus Separatistengebieten im Donbass.
Poroschenko, der alle Vorwürfe abstreitet,
befindet sich im Ausland – und behauptet,
ihm sei aus dem Präsidentenamt signalisiert
worden, er solle besser dortbleiben.
Selenskyj hatte schon im Wahlkampf 2019
gegen Poroschenko verkündet, er werde den
Amtsinhaber wegen Korruption hinter Gitter
bringen, das gehörte zu seinem populistischen
Wahlprogramm. Dennoch wirkt der Zeitpunkt
des jüngsten Angriffs merkwürdig – als
scherte sich Selenskyj kein bisschen um die
Gefahren jenseits der Grenzen.
Was treibt ihn aber dann an? Selenskyj
selbst spricht von der »De-Oligarchisierung«,
also dem Kampf gegen den politischen Einfluss
weniger Reicher. Ein neues Gesetz definiert
erstmals, wer als Oligarch gilt (Kriterien
sind Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Medien),
und sieht deren Eintragung in eine Art
Lobbyregister vor. Und Selenskyj hat neue
Instrumente entdeckt, die er gegen die Oligarchen
einsetzen kann – Sanktionen des
Nationalen Sicherheitsrats.
Manche vergleichen Selenskyjs autoritäres
Vorgehen schon mit dem des jungen Putin,
der ebenfalls Oligarchen zähmte, um seine
Macht auszubauen. Ihn imitiere Selenskyj,
behauptete dessen ehemaliger Stabschef Andrij
Bohdan. Allerdings handle es sich bloß
um eine »missglückte Parodie«.
Es gibt einen einfachen Grund dafür, dass
der Kampf gegen die Oligarchen für Selenskyj
derzeit Vorrang hat: Die Oligarchen kontrollieren
die wichtigsten TV-Kanäle der Ukraine,
und ohne das Fernsehen kann man sich als
Politiker nicht halten. Niemand weiß das besser
als Selenskyj, der aus der Welt der TV-
Unterhaltung in die Politik gekommen ist und
um sein Rating fürchtet, während ehemalige
Mitstreiter in Talkshows über ihn herziehen.
Auch Danyljuk kritisiert die Art, wie Selenskyj
sich mit den Oligarchen anlegt. Statt
das System bekämpfe der Präsident einzelne
Superreiche. Er agiere planlos und unvorhersehbar.
»Die Oligarchen bekämpfen ihn, weil
sie in ihm einen irrationalen chaotischen Jugendlichen
sehen, von dem man nicht weiß,
welchen Knopf er als nächsten drückt.«
Mitten in einer militärischen Bedrohungslage
befindet sich die Ukraine sozusagen im
Krieg mit sich selbst, kämpft der mächtigste
Politiker des Landes gegen den mächtigsten
Wirtschaftsboss und weitere Oligarchen.
Aber es gibt noch einen Grund, warum es
Selenskyj schwerfällt, sich zur Bedrohung aus
Russland zu äußern. Putin bedroht zwar Kiew,
aber er zielt auf den Westen. Moskau will mit
Washington über die Köpfe der Ukra iner hinweg
entscheiden, was mit der Ukraine geschieht.
Das Land und sein Präsident sind
nicht Subjekt, sondern Objekt. Es sei »eine
Ohrfeige« für Selenskyj gewesen, sagt Rudyk,
dass US-Präsident Joe Biden ihn erst zwei
Tage nach dem wichtigen Videogipfel mit Putin
Anfang Dezember angerufen habe, um ihn
über den Inhalt des Gesprächs zu informieren.
Am 10. Januar ist das nächste Gespräch
zwischen Biden und Putin geplant, womöglich
wieder in Genf, und gleich darauf ein
Treffen des Nato-Russland-Rates. Es wird um
die von Putin geforderten Sicherheitsgarantien
gehen. Moskau will unrealistisch viel:
den expliziten Ausschluss eines Nato-Beitritts
der Ukraine sowie ein Ende jedweder Militärkooperation
mit dem Land. Putin wünscht
sich die Ukraine sozusagen als neutralen Pufferstaat
– als hätte er nicht selbst mit der
Krim-Annexion 2014 die Mehrheit der Ukrainer
in die Arme des Westens gestoßen. Einer
Umfrage von Mitte Dezember zufolge sind
mittlerweile fast 60 Prozent der Ukrainer für
einen Nato-Beitritt.
Der von Moskau angestrebte große Deal
mit Washington ist höchst unwahrscheinlich.
Gerade erst hat der US-Senat Militärhilfe an
die Ukraine in Höhe von 300 Millionen Dollar
für das kommende Jahr gebilligt – dafür
bekäme man theoretisch rund 20 Panzer vom
Typ »Leopard 2«. Umgekehrt erwägt Russland
die Stationierung von Atomwaffen in Belarus,
einem direkten Nachbarstaat der EU und der
Nato. Dessen Diktator Alexander Lukaschenko
will offenbar einen Passus aus der Verfassung
entfernen, der sie verhindern könnte.
In der Ukraine fühlen sich derzeit viele wie
Spielfiguren in einem fremden Spiel. In Kiew
immerhin entwirft Bürgermeister Vitali
Klitschko schon Notfallpläne, es werden Luftschutzbunker
ausfindig gemacht und ein Stab
für die Territorialverteidigungskräfte eingerichtet,
eine Freiwilligentruppe. Vermutlich
werden die Bunker nicht gebraucht, aber es
ist immerhin ein Versuch, vom Objekt wieder
zum Subjekt zu werden. Und auch das westliche
Ausland soll sehen können, dass die
Ukrainer selbst etwas unternehmen, sagt Rudyk.
»Derzeit sitzen wir nämlich bloß da wie
ein Schüler, der mit seiner Mutter zum Schuldirektor
gerufen wurde und der schweigend
zuhört, wie die darüber reden, warum er seine
Hausarbeiten nicht gemacht hat.«
Christian Esch
n
Sergey Dolzhenko / epa
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
99
AUSLAND
»London hat viel
Vertrauen zerstört«
EU Europas Chefunterhändler muss sich mit zwei schwierigen
Partnern herumschlagen: den Briten und den Schweizern.
Maroš Šefčovič über Regierungen, die nicht wollen, wie Brüssel will.
Das Brexitdrama ist auch ein Jahr nach dem
offiziellen Austritt Großbritanniens am 31. Januar
2020 lange nicht vorbei. Seit Monaten
streiten London und Brüssel über die Umsetzung
des Austrittsabkommens. Es geht dabei
vor allem um das Nordirland-Protokoll: Es soll
eine neue harte Grenze mit Zollkontrollen auf
der irischen Insel verhindern, indem das (zum
Königreich gehörende) Nordirland im EU-Binnenmarkt
verbleibt. Der Slowake Šefčovič, 55,
Vizepräsident der EU-Kommission, ist Nachfolger
des Franzosen Michel Barnier als Chefunterhändler
der EU – und damit Erbe eines
der schwierigsten Jobs in Brüssel. Er ist auch
zuständig für die komplizierten Verhandlungen
mit der Schweiz über ein Rahmenabkommen.
SPIEGEL: Herr Vizepräsident, Sie verhandeln
jetzt seit Monaten mit der britischen Regierung
über die Umsetzung des Brexitabkommens
– das sie erst vor einem Jahr unterzeichnet
hat. Haben Sie den Eindruck, dass Premier
Boris Johnson den Vertrag überhaupt
erfüllen will?
Šefčovič: Meine Aufgabe ist es, eine Lösung
zu finden. Aber das ist leider nicht einfach.
Die britische Regierung hat das Nordirland-
Protokoll …
SPIEGEL: … das den britischen Landesteil
praktisch im EU-Binnenmarkt belässt …
Šefčovič: … infrage gestellt, kaum dass sie es
unterzeichnet hatte. Sie hat sogar internationales
Recht gebrochen, um das Protokoll umgehen
zu können. Damit hat London viel
Vertrauen zerstört, das wir erst einmal wiederherstellen
müssen. Aber ich glaube, dass
wir einen Kompromiss finden können. Die
EU und das Vereinigte Königreich sind strategische
Partner – und sollten auch so miteinander
umgehen.
SPIEGEL: Durch das Nordirland-Protokoll gibt
es jetzt Zollkontrollen zwischen Großbritannien
und Nordirland, also innerhalb des Vereinigten
Königreichs – ein Albtraum für Londoner
Konservative, zuletzt gab es auch Probleme
bei der Medikamentenversorgung
Nordirlands. Der inzwischen zurückgetretene
britische Chefunterhändler Lord Frost hat
sich immerhin bereit gezeigt, Ihre Verbesserungsvorschläge
»wohlwollend« zu prüfen.
Šefčovič: Das war für seine Verhältnisse fast
schon großzügig (lacht). Besonders, weil wir
mit seinem Team sechs Monate lang an diesen
Vorschlägen gearbeitet haben.
SPIEGEL: Der als ruppig geltende Frost ist weg,
Ihre neue Gesprächspartnerin ist Außenministerin
Liz Truss – die beim Brexitreferendum
für den Verbleib in der EU gestimmt
hat. Erwarten Sie eine Verbesserung der Atmosphäre?
Šefčovič: Da bin ich pragmatisch. Mir ist eine
erfolgreiche gemeinsame Lösung mit unseren
britischen Partnern wichtiger als eine tolle
Atmosphäre.
SPIEGEL: Die britische Regierung fordert vor
allem einen weitgehenden Abbau der Warenkontrollen
zwischen Großbritannien und
Nordirland – und droht immer wieder, Artikel
16 des Nordirland-Abkommens zu aktivieren
und es damit einseitig aufzukündigen, sollten
ihre Forderungen nicht erfüllt werden.
Šefčovič: Diese Drohungen sind ein enorm
störendes Element in den Verhandlungen.
Da versucht man, gemeinsam etwas zu erreichen,
und – bumm! – schon kommt wieder
die Drohung mit Artikel 16. Das geht an den
Kern unserer Beziehung. Das Nord irland-
Protokoll war der komplizierteste Teil der
Brexitverhandlungen und ist das Fun dament
des gesamten Vertragswerks. Ohne das Protokoll
bricht das System zusammen. Das müssen
wir um jeden Preis verhindern.
EU-Verhandlungsführer Šefčovič
Julien Warnand / epa
SPIEGEL: Was wäre, wenn die britische Regierung
die Artikel-16-Drohung trotzdem
wahr macht?
Šefčovič: Das hätte zunächst ernste Konsequenzen
für Nordirland. In keiner Region
Großbritanniens entwickelt sich die Wirtschaft
derzeit so gut wie dort. All das würde
gefährdet, wenn Nordirland den Zugang zum
Binnenmarkt der EU verlieren würde. Und
die Folgen für den zerbrechlichen Frieden auf
der irischen Insel will ich mir gar nicht erst
ausmalen. Für die Beziehungen zwischen
der EU und London hätte das alles ernste
Konsequenzen.
SPIEGEL: Was genau bedeutet das?
Šefčovič: Das lässt sich im Detail schwer vorhersagen.
Aber wenn die britische Regierung
diesen Weg ginge, wäre das ein enormer
Rückschlag für unsere Beziehungen – dabei
haben wir so viel politisches und diplomatisches
Wohlwollen investiert, um einen geordneten
Brexit zu ermöglichen und eine einzigartige
Lösung für Nordirland zu finden.
SPIEGEL: Ernst wird es womöglich schon jetzt
am 1. Januar, wenn in Großbritannien die
meisten Übergangsfristen für Importe aus der
EU enden. Laut britischen Studien sind mehr
als ein Drittel der Unternehmen des Landes
nicht darauf vorbereitet. Droht nach leeren
Supermarktregalen und langen Schlangen an
Tankstellen neues Chaos?
Šefčovič: Schwer zu sagen. Für die Kontrolle
der britischen Grenzen ist die britische Regierung
verantwortlich. Immerhin gab es in
Nordirland – anders als im restlichen Vereinigten
Königreich – bisher keine Engpässe
in der Versorgung der Supermärkte oder der
Tankstellen. Das zeigt, dass das Nordirland-
Protokoll den Menschen dort nützt: Es gibt
ihnen Zugang sowohl zum Binnenmarkt der
EU als auch zu dem von Großbritannien.
SPIEGEL: Neulich hat das britische Amt für
verantwortliche Haushaltsführung berechnet,
dass der Brexit für das Vereinigte Königreich
doppelt so teuer wird wie die Coronapandemie.
Wollen Sie manchmal über den Kanal
rufen: »Wir haben es euch ja gesagt!«?
Šefčovič: Schadenfreude ist nicht hilfreich,
wenn man mit einem wichtigen Nachbarn
eine strategische Partnerschaft aufbauen will.
Sicher spüre ich manchmal Bedauern, wenn
ich mir vorstelle, wie viel Zeit unsere besten
Beamten damit verbracht haben, einen chaotischen
Brexit zu verhindern, und was wir
stattdessen mit dieser Energie hätten schaffen
können. Aber wir müssen nach vorn schauen.
Demokratien sollten zusammenhalten und
gemeinsam für Klimaschutz, fairen und freien
Handel und Frieden arbeiten. Mit der britischen
Regierung aber reden wir immer noch
über Zollkontrollen und andere Dinge, von
denen wir glaubten, dass sie mit der Einigung
auf das Nordirland-Protokoll im Dezember
2020 erledigt seien.
SPIEGEL: Gibt es aus Ihrer Sicht denn gar keine
Probleme mit dem Nordirland-Protokoll?
Šefčovič: Doch, natürlich gibt es die. Aber
insgesamt sind wir auf einem guten Weg.
100 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
AUSLAND
Die Queen’s University in Belfast
führt regelmäßig eine Umfrage durch,
bei der Ende Oktober erstmals eine
Mehrheit fand, dass das Nordirland-
Protokoll eine gute Sache ist. Das
größte Problem war bisher die medizinische
Versorgung, das sollten wir
jetzt gelöst haben. Es gibt Probleme
bei Handels- und Zollfragen, die wir
demnächst angehen werden. Aber
dafür brauchen wir eine britische
Regierung, die zur Zusammenarbeit
bereit ist.
SPIEGEL: Aus London kam zuletzt der
Vorwurf, die EU mache es britischen
Firmen schwerer, Nordirland zu beliefern
– und man könne mit Brüssel
nicht konstruktiv darüber reden.
Šefčovič: Wir haben das Gefühl, dass
wir diejenigen sind, die Lösungen auf
den Tisch legen. Wenn wir dann eine
Woche später an den Verhandlungstisch
zurückkehren, liegen dort jedes
Mal neue Probleme. Immerhin war
es die britische Regierung, die den
EU-Binnenmarkt verlassen und wieder
eigene Regeln erlassen wollte. Die
simple Wahrheit ist: Je weiter sich
unsere Regeln voneinander entfernen,
desto komplizierter wird der
Handel. Und wenn eine so große
Wirtschaft wie die britische den freien
Zugang zu unserem Binnenmarkt
will, müssen wir darauf achten, dass
unsere Standards – etwa im Umweltoder
Verbraucherschutz – eingehalten
werden und der Wettbewerb zwischen
britischen und EU-Unternehmen
fair bleibt.
SPIEGEL: Sie sind auch für die Verhandlungen
Aktivisten bei
werden. Nehmen Sie Medizinprodukte:
Sie müssen zertifiziert werden,
um in der EU verkauft zu werden.
Ohne die entsprechenden Verträge
wird das nicht gehen. Es gibt viele
andere Beispiele dieser Art. Aber vor
den Einzelfragen müssen wir erst
einmal die Grundlagen klären.
SPIEGEL: Die wären?
Šefčovič: Erstens, dass die Schweiz
sich an die Regeln des EU-Binnenmarkts
hält, wenn sie dort handeln
will. Das heißt, sie muss ihre Normen
dynamisch an den Binnenmarkt anpassen
– so wie es alle anderen Mitglieder
des Binnenmarkts übrigens
auch tun. Zweitens gibt es starke
Schweizer Unternehmen, die auf dem
gesamten Binnenmarkt operieren und
in ihrer Heimat Steuererleichterungen
bekommen. Auch hier müssen wir
gleiche Wettbewerbsbedingungen haben.
Drittens wäre ein regelmäßiger
Rhythmus der Schweizer Beiträge zum
EU-Haushalt gut. Die letzte Überweisung
aus Bern datiert von 2012. Viertens,
ganz wichtig, brauchen wir einen
Streitschlichtungsmechanismus.
SPIEGEL: Und Sie glauben, dass die
Schweiz zu alldem bereit wäre?
mit einem weiteren Demonstration gegen Šefčovič: Zuerst einmal brauchten wir
Zollgrenze zwischen
schwierigen Partner verantwortlich:
ein politisches Bekenntnis der Schweizer
Regierung, dass sie überhaupt
Irland und Nordirland
der Schweiz. Sie hat vergangenes Jahr
ein fertig ausgehandeltes Abkommen
zurückgewiesen, das die in vielen
Einzelverträgen festgehaltenen, sehr
engen Beziehungen zur EU unter ein
Dach stellen sollte. Wie lange hält
Ihre Geduld mit Bern noch vor?
Šefčovič: Wir haben mit der Schweiz
sieben Jahre lang über diese Abkommen
verhandelt. Ein EU-Kommissionspräsident
und eine -präsidentin
haben mit vier Schweizer Bundespräsidenten
insgesamt 26 Gipfeltreffen
abgehalten. Und in der vermeintlich
entscheidenden Sitzung – von der wir
hofften, dass wir dort nur noch eine
Schleife um das Paket binden würden
– eröffnet uns die Schweiz, dass
sie die Gespräche abbricht.
SPIEGEL: Was nun?
Šefčovič: Wir müssen von der Schweiz
dringend wissen, ob sie ernsthaft mit
uns verhandeln will – so wie wir es
sieben Jahre lang getan haben. Die
Schweizer Regierung ist jetzt am Zug.
SPIEGEL: Sie erwarten von der
Schweiz, dass sie bis Mitte Januar
sagt, was sie will, und dass sie einen
Zeitplan vorlegt. Fürchten Sie, dass
ernsthaft über diese Themen mit uns
reden will – so wie das in der Vergangenheit
war. Ist das weiter der Fall,
sollten wir Zeit, Energie und Kreativität
einsetzen, um die bestehenden
Probleme zu lösen. Außerdem wäre
ein klarer Zeitplan notwendig, eine
Roadmap. Wir müssen wissen, wann
wir worüber reden wollen – damit
klar ist, dass die Diskussion nicht noch
20 oder 30 Jahre dauert.
SPIEGEL: Die EU hat die Schweiz für
die langsamen Verhandlungen mit
dem Ausschluss aus dem Forschungsprogramm
Horizon bestraft, zudem
verweigert sie ihr den Zugang zu den
EU-Finanzmärkten. Können Sie sich
noch mehr Maßnahmen vorstellen?
Šefčovič: Wir haben keine negativen
Maßnahmen gegenüber der Schweiz
ergriffen und würden das auch nicht
tun. Schweizer Forschungseinrichtungen
und Unternehmen können auch
weiterhin an unserem EU-Forschungsprogramm
teilnehmen, aber sie bekommen
momentan keine EU-Fördergelder.
Und mit der Zeit würden automatisch
immer mehr bilaterale Verträge
auslaufen und unsere Beziehung
die Schweiz auf Basis der bestehenden
Verträge noch lange auf Zeit
irgendwann obsolet machen. Das
»Das Verhältnis
spielt?
der EU mit wäre weder für die Schweiz noch für
Šefčovič: Das Verhältnis der EU mit der Schweiz uns gut. Deshalb hoffen wir auch hier,
der Schweiz droht zu zerfallen, wenn
dass wir gemeinsam eine Lösung
die bilateralen Verträge nach und
droht zu
finden können.
nach auslaufen und nicht erneuert Interview: Markus Becker n
zerfallen.«
Charles McQuillan / Getty Images
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
101
Sport
Die Geschichten hinter den Geschichten –
der besondere Rückblick
Nie mehr »Promi Big Brother«
NR. 31/2021 »›Ich muss durch die Hölle gehen‹« – Wie Ringer Frank Stäbler auf dem Weg nach Tokio gelitten hat
und nach Olympia ungeahnte Möglichkeiten bekam, hat der Redakteur Thilo Neumann verfolgt.
E
inige Wochen habe er nach dem Gewinn
der olympischen Bronzemedaille
in Tokio ausgehalten, sagt Frank
Stäbler kurz vor Weihnachten, dann aber
sei er »in ein brutales Loch gefallen«. Der
Rummel um seine Person sei ihm zu viel geworden:
»Ich habe nur noch funktioniert.«
Stäbler tanzte auf Partys, saß in Fernsehshows,
redete auf Empfängen – allein in
den ersten 60 Tagen nach Olympia habe er
55 Termine gehabt, zählt der Ringer auf.
Immer wieder sollte er erzählen: Wie hat er
das bloß geschafft?
Stäbler, 32, aus Leinfelden-Echterdingen,
hat sich in Japan seinen sportlichen Lebenstraum
erfüllt: eine olympische Medaille, im
letzten internationalen Wettkampf seiner
Karriere. In einem dramatischen Duell mit
einem georgischen Kontrahenten sicherte er
sich Bronze. Danach zog sich Stäbler noch
auf der Matte seine Schuhe aus und ließ sie
in der Ringmitte stehen. Es war das Ende
einer langen Reise. Die Schuhe hat er mittlerweile
an das Deutsche Sport & Olympia
Museum in Köln übergeben.
Mehr als zwei Jahre lang hatte ich
Stäbler auf seinem Weg nach Tokio begleitet.
Manchmal schien mir seine Mission
wie ein Himmelfahrtskommando, Stäbler
selbst sprach immer wieder davon, mit
einer letzten Olympiateilnahme »das Unmögliche
möglich machen« zu wollen. Seine
Gewichtsklasse war vor Tokio gestrichen
worden, weswegen er radikal abnehmen
musste, von seinem Normalgewicht
75 Kilogramm runter auf 67. Im Herbst
2020 erkrankte er an Covid-19, litt unter
Spätfolgen an der Lunge, er verletzte sich
die Schulter.
Seine Vorbereitung absolvierte der
dreimalige Weltmeister zeitweise in einem
ehemaligen Kuhstall seines elterlichen
Hofs, zuletzt in einem umgebauten Hühnerstall.
»Um meinen Traum zu leben,
muss ich durch die Hölle gehen«, hatte er
schon 2019, zu Beginn des Langzeitprojekts,
erzählt, »und dann weiß ich immer
noch nicht, ob es reichen wird«.
Es reichte. Und aus dem Randsportler
wurde eine gefragte Größe des deutschen
Sports. Nur einmal zuvor sei er kurzzeitig
häufiger auf der Straße erkannt worden –
nachdem er 2016 im Privatfernsehen aufgetreten
war, bei »Promi Big Brother«.
Nun endlich interessiere sich auch ein breiteres
Publikum für den Leistungssportler
Stäbler. »Große Unternehmen kommen
auf mich zu und fragen mich für ihre Führungskräfteausbildung
an«, sagt Stäbler,
»das hat es vorher nicht gegeben.« Seit
Olympia sei er rund 30-mal als Redner gebucht
worden, bei börsennotierten Unternehmen
sprach er zu Vorständen und
Managern, erzählte Anekdoten von seiner
Odyssee: »Olympia hat mir viele Türen
geöffnet.«
102 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL
Viel Geld für kaputte
Knochen
NR. 1/2021 »Geldsegen für
Millionäre« – Wie Redakteur
Michael Fröhlingsdorf den
HSV-Präsidenten verärgerte
Marcell Jansen, ehemaliger
Nationalspieler und heute
Präsident des Hamburger SV, ist
ein ideales Beispiel dafür, wie
Fußballprofis Entschädigungen
der gesetzlichen Unfallversicherung
ausnutzen, die nicht
für Berufssportler geschaffen
wurde.
Jede Verletzung, die ein
Profi im Dienst erleidet, gilt wie
bei normalen Arbeitnehmern
als Arbeitsunfall. Allerdings ziehen
sich Kicker oder Handballer
deutlich häufiger Risse
und Brüche zu als Bankangestellte
oder Briefträger.
Jansen habe, hieß es in dem
Artikel über das Sozialsystem,
während seiner Karriere vier so
schwerwiegende Verletzungen
erlitten, dass er Anspruch auf
mehrere lebenslange Renten
oder mehrere Hunderttausend
Euro Entschädigung habe –
steuerfrei.
Jansen wollte sich mit dem
SPIEGEL über die Berechtigung
solcher Einnahmen nicht austauschen.
Anders hielt er es mit
Usern von Facebook und Instagram,
die ihn fragten, ob er
ein »Sozialschmarotzer« sei.
Jansen bepöbelte einen als
»Wutbürger«, die Sportvereine
zahlten schließlich Beiträge für
seinen Versicherungsschutz. So
müsse nicht seine »Mama, die
35 Jahre bei Aldi im Lager gearbeitet«
habe, für seine Entschädigung
aufkommen, »sondern
die Vereine, für die man
die Knochen hingehalten hat!«.
Klubs wie der HSV zahlen
jährlich bis zu zwei Millionen
Euro an die Berufsgenossenschaft.
Trotzdem reicht das nicht
aus, um die gewaltigen Ausgaben
für die Profis zu decken. 40 Millionen
Euro im Jahre müssen andere
Sparten zuschießen, etwa
die Kirchen oder Zeitarbeits firmen
für ihre Lagerarbeiter.
Bundesarbeitsminister Hubertus
Heil (SPD) war überzeugt, dass
es so nicht weitergehen könne.
Seitdem der Artikel erschienen
ist, arbeitet sein Ministerium an
einer Gesetzesreform.
Gierig und hartleibig
NR. 23/2021 »9000 Euro
im Monat samt Dienstwagen« –
Die Redakteure Jürgen
Dahlkamp, Gunther Latsch, Jens
Weinreich und klagewütige
Funktionäre
Seit Jahren arbeiten wir uns
am Deutschen Fußball-Bund
ab, und genauso lange haben
wir etliche deutsche Sportfunktionäre
in voller Blüte erlebt:
selbstgerecht und scheinheilig,
geldgierig und hartleibig. Insofern
waren wir vorbereitet
auf das, was wir nach einem
Bericht über den Deutschen
Eishockey-Bund (DEB) erleben
würden. Der ehrenamtliche
Präsident Franz Reindl hatte
jahrelang für den DEB Verträge
mit dem Vermarkter Infront
gemacht – angeblich sehr lukrative
Verträge für die Schweizer
Firma. Gleichzeitig kassierte
er gutes Geld von einer DEB-
Tochter, die von Infront über
Wasser gehalten wurde. Das
alles roch nach einem Interessenkonflikt.
Reindl, der DEB und Infront
sahen das natürlich anders. Sie
Anke Waelischmiller / Sven Simon
Reindl
zogen alle Register der Selbstverteidigung.
Unter anderem
wurde der SPIEGEL verklagt.
Dass der DEB in einem nebensächlichen
Punkt recht hatte,
den wir umgehend klarstellten,
bejubelte der Verband in einer
Pressemitteilung. Dass aber das
Gericht dem Verband in entscheidenden
Punkten eine Niederlage
prophezeit hatte und
die Klage daraufhin zurückgezogen
wurde, erwähnte er
nicht. Und Reindl kündigte an,
möglicherweise erneut als Präsident
zu kandidieren.
»Ich bin die,
die zurückbleiben
musste«
NR. 36/2021 »Als hätte ich
meine Seele verloren« – Sportredakteur
Matthias Fiedler
begleitete eine afghanische Fußballerin,
die um ihr Leben
fürchtet.
Im August, nur wenige Tage
nach der Machtübernahme
der radikalislamischen Taliban
in Afghanistan, geht eine Nachricht
um die Welt: Internationalen
Helfern sei es gelungen,
Spielerinnen der afghanischen
Fußballnationalmannschaft aus
dem Land zu schleusen.
Ich muss an Aya Nouri
(Name geändert) denken – eine
zierliche Frau mit runder Brille,
23 Jahre alt. Im Herbst 2019
habe ich sie für den SPIEGEL in
der afghanischen Hauptstadt
Kabul getroffen. Sie hat vom
Aufwachsen in einem Waisenhaus
erzählt; von ihrem Aufstieg
zur Fußballnationalspielerin
in einer archaischen Gesellschaft,
in der Frauen lange keinen
Sport treiben durften.
Rahmatullah Alizadah Xinhua / eyevine / ddp
Fußballspielerinnen in Kabul
im Oktober 2020
Als ich sie im Sommer über
Videotelefonie erreiche, klingt
ihre Stimme dünn. Sie habe es
nicht aus dem Land geschafft,
sagt sie. Vergeblich habe sie im
Chaos am Kabuler Flughafen
versucht, durch eines der Tore
ins Innere zu gelangen. Etliche
Teamkameradinnen seien abgeflogen,
sie und ein paar andere
Spielerinnen zurückgeblieben.
In den Wochen danach schildert
Nouri über WhatsApp, wie
sie verzweifelt auf Anweisungen
der internationalen Helfer wartet.
Doch es kommt nichts. Die
US-Truppen haben Afghanistan
verlassen, die Taliban das Land
übernommen. Nouri fürchtet
um ihr Leben. Sie weiß: Die Islamisten
wollen keine Fußballerinnen.
Sie wollen Hausfrauen,
die viele Kinder bekommen.
Monate vergehen, in denen
ich nichts von Nouri höre. Im
Dezember meldet sie sich aus
Islamabad, Pakistan. Seit Ende
September sei sie da, erzählt
sie. Eine Hilfsorganisation habe
ihr einen Flug organisiert. Voller
Angst, vom Security-Personal
am Flughafen Kabul als Fußballerin
enttarnt zu werden,
hatte sie sich von Checkpoint zu
Checkpoint gehangelt.
Sie lebe nun bei der Familie
ihrer früheren Trainerin, die mit
ihr gereist sei. Doch ihr Visum
sei ausgelaufen, es sei unklar, ob
es verlängert werde, sagt Nouri.
»Ich habe solche Angst, nach
Afghanistan abgeschoben zu
werden.« Ihr Erspartes gehe zur
Neige, arbeiten dürfe sie nicht.
Von Khalida Popal, 34, die die
afghanische Frauennationalelf
gegründet und die Rettungsaktion
der Spielerinnen mitorganisiert
hat, habe sie nichts
mehr gehört.
Von Teamkameradinnen,
denen die Flucht nach Australien
gelungen ist, weiß sie, wie
gut das Leben sein kann. Sie
seien in Apartments untergebracht,
lernten Englisch, studierten,
spielten Fußball. »Ich
bin die, die zurückbleiben
musste. Das ist so frustrierend«,
sagt Nouri. Sie habe die australische
Regierung um ein humanitäres
Visum gebeten. »Ich
kann nur beten und hoffen.«
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
103
SPORT
Buchautor
Messner 2010
Wolf Heider-Sawall / laif
104 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
SPORT
Das Drama seines Lebens
BERGSTEIGEN Reinhold Messner ist der berühmteste Alpinist Europas, doch es gibt einen dunklen Fleck
in seiner Karriere: Bei einer gemeinsamen Besteigung des Himalaja vor mehr
als 50 Jahren kam sein Bruder ums Leben. Seitdem schwelt der Streit darüber, wer Schuld hat.
E
inige Wochen vor Weihnachten
bekommt Reinhold Messner in
München seine Boosterimpfung.
Ein befreundeter Arzt injiziert
dem Bergsteigeridol in dessen Wohnung
im Glockenbachviertel eine
Dosis Biontech.
Das Wohnzimmer ist mit Andenken
an Messners Reisen in alle Welt dekoriert,
Masken, Skulpturen, Schnitzereien.
In einem Regal neben dem
Esstisch stehen die Bücher, die der
Rekordalpinist über seine Abenteuer
geschrieben hat.
Der Mediziner, der zum Impfen
vorbeigekommen ist, spielt auch eine
Rolle in Messners größter Bergsaga.
Professor Rudolf Hipp, ein Anästhesist,
untersuchte vor gut 15 Jahren am
Fuße des Nanga Parbat im Himalaja
die sterblichen Überreste von Günther
Messner.
Der jüngere Bruder von Reinhold
war 1970 beim Abstieg von dem
8125 Meter hohen Berg umgekommen.
35 Jahre nach dem Unglück
hatte der Gletscher Skelettteile freigegeben.
Es gibt Foto- und Filmaufnahmen,
die zeigen, wie Hipp die Fundstücke
begutachtet. Reinhold Messner ist auf
den Bildern auch zu sehen. Er sitzt
neben dem Arzt auf einem Stein und
wirkt verstört.
Das Unglück auf dem Nanga Parbat
ist der dunkle Fleck in der schillernden
Vita des Extrembergsteigers
aus Südtirol. Messner hatte gemeinsam
mit Günther den Gipfel erreicht
und seinen ersten Achttausender bezwungen.
Was dann beim Abstieg
passierte, darüber wird bis heute
spekuliert.
Messner beteuert, alles versucht
zu haben, um den geschwächten Bruder
heil ins Tal zu bringen. Ehema lige
Expeditionskameraden warfen ihm
hingegen Jahre nach dem Unglück
vor, nicht die Wahrheit über die Geschehnisse
am Gipfel zu erzählen, um
seine Mitschuld an der Tragödie zu
verschleiern.
Der Streit über die Nanga-Parbat-
Expedition ist einer der größten Kon-
Geschwister
Günther, Reinhold
Messner in einem
Lager am Nanga
Parbat 1970: Ein
letzter Angriff auf den
Gipfel
»Die anderen
können
sich ihre
Geschichten
nur ausdenken.«
flikte der Alpingeschichte. Er beschäftigte
Gerichte, es wurde ein Kinofilm
über den Fall gedreht. Messner hat
das Bergdrama in vier Büchern behandelt
– und zu Geld gemacht.
Bis heute tourt der 77-Jährige mit
der Vortragsreihe »Nanga Parbat –
mein Schicksalsberg« durch Deutschland.
In einer Einmann-Bühnenshow
präsentiert er vor Publikum seine
Version der Geschichte, als müsste er
sich immer noch rechtfertigen.
Jetzt, in den letzten Wochen des
Jahres, flammte die Diskussion wieder
auf. Warum schaffen Messner und
seine Kontrahenten es nicht, einen
Schlussstrich zu ziehen?
Im Wohnzimmer bellt Messners
Hund Flint Doktor Hipp an, der
schnell seine Tasche packt und sich
wieder auf den Weg macht. Diane
Messner bedankt sich für den »Impf-
Homeservice«.
Die 41-Jährige ist seit einem halben
Jahr mit Reinhold verheiratet
und schon tief verstrickt in den
Nanga-Parbat-Komplex. Im Oktober
vertrat sie ihren Mann bei einem
Bergfilmfestival am Tegernsee. Dort
wurde eine neue, von Messner produzierte
Dokumentation über das
Drama von 1970 gezeigt.
Im Publikum saßen einige der ehemaligen
Expeditionsteilnehmer. Nach
Max-Engelhardt von Kienlin
der Vorführung hagelte es bei einer
Podiumsdiskussion Kritik an dem einseitigen
Film. Irgendwann reichte es
Diane Messner, einer energiegeladenen
Frau. Sie marschierte nach vorn,
griff sich das Mikrofon und beendete
die Debatte.
»Ich wurde ausgebuht«, erzählt
Frau Messner. »Du hast dich gewehrt«,
sagt ihr Mann und lächelt sie
an. Sie lächelt zurück.
Das Ehepaar lebt die meiste Zeit
in Südtirol. Reinhold Messner besitzt
in der Nähe Merans ein Schloss und
betreibt in Bozen das Messner Mountain
Museum. Dort sind die Stationen
seines Lebens als Bergsteiger zu sehen.
Er hat als Erster alle 14 Achttausender
der Erde ohne Sauerstoffflaschen
bestiegen.
In einem düsteren Ausstellungsraum
wird der vielen Alpinisten
gedacht, die auf den höchsten Bergen
ihr Leben gelassen haben. Einer der
Bergschuhe, die Günther Messner
beim Unglück am Nanga Parbat trug,
steht in einer hell erleuchteten Vitrine.
Reinhold Messner kehrte nach der
Tragödie viele Male an den Berg zurück.
1978 bestieg er den Gipfel in
einem wilden Alleingang über die
Diamirflanke, als suchte er nach Erlösung,
nach Antworten, nach einem
Grund für Günthers Tod.
Sie waren unzertrennlich. Eine Seilschaft.
Gemeinsam hatten sie in den
Alpen die gefährlichsten Wände erklommen.
Messner macht es rasend,
dass es Leute gibt, die behaupten, er
habe den Bruder oben am Gipfel
im Stich gelassen. Er kann nicht
akzeptieren, dass seine Darstellung
der Tragödie hinterfragt wird. Nur
er könne von den Abläufen damals
in der Todeszone berichten. »Denn
ich war dabei«, sagt Messner und
schlägt mit der flachen Hand auf
den Tisch. »Die anderen können
sich ihre Geschichten nur ausdenken.«
Der Nanga Parbat im westlichen
Himalaja wurde 1953 von dem Tiro-
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DER SPIEGEL
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SPORT
ler Hermann Buhl erstmals bestiegen. Als
die Messners 1970 an den Berg kamen, ging
es darum, den Giganten über die 4500 Meter
hohe, fast senkrechte Rupalwand zu bezwingen.
Die Brüder gehörten zu einem Team
von Elitebergsteigern, das der Münchner
Arzt Karl Maria Herrligkoffer zusammengetrommelt
hatte. Wochenlang belagerte die
Mannschaft den Berg. Die Männer errichteten
Hochlager. Als die Expedition wegen
ungünstiger Witterung zu scheitern drohte,
machten sich Reinhold Messner, sein Bruder
Günther und der Allgäuer Bergfilmer Gerhard
Baur, der eine Dokumentation über
die Expedition drehte, noch einmal auf ins
Lager 5 in 7350 Meter Höhe. Sie wollten sich
für einen letzten Angriff auf den Gipfel vorbereiten.
Weil es in dieser Höhe keinen Funkkontakt
mit dem Basislager gab, hatte die Gruppe mit
Expeditionsleiter Herrligkoffer verabredet,
er solle eine blaue Leuchtrakete schießen zum
Zeichen für gute Bedingungen und eine rote,
wenn eine Schlechtwetterfront im Anmarsch
sei. Reinhold Messner hatte zudem eine persönliche
Absprache mit dem Chef der Mission
getroffen. Sollte schlechtes Wetter aufziehen,
würde er im Alleingang den Aufstieg wagen
wollen. Herrligkoffer, dem an einem Gipfeltriumph
gelegen war, hatte dem Plan zugestimmt.
Der Wetterbericht sagte gute Bedingungen
voraus. Im Basislager wurde jedoch irrtümlich
eine rote Leuchtrakete abgeschossen – für
Messner das Zeichen zum Start seines Soloversuchs.
Tödlicher Abstieg
Der Weg der Messner-Brüder über den Nanga Parbat
29. Juni
Bereich, in dem
Günther Messner
vermutlich bei
einem Lawinenabgang
ums
Leben kommt
S ◆Grafik, Karte: Open Street Map
28. Juni
Zweites Biwak in
ca. 6500 Meter Höhe
17. Juli 2005
Ungefährer
Leichenfundort
27. Juni
Erstes Biwak
27. Juni 1970
Die Brüder erreichen den
Gipfel in 8125 Meter Höhe
Diamirtal
Diamirflanke
Rupalwand
Nanga Parbat
Aufstiegsroute
Abstiegsroute
AFGHA-
NISTAN
PAKISTAN
INDIEN
CHINA
Google Earth
Am 27. Juni 1970 gegen drei Uhr morgens
brach er auf. Baur und Günther Messner sollten
die steilsten Passagen Richtung Gipfel mit
Seilen sichern, damit es Reinhold beim Abstieg
leichter haben würde.
Doch statt Fixseile zu legen, stieg Günther,
24, seinem Bruder kurz entschlossen nach.
Oberhalb einer Steilpassage, der Merklrinne,
holte er Reinhold ein. Obwohl die Messners
spät dran waren, kämpften sie sich durch dünne
Luft und tiefen Schnee zum höchsten
Punkt. Ein Fehler, wie Messner heute meint:
»Bergsteigerisch richtig wäre gewesen abzudrehen.
Aber wir dachten, wir schaffen es
rechtzeitig zurück ins Lager 5.«
Eine Stunde lang genossen sie ihr Gipfelglück.
Doch Günther zeigte Anzeichen von
Höhenkrankheit. Körperlich geschwächt,
habe der Bruder sich nicht mehr getraut, über
die steile Aufstiegsroute abzusteigen, so erzählt
es Messner.
Sie kletterten ab in eine Scharte am Gipfelgrat.
Kauernd und ohne Ausrüstung verbrachten
die Brüder eine bitterkalte Nacht in dem
Bereich, der »Todeszone« genannt wird, weil
nur noch wenig Sauerstoff ins Blut gelangt.
Die Messners befanden sich in einer
schwierigen Situation. Sie hatten kein Seil.
Um zu ihrer vorgesehenen Route zu gelangen,
hätten sie rund 120 Meter aufsteigen müssen.
»Unmöglich in unserem Zustand in dieser
Höhe«, sagt Messner.
Die Brüder machten sich daran, über die
weniger steile Diamirflanke des Nanga Parbat
nach Nordwesten hinabzuklettern. Reinhold
stieg voraus, um den Weg durch das lebensgefährliche
Labyrinth aus Fels- und haushohen
Eisabbrüchen zu finden. Nach einem
zweiten Lager verschüttete eine Eislawine
Günther. Messner wanderte verzweifelt, ausgezehrt
und halluzinierend weiter ins Tal, wo
Holzfäller ihn schließlich fanden.
Manche Schilderungen Messners wirken
bis heute konstruiert. Er unterstellte anderen
Expeditionsteilnehmern Gleichgültigkeit oder
gar stille Freude über das Drama der Brüder.
Und so kam es zu Verdächtigungen und
Schuldzuweisungen.
Über eine Situation auf dem Nanga Parbat
wurde besonders heftig debattiert. Am Morgen
nach dem ersten Biwak unterhalb des
Gipfels schrie Messner die Merklrinne hinab
um Hilfe. Nach einer Weile sah er die Bergkameraden
Felix Kuen und Peter Scholz zum
Gipfel aufsteigen. Als die Seilschaft keine
100 Meter unterhalb in der Rinne auftauchte,
riefen Messner und Kuen einander ein paar
Sätze zu. Der Österreicher erklärte später,
Reinhold habe nicht um Hilfe gebeten, sondern
gesagt, dass »alles in Ordnung« sei. Deshalb
seien er und sein Partner über eine Querung
aus der Wand ausgestiegen und weiter
Richtung Gipfel gezogen.
Wieso forderte Messner nicht energisch
Hilfe an?
Messner sagt, Kuen habe zweimal angesetzt,
die restlichen 100 Meter der Merkl rinne
zu ihm und Günther emporzusteigen, jedoch
abgebrochen, weil es lebensgefährlich war.
Um ein weiteres »waghalsiges Manöver«
Kuens zu verhindern, habe er dem Kameraden
signalisiert, dass er und Günther es allein
schaffen würden.
Expeditionsleiter Herrligkoffer spekulierte
nach der Rückkehr aus dem Himalaja, Günther
sei nicht beim Abstieg über die Diamirflanke,
sondern oben in der Scharte umgekommen.
2001 überwarf sich Messner mit der
Klettermannschaft. Er hielt den Kameraden
vor, seinerzeit keinen Rettungsversuch unternommen
zu haben. Dabei hatten sie Suchaktionen
gestartet.
Gerhard Baur, der mit den Messners die
Nacht vor ihrem Aufstieg im Lager 5 verbracht
hatte, reagierte fassungslos: »Es ist das,
was du sagst und wie du es sagst, wirklich
schlimm.«
Zwei Jahre später präsentierten die Expeditionsteilnehmer
Max von Kienlin und Hans
Saler beim Deutschen Alpenverein (DAV) in
München ihre Nanga-Parbat-Bücher mit
Mutmaßungen über den Hergang des Unglücks.
Eine lautete: Messner habe den angeschlagenen
Bruder allein gelassen in der
Todeszone, um nach dem geglückten Aufstieg
durch die höchste Steilwand der Erde auch
noch im Alleingang die erste Überschreitung
des Nanga Parbat zu schaffen, einen weiteren
Welt rekord.
Die Veranstaltung im DAV-Museum geriet
zur Abrechnung mit Messner – und sorgte für
Schlagzeilen. Hatte der Superstar der Berge
am Nanga Parbat den Bruder dem eigenen
Ehrgeiz geopfert?
106 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Ehepaar Messner in Berlin im Oktober
Filmaufnahmen des Tumults wurden später
gelöscht. Der Alpenverein hält einen Tonbandmitschnitt
unter Verschluss. Begründung:
Auf dem Tape soll ein »unschöner Satz«
zu hören sein, der, würde er öffentlich, die
ganze Affäre weiter anheizen könnte. Die
DAV-Funktionäre wollen Ruhe haben vom
Nanga-Parbat-Streit.
Am Wohnzimmertisch der Messners in
München drückt Diane Messner das Kreuz
durch. Sie sagt, sie kenne die heikle Bemerkung
auf dem Tonband.
Frau Messner erzählt von einem Besuch
beim Archivar des DAV irgendwann vor der
Pandemie. Sie habe sich die Aufnahme angehört.
Um welchen Ausruf ging es? »Reinhold
habe den Günther umgebracht«, sagt
Diane Messner.
Ihr Mann zuckt auf seinem Stuhl zusammen.
Umgebracht? »Der Satz ist da gefallen?
Bist du sicher?«
Messner ist jetzt ganz in seiner Rolle. Seine
Halsschlagader pocht, die Stimme wird
lauter. Er schimpft über den Alpenverein. Der
DAV habe den Kritikern eine Plattform geboten
und sich damit »zum Komplizen einer
Rufmordkampagne« gemacht.
»Ich will dieses Tonband«, sagt Messner.
Der Alpenverein hat ihm kurz vor Weihnachten
angeboten, er könne die Tonbandaufnahme
von 2003 jetzt doch anhören.
Messner hat bereits eine Unmenge an Dokumenten
zu der Expedition von 1970 und
der späteren Kontroverse zusammengetragen,
Fotos, Tagebücher, Briefe, Gerichtsurteile,
Expeditionsverträge, Kartenmaterial, Zeitungsartikel.
Ein dicker Band mit allen Fakten
erschien 2019. Titel: »Mein Schlüsselberg«.
324 Seiten. Messners große Nanga-Parbat-
Akte. Die Skeptiker hätten vor keinem Gericht
auf der Welt eine Chance, sagt er. »Ich
kann alles belegen.«
Bei seiner Livetournee, die wegen der Pandemie
bis März unterbrochen wurde, spricht
XAMAX / ullstein bild
SPORT
er frei, ohne einen Satz abzulesen. Messner
hat alle Details im Kopf. Er ist ein guter Erzähler.
Er zieht sein Publikum hinein in seine
Geschichte.
Der einzige Zeuge kämpft um die Deutungshoheit.
Klaus Gerosa, 68, besuchte vorigen Herbst
eine Messner-Show in Göppingen. Er ist Vorstandsmitglied
einer Stiftung, die Herrligkoffer
gegründet hatte, um zu helfen, »unbestiegene
Gebirgsregionen zu erkunden«. Gerosa
wollte mal schauen, ob der alte Bergfex auf
der Bühne Gemeinheiten in Richtung seiner
Kritiker abschießt.
»Reinhold sucht ja gerne die Konfrontation«,
sagt Gerosa. Den verstorbenen Expeditionsleiter
Herrligkoffer beschrieb Messner
einmal als durchtriebenen Nazityp, der keine
Ahnung von Alpinismus gehabt habe. Seine
Widersacher aus der Klettermannschaft kanzelt
er als »Verleumder« ab, die nicht damit
zurechtkämen, dass er eine Weltkarriere hingelegt
habe und sie nicht.
Das Lager der Messner-Gegner teilt auch aus.
Messner sei traumatisiert, er verdrehe bewusst
Tatsachen und habe wohl zu viel Zeit
in dünner Luft verbracht.
Gerosa, ein freundlicher Mann, ist die
gegenseitigen Kränkungen leid. Das Andenken
an die Expedition von 1970 habe
genug Schaden genommen. Der Zank der
alten Männer müsse beendet werden. Er
denkt an eine Art Kommuniqué. Eine
Abschlusserklärung. »Wir müssen den Sack
zumachen.«
Denn seit dem Fund der Knochen auf der
Diamirseite des Nanga Parbat zweifelt kaum
noch jemand daran, dass die Brüder Messner
gemeinsam dort heruntergestiegen sind und
Günther unterwegs verunglückte.
Beim Bergfilmfestival am Tegernsee im
Oktober saß Gerhard Baur als 1970er-Veteran
auf dem Podium. Er kam kaum zu Wort, weil
Diane Messner die Veranstaltung sprengte.
Baur ist davon überzeugt, dass der Abstieg
der Messners über die Diamirseite nicht aus
der Not heraus geschah, vielmehr habe Reinhold
die Überschreitung geplant. Baur sagt,
er respektiere Messners Verhalten am Nanga
Parbat. Nicht in Ordnung sei jedoch, dass
Reinhold sich bis heute als Opfer einer Intrige
inszeniere.
Einige Bergsteiger, die damals im Himalaja
dabei waren, sind bereits verstorben. Baur
und Messner waren mal befreundet. Es wäre
an der Zeit, sich auszusprechen. »Ich hätte
nichts dagegen«, sagt Messner.
Baur sah Günther Messner am Morgen des
27. Juni 1970 in der Rupalwand Richtung
Gipfel klettern. Er ist ein guter Zeuge für das,
was bis zu diesem Zeitpunkt am Nanga Parbat
geschah.
Was später ganz oben passierte, weiß nur
Reinhold Messner. Entweder er hat die Wahrheit
schon erzählt, oder man wird sie niemals
erfahren.
Gerhard Pfeil
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Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
107
Wissen
Die Geschichten hinter den Geschichten –
der besondere Rückblick
Dritter Schuss dank SPIEGEL-Grafik
NR. 46/2021 »Boostern gegen Delta« – Wie ein impfwilliger Leser zu seiner dritten Impfung kam
I
m Herbst hofften in Deutschland wohl fenbarte äußerst Beunruhigendes: Der wie möglich alle Willigen zu boostern.
alle Menschen mit doppelter Coronaimpfung,
dass die Pandemie für sie nun tion sank bei den mRNA-Impfstoffen er
nach der dritten Spritze zunächst abge
Schutz vor einer symptomatischen Infek
Manche Leser berichteten, dass ihre Bitte
vorüber sei. Heute wissen wir: Das war ein
Irrglaube. Mit der Zeit setzte sich in
Deutschland wie auch auf der ganzen Welt
die Erkenntnis vom abnehmenden Immunschutz
durch – selbst bei den Vakzinen,
die nach dem neuartigen mRNA-Verfahren
wirken. Zuerst, so zeigten es die Untersuchungen
der Wissenschaftler, steigt das Risiko
einer Übertragung, und nach einigen
Monaten sinkt auch die Wahrscheinlichkeit,
vor einem schweren Verlauf ausreichend
gut geschützt zu sein.
Besseren Schutz versprach laut Analysen
die Boosterimpfung. Für den SPIEGEL
schrieb ich damals einen Artikel über die
Wirkung der dritten Immunisierung. Darin
wurde eine Grafik aus einer vorveröffentlichten
schwedischen Studie gezeigt. Sie ofwartungsgemäß
kontinuierlich. Bei dem
Mittel von AstraZeneca war er nach vier
Monaten praktisch nicht mehr nachweisbar.
Zwar ergaben andere Daten aus Großbritannien,
dass der Impfstoff von AstraZeneca
in diesen Untersuchungen besser abschnitt
als in der schwedischen Studie, wie
mir der Immunologe Carsten Watzl für den
Artikel bestätigte. Dennoch beunruhigte
die abgedruckte Grafik besonders die mit
AstraZeneca geimpften Leserinnen und
Leser. Etliche schrieben mir E-Mails und
fragten, wie die Studie zu bewerten sei
und wie sie nun schnellstmöglich an eine
Boosterimpfung kämen.
Die Hausärzte waren damals offenbar
nicht immer eine Hilfe. Nicht alle folgten
den Forderungen aus der Politik, so schnell
lehnt wurde. Auch ein Mann aus Hannover
meldete sich bei mir. »Ich habe sofort meinen
Hausarzt angerufen«, schrieb er,
nachdem er den Artikel gelesen hatte. Doch
leider habe der Mediziner auf die Einhaltung
der sechs Monate Abstand zur zweiten
Impfung gedrängt – ganz so, wie es die
Stiko zu diesem Zeitpunkt noch vorsah,
aber entgegen der Empfehlung des damaligen
Gesundheitsministers Jens Spahn von
Mitte November. Erst die Darstellung aus
der Studie habe den Hausarzt schließlich
doch überzeugt. »Mithilfe Ihrer Grafik habe
ich für mich einen kurzfristigen Boostertermin
erreichen können«, schrieb der Mann.
Kurz darauf änderte die Stiko ihre Empfehlung,
Überzeugungsarbeit mit Grafiken war
nicht mehr nötig. Jörg Römer
108 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL
Nicht nur eine Flöte
NR. 37/2021 »Der XXL-
Scanner« – Wie sich ein mittelalter
liches Instrument als Teil
von etwas Größerem entpuppte
Es war ein kostbares Fundstück,
das 1950 bei Ausschachtungsarbeiten
für eine Garage in
Würzburg geborgen wurde –
auch wenn es nicht so aussah.
Nur das geschulte Auge erkennt
in dem knapp neun Zentimeter
langen Holzsplitter mit Löchern
das Fragment einer Flöte.
Wahrscheinlich stammt sie aus
dem 13. oder 14. Jahrhundert;
einer Epoche, aus der kaum
Musikinstrumente erhalten
sind. In den 1970er-Jahren hatte
ein Instrumentenbauer aus
Franken auf der Grundlage des
Fundes bereits eine rund
28 Zentimeter lange Blockflöte
gebaut, die aber eher kläglich
klang. Der Bamberger Musikarchäologe
Andreas Spindler
ließ jüngst gemeinsam mit Mathematiker
Tomas Sauer von
der Universität Passau im Röntgenlabor
des Fraunhofer-Instituts
für Integrierte Schaltungen
in Fürth eine hochaufgelöste
Andreas Spindler
Spindler
dreidimensionale Darstellung
des Objekts erstellen. Auf
Grundlage des Scans ermittelten
Spindler und Sauer ein
Detail: Die Innenbohrung verengt
sich am Endstück um
wenige Millimeter. Mit dieser
Erkenntnis wagte sich Spindler,
der schon viele Musikinstrumente
nachgebaut hat, an eine
neue Rekonstruktion, diesmal
kam keine Blockflöte heraus.
Er schuf ein sogenanntes Platerspiel,
eine mittelalterliche Form
des Dudelsacks mit Anblasrohr,
Luftsack und Spielpfeife. Zwar
ist nicht endgültig klar, ob damit
das Original wirklich getroffen
ist. Doch Spindler ist sich sicher:
»Diese Sackpfeife klingt
richtig.« Frank Thadeusz
Ärger ums
Immergrün
NR. 18/2021 »Saat des Bösen« –
Wie SPIEGEL-Redakteur
Guido Kleinhubbert zum »linksversifften
Gutmenschen« wurde
Ich verabscheue Kirschlorbeer.
Gnadenlos habe ich sämtliche
Exemplare, die die Vorbesitzerin
unseres Hauses anpflanzen
ließ, abgesägt und kaputt
gehäckselt. Es war mir ein Vergnügen,
zumal an gleicher
Stelle Holunder, eine Salweide
und andere heimische Pflanzen
wachsen, die bei Insekten
und Vögeln viel beliebter sind.
Ich ahne, was dieses Geständnis
auslösen könnte. In
meinem Bericht »Saat des Bösen«
hatte ich über die erheblichen
Vorbehalte berichtet, die
Naturschützer gegen die immergrüne
Pflanze hegen. Etwas
übertrieben meinte einer der
Experten sogar, Kirschlorbeer
sei ökologisch ähnlich wertvoll
wie eine Betonmauer.
Das sorgte bei vielen Menschen
für eine Aufregung, mit
der ich nicht gerechnet hatte.
Man warf mir und den Umweltschützern
unter anderem grüne
Bevormundung und »linksversifftes
Gutmenschentum« vor.
Angesichts dieser haltlosen
Unterstellungen freute ich
mich über den Leser Walter Z.
aus Schwäbisch Hall, der sich
zumindest große Mühe gab, die
Kritik der Naturschützer zu
entkräften. Er stellte sich mit
einem Fotoapparat neben
seinen Kirschlorbeer, um den
ökologischen Wert der Pflanze
zu dokumentieren.
Die Bilder sind nicht sonderlich
gut geworden, aber Walter
Z. soll eines wissen: Ich kann
die Biene erkennen, die sich da
an seiner Pflanze labt. Ich kann
sogar erklären, warum sie das
tut: Der Kirschlorbeer sondert
über sogenannte extraflorale
Nektarien Zuckersaft ab, der Insekten,
zum Beispiel Ameisen,
anlocken soll.
Wenn die Krabbler dann da
sind, vertilgen sie im besten Fall
auch direkt die Blattläuse und
anderen Schädlinge mit, die
dem Kirschlorbeer zusetzen.
Die Nektarien machen den
Kirschlorbeer also besonders
wehrhaft. Wie eine Betonmauer.
»O Gott, was habe ich getan?«
NR. 21/2021 »Der Schmerz
kommt von innen« – Im Mai berichtete
der SPIEGEL über
die Coronapatientin Severine
Joordens, die während ihrer
Erkrankung an die künstliche
Lunge angeschlossen wurde.
Mehr als ein Jahr lang litt sie
unter den Folgen. Heute
geht es ihr besser – doch die
Prioritäten in ihrem Leben
haben sich radikal geändert.
SPIEGEL: Frau Joordens, wie
geht es Ihnen heute?
Joordens: Schmerzen habe ich
immer noch, aber es ist besser
geworden. Ich habe ja teilweise
ganze Nächte nicht schlafen
können vor Schmerz. Das ist
jetzt nicht mehr so. Die Taubheit
allerdings ist geblieben. Ich
lasse noch immer Sachen aus
der Hand fallen. Aber ich kann
Klavier spielen. Nicht mehr so
schnelle Sachen wie vorher,
aber es reicht. Ich klage auf hohem
Niveau.
SPIEGEL: Bleibt Hoffnung, dass
Sie irgendwann ganz wiederhergestellt
sein werden?
Joordens: Die Ärzte haben mir
damals gesagt, dass es ungefähr
zwei Jahre dauert, bis sich der
Körper erholt hat. Theoretisch
habe ich also noch Zeit bis
März. Ich arbeite daran, aber
wenn ich ehrlich bin, dann glaube
ich nicht daran, dass die
Schäden dann ganz vorbei sind.
SPIEGEL: Können Sie wieder
singen?
Joordens: Das mit der Luft, das
merke ich schon. Da ist viel
zurückgekommen, aber Töne
sehr lang anhalten, das kann
ich nicht mehr wie früher. Auch
die ganz hohen Töne sind
nicht wiedergekommen. Deshalb
habe ich eine drastische
Entscheidung getroffen: Ich bin
ins Mezzosopranfach gewechselt.
Vor allem aber habe ich
meine Prioritäten radikal verändert.
SPIEGEL: Wie das?
Joordens: Ich bin jetzt Musiklehrerin
in der Gesamtschule.
SPIEGEL: Dann hat Corona ja
Ihr ganzes Leben verändert?
Joordens: Ja, für mich hat ein
neues Kapitel begonnen –
eigentlich schon in dem Moment,
als ich aus dem Koma
aufgewacht bin.
Insa Hagemann
SPIEGEL: Wie kam es dazu, dass
Sie so plötzlich in die Schule
gewechselt sind?
Joordens: Ich habe hier an der
örtlichen Musikschule Gesang
unterrichtet, und dort hat man
mich gefragt, ob ich nicht Lust
hätte, eine Vertretung in der
Gesamtschule zu machen. »Warum
nicht?«, habe ich mir gesagt.
Wenig später, als ich dann
vor einer ganzen Klasse Pubertierender
stand, habe ich gedacht:
»O Gott, was habe ich
nur gemacht?«
SPIEGEL: Inzwischen geht es
besser?
Joordens: Gerade die Siebtklässler
haben natürlich viel mit
ihren Hormonen zu tun. Die
haben nicht immer Bock. Aber
es findet sich irgendwie immer
ein Weg, wie man sie begeistern
kann. Und mittwochs habe ich
jetzt Neunt- und Zehntklässler,
mit denen schreibe ich sogar
ein Musical. Die Schule heißt
nach Anita Lichtenstein, einem
jüdischen Mädchen, das
hier gelebt hat und im Konzentrationslager
Lublin-Majdanek
ermordet wurde. Davon soll
das Musical handeln. Und das
geht richtig gut, das hätte
ich nicht gedacht. Die Schüler
haben so viele gute Ideen,
das können Sie sich gar nicht
vorstellen. Im nächsten April
soll Premiere sein.
SPIEGEL: Da wird der Schulleiter
ja begeistert sein.
Joordens: Ja. Bisher bin ich nur
als Vertretung an der Schule.
Aber man hat mich schon gefragt,
ob ich nicht bleiben
möchte. Johann Grolle
Joordens
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL 109
WISSEN
»Es geht darum, Hinweise auf
Leben zu finden«
SPIEGEL-GESPRÄCH Zu Weihnachten ist das teuerste Teleskop der Geschichte ins All gestartet.
Esa-Wissenschaftsdirektor Günther Hasinger über das goldene Zeitalter der Astronomie, die Zeitmaschine
»James Webb« – und die Suche nach einer zweiten Erde.
»Webb«-Teleskop (Simulation): »Blick in die Tiefe der Zeit«
Adriana Manrique Gutierrez / CIL / NASA GSFC
110 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
WISSEN
Hasinger, 67, ist Astrophysiker und Direktor
für Wissenschaft bei der Europäischen Raumfahrtagentur
Esa. Die Esa ist mit einem Anteil
von 15 Prozent am »James Webb«-Teleskop
beteiligt. Eines der vier Instrumente an Bord
stammt aus Europa, ein weiteres wurde zur
Hälfte von der Esa beigesteuert.
Das Gespräch führten die Redakteure Johann Grolle
und Christoph Seidler.
Angelina Vernetti / DER SPIEGEL
»Das Ziel ist es,
das erste Licht zu sehen,
das im Universum
aufgeflackert ist.«
SPIEGEL: Herr Hasinger, mit vielen Erwartungen
beladen ist an Weihnachten das »James
Webb«-Teleskop ins All geschossen worden.
Wann werden die ersten Bilder kommen?
Hasinger: Die ersten offiziellen Bilder werden
im Juni oder Juli veröffentlicht werden. Wahrscheinlich
wird darauf entweder eine Region,
in der Sterne entstehen, zu sehen sein
oder eine Galaxie. Jedenfalls etwas, was das
»Hubble«-Teleskop bereits gut beobachtet
hat, sodass man beide Aufnahmen miteinander
vergleichen kann.
SPIEGEL: Wie bitte? Die Esa richtet den Start
aus, sie baut Komponenten dieses Geräts, und
dann wissen Sie nicht einmal mit Sicherheit,
worauf es als Erstes gerichtet wird?
Hasinger: Es gibt ein genau choreografiertes
Skript, wann welche Informationen rausgehen.
Da hat die Nasa Vorrechte, wir sind nur
Juniorpartner. Im Übrigen ist die Kalibrierung
eine langwierige Angelegenheit. Es sind vier
Instrumente an Bord, und jedes von ihnen
hat Hunderte verschiedene Beobachtungsmodi,
bei denen man erst überprüfen will, ob
sie auch funktionieren.
SPIEGEL: Das »Webb«-Teleskop ist zum Nachfolger
des »Hubble« erklärt worden. Wurden
damit nicht automatisch Erwartungen geweckt,
die dieses Gerät gar nicht erfüllen kann?
Hasinger: Ich sehe »Webb« nicht als »Hubble«-
Nachfolger. Wir werden beide parallel betreiben,
sie können sich ergänzen. »Hubble«
wird auch künftig farb- und kraftvolle Bilder
liefern, und das »James Webb« wird sie noch
um weitere Farben bereichern. Eine wesentliche
Leistung des »Webb« wird in der Betrachtung
der Spektren liegen, in der Aufspaltung
des Sternenlichts in seine Regenbogenfarben
also. An diesen Spektren kann man
sozusagen die Fingerabdrücke der chemischen
Elemente ablesen. Daraus kann man schließen,
woraus ein Objekt besteht und wie
schnell es sich bewegt.
SPIEGEL: Anders als »Hubble«, das vor allem
im Bereich des sichtbaren Lichts seine Aufnahmen
macht, ist »Webb« ein Infrarotteleskop.
Eines der bisher aufwendigsten Esa-
Instrumente, »Herschel«, war ebenfalls ein
Infrarotteleskop, und es hat längst nicht so
prachtvolle Bilder geliefert wie »Hubble«.
Hasinger: Auch von »Herschel« gibt es fantastische
Bilder, denken Sie nur an die spektakulären
Aufnahmen von Sternentstehungsregionen.
Außerdem verfolgt die Astronomie
inzwischen den Multi-Messenger-Gedanken.
Das heißt: Sie dürfen nicht die Bilder einzelner
Teleskope betrachten, sondern die Kombination
aus mehreren. Nehmen Sie etwa den
Krebs-Pulsar, einen rotierenden Neutronenstern,
an dem ich meine Doktorarbeit gemacht
habe. Wenn Sie sehen wollen, was da
passiert, reichen die »Hubble«-Bilder nicht.
Erst wenn Sie noch Röntgenbilder darunterlegen,
sehen Sie, wie sich das dreht und wie
Teilchen rausschießen. Und wenn man sich
nun dasselbe Objekt mit »James Webb« anschaut,
dann wird man zusätzlich auch die
Gas- und Staubfetzen sehen, die um diesen
Stern herumwabern. Das ist wie in einem Kriminalfall,
den man nach vielen Jahren wieder
neu aufrollt, weil es ein neues forensisches
Verfahren gibt.
SPIEGEL: Welche Erkenntnisse versprechen
Sie sich vom »James Webb«-Teleskop?
Hasinger: Je weiter wir in die Vergangenheit
blicken, desto mehr ist das Licht ins Rote oder
sogar bis ins Infrarote verschoben. So ist das
Universum konstruiert. »Webb« sieht im Infraroten,
es ist also eine Art Zeitmaschine: Es
wird uns dieselben Bilder liefern, die »Hubble«
vor 13 Milliarden Jahren geliefert hätte.
SPIEGEL: Das klingt abstrakt.
Hasinger: Wir befinden uns derzeit in einem
goldenen Zeitalter der Astronomie. In den
letzten zehn Jahren ist die Hälfte aller Physik-
Nobelpreise an die Astronomie gegangen –
für fundamentale Entdeckungen wie schwarze
Löcher, Dunkle Materie, Gravitationswellen
oder Exoplaneten. Derzeit stehen einige
langfristige Entwicklungen kurz vor der Fertigstellung,
die das Tempo der Entdeckungen
weiter beschleunigen werden: Das »Square
Kilometre Array« etwa, ein gewaltiges neues
Radioteleskop, ist ein weiteres Gerät, das uns,
Astrophysiker Hasinger
wenn es erst funktioniert, völlig neue Räume
eröffnen wird. Mit »James Webb« verhält es
sich ähnlich.
SPIEGEL: Welche Räume öffnet »Webb«?
Hasinger: Es gibt drei Ziele: Zum einen wird
es uns einen Blick in das früheste Universum
ermöglichen. Zum Zweiten wird uns »Webb«
mit bisher unerreichbarer Genauigkeit erlauben,
die Sternentstehung zu studieren. Denn
solche Vorgänge passieren in Gas- und Staubwolken,
die im sichtbaren Spektralbereich
trüb, im infraroten dagegen durchsichtig sind.
Und zum Dritten wird »Webb« Exoplaneten
beobachten. Es geht darum, ihre Atmosphäre
zu charakterisieren und möglicherweise auch
Biomarker, also Hinweise auf Leben, zu finden.
SPIEGEL: Würden Sie diese drei Ziele – frühes
Universum, Sternentstehung und Exoplaneten
– als die zentralen Themen der heutigen
Astronomie bezeichnen?
Hasinger: Durchaus. Bei der Sternentstehung
kennen wir die grundsätzlichen physikalischen
Gesetze bereits, nur die Komplexität
des Vorgangs ist noch nicht verstanden. Wir
werden mithilfe des »Webb« zum Beispiel
sehen können, ob sich eher große oder kleine
Sterne bilden. Die Exoplaneten dagegen sind
gewiss eine zentrale Frage der Astronomie,
Leben im All zu finden wäre für uns so etwas
wie der Heilige Gral. Und beim frühen Universum
geht es sowieso um ganz fundamentale
Fragen.
SPIEGEL: Was ist daran eigentlich so fundamental?
Hasinger: Im Moment beschäftigt uns zum
Beispiel eine Ungereimtheit in Bezug auf die
klassische Betrachtungsweise. Ihr zufolge
stand am Anfang der Urknall. Danach war
das Universum ein heißer Gasball, ähnlich
wie unsere Sonne. Es kühlte sich ab, und als
die Temperatur unter 3000 Grad sank, wurde
das Universum durchsichtig. Danach dauerte
es noch ungefähr 500 Millionen Jahre,
bis sich genügend Material an einzelnen Stellen
versammelt hatte, um einen Stern oder
eine Galaxie bilden zu können.
SPIEGEL: Und was stimmt daran nicht?
Hasinger: Forscherinnen und Forscher haben
frühe Galaxien gefunden, deren Licht darauf
schließen lässt, dass die Sterne nicht 500, sondern
höchstens 200 Millionen Jahre nach dem
Urknall entstanden sind. Niemand weiß, wie
das abgelaufen sein kann. An dieser Stelle
kommt unsere eigene Idee ins Spiel …
SPIEGEL: Sie haben Ihre ganz persönliche
Theorie?
Hasinger: Ja, und ich habe zusammen mit meiner
ehemaligen Doktorandin auch 20 Stunden
Beobachtungszeit mit »Webb« zugeteilt bekommen,
um diese Theorie zu überprüfen.
SPIEGEL: Was für eine Theorie ist das?
Hasinger: Meine Hypothese ist, dass schon
zwei Sekunden nach dem Urknall eine große
Zahl sogenannter primordialer schwarzer Löcher
entstanden ist. Sehr bald sind einige von
ihnen zu den massereichen schwarzen Löchern
angewachsen, die bis heute in den Zentren
der Galaxien sitzen. Wenn das stimmt,
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
111
WISSEN
Babybilder des Weltalls
Weltraumteleskope im Vergleich
»Hubble«-Teleskop
Licht, das sehr lange unterwegs war, ist in den
infraroten Bereich verrückt. »Hubble« untersucht
vor allem sichtbares Licht und kann solches aus
der ersten Zeit nicht mehr sehen, da es zu rot ist.
2,4 m
Urknall
Dunkles Zeitalter:
Plasma aus
geladenen Teilchen,
Licht wird blockiert.
Erste Sterne
und Galaxien
entstehen.
Bildung von
Galaxienhaufen
»James Webb«-Teleskop
Hauptspiegeldurchmesser
»Webb« ist auf die Detektion von infrarotem Licht
spezialisiert. Es kann deshalb auch Lichtquellen
aus der Frühzeit des Universums detektieren.
6,5 m
Alter des Universums in Jahren*
0
etwa 400.000
200 Mio.
10 Mrd.
13,8 Mrd., heute
S ◆Quelle: Nasa; * Zeitstrahl nicht linear
dann hätten diese schwarzen Löcher schon
sehr früh – nicht 500 Millionen Jahre, sondern
schon 50 Millionen Jahre nach dem Urknall
– die Sternentwicklung ausgelöst.
SPIEGEL: Und das »Webb«-Teleskop wird diese
ersten Schwarzen Löcher sehen können?
Hasinger: Sagen wir: Es liefert einen Baustein.
Weitere Informationen werden wir durch die
geplanten Gravitationswellen-Detektoren erhalten.
SPIEGEL: Woran werden Sie erkennen, ob Ihre
Theorie stimmt?
Hasinger: Die Hauptzielsetzung des »Webb«-
Teleskops ist es, das erste Licht zu sehen, das
im frühen Universum aufgeflackert ist. Und
unsere Theorie sagt vorher, dass es da eine
zusätzliche Population von Sternen gibt. Beim
Blick in die Tiefe der Zeit sollte »James
Webb« also 10- bis 20-mal mehr Objekte sehen,
als es dem klassischen Bild zufolge zu
erwarten wäre.
SPIEGEL: Sprechen Sie beim »Blick in die Tiefe«
von der Untersuchung des berühmten
»Deep Field« des »Hubble«-Teleskops?
Hasinger: Ja, wobei es genau genommen drei
Orte am Himmel gibt, die in diesem Zusammenhang
eine Rolle spielen. Das »Deep Field
North«; das »Ultra Deep Field« im Süden;
und das »Cosmos Field«, das zwar nicht ganz
so tief ist, dafür aber das größte der tiefen
Felder.
SPIEGEL: Ein »Deep Field« ist ein dunkler Fleck
am Himmel, in dem erst bei langer Belichtung
sehr, sehr ferne Galaxien erkennbar werden.
Wie tief ein solches Feld ist, bemisst sich dabei
nach der jeweiligen Beobachtungszeit?
Hasinger: Ganz genau. Je ferner ein Objekt
ist, desto schwächer leuchtet es am Himmel.
Deshalb möchte man möglichst viel Licht
sammeln. Dazu brauchen wir ein möglichst
großes Teleskop, aber wir müssen zugleich
auch sehr, sehr lange hinschauen. An die
»Deep Fields« werden Monate Beobachtungszeit
verwendet.
SPIEGEL: Lassen Sie uns zur zweiten großen
Forschungsfront kommen: Wird »Webb« Hinweise
auf Leben im All finden?
Hasinger: Die besten Aussichten, Leben zu
finden, hätten wir auf einer Erde 2, also einem
erdähnlichen Planeten, auf dem Bedingungen
herrschen wie bei uns. Das Problem aber ist:
Bisher kennen wir noch keine Erde 2, auch
wenn das immer wieder behauptet wird.
SPIEGEL: Inzwischen sind doch Tausende von
extrasolaren Planeten bekannt. Wie kann es
sein, dass kein erdähnlicher dabei ist?
Hasinger: Das liegt daran, dass wir ferne Planeten
immer nur anhand periodischer Signale
erkennen: Man sieht, wie der Schatten eines
Planeten periodisch vor seinem Stern vorbeizieht,
oder wie er periodisch an ihm rüttelt.
Um aber sicher zu sein, dass ein Signal periodisch
ist, müssen Sie es mindestens dreimal
beobachten. Wer also von einem fernen Planeten
aus die Erde nachweisen will, müsste
mindestens drei Jahre lang messen. Messungen
über einen so langen Zeitraum gibt es
bisher aber noch nicht. Das wird erst »Plato«
liefern, eine Esa-Mission, die 2026 starten
soll. Wenn wir Glück haben, wird »Plato« ein
halbes, vielleicht auch ein ganzes Dutzend
wirklich erdähnlicher Planeten finden.
SPIEGEL: Das heißt also: Die Planetenforschung
mit »Webb« wird frühestens erst in
fünf Jahren richtig beginnen?
Hasinger: Nein. Wir haben auch jetzt schon
interessante Studienobjekte, und zwar vor allem
Gesteinsplaneten, die um Rote Zwerge
kreisen. Allerdings haben wir da das Problem,
dass Rote Zwerge ziemlich gefährliche Genossen
sind. Diese Sterne haben pausenlos heftige
Eruptionen und schleudern dabei Strahlen
und Teilchen ins All. Deshalb dürfte es Leben
auf ihren Planeten eher schwer haben.
SPIEGEL: Die Astronomen wollen aber trotzdem
danach suchen?
Hasinger: Ja. Sie analysieren dazu das Licht
des Roten Zwergs, während ein Planet vor ihm
vorbeiwandert. In der spektralen Zerlegung
dieses Lichts hofft man, die Fingerabdrücke
von Molekülen in der Atmosphäre dieses Planeten
zu finden. Wenn man Glück hat, sind
darunter auch Biomarker, also Moleküle, die
auf die Existenz von Leben hindeuten.
SPIEGEL: Was für Moleküle könnten das sein?
Hasinger: Wenn man das Licht der Erde auf
diese Weise betrachtet, würde man darin die
Signatur von Wasser, Ozon und Sauerstoff
nachweisen können. Wasser kann auch ohne
Leben existieren, Ozon dagegen vermutlich
nicht.
SPIEGEL: Vor allem würde man Stickstoff
nachweisen, der den größten Teil der Atmosphäre
ausmacht. Aber das verrät nichts über
das Leben?
Hasinger: Das ist eine interessante Frage, die
noch umstritten ist. Es gibt eine Theorie, nach
der auch der Stickstoff auf der Erde von Leben
erzeugt wurde. Wenn das zutrifft, sollten wir
auch nach Stickstoff-Atmosphären suchen.
SPIEGEL: Einige Forscher hoffen, nicht nur
Biomarker, sondern auch Technomarker zu
finden, also Signale, die auf die Existenz von
Lebensformen mit technischer Intelligenz hindeuten.
Taugt »Webb« dafür, sie aufzuspüren?
Hasinger: Es gibt Projekte wie »Breakthrough
Listen« oder Seti, die versuchen, Signale aus
dem All aufzufangen. Aber um eine Erfolgschance
zu haben, werden dabei viele Millionen
Objekte durchmustert. Wenn aber Seti
wirklich auf ein Signal stoßen sollte, dann
wäre »Webb« ideal geeignet, diese Quelle im
Detail zu studieren.
SPIEGEL: Das »Webb«-Teleskop mag ein großartiges
Instrument sein, aber es war mit rund
zehn Milliarden Dollar auch unerhört teuer.
112 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
WISSEN
NASA, ESA, M. Livio and the Hubble 20th Anniversary Team (STScI)
Liegt die Zukunft der Astronomie in
immer gigantischeren und immer teureren
Projekten?
Hasinger: Nicht unbedingt. Es gibt
auch Beispiele, wo wir etwas Kleines
machen, was trotzdem völlig neue
Wege geht.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Hasinger: Erinnern Sie sich an den
Kometen ‘Oumuamua?
SPIEGEL: Der Himmelskörper, der uns
angeblich von Außerirdischen geschickt
wurde?
Hasinger: Genau. Dieses Objekt haben
wir auf Hawaii entdeckt, mit dem
»PanStarrs«-Teleskop. Als ich gerade
zur Esa gekommen war, entdeckte
»Hubble«, dass sich ‘Oumuamua
schneller aus unserem Sonnensystem
herausbewegt, als es hereingekommen
ist – was wiederum den Harvard-
Forscher Avi Loeb zu der Spekulation
veranlasste, es könnte sich um ein
Alien-Raumschiff handeln.
SPIEGEL: Was hat all das mit kleinen
billigen Raummissionen zu tun?
Hasinger: In der Wissenschaft hat
‘Oumuamua eine Diskussion über
den interstellaren Transport von Material
ausgelöst. Wir in der Esa haben
daraufhin eine Mission konzipiert:
»Comet Interceptor«. Wir wollen
dazu ein Raumschiff im All stationieren,
in der Nachbarschaft des »Webb«-
* Beide Aufnahmen stammen von »Hubble«.
»Webb« wird Infrarotaufnahmen mit dras tisch
gesteigerter Auflösung machen.
Molekülwolke im sichtbaren Licht*
Teleskops übrigens. Dort soll es darauf
warten, dass ein zur Untersuchung
geeignetes interstellares Objekt
oder ein jungfräulicher Komet
entdeckt wird.
SPIEGEL: Sie wollen eine Art Raketenbasis
mitten im All einrichten?
Hasinger: So würde ich es nicht nennen.
Wir wollen dort ein Mutterschiff
stationieren, das genug Treibstoff hat,
um sich gegebenenfalls auf einen solchen
Fremdkörper in unserem Sonnensystem
zubewegen zu können.
Dann soll diese Sonde durch die Gashülle
dieses Kometen fliegen und dort
zwei Satelliten entlassen, die sich das
genau anschauen.
SPIEGEL: Klingt faszinierend. Es wäre
eine Sensation, wenn das gelänge.
Hasinger: Das erwarte ich auch. Und
zudem kostet das System nur 175 Millionen
Euro. Andererseits kommen
wir ohne die großen Flaggschiffe wie
»Webb« auch nicht aus. Ohne die
Großen würden auch die Kleinen
leiden.
SPIEGEL: In der Erdbeobachtung ist
man von den großen, teuren Missionen
abgekommen.
Hasinger: Das stimmt. Aber die Erde
ist eine sehr helle Quelle, deswegen
braucht man keine riesigen Apparate,
um sie zu beobachten. Wir Astronomen
dagegen haben ein Problem: Je
weiter wir in die Ferne schauen, desto
geringer wird die Helligkeit der
Objekte. Folglich muss der Schirm,
den man aufspannen muss, um das
»Es gibt den
Vorschlag,
einen
Schwarm
kleiner
Satelliten
um den
Mond fliegen
zu lassen.«
Molekülwolke im infraroten Licht*
wenige Licht einzusammeln, immer
größer sein.
SPIEGEL: Die Devise »small is beautiful«
kennen Sie in der Astronomie
nicht?
Hasinger: Es gibt schon immer wie der
Ideen, wie man mit etwas Kleinem
etwas Tolles machen kann. Es gibt
etwa den Vorschlag, einen Schwarm
kleiner Satelliten um den Mond
fliegen zu lassen, um dann die Radiostrahlung
des Universums auf der
Rückseite des Mondes zu beob achten,
wo die Erde nicht stört. Aber der
Trend ist bei uns nun einmal, dass jeder
neue Satellit min destens zehnmal
besser sein soll als der vorhergehende.
Und da spielt auch die Größe eine
wesentliche Rolle.
SPIEGEL: Die Nasa plant bereits ganz
groß. Die Nationalen Akademien der
USA haben jüngst ihren Wunschzettel
künftiger Missionen geschrieben,
und ganz vorn steht der Plan, ein Riesenteleskop
zu bauen, das dereinst
»Webb« und »Hubble« beerben soll.
Die Kosten werden schon in der
Konzeption auf elf Milliarden Dollar
taxiert.
Hasinger: Ja, in ihrem Zehnjahresplan
sprechen die von einem künftigen
Sechseinhalb-Meter-Observatorium,
das empfindlich für infrarote, optische
und ultraviolette Wellenlängen sein
soll. Gleichzeitig haben die jedoch
auch einen ganzen Strauß weiterer
Vorschläge gemacht, von Ge räten im
Weltraum, aber auch am Boden. Und
das Schöne ist, dass das alles fast
nahtlos mit unseren eigenen Plänen,
der Voyage-2050-Strategie, zusammenpasst.
Es gibt überall Anknüpfungspunkte,
wo wir bei denen mitarbeiten
können und sie bei uns.
SPIEGEL: 11 Milliarden Dollar ist viel
Geld. Und wenn das künftige Teleskop
eine ähnliche Kostenexplosion
wie »Webb« erlebt, könnten es am
Ende 100 Milliarden werden. Ist so
etwas der Öffentlichkeit noch vermittelbar?
Hasinger: So ein Teleskop mag am
Ende etwas teurer werden als die jetzt
genannten 11 Milliarden. Aber eine
Kostensteigerung wie bei »Webb« –
von anfangs 700 Millionen auf am
Ende 10 Milliarden Dollar – das wird
es nicht geben. Es ist das erste Mal,
dass bei einem solchen Projekt von
Anfang an eine technische und finanzielle
Studie vorangestellt wird. Aber
ich gebe Ihnen recht: Wenn jetzt einer
käme und wollte ein Gerät für 100
Milliarden Dollar bauen, dann würde
auch ich sagen: Irgendwann stoßen
wir an Grenzen.
SPIEGEL: Herr Hasinger, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch. n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
113
WISSEN
Der Vollstrecker
ANALYSE Die Omikron-Variante könnte helfen, dass sich das Coronavirus
schneller verwandelt – vom Killer zum jährlich wiederkehrenden Ärgernis.
N
ach fast zwei Jahren Pandemie
kann man es sich kaum vorstellen,
aber es gibt sie tatsächlich
– Coronaviren, mit denen der
Mensch seit Jahrzehnten oder gar
Jahrhunderten leidlich gut zusammenlebt.
Unter Forschern sind vergleichsweise
friedfertige Arten bekannt
wie OC43, 229E, NL63 und
HKU1. Sie verursachen Triefnasen
bei Kindern und zumeist harmlose
Infekte bei Erwachsenen.
Die Schlüsselfragen für die Zukunft
lauten: Wann reiht sich das
gefährliche Sars-CoV-2 in die Riege
seiner Verwandten ein? Und wann
geht die Pandemie über in einen für
Menschen und Volkswirtschaften erträglicheren
Zustand, den Fachleute
als »Endemie« bezeichnen? Das Virus
verbreitet sich dann nicht mehr in
aggres siven Wellen, sondern ist fortwährend
auf niedrigerem Niveau
präsent.
Die gute Nachricht lautet: Diese
Situation könnte gar nicht so weit
entfernt sein. Er »hoffe sehr«, dass der
Tag schon 2022 komme, sagt Hajo
Zeeb, Professor für Epidemiologie an
der Universität Bremen. Andere Experten
denken eher an 2024.
Die etwas enttäuschende zweite
Nachricht ist diese: Das Virus wird
bleiben, höchstwahrscheinlich für immer.
Und Covid auch. Endemie bedeutet,
so erläutert Zeeb, dass das
Virus keine Bedrohung für das Gesundheitssystem
mehr darstellt. »Wir
sehen dann allenfalls flach verlaufende
Infektionswellen bei insgesamt
geringeren Fallzahlen und quasi normaler
Belastung der Krankenhäuser.«
Lokal werde es immer wieder zu Ausbrüchen
kommen, denen die Behörden
unter anderem mit der Wiedereinführung
der Maskenpflicht in Innenräumen
begegnen könnten. Die
Zeit des großen Sterbens wäre dann
aber vorbei.
Zwei Wege nur führen hinein in
die Endemie. Massenhafte Infektion,
mitsamt Krankheit und den damit
verbundenen Todesfällen. Oder massenhafte
Injektionen mit Impfstoffen.
Katja Hoffmann / laif
Der neue
Stamm
kann zum
ersten »postpandemischen
Virus«
werden.
Barbesucherinnen
in Berlin
im April 2020
Angesichts neuer, hoch infektiöser
Virusvarianten wie Omikron ist die
Kombination aus beidem das wahrscheinliche
Ergebnis. Alle Wege führen
letztlich in der Bevölkerung zu
einer wachsenden Grundimmunität.
Sobald diese einen allerdings ziemlich
hohen Wert erreicht, wird es für den
Erreger schwer, ungeschützte Wirte
zu finden. Von da an dürfte er ein steter,
aber weniger aufsehenerregender
Begleiter der Menschheit werden.
In einem Land wie Deutschland
liegt die Endemie noch ziemlich fern,
denn die Impfquote fällt mit rund
80 Prozent der Erwachsenen weiterhin
zu gering aus. Weniger als die
Hälfte von ihnen ist geboostert.
»Wenn wir das Virus jetzt durchlaufen
lassen, werden wir viele Tote
haben und volle Intensivstationen«,
mahnte der Virologe Christian Drosten
kürzlich in einem Interview.
Drosten bescheinigt Omikron
»enorme Infektiosität«. Möglicherweise
werde die Variante aber für
einen milderen Krankheitsverlauf als
der noch vorherrschende Delta-
Stamm sorgen. Omikron habe das
Zeug, zum ersten »postpandemischen
Virus« zu werden.
Auch Zeeb ist beeindruckt von der
Ansteckungsfähigkeit des Erregers.
Dieser sei damit hoffentlich am Ende
seiner genetischen Raffinessen angelangt,
»vermutlich ist da nicht sehr
viel mehr möglich«, sagt er. Zeeb ist
»vorsichtig optimistisch«, dass die
Deutschen »halbwegs ordentlich«
durch die nächste Welle kommen.
Somit zeichnet sich ein Szenario
ab, das allerdings noch mit vielen Ungewissheiten
behaftet ist. Omikron
könnte die Impflücken in Deutschland
ausnutzen und, wegen des nach
und nach abnehmenden Impfschutzes,
sehr rasch noch sehr viele Menschen,
auch mehrfach geimpfte, infizieren.
Und für Skeptiker könnte
dieses Virus zum Vollstrecker der
Immunisierung werden; der Preis
dafür wären allerdings zahlreiche
Todesfälle.
Zwei weitere Infektionswellen –
eine jetzt, eine im kommenden Winter
– erwartet Drosten für England,
wo die Bevölkerung nach Impfung
oder durchlittener Infektion bereits
eine höhere Grundimmunität hat. In
Deutschland stehen womöglich weitere
Wellen an, wenn die Diskussion
um die Impfpflicht ergebnislos bleiben
sollte. Zudem kann es passieren,
dass weitere bislang unbekannte
Fluchtmutanten auftauchen.
Vakzinehersteller, so glaubt Zeeb,
werden weiter unter hohem Lieferdruck
stehen. »Ich gehe derzeit schon
von wiederholten Impfungen aus«,
sagt er, und das könne für längere
Zeit so bleiben. Eine Auffrischungsdosis
gegen Covid, das erwarten viele
Fachleute, könnte künftig Bestandteil
der jährlichen Grippeschutzimpfung
werden.
Niemand sollte sich Hoffnungen
machen, dass Sars-CoV-2 je wieder
verschwinden wird – so wie sein Vorgänger
Sars-CoV, der 2002 und 2003
weltweit rund 800 Menschen tötete.
Dieses Virus wirkte auf seine Opfer
derart tödlich, dass es in einer alarmierten
Bevölkerung bald keine weiteren
Wirte mehr finden konnte.
Sars-CoV-2 hat da ganz andere
Möglichkeiten. Infizierte entwickeln
zunächst keine Symptome, also tragen
sie das Virus unwissentlich weiter.
Überdies hat es sich auch im Tierreich
Verstecke geschaffen, von wo aus es
der Menschheit in immer neuer Form
wird auflauern können. Der Erreger
wurde nachgewiesen in Hunden,
Hauskatzen, in Primaten, Hirschen,
Tigern, Löwen und noch einigen Tierarten
mehr.
Deshalb haben viele Zoos jetzt
angefangen, ihre Tiere zu impfen.
Marco Evers
n
114 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
SPIEGEL GESCHICHTE
Leseprobe
Wer Troja wirklich fand
Die Heldenstadt aus der griechischen Mythologie fasziniert die
Menschen seit Urzeiten. Der deutsche Hobbyarchäologe
Heinrich Schliemann behauptete 1873, er habe sie entdeckt.
Doch das war bestenfalls die halbe Wahrheit.
Am Freitag, dem 14. August 1868, verpasste Heinrich Schliemann
die Fähre, die ihn von Çanakkale zurück nach Konstantinopel
bringen sollte. Äußerst ärgerlich für ihn, auch wenn es passte: Sein
ganzer Trip in die Troas war bis zu diesem Zeitpunkt wenig erfolgreich
verlaufen. Vergebens hatte er auf dem Hügel Balli Dağ bei
Bunarbaschi gegraben, an dem Ort also, wo nach seiner Überzeugung
die Ruinen von Troja ihrer Entdeckung harrten. Doch nach
zwei Tagen, in denen er noch nicht einmal Tonscherben fand, sah
er ein: »Die Stadt war niemals an dieser Stelle.«
Frustriert suchte er Unterkunft in einem örtlichen Hotel, in dem
er am Folgetag zumindest auf einen anregenden Gesprächspartner
traf: Frank Calvert (1828 bis 1908) war nicht nur britischer Konsularbeamter,
sondern – wie Schliemann – auch ein leidenschaftlicher
archäologischer Autodidakt. Und wie Schliemann war auch
Calvert von der Suche nach Troja besessen.
Mit einem Unterschied: Calvert glaubte, die mythische Stadt
bereits gefunden zu haben. Er war sogar derart überzeugt davon,
dass er einen Teil des vermeintlichen Fundortes angekauft und
dort ab 1863 bereits gegraben hatte – er hatte dabei sogar Vielversprechendes
gefunden.
Auf diesem Hügel namens Hisarlık Tepe, auf dem Schliemann
nur Tage zuvor gestanden hatte, ohne ihn sonderlich bemerkenswert
zu finden, hatte Calvert Relikte gefunden, die er für so beweiskräftig
hielt, dass er das British Museum um Förderung der Grabung
bat – vergebens. Auch die Veröffentlichung seiner Grabungsergebnisse
1865 im Kreise des Royal Archaeological Institute in
London blieb ohne große Beachtung.
Schliemann hingegen hörte ihm zu. »Gestern«, schrieb er am
Folgetag in sein Tagebuch, »machte ich die Bekanntschaft des
berühmten Archäologen Frank Calvert, der annimmt, wie auch ich,
daß sich das homerische Troia nirgends anders als in Hessarlik
befand.« Damit begann eine lange, problematische Beziehung, an
deren Ende der eine als Ausgräber des mythischen Troja gefeiert
werden sollte – und der andere als eigentlicher Entdecker fast
vergessen wurde. Schliemanns Name wurde weltberühmt. Wer
Frank Calvert war, muss man heute erklären.
Neues aus der SPIEGEL-Welt: Was die Forschung heute über Schliemann und seinen
spektakulären Troja-Fund weiß, erklärt die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE.
Weitere Themen im Heft
• Heldenalltag: Das Leben in der späten
Bronzezeit
• Kriegslist: War das Trojanische Pferd ein Schiff?
• Beutekunst: Wie der Schatz des Priamos
nach Moskau kam
SPIEGEL GESCHICHTE erscheint sechsmal im Jahr, fächert
jeweils ein historisches Thema anschaulich und analytisch
auf – und liefert immer auch Erkenntnisse für die Gegenwart.
ERHÄLTLICH IM ABONNEMENT (ABO.SPIEGEL-GESCHICHTE.DE),
IM ZEITSCHRIFTENHANDEL UND UNTER AMAZON.DE/SPIEGEL.
148 SEITEN; 9,90 EURO.
WISSEN
Konventionelle und »grüne« Stahlproduktion
CO 2
Eisenerz
Koks
Bisher verarbeiten
Hochöfen Eisenerz zu
Roheisen weiter, indem
sie Koks verwenden.
Dabei entsteht CO 2 .
Der im Koks enthaltene
Kohlenstoff entzieht dem
Eisenerz Sauerstoff, es
bildet sich Roheisen
(Reduktion).
Roheisen
Sauerstoff
CO 2
Konverter
Stahl
Diesem wird im
Konverter Sauerstoff
hinzugefügt, dadurch
wird CO 2 abgegeben.
Stahl entsteht.
Rupert Oberhäuser / IMAGO
Eisenerz, klimafreundlich aufbereitet
H 2 0
Bei »grünem« Stahl wird
in Direktreduktionsanlagen
Wasserstoff zur
Reduktion von Erz verwendet.
Lediglich
Wasser wird emittiert.
grüner
Wasserstoff
Dabei entsteht Eisenschwamm
– er wird, je
nach Verfahren, in einem
Elektro-Einschmelzer
Eisenschwamm
zu Roheisen oder Stahl.
Stahl
Elektro-
Einschmelzer
S ◆Grafik
Ein Nugget aus der Zukunft
INDUSTRIETECHNIK Die Stahlproduktion stößt viel mehr CO 2 aus als der weltweite Autoverkehr. Forscher arbeiten
an Plasmareaktoren, die etwa mit grünem Wasserstoff die schmutzigen Hochöfen ersetzen sollen.
W
enn die Plasmazündung im
Labor von Dierk Raabe einsetzt,
erstrahlt das Innere
seines kleinen Reaktors in einem sanften,
grüngelben Licht. Über ein Sichtfenster
beobachten der Materialforscher
und sein Team, wie sich in der
Kammer der Tausende Grad Celsius
heiße Lichtbogen, ähnlich dem eines
Schweißgeräts, entwickelt. Hier drinnen
erzeugen die Forscher Wasserstoffplasma
– und damit womöglich
den Stahl der Zukunft. Das heiße Teilchengemisch
schmilzt Erz und reduziert
es zu ganz besonderem Eisen.
Zuvor haben die Forscher einige
Hundert Gramm rotes, krümeliges
Hämatit, bekannt als Blutstein, in die
Brennkammer gegeben. Solches Erz
wird auch in den klassischen Hochöfen
eingesetzt. Aber in Raabes Labor
arbeitet ein Lichtbogenofen: Die
Metallurgen verschließen ihn, leiten
Argon und Wasserstoff hinein – dann
wird gezündet.
Bei rund 1600 Grad Celsius wandelt
sich das Hämatit zu immer feineren
Metallklümpchen. Raabe hütet
das Endprodukt, einen glänzenden
Eisen-Nugget, wie einen Schatz. »Das
ist kohlenstofffreies Eisen, das direkt
zu Stahl weiterverarbeitet werden
kann. Sein CO 2-Fußabdruck liegt bei
null«, sagt der Leiter des Max-Planck-
Instituts für Eisenforschung in Düsseldorf.
Nur ein paar Wissenschaftsteams
weltweit stellen auf ähnliche
Weise Eisen her.
Noch tüfteln die Forscher nur in
experimentellem Maßstab. Doch das
könnte sich schnell ändern. Stahl gilt
bis heute als Inbegriff des Industriestandorts
Deutschland. Kaum ein Gebäude
wäre ohne die Eisen-Kohlen-
Thyssenkrupp-
Arbeiter bei
Roheisen abstich:
Technik wie
vor 3000 Jahren
stoff-Legierung möglich, auch in der
Autoindustrie, dem in Deutschland
zweitgrößten Abnehmer, geht nichts
ohne den Werkstoff. 2020 wurden
hierzulande rund 36 Millionen Tonnen
Rohstahl produziert, 371 Kilogramm
pro Kopf und Jahr verbraucht.
Allerdings werden bei der Stahlherstellung
enorme Mengen des klimaschädlichen
Treibhausgases Kohlendioxid
freigesetzt. Volle elf Prozent
des weltweiten CO 2-Ausstoßes gehen
auf das Konto der Stahlproduktion,
viel mehr, als durch Luftfahrt oder
Autoverkehr entsteht. Allein Thyssenkrupp,
Deutschlands größter Produzent,
ist für rund fünf Prozent der
deutschen Kohlendioxidemissionen
verantwortlich und damit einer der
größten Einzelemittenten des Landes.
Ein Teil des Problems entsteht bereits
bei der Aufbereitung des Erzes
116 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
durch die sogenannte Sinterung. Dabei werden
die gemahlenen Rohstoffe zu kleinen
Kügelchen zusammengebacken. Doch der
Großteil des CO 2 wird direkt bei der Herstellung
im Hochofen freigesetzt. Eisen kommt
in der Natur meist nur in oxidierter Form vor,
mit Sauerstoff verbunden. Um Eisenerzen
den Sauerstoff zu entziehen, braucht es ein
sogenanntes Reduktionsmittel. Bislang ist das
überwiegend Kohlenstoff. In einem mehrstufigen
Prozess verbindet sich der Sauerstoff
aus dem Erz mit dem Kohlenstoff im Hochofen
zu CO 2 – und entweicht dann in die
Atmosphäre.
Dieser Prozess hat sich im Grunde seit der
Zeit der alten Hethiter, die vor mehr als
3000 Jahren wohl erstmals Metalle herstellten,
die dem heutigen Stahl ähneln, kaum
verändert. Damals nutzte man einfache Kohleöfen,
heute meist gigantische Hochöfen.
Und statt Holzkohle setzt die Industrie auf
weniger ruß- und schwefelhaltigen Koks –
allerdings wird schon bei der Produktion dieser
festen Klumpen Kohlendioxid freigesetzt.
Zusammen mit den Prozessen im Stahlwerk
entweichen am Ende je nach Schätzung pro
produzierter Tonne Stahl rund 1,8 Tonnen
Kohlendioxid in die Luft.
Den Herstellern ist das Problem bewusst.
Sie müssen angesichts verschärfter Klimavorgaben,
teurer CO 2-Zertifikate und gestiegener
Nachfrage nach klimafreundlichem Stahl ihr
Geschäft neu erfinden.
Nur ein paar Kilometer von Raabes Labor
betreibt Thyssenkrupp direkt am Rhein den
größten Standort Europas. Echte Ruhrpott-
Industrie-Stahlproduktion: von der Erzanlieferung
über die Koksherstellung, vom Hochofen
zum Stahlwerk, dann zum Walzwerk bis
hin zu fertigen, dünnen Blechen. Ein Teil
dieser Kette wird verschwinden.
Bis zum Jahr 2045 sollen die vier Hochöfen
erlöschen, dann will das Unternehmen klimaneutral
wirtschaften. »Dafür setzen wir auf
Direktreduktionsanlagen«, sagt Matthias
Weinberg, Leiter des Kompetenzcenters Metallurgie
bei Thyssenkrupp. Statt Koks wird
dabei Wasserstoff eingesetzt, denn der kann
den Sauerstoff aus Eisenerz binden – statt
Kohlendioxid entsteht dabei Wasserdampf.
Die erste Anlage soll 2024 fertiggestellt werden,
2030 die zweite. Dann, verspricht das
Unternehmen, wird der Kohlendioxidausstoß
um 30 Prozent niedriger sein als 2018.
Im neuen Prozess entsteht bei rund
1000 Grad aber kein glühendes Flüssigmetall,
sondern sogenannter Eisenschwamm. Weinberg
zeigt auf ein Glas mit grauen Kügelchen
auf seinem Schreibtisch. Würde man sie aufschneiden,
käme ihre poröse Struktur zum
Vorschein. Für grünen Stahl wird dieser Eisenschwamm
in einem Elektro-Ofen eingeschmolzen.
Dann geht es zurück in die konventionelle
Produktionskette.
Noch sind allerdings manche Fragen offen.
Etwa wo die Unmengen an grünem Wasserstoff
herkommen sollen, die für die Prozesse
benötigt werden. Seine Herstellung ist enorm
Saudi-Arabien soll Wasserstoff
für saubere Produktion
bei Thyssenkrupp liefern.
WISSEN
energieaufwendig, und nur, wenn dafür Strom
aus Wind- oder Solarenergie eingesetzt wird,
ist der Wunderstoff tatsächlich klimaneutral.
Thyssenkrupp selbst will nicht im großen
Stil zum Wasserstoffproduzenten werden. Gerade
hat der Konzern deswegen eine Kooperation
mit einem Projekt in Saudi-Arabien
bekannt gegeben, bei dem Wasserstoff über
Solarstrom erzeugt und dann nach Deutschland
gebracht werden soll. In der Übergangszeit
wird man in Duisburg die Direktreduktionsanlagen
wohl mit Erdgas speisen. Das Gas
lässt sich in ein Gemisch aus Wasserstoff und
Kohlenmonoxid umwandeln. Klimafreundlich
ist das nicht. Viele Stahlunternehmen gehen
ähnliche Wege und planen Investitionen in
Milliardenhöhe. Bei der Salzgitter AG sollen
ab 2022 so täglich 2,5 Tonnen Stahl produziert
werden, ein geringer Anteil an den rund 6 Millionen
Tonnen erzeugtem Rohstahl jährlich.
In Nordschweden läuft bereits eine Pilotanlage,
die wasserstoffreduzierten Eisenschwamm
herstellt. Das Projekt in Luleå, an
dem neben dem schwedischen Stahlkonzern
SSAB unter anderem auch der Energiekonzern
Vattenfall beteiligt ist, will jeden Schritt der
Stahlherstellung dekarbonisieren. Auch grünen
Wasserstoff will man in der Region produzieren.
Den Ökostrom für die dazu nötige
Elektrolyse sollen Windräder liefern. Im Sommer
meldeten die Schweden die ersten 100
Tonnen Öko-Eisenschwamm. 2026 will der
Konzern als erstes Industrieunternehmen weltweit
CO 2-freien Stahl auf den Markt bringen
und die Prozesse bis dahin weiter optimieren.
Allerdings hat das seinen Preis: »Wir gehen
davon aus, dass ein Auto um einen niedrigen
dreistelligen Eurobetrag teurer werden würde,
wenn der Stahl aus Direktreduktionsanlagen
stammt, die mit grünem Wasserstoff
arbeiten«, sagt auch Matthias Weinberg.
Die Direktreduktion ist zudem weniger
innovativ, als es scheint. Ähnliche Anlagen
machen schon seit Jahren rund fünf Prozent
der weltweiten Produktion aus. Auch elektrische
Lichtbogenöfen, die immens viel
Strom verbrauchen, werden schon verwendet,
etwa zum Einschmelzen von Stahlschrott.
Doch es geht auch anders. In Österreich
ist die Voestalpine, ein kleinerer Stahlproduzent,
an einem radikalen Projekt beteiligt. Es
lässt ahnen, wie die Anlage der Düsseldorfer
Forscher einmal aussehen könnte. In Donawitz
in der Steiermark steht ein mehr als zehn
Meter hoher Turm, in dessen Reaktorkammer
Eisenerz ebenfalls mit Wasserstoffplasma reduziert
wird. Allerdings zündet die Anlage
den Plasmastrahl mit einer Grafitelektrode.
Dabei entsteht zwar, anders im Labor von
Dierck Raabe, auch etwas CO 2. Die Grafitelektrode
hat dafür einen enormen Vorteil:
»In einem einzigen Prozessschritt wird im
Wasserstoffplasma, das an der Elektrodenspitze
brennt, Eisenerz direkt zu Stahl umgewandelt.
Ein elektrischer Einschmelzer in
Kombination mit Direktreduktion wird nicht
mehr benötigt«, sagt Johannes Schenk von
der Montanuniversität Leoben, einer der Projektleiter.
Das Verfahren habe ein enormes
Potenzial für eine komplett neue Verfahrensroute.
Der Rohstahl kann direkt durch Beimischung
von beispielsweise Chrom, Nickel
oder Mangan zu einer der rund 3500 Stahlsorten
veredelt werden.
Pro Charge benötigt ihr Plasmastahlwerk
30 Minuten – übrig bleiben neben rund
50 Kilo gramm Stahl ungefähr 40 Liter Wasser.
Bisher haben die Forscher nur einige Hundert
Kilogramm Eisenerz mit dem Verfahren verarbeitet.
»Noch zerschneiden wir die Stahlproben
nach den Versuchen für weitere Analysen
und Untersuchungen«, sagt Schenk. Er
schätzt, dass das Verfahren in 10 bis 15 Jahren
in industriellem Maßstab einsetzbar sein kann.
Andere Wissenschaftler verfolgen die Idee
einer Stahlindustrie, die ganz ohne heiße
Öfen auskommt. Sie setzen dabei auf die
Elektrolyse, angetrieben durch grünen Strom.
Daran wird beispielsweise an einer Pilotanlage
bei Metz in Frankreich geforscht. Dort
siedeln sich die Eisenatome an der Kathode
an, während an der Anode Sauerstoffbläschen
aufsteigen. Anschließend kann aus dem Eisen
Stahl hergestellt werden. Der Prozess soll dank
verhältnismäßig niedriger Temperaturen weniger
Energie als die konventionelle Stahlindustrie
verbrauchen, die CO 2-Emissionen
würden um 87 Prozent reduziert, heißt es.
Auch Boston Metal, ein US-Start-up, das
vom Massachusetts Institute of Technology
aus gegründet wurde, verfolgt ein ähnliches
Konzept, setzt aber auf hohe Temperaturen.
Ob solche Verfahren in der Lage sein werden,
den steigenden Stahlbedarf zu decken, darf
derzeit eher bezweifelt werden. Bis sie marktreif
sind, wird es ohnehin dauern.
Zeit braucht auch Raabes Wasserstoffplasma
reaktor noch. Für die erste Generation
der neuen Industrieanlagen kommt er wohl
zu spät. Der Wissenschaftler sucht derzeit
nach den idealen Bedingungen, unter denen
der Wasserstoff tief in das Erz eindringen
kann und das Eisenoxid schnell und so effizient
wie möglich reagiert.
Raabe will seinen Reaktor etwa auch mit
Rotschlamm füttern können, giftigem Abfall
aus der Aluminiumproduktion, der aber immer
noch einen guten Anteil Eisenoxid enthält.
Das Material wird oft in Deponien unter
freiem Himmel gelagert. Gelänge es, den Rotschlamm
für die Stahlproduktion zu verwenden,
könnte man zusätzlich ein Umweltproblem
lösen.
Für das kohlenstofffreie Eisen aus seinem
Reaktor hat er schon eine sehr sinnvolle Verwendung.
Zu Weihnachten wollte er seiner
Frau daraus Ohrringe anfertigen lassen.
Jörg Römer
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
117
Kultur
Die Geschichten hinter den Geschichten –
der besondere Rückblick
Die Akte Mockridge
NR. 39/2021 »Du bist ziemlich durchgedreht gestern« – Im September berichteten Ann-Katrin Müller und Laura
Backes über Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen Comedian Luke Mockridge. Neben seiner Ex-Freundin
Ines Anioli, die ihn der Vergewaltigung beschuldigte, sprachen mehr als zehn Frauen von Grenzüberschreitungen.
E
s war eine der am härtesten geführten
Social-Media-Debatten des Jahres:
Rund um Anioli und Mockridge hatten
sich im Netz Teams gebildet, die sich gegenseitig
mit schlimmen Vorwürfen überhäuften,
ohne überhaupt zu wissen, um was es
konkret ging. Wir recherchierten also, um
herauszufinden, was dahintersteckte, lasen
die Ermittlungsakten, fanden eine Ex-Freundin
von Mockridge, die eidesstattlich versicherte,
sie habe eine ähnlich toxische Beziehung
erlebt wie Anioli. Und wir sprachen
mit mehr als zehn Frauen, die sagten, Mockridge
sei bei ihnen übergriffig gewesen.
Die Veröffentlichung löste ein großes
Echo aus, Moderator Klaas Heufer-Umlauf
äußerte sich dazu, beim Deutschen Comedypreis
forderte die Schauspielerin Maren
Kroymann einen anderen Umgang mit
dem Fall, Comedian Hazel Brugger und ihr
Mann Thomas Spitzer trugen dort T-Shirts
mit dem Aufdruck »Konsequenzen für Comedian
XY«. Da berichteten auch die Boulevardmedien
breit. Gleichzeitig gab es viel
Kritik, es war von einem Pranger die Rede
und von der Unschuldsvermutung, wobei
die natürlich auch für Anioli gelten müsste.
Die Komiker Oliver Pocher und Tom Gerhardt
stellten sich an die Seite von Mockridge,
andere, die sich zuvor solidarisch mit
ihm gezeigt hatten, löschten ihre Kommentare
bei Instagram. Wir bekamen Hassnachrichten.
Medien schrieben, teilweise stark
verzerrend und fehlerhaft, über unsere Berichterstattung,
hinterfragten, ob man bei
dem Thema Verdachtsberichterstattung
machen dürfe. Und Mockridge klagte. Das
Landgericht Köln sah unsere Berichterstattung
grundsätzlich als zulässig an, gab ihm
nur in einem Punkt recht, wir mussten vier
Sätze vorläufig streichen. Mockridges Anwalt
zog dann mit den anderen Punkten vor
das gleichrangige Landgericht Hamburg,
das den Fall annahm und eine längere Passage
zu den Vorwürfen Aniolis untersagte.
Dagegen gehen wir vor, inhaltlich und formell,
notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht.
Unserer Meinung nach dürfte es
nicht sein, dass man von Gericht zu Gericht
ziehen kann, bis man eines findet, das
einem mehr zuspricht.
118 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL
Stadtschloss mit
Kloverbot
SPIEGEL.DE VOM 18. MAI
»Mitarbeiter beklagen Demütigung
und Überwachung« –
Elisa von Hof und Ulrike Knöfel
berichten über das Betriebsklima
im Humboldt Forum, wenige
Wochen vor der Öffnung
fürs Publikum.
Lange vor der Einweihung
war das Humboldt Forum im
neuen Stadtschloss in Verruf geraten,
vor allem wegen des Planes,
koloniale Raubkunst auszustellen.
Kurz vor der Öffnung
fürs Publikum kam ein weiterer
Skandal hinzu. So enthüllten der
SPIEGEL und das ZDF-Politmagazin
»Frontal 21« nach gemeinsamen
Recherchen im Mai
2021, dass sich viele Mitarbeiter
des Besucherservice schikaniert
fühlten. Sie berichteten sogar
von dem Verbot, während der
Arbeitszeit die Toilette aufzusuchen.
Die Verantwortlichen
dementierten etliche Vorwürfe
und gaben trotz filmischer Beweise
auch nur teilweise und
vage zu, dass Führungskräfte
gegen Regeln zum Schutz vor
Kein Ort für Kritik
Corona verstoßen hätten. Nicht
dementieren ließ sich eine
schwarze Liste, die beiden Redaktionen
vorlag. Ihr zufolge
galten Mitarbeiter als problematisch,
wenn sie sich angeblich
einen Betriebsrat wünschten,
»sozial eingestellt« waren oder
Rassismus beanstandeten. Ebenso
wurde vermerkt, ob jemand
eine Psychotherapie in Anspruch
nahm. Auffällig vielen wurde
gekündigt, oder sie kündigten
von sich aus. Zwar kritisierte
dann sogar die damalige und für
das Forum mitverantwortliche
Regierung die Zustände, nur
blieb das ziemlich folgenlos. Die
Geschäftsführerin der zuständigen
Tochtergesellschaft wurde
freigestellt – doch ihre zweite
Tätigkeit bei der übergeordneten
Stiftung Humboldt Forum blieb
unberührt. Außerdem gab es
weitere Kündigungen, ebenso
neue Vorwürfe von Mitarbeitern,
darunter der einer körperlichen
Einschüchterung durch
Führungskräfte. Das Humboldt
Forum bestätigte »einen Vorgang«,
beschuldigte aber die beschäftigte
Person. Was für ein
Heuchel-Forum.
NR. 18/2021 »Toxische Herrschaft«
– Im April berichtete
Elisa von Hof über ein Klima
der Angst am Berliner Maxim
Gorki Theater. Mitarbeitende
schil derten Machtmissbrauch,
verbale Gewalt und Übergriffigkeit
durch die Intendantin
Shermin Langhoff.
Versuche, sich dagegen zu
wehren, seien gescheitert, hieß
es. Viele verließen das Haus.
Obwohl der Berliner Senat von
den Beschwerden der Mitarbeitenden
wusste und ein Mediationsverfahren
in Gang setzte,
das scheiterte, verlängerte Kultursenator
Klaus Lederer den
Vertrag der Intendantin bis
2026. Auf Nachfrage teilte die
Senatsverwaltung mit, zur Kommentierung
der Vorgänge Zeit
zu benötigen. Man versprach,
unaufgefordert auf den SPIEGEL
zuzukommen. Nach der Berichterstattung
veröffentlichte das
Theater ein Statement, in dem
es sich selbst lobte. Dort hieß es:
»Wenn Mitarbeiter*innen verbal
angegriffen, nicht wahrgenommen
und enttäuscht wurden,
nehmen wir das ernst.«
Wer Mitarbeitende heute fragt,
hört das Gegenteil. »Es wurde
nie akzeptiert, dass wir Angst
haben. Und es wurde nie für
realistisch befunden, dass Menschen
deshalb das Haus verlassen«,
berichtet eine am Haus
beschäftigte Person. Wer Kritik
übe, fürchte weiterhin, entlassen
zu werden. Vor wenigen Wochen
wurde die Apologie am
sichtbarsten Ort eines Theaters
ausgestellt, auf der Bühne. Dort
feierte ein Musical von Yael
Ronen Premiere. In »Slippery
Slope« geht es unter anderem
um Enthüllungsjournalistinnen,
die überall Machtmissbrauch
wittern und mutmaßlichen Opfern
Vorwürfe in den Mund
legen: »Missbrauch und Manipulation,
Gewalt in jeder Form,
Wutanfälle und schlechte Kommunikation,
Einschüchterung,
Lügen«, singt ein Chor dem narzisstischen,
liebenswürdig-naiven
Beklagten vor. Man will ihm
den Kopf tätscheln und die gemeinen
Journalistinnen in die
Anzeigenabteilung versetzen.
Der Senat hat sich bisher übrigens
nicht gemeldet.
Wolfgang Maria Weber / TV Yesterday
Was macht einen
Juden zum Juden?
NR. 47/2021 »Maxim Biller
und ich sind uns so ähnlich
wie ein Nackensteak und eine
Fleischtomate« – Im SPIEGEL-
Gespräch mit Tobias Becker
wehrte sich der Publizist Max
Czollek gegen den Vorwurf,
seine Familiengeschichte gefälscht
zu haben.
Man könnte es als gute Nachricht
lesen: Jude zu sein und als
Jude zu sprechen, das war in
Deutschland 2021 so begehrt,
dass es zum Gegenstand eines
Streits werden konnte. Mehr
Anerkennung geht nicht. Der
Schriftsteller Maxim Biller hatte
Czollek vorgeworfen, er sei nur
ein »Faschings- und Meinungsjude«,
weil seine Mutter keine
Jüdin sei. Es entspann sich eine
Feuilletondebatte, in der Diskutanten
mit heiligem Ernst übereinander
herfielen, oft auch die
Frage diskutierend, wer über die
Frage diskutieren darf: nur Juden
oder auch Nichtjuden? Keine
leichte Ausgangslage, fand
ich, ein katholischer Deutscher,
und machte meine Un sicherheit
zu einem Gegenstand des Interviews.
Das Ziel: erst mal zuhören,
nicht verhören. Im Gespräch
entwickelte sich eine Idee
davon, was meine Unsicherheit
und die allzu große Sicherheit
manch anderer Diskutanten
Mustafah Abdulaziz / DER SPIEGEL
Czollek
über die Lage des Judentums in
Deutschland erzählen. Die Reaktionen
darauf erzählten vor
allem viel über Debatten. Ein
Journalist der Tageszeitung »Die
Welt« warf mir Unterwürfigkeit
vor und Czollek eine neue Lüge.
Aus der auch schon nicht ganz
uneitlen Ausgangsfrage der Debatte,
wer warum für wen sprechen
darf, wurde die Frage, wer
wen wann kontaktiert hat. Aus
dem Judentheater, das Czollek
beklagt hatte, ein Journalistentheater.
Schließlich räumte Czollek
ein, sich in einer Antwort
ungenau ausgedrückt zu haben.
Und so ist am Ende einer komplizierten
Debatte fast nichts
klar, bis auf dies: Der Vorwurf
der Lüge, des Betrugs, der Fälschung
geht zu vielen zu locker
von der Hand. In einem großen
Konflikt kann es klug sein, kleinere
Wörter zu nutzen.
Superhelden als
Kinoretter
NR. 17/2021 »Filmriss« – Lars-
Olav Beier berichtet über die
pandemiebedingten Umwälzungen
im Filmgeschäft, über die
Krise des Kinos und den Siegeszug
der Streamingdienste.
Als wir im Frühjahr mit
Brancheninsidern über die Zukunft
des Kinos sprachen, war
die Stimmung schlecht. Angesichts
von knapp 70 Prozent
Umsatzeinbußen im Jahr 2020
hatten einige Filmtheater für
immer schließen müssen. Es
könnte sein, dass die Zuschauer
nach der Pandemie nur noch
aus »Sentimentalität« ins Kino
gehen würden, meinte Stefan
Arndt von der Berliner Firma
X-Filme sarkastisch. Acht Monate
später sind die Zahlen besser
als im Vorjahr, aber weit
unter den Werten vor Corona.
Der Bond-Film »Keine Zeit zu
sterben« lief erfolgreich, das
Superheldenspektakel »Spider-
Man: No Way Home« brachte
bereits mehr als eine Milliarde
Dollar ein und liegt bisher über
den Erwartungen. Doch die
Krise sei noch lange nicht vorbei,
sagt Martin Moszkowicz
von der Münchener Constantin.
Die Branche lebe »von der
Substanz und der Hoffnung auf
das Publikum«.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
119
KULTUR
Autorin Yanagihara in ihrem Apartment: Ein Orgasmus auf dem Cover
Natalie Keyssar
120 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
KULTUR
Das wahre Paradies
LITERATURSTARS Mit »Ein wenig Leben« gelang Hanya Yanagihara aus dem Nichts
ein Weltbestseller über Freundschaft, Scham und Verrat. Ihr neuer Roman
saugt wie ein Schwamm die Strömungen der Gegenwart auf. Von Claudia Voigt
E
ine Woche vor dem Treffen mit der
Schriftstellerin Hanya Yanagihara in
ihrer Wohnung in Soho, Manhattan,
schickt die Agentin per Mail noch einige Informationen:
die Adresse, wie der Fahrstuhl
funktioniert, und als letzter Satz steht dort:
»No shoes in the apartment.« Die Schuhe
ausziehen? Verbirgt sich hinter dieser Aufforderung
– von der eigenen Agentin verschickt
– die Starattitüde einer amerikanischen
Schriftstellerin?
Seit Yanagihara vor sechs Jahren den Roman
»Ein wenig Leben« veröffentlichte, ist
sie ein Star, auch wenn dieses Wort im Literaturbetrieb
skeptisch betrachtet wird. In
Deutschland erschien ihr 1000-Seiten-Werk
2017, auf dem Cover ist das Gesicht eines
Mannes zu sehen, der zu schreien scheint;
tatsächlich wurde er beim Orgasmus fotografiert.
Das Bild war gut gewählt, es hat sich
fast noch stärker eingeprägt als die Geschichte
von vier New Yorker Freunden, die Yanagihara
in »Ein wenig Leben« erzählt, einer
von ihnen hat schlimmste Missbrauchserfahrungen
machen müssen. »Ach, das Buch!«,
so reagieren die meisten Leserinnen und Leser,
wenn das Gespräch darauf kommt. Es
verkaufte sich weltweit zweieinhalb Millionen
Mal. Erst nach diesem Erfolg wurde Yanagiharas
Debüt »Das Volk der Bäume« ins
Deutsche übersetzt.
Anfang Januar nun erscheint ihr dritter
Roman »Zum Paradies«, er kommt in den
USA und Europa zeitgleich in die Buchläden,
was ein Indiz für den Wirbel ist, der um die
Autorin veranstaltet wird. »Zum Paradies«
ist wieder fast 1000 Seiten lang geworden,
doch der Roman unterscheidet sich in vielerlei
Weise von dem Buch zuvor. Es geht zum
Beispiel nicht um Missbrauch, so viel sei
schon mal verraten.
Yanagiharas Wohnung liegt in einer der
sechs, sieben Straßen, die dem New Yorker
Stadtteil Soho seinen legendären Ruf einbrachten:
gusseiserne Fassaden, große Fensterflächen.
Doch die Pandemie hat selbst in
diesem teuren Viertel Spuren hinterlassen,
zwischen den Boutiquen namhafter Labels gibt
es einigen Leerstand. Zwar warten vormittags
um elf vor dem Chanel-Laden ein paar Leute
Hanya Yanagihara: »Zum Paradies«. Aus dem Englischen
von Stephan Kleiner. Claassen; 896 Seiten; 30 Euro.
in einer Schlange, aber das Feinkostgeschäft
Dean & DeLuca, das so vielen Filmen und
Serien als Kulisse diente, gibt es nicht mehr.
»Was ist Ihr Eindruck von New York?«,
fragt Yanagihara. Ja, Covid habe der Stadt
zugesetzt, aber seit sie 1995 herkam, gehöre
das Gerede dazu, wie viel aufregender New
York früher gewesen sei. »Es ist schwerer geworden,
in der Stadt ein Mittelschichtsleben
zu führen. Aber irgendwie hält die Romantik
an, selbst jetzt kommen junge Leute, die sich
einen Namen machen wollen.«
Der enge Fahrstuhl war scheppernd in den
ersten Stock gefahren, an der Wohnungstür
wurden die Schuhe weisungsgemäß abgestreift.
Die Schriftstellerin selbst bewegt sich
sogar barfuß über den Dielenboden ihrer
Wohnung.
Es ist ein etwa 60 Quadratmeter großes
Zimmer, in dem sie lebt, es wird von einem
deckenhohen Bücherregal in zwei Räume
geteilt. Was sich dahinter befindet, ist nicht
einsehbar, zahlreiche Buchrücken verstellen
den Blick. An der Wand gegenüber vom Regal
hängen an die 40 Kunstwerke unterschiedlicher
Größe – Fotos, Zeichnungen,
Gemälde – eng gefügt vom Boden bis zur
Decke. In dem Raum zwischen der Bücherund
der Bilderwand befinden sich eine Küchenzeile
– ein Esstisch mit Stühlen, über
denen bunte Decken liegen – und eine Sitzecke,
zu der ein lederner Lounge Chair und
ein Sofa mit gemusterten Kissen gehören. Der
erste Eindruck: Farbigkeit und eine auffällige
Präsenz von Kultur und Schönheit.
Es zählt zu den Besonderheiten von Yanagiharas
Büchern, dass Stil und Geschmack
darin viel Raum einnehmen, über lange Abschnitte
werden die Lebenswelten der Protagonisten
ausgemalt. In »Ein wenig Leben«
zum Beispiel konnte der Selbstverletzungswahn
des Helden Jude noch so zerstörerisch
sein – es wurden auch die Badezimmerkacheln
beschrieben, auf denen er lag, während
er sich tiefe Schnitte zufügte. Man kann diesen
Leid und Schönheit sind
oft ins Melodramatische
übersteigert.
unbedingten Willen zum Ästhetizismus, der
sich auch in Yanagiharas neuem Roman »Zum
Paradies« zeigt, manieriert finden. Sie nennt
die Amerikanerin Edith Wharton als ein
Vorbild, die in den ersten Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts nach Europa zog, viel reiste
und einen illustren Freundeskreis pflegte.
Whartons Fähigkeit über visuelle Hinweise
zu erzählen, findet Yanagihara beispielhaft.
»Ich glaube, man kann den Leser die Stimmung
und die Werte jener Menschen, über
die man schreibt, über Dinge und Objekte
spüren lassen.«
Wenn man in Yanagiharas Wohnung sitzt,
kommt einem zudem der Gedanke, dass die
eigenen vier Wände eben auch jener Ort sind,
den man sich anders als den Rest der Welt
nach eigenem Geschmack erschaffen kann.
Er bietet Rückzug, Kontrolle, Schutz. Verstärkt
wird der Eindruck durch die heruntergezogenen
Rollos; draußen ist ein strahlender
Dezembertag, doch das Apartment liegt im
Halbdunkel. In der Küchenecke bereitet die
Schriftstellerin einen Lapsang-Souchong-Tee
zu. Dieser Tee wird in ihrem neuen Roman
in einer Schlüsselszene serviert und von
jemandem, der die Sorte nicht mag, als
»übermäßig rauchendes Holzfeuer in flüssiger
Form« beschrieben. Sie brüht die geräucherten
Blätter mit Kennerschaft auf und serviert
den Tee in hübschen Tonbechern – er
schmeckt würzig, aber nicht zu schwer. Mit
untergeschlagenen Beinen setzt sie sich dann
zwischen die vielen farbigen Kissen auf ihr
Sofa. Eine professionelle Ausstrahlung umgibt
sie: Das ist hier kein privates Treffen, ihr neuer
Roman soll das Thema sein.
»Zum Paradies« besteht aus drei Teilen,
deren Handlungen nichts miteinander zu
tun haben. Sie spielen im Abstand von etwa
100 Jahren im selben Haus am Washington
Square in New York, der Roman beginnt 1893,
und der erste Teil heißt auch so: »Washington
Square«.
Doch zuerst mal fällt auf, wie schwer dieses
Buch ist, wie groß und leuchtend Yanagiharas
Name auf dem schwarzen Cover steht.
Die selbstbewusste Geste, mit der die Amerikanerin
als Schriftstellerin auftritt, ist für
eine Autorin noch immer ungewöhnlich. Die
dicken Wälzer liefern ja meist Männer. Die
Überzeugung, sehr viel zu erzählen zu haben,
gehört ihnen fast immer noch exklusiv. Dass
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DER SPIEGEL
121
KULTUR
eine Schriftstellerin sich da einreiht,
ist erst mal bemerkenswert.
Yanagihara arbeitet tagsüber als
Chefredakteurin der »New York
Times«-Beilage »T«, eines Magazins,
dessen Themen Stil, Kultur und
Mode sind, und sie sagt, dass sie
am fiktionalen Erzählen das Ausschweifende
mag. »Als Schriftsteller
kann man machen, was man will.
Es ist eine viel zügellosere Tätigkeit,
es gibt keine Beschränkungen,
niemanden, der einem sagt, dass
man dieses oder jenes kürzen muss.
Man schreibt nur für sich selbst
und um das Ende der Geschichte zu
erreichen.«
Im Mittelpunkt des ersten Teils
steht David Bingham. Er lebt mit seinem
Großvater in einem weitläufigen
Haus am Washington Square, es gibt
Dienstmädchen und eine erlesene
Einrichtung, Seezunge und Teegebäck
werden serviert, man gehört
zur vermögenden Schicht. Doch
schnell schleicht sich eine Irritation
ein: Davids Schwester ist mit einer
Frau verheiratet, sein Bruder lebt mit
einem Mann zusammen, sie haben
Kinder adoptiert, und das alles wird
im Ton schönster Selbstverständlichkeit
erzählt.
Die Gleichberechtigung zwischen
Frauen und Männern ist schon weiter
fortgeschritten, als es heute in der
Realität der Fall ist. Wie das historisch
möglich gewesen sein könnte, interessiert
Yanagihara nicht sehr, vielmehr
reizt sie die literarische Versuchsanordnung.
Denn David Bingham
ist noch unverheiratet, und sein
Großvater, ein Bankier, möchte endlich
eine standesgemäße Partie für
den Mitte 20-Jährigen finden. Er
schlägt einen älteren, verwitweten
Botanischer Garten
auf Oahu Island:
»Jeden Tag auf
die Berge und den
Ozean schauen«
Ein Teil von
ihr liebt
Hawaii, ein
anderer
braucht die
Großstadt.
Mann vor, aber David verliebt sich
leidenschaftlich in einen Klavierlehrer.
Nun gibt es bereits einen Roman,
der »Washington Square« heißt, Henry
James hat ihn 1880 veröffentlicht,
und er erzählt von einer jungen Frau,
die einen verarmten Mann heiraten
will, weshalb ihr Vater mit Enterbung
droht. Die Parallele zu Henry James
hat Yanagihara gewählt, um die Verhältnisse
dann zu verschieben und zu
gucken, was sich daraus ergibt. Obwohl
David Bingham ein Mann ist
und in einer Gesellschaft lebt, die seine
Homosexualität akzeptiert, gilt
auch seine Liebe zum Klavierlehrer
als nicht standesgemäß. Doch am
Ende nimmt er sich eine Freiheit heraus,
die seinen weiblichen Pendants
in der Literaturgeschichte nicht möglich
war.
Der zweite Teil des Romans mit
dem Titel »Lipo-wao-nahele« spielt
im Jahr 1993, die Aids-Epidemie hat
in der New Yorker Schwulenszene
schon viele Tote gefordert, und in
dem Haus am Washington Square
lebt nun ein Rechtsanwalt namens
Charles mit seinem deutlich jüngeren
Partner David. Im Mittelpunkt dieses
Teils steht ein Abschiedsfest für einen
Freund von Charles, der todkrank
ist – Krebs, kein Aids – und bei einem
Abendessen seinen Freunden Lebewohl
sagen möchte.
David fühlt sich in der Gesellschaft
von Charles’ Upperclass-Freunden
nicht wohl. Er ist in dieser an Genuss
satten Welt mehr Beobachter seines
eigenen Lebens, als dass er darin eintauchen
würde. Er wurde auf Hawaii
geboren und scheint sich für seine
Herkunft zu schämen. Welches Geheimnis
sich dahinter verbirgt, erfährt
Robert Harding / INTERFOTO
der Leser in einem sehr langen Brief
von Davids Vater, in dem dieser seinem
Sohn erzählt, wie es dazu kam,
dass er ein Leben führt, ohne dieses
Leben jemals für sich gewählt zu
haben.
Der dritte Teil macht allein die
Hälfte des Romans aus und führt ins
Jahr 2093. Das Land, in dem New
York liegt, das aber nie als USA benannt
wird, ist politisch zerrüttet. Es
herrscht ein autoritäres Regime, und
im Haus am Washington Park lebt der
Wissenschaftler Charles Griffith mit
seiner Enkelin Charlie. Dieser Teil
wird als Briefroman erzählt, in Form
von Mails, die der alternde Charles
an einen Freund schickt. Aus ihnen
geht hervor, welche Ereignisse zu dem
dystopischen Alltag geführt haben.
Tödliche Epidemien haben den Seuchenschutz
zum obersten Gebot
werden lassen, das Internet wurde
abgeschaltet, der Alltag ist streng
reglementiert, New York wurde in
Zonen eingeteilt, zwischen denen sich
die Bewohner nur mit Shuttles bewegen
können. Charles war beteiligt
an diesen Schritten, was er nachträglich
bereut.
So wie die ersten beiden Teile vor
Pracht und Überfluss glitzern,
herrscht im dritten Teil nun Mangel:
ein Mangel an Gefühlen, an Geselligkeit,
Gesprächen und Menschlichkeit.
Es gibt kein Grün mehr am Washington
Park, und zu den Mahlzeiten
kommen Pferdefleisch und Erbsen auf
den Tisch. Man kennt diese Erbarmungslosigkeit,
noch die hintersten
Winkel von Schmerz und Leid auszuleuchten,
schon aus ihrem Roman
»Ein wenig Leben«; diesmal breitet
Yanagihara ein gedämpftes Grauen
aus und erzählt in »Zone Acht«, wie
der dritte Teil heißt, von einem Leben,
dessen Sinn darauf reduziert ist,
weiterhin zu existieren.
Wer das Buch nach 896 Seiten aus
der Hand legt, hat den Eindruck, drei
Romane gelesen zu haben. Zwar steht
das Haus am Washington Square immer
im Mittelpunkt, aber es ist eine
äußere Klammer, die Figuren, die es
bewohnen, wissen nichts voneinander,
nichts von dem Leben in den
Jahrzehnten zuvor. Allerdings finden
sich, je weiter man liest, Themen und
Motive in »Zum Paradies«, die den
Roman wie auf einer unterbewussten
Ebene durchziehen.
Eine naheliegende aktuelle Deutung
– Parallelen zu ziehen zwischen
den Pandemien, die im dritten Teil
wüten, und Corona – interessiert Yanagihara
nicht. »Ich weiß, das klingt
unwahrscheinlich«, sagt sie, »aber als
Covid kam, war ich schon so tief drin
122 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
KULTUR
im dritten Teil, dass sich für mich kein großes
Echo ergab durch Covid. Es ist ja zum Glück
auch viel weniger tödlich als die Krankheiten,
von denen ich schreibe.«
Sie hat in den Mittelpunkt des Buchs ein
schöneres, mit Sehnsucht aufgeladenes Motiv
gesetzt: Hawaii. Immer wieder geht es um die
fiktive und reale Historie dieser Inseln, um
deren Kunstschätze, darum, dort geboren zu
sein oder Vorfahren von dort zu haben. Die
biografischen Fäden mehrerer Figuren führen
dorthin. Auf die Frage, was Hawaii für sie
bedeutet, antwortet Yanagihara: »Ich betrachte
es als meine Heimat.«
Ihre Urgroßeltern sind aus Japan nach
Hawaii eingewandert, ihre Eltern wuchsen
auf den pazifischen Inseln auf. Yanagihara,
die in Los Angeles zur Welt kam, hat mehrere
Jahre auf Hawaii gelebt; als sie ein Kleinkind
war, dann wieder im Alter von acht und
neun Jahren, auch ihre Highschoolzeit hat sie
hier beendet.
Sie spricht klar und analytisch, doch als die
Unterhaltung auf Hawaii kommt, klingt eine
andere Seite an, sie gerät ein wenig ins
Schwärmen: »Je älter ich werde, desto erstaunlicher
finde ich es, dass ich dort jeden
Tag auf die Berge und den Ozean schauen
kann.« Ihre Eltern leben heute wieder da, sie
würde es auch tun, sie kenne das Gefühl, dort
ohne Ironie zu denken: Wie glücklich bin ich,
hier zu sein. Doch ein anderer Teil von ihr
braucht die Großstadt vor der Tür.
Vergangenes Jahr hat sie fünf Monate auf
Hawaii verbracht. »Dort mache ich mir nie
Gedanken, ob die Leute unhöflich zu mir sind,
weil ich Asiatin bin. Und wenn ich in einem
Restaurant anrufe und sage, mein Name ist
Yanagihara, fragt mich niemand, ob ich das
mal buchstabieren könnte.«
Während sie spricht, wird deutlich, unter
welchen Ausgrenzungen sie gelitten hat, vor
allem als Mädchen in Texas während der
Achtzigerjahre. Sie berichtet davon, dass Mitschülerinnen
ihr Gesicht im Werkunterricht
einmal in eine Schüssel mit Terpentin gedrückt
haben, wie sie mit Dingen beworfen
wurde. Sie ist dann zu ihren Großeltern nach
Hawaii gegangen, um die Schule zu beenden.
»Es ist ein so vielfältiger Ort, kulturell, soziologisch
und botanisch, fast überall gibt es
wunderbare und einzigartige Dinge zu betrachten.«
Die Sehnsucht nach diesem Ort hat sie
ihren Romanfiguren eingeschrieben, auch das
Gefühl, fremd zu sein, dort, wo man ist, sich
woandershin zu wünschen. »Zum Paradies«
ist ein Roman, der von nichts so richtig handelt,
eher ist es so, als ob man einer großen
Zwiesprache der Autorin mit sich selbst beiwohnen
würde. Wobei betont werden muss,
dass Yanagihara eine umwerfende Geschichtenerzählerin
ist, sie kann süffig und spannend
schreiben.
Der Wirbel um ihre Person ist groß derzeit:
Es gibt Interviews, das Magazin »New Yorker«
plant ein Porträt, die Gesprächszeit mit
ihr wurde von der Agentin auf anderthalb
BELLETRISTIK
1 (x) Juli Zeh
Über Menschen
2 (x) Sebastian Fitzek
Playlist
Luchterhand; 22 Euro
Droemer; 22,99 Euro
3 (x) Lucinda Riley
Die verschwundene Schwester Goldmann; 22 Euro
4 (x) Nele Neuhaus
In ewiger Freundschaft
5 (x) Benedict Wells
Hard Land
6 (x) Carsten Henn
Der Buchspazierer
7 (x) Dirk Rossmann / Ralf Hoppe
Der Zorn des Oktopus
8 (x) Jussi Adler-Olsen
Natrium Chlorid
9 (x) Susanne Abel
Stay away from Gretchen
10 (x) Simon Beckett
Die Verlorenen
11 (x) Helga Schubert
Vom Aufstehen
Ullstein; 24,99 Euro
Diogenes; 24 Euro
Pendo; 14 Euro
Lübbe; 20 Euro
dtv; 25 Euro
dtv; 20 Euro
Wunderlich; 24 Euro
dtv; 22 Euro
12 (x) Kerstin Gier Vergissmeinnicht – Was man
bei Licht nicht sehen kann S. Fischer; 20 Euro
13 (x) Matt Haig
Die Mitternachtsbibliothek
14 (x) Bernhard Schlink
Die Enkelin
15 (x) Ewald Arenz
Der große Sommer
16 (x) Ken Follett
Never – Die letzte Entscheidung
17 (x) Dirk Rossmann
Der neunte Arm des Oktopus
18 (x) Judith Hermann
Daheim
Nach »Unterleuten«
legt die Autorin einen
zweiten großen Gesellschaftsroman
über
das Leben in der brandenburgischen
Provinz
vor, erzählt davon
diesmal aber etwas
versöhnlicher und
warmherziger. | Platz 1
19 (x) Edgar Selge
Hast du uns endlich gefunden
Droemer; 20 Euro
Diogenes; 25 Euro
DuMont; 20 Euro
Lübbe; 32 Euro
Lübbe; 20 Euro
S. Fischer; 21 Euro
Rowohlt; 24 Euro
20 (x) Alena Schröder Junge Frau, am Fenster
stehend, Abendlicht, blaues Kleid dtv; 22 Euro
Jahresbestseller
SACHBUCH
1 (x) Hape Kerkeling
Pfoten vom Tisch!
2 (x) Ferdinand von Schirach
Jeder Mensch
Piper; 22 Euro
Luchterhand; 5 Euro
3 (x) Mai Thi Nguyen-Kim Die kleinste
gemeinsame Wirklichkeit Droemer; 20 Euro
4 (x) Sahra Wagenknecht
Die Selbstgerechten
5 (x) Anne Fleck
Energy!
Campus; 24,95 Euro
dtv; 25 Euro
6 (x) Frank Schätzing Was, wenn wir einfach
die Welt retten? Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
7 (x) Eckart von Hirschhausen Mensch, Erde!
Wir könnten es so schön haben dtv; 24 Euro
8 (x) Marianne Koch
Alt werde ich später
9 (x) Florian Illies
Liebe in Zeiten des Hasses
10 (x) Richard David Precht
Von der Pflicht
11 (x) Barack Obama
Ein verheißenes Land
12 (x) Elke Heidenreich
Hier geht’s lang!
dtv; 18 Euro
S. Fischer; 24 Euro
Goldmann; 18 Euro
Penguin; 42 Euro
Eisele; 26 Euro
13 (x) Barack Obama / Bruce Springsteen
Renegades
Penguin; 42 Euro
14 (x) Robin Alexander
Machtverfall
Siedler; 22 Euro
15 (x) Boris Herrmann / Andreas Wolfers
Allein zwischen Himmel und Meer
C. Bertelsmann; 24 Euro
16 (x) Peter Wohlleben
Der lange Atem der Bäume
Ludwig; 22 Euro
17 (x) Joe Miller / Uğur Şahin / Özlem Türeci
Projekt Lightspeed
Rowohlt; 22 Euro
18 (x) Ralph Bollmann
Angela Merkel
19 (x) Laura Malina Seiler
Zurück zu mir
20 (x) Sophie Passmann
Komplett Gänsehaut
Ein Panorama der
späten Zwanziger- und
Dreißigerjahre. Figuren
der Zeitgeschichte wie
Simone de Beauvoir,
Henry Miller oder Bertolt
Brecht erleben Affären
und eine Zeit politischer
Um wälzungen. | Platz 9
C. H. Beck; 29,95 Euro
Rowohlt; 15 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 19 Euro
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
123
KULTUR
SPIEGEL TV Programm
Schlittenhundeführer Josie
TERRA X
SAMSTAG, 1. 1., 19.15 – 20.15, ZDF
Nordamerikas versteckte
Paradiese
Für Naturliebhaberinnen und -liebhaber
zählen die unberührten Landschaften
Nordamerikas zu den schönsten der
Erde. Die »Terra X«-Dokumentation entführt
in abgelegene, menschenleere und
wilde Gegenden in Kanada und den USA.
Vom hohen Norden des nordamerikanischen
Kontinents bis weit in den wilden
Westen, den entlegenen Osten und tief in
den Süden. Nördlich des Polarkreises
führt Schlittenhundeführer Paul Josie als
Mitglied der Vuntut Gwitchin First Nation
ein Leben in klirrender Kälte. Die Biologin
und Pferdeschützerin Celeste Carlisle
erforscht wilde Mustangs in Nordkalifornien,
und an der Ostküste bei Maine
widmet sich ein Forscherteam riesigen
Buckelwalen. Die Autorinnen unternehmen
eine Reise zu den unterschiedlichen
Landschaften. Die 60-minütige »Terra
X«-Folge lädt zum Träumen ein und stellt
Sehnsuchtsorte und besondere Menschen
vor, die sich mit großer Begeisterung
für »Nordamerikas versteckte Paradiese«
einsetzen.
Notfallsanitäter im Einsatz
SPIEGEL TV
SPIEGEL TV
MONTAG, 3. 1., 23.25 – 0.00 Uhr, RTL
Helfen an vorderster Front –
die Retter der Main-Metropole
Drogensüchtige auf Entzug, einsame
Rentner, gestürzte Kleinkinder
und entlaufende Heimbewohner –
die Not fallsanitäter des Frankfurter
Arbeiter-Samariter-Bundes sind
nicht erst seit Corona im Dauerstress.
Jeder Einsatz bedeutet für sie ein
neues Schicksal.
SPIEGEL TV WISSEN
SONNTAG, 2. 1., 20.15 – 21.45 Uhr, SKY
Die Flugzeugverschrotter
Was passiert mit Flugzeugen, die in den
Ruhestand gehen? Fast jeder zehnte
Flieger landet bei den Luftfahrtspezialisten
von eCube Solutions in Wales.
Hier werden die ausgemusterten Maschinen
fachgerecht in ihre Einzelteile
zerlegt, recycelt oder für den Weiterverkauf
aufbereitet. Die termingerechte
Ausschlachtung – immer ein Wettlauf
gegen die Zeit.
eCube-Solutions-Mitarbeiter in Wales
SPIEGEL TV
SPIEGEL TV
Stunden festgelegt. Yanagihara hat höflich
noch mal Tee nachgeschenkt, allerdings nicht
für sich selbst, das ist ein Hinweis.
Doch das Gespräch kann nicht enden,
ohne mit ihr über Homosexualität zu sprechen.
Über männliche Homosexualität. Es
gibt kaum weibliche Figuren in ihren Büchern
und fast keine heterosexuellen Paare. Selbstverständlich
ist ihr das bewusst, doch sie ist
eben auch Journalistin und retourniert erst
mal mit einer Gegenfrage: Ob ich denn glauben
würde, dass Jude, der Schmerzensmann
aus »Ein wenig Leben«, und sein engster
Freund Willem ein schwules Paar seien?
Sie sei sich da nicht so sicher. Sind Jude und
Willem schwul, nur weil sie eine liebevolle
romantische Beziehung haben? Diese Frage
sei hiermit an alle Fans des Romans weiterge
geben.
Und was die wenigen Frauenfiguren in
ihren Büchern angeht, hat sie eine Antwort
parat, von der sie selbst sagt, dass sie etwas
oberflächlich klinge: »Es interessiert mich,
Menschen zu erforschen, die anders sind als
ich, die andere Erfahrungen machen. Und ich
weiß, wie es ist, eine Frau zu sein.«
Ein Thema offen zu lassen, das steht ihr
als Schriftstellerin zu. Um sich mitzuteilen,
schreibt sie ja ihre Romane – und das tut sie
auf eigenwillige Weise: Eine an Serien geschulte
Dramaturgie mit bildstarken Schilderungen
und Cliffhangern unterbricht sie durch
essayistische Passagen. Leid und Schönheit
sind bei ihr oft ins Melodramatische übersteigert.
Ein Brief kann in ihrem Roman schon
mal 130 Seiten dick sein; historische Zusammenhänge
fiktionalisiert und verwischt sie
gern. Manchmal zieht sich das, doch ihre Fabulierkunst
kann auch so ins Fliegen kommen,
dass es einen mitreißt; und sie hat keine Angst
vor ganz großen Gefühlen. Die Frau, die zwischen
den bunten Kissen auf ihrem Sofa sitzt,
ist wirklich eine zeitgenössische Schriftstellerin:
Ihre Bücher sind wie Schwämme für die
Strömungen der Gegenwart.
Als das Gespräch schon fast sein Ende erreicht
hat, gibt Yanagihara noch einen Schlüssel
preis. Scham, sagt sie, sei das Thema, das
sie vielleicht am stärksten beschäftige. Viele
ihrer Figuren sind von diesem Gefühl beherrscht.
Jude in »Ein wenig Leben«, der sich
furchtbar schämt, für die Misshandlung, die
er erleben musste. Und auch in »Zum Paradies«
schämen sich die Männer: dafür, dass
sie noch nicht verheiratet sind; dass sie auf
Hawaii aufwuchsen, fern von den Codes der
Stadt New York; dass sie sich geirrt haben,
als Wissenschaftler etwas Richtiges wollten
und das Falsche taten.
Und während des Small Talks zum Abschied
blitzt der Gedanke auf, dass die Mail
der Agentin, »no shoes«, höflich gemeint war
und helfen sollte, einen peinlichen Moment
zu vermeiden. Keine Scham entstehen zu
lassen zwischen der Schriftstellerin, die
hawaiianische Traditionen pflegt, und der
Journalistin aus Europa, die mit ihren Schuhen
Straßendreck hineingetragen hätte. n
124 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Abschied vom
Tausendsassa
KARRIEREN Um die Führung der Berliner
Festspiele gab es viel Stunk.
Nun soll der neue Intendant Matthias Pees
für Harmonie und Glamour sorgen.
M
it Mitte zwanzig tauschte
Matthias Pees den Beruf des
Theaterkritikers gegen den
des Dramaturgen aus. Er quartierte
sich in Los Angeles bei dem Schriftsteller
Heiner Müller ein, den er erst
ein paar Monate zuvor kennengelernt
hatte und arbeitete einen Winter lang
in Müllers kalifornischer Residenz.
Mit Mitte dreißig schipperte Pees mit
dem Regisseur Christoph Schlingensief
tagelang auf dem Amazonas und
dem Rio Negro herum und half beim
Inszenieren der Wagner-Oper »Der
fliegende Holländer« in der brasilianischen
Dschungelstadt Manaus.
Als Unterstützer und Dienstleister
aufregender Künstler scheint sich
Pees, 51, bis heute zu begreifen. Über
seinen Job in Frankfurt am Main, wo
er noch einige Monate lang Intendant
des vor allem für Gastproduktionen
bekannten Künstlerhauses Mousonturm
ist, sagt er: »Vielleicht sollten
die Leiterin oder der Leiter einer Kulturinstitution
heutzutage nicht mehr
diejenigen sein wollen, die sich vorrangig
selbst tolle künstlerische Ereignisse
ausdenken. Sondern sollten
stattdessen versuchen, den Künstlerinnen
und Künstlern erst mal Raum,
Geld, Begegnung und Wahrnehmung
zu verschaffen und sie ihre Arbeit tun
lassen.«
In seinem künftigen Amt hat Pees
mehr Spielraum, Budget und Aufmerksamkeit
zu vergeben. Von September
an soll er als neuer Intendant
die Berliner Festspiele leiten. Die vom
Bund finanzierte Institution richtet
gleich eine Handvoll Festivals und
diverse Veranstaltungen in den
Sparten Theater, Musik und Kunst
aus; darunter das Berliner Theatertreffen,
das Jazzfest und das Musikfest
Berlin sowie die Ausstellungen
im Gropius Bau.
Pees meint, dass moderne Kulturmanager
sich vor allem als Gastgeber
Bühnenleiter Pees
im Frankfurter
Mousonturm mit
einem Modell
des Theatersaals:
»Künstlerinnen und
Künstlern Raum,
Geld, Begegnung und
Wahrnehmung
verschaffen«
verstehen sollten und weniger als
künstlerische Tausendsassas. Damit
unterscheidet er sich stark von seinem
Vorgänger Thomas Oberender, 55.
Der war zehn Jahre lang Chef der
Berliner Festspiele und zeigte großen
Ehrgeiz dabei, seine eigenen Kunstideen
umzusetzen, zuletzt im Oktober
mit dem spektakulären Zehn-
Tage-Event »The Sun Machine Is
Coming Down«.
Oberender hört zum Jahresende
auf. Es ist ein vorzeitiger Abschied,
offiziell auf eigenen Wunsch. Der Vertrag
des Festspielchefs war allerdings
erst im November 2020 um fünf Jahre
verlängert worden. Die Demission
hat, wie im Dezember bekannt wurde,
womöglich mit einem angeblich
toxischen Führungsstil Oberenders
zu tun. Ehemalige Untergebene bezichtigten
ihn in einem Dossier der
Ausübung psychischen Drucks, klagten
über »Drohgebaren« und eine
sehr hohe Arbeitsbelastung. Der
scheidende Intendant habe etwa Mitarbeiterinnen
zum Weinen gebracht;
mindestens drei Frauen aus dem Festspiele-Apparat
hätten einen Burn-out
erlitten. Oberender bestreitet die Vorwürfe.
Sein Nachfolger Pees wurde von
einer sechsköpfigen Findungskommission
aus zahlreichen Bewerberinnen
und Bewerbern für das Amt
bestimmt. Pees nennt die Berliner
Festspiele »eine Riesenlegende«. Historisch
hätten sie bewiesen, »dass sich
Christoph Boeckheler
KULTUR
über künstlerische Ereignisse auch
politisch Fenster aufmachen lassen«.
Als zwischen den Blöcken des Kalten
Krieges eine Annäherung unmöglich
schien, hätten die Festspiele sie künstlerisch
gewagt.
Tatsächlich wurden die Festspiele
vor 70 Jahren, im September 1951,
im Westen der Stadt mit einer politischen
Mission ins Leben gerufen.
Politiker wie der damalige Regierende
Bürgermeister Ernst Reuter und
sein Kultursenator Joachim Tiburtius
sprachen von einem »geistigen Verteidigungsbeitrag«
des Westens und
von einer »Kulturoffensive«, es folgten
legendäre Auftritte von Martin
Luther King oder Vladimir Horowitz
und Theaterhöhepunkte von Robert
Wilson und Luca Ronconi.
Vor allem in den Jahren rund um
den Mauerfall entwickelten die Festspiele
unabhängig von den Ideen
ihrer Gründer ein Eigenleben und,
wie Pees meint, »eine unglaubliche
innovative Strahlkraft« auf den gesamten
deutschen Kulturbetrieb.
Pees sagt, er hoffe, die einzelnen
Teile der Festspiele stärker verbinden
zu können. Während vergleichbare
Institutionen wie das Pariser Festival
d’Automne oder die Wiener Festwochen
vom Publikum als zusammenhängende
Kulturspektakel mit
internationalem Anspruch aufgefasst
werden, scheint das Festspieleprogramm
bis heute tatsächlich in
Einzelaktionen zu zerfallen.
Sein Ziel sei es, »die Intendantenarbeit
nicht nur von der Institution
her zu denken, sondern vor allem
vom künstlerischen Angebot her«,
sagt Pees. Er wolle die Eindrücke und
Vorschläge vieler kundiger Menschen
einsammeln, die sich mit den einzelnen
Festivals auskennen. Im Idealfall
könnten die Festspiele, die als Instrument
der Politik erfunden wurden,
künstlerisch Einfluss auf die Politik
nehmen, als »Modellversuch für
Wandel«, so Pees.
Osteuropas Blick auf den Westen,
den die Berliner Festspiele traditionell
in die Stadt zu holen trachteten,
sei »heute wieder total relevant«. Zugleich
seien künstlerische Positionen
und Weltsichten aus dem Süden
»durch den Klimawandel, durch Fragen
nach Klimagerechtigkeit noch
wichtiger geworden«.
Pees selbst hat vor seiner Intendantenarbeit
in Frankfurt mehrere
Jahre lang in Brasilien mit eigener
Firma als Kulturproduzent gearbeitet.
»Man kann sagen: Mit den Perspektiven
des Südens beschäftige ich mich
seit anderthalb Jahrzehnten.«
Wolfgang Höbel
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
125
KULTUR
»Ich bin nicht mit geballter Faust
auf die Welt gekommen und
habe geschrien: ›Black Power!‹«
SPIEGEL-GESPRÄCH Fast jeder Schwarze fühlt sich in Deutschland diskriminiert –
die Sängerin Joy Denalane und die Aktivistin Tupoka Ogette über ihr Leben in West und Ost
und die seltsame Vorsicht Weißer, wenn es um Rassismus geht.
Ende November ist eine von der Antidiskriminierungsstelle
des Bundes geförderte
Studie erschienen, danach durchzieht Diskriminierung
das Leben schwarzer Menschen
in Deutschland, beim Einkauf, bei Arztbesuchen,
in Schule und Studium. 98 Prozent der
Befragten berichteten von Diskriminierungserfahrungen,
nur 2 Prozent haben nach eigenen
Angaben nie Rassismus erlebt. Mehr
als 90 Prozent gaben an, ihnen werde nicht
geglaubt, wenn sie von ihren Erfahrungen
berichten.
Bei diesem Gespräch befragen zwei Weiße
zwei schwarze Frauen. Die eine ist die Soul-
Sängerin Denalane, 48, die als erste Deutsche
einen Vertrag mit dem legendären US-Plattenlabel
Motown bekommen hat. Die andere ist
die Aktivistin Ogette, 41, Autorin des Buches
»Exit Racism«. Das Buch ist auch die Grundlage
von Seminaren, die Ogette anbietet. Wir
treffen uns im Hauptstadtbüro des SPIEGEL.
Wenn es zutrifft, dass weiße Deutsche viele
Probleme leugnen, sind aufseiten der SPIEGEL-
Leute auch Zweifel an sich selbst angebracht:
Offenbaren die eigenen Fragen blinde Flecken?
SPIEGEL: Frau Denalane, Frau Ogette, was
empfinden Sie, wenn zwei Weiße mit Ihnen
über Rassismus sprechen wollen?
Denalane: Erst mal begrüße ich das. Und ich
traue es Ihnen natürlich auch zu. Männer können
sich ja auch differenziert zu feministischen
Themen äußern und sich dabei alliieren.
SPIEGEL: Ein Mann wird wohl nie ganz verstehen,
wie es ist, eine Frau zu sein, und umgekehrt.
Die Frage ist also, ändert sich etwas
für Sie, wenn zwei Weiße vor Ihnen sitzen?
Denalane: Ich möchte die Frage zurückgeben.
Ändert sich etwas für Sie, wenn Sie uns gegenübersitzen?
Vielleicht klären Sie erst mal für sich,
warum Ihnen diese Frage so wichtig zu sein
scheint und was Sie sich von diesem Gespräch
erwarten. Für mich ist es jedenfalls normal.
SPIEGEL: Es soll hier auch um blinde Flecken
gehen, die ein schwarzer Kollege oder eine
schwarze Kollegin so wahrscheinlich nicht
hätte.
Ogette: Eigentlich ist es doch einfach: Als
Antirassismus-Vermittlerin spreche ich
tagtäglich mit weißen Menschen über Rassismus.
Ich denke, dass weiße Menschen ein
großes Interesse daran entwickeln sollten,
über Rassismus zu sprechen, weil sie eben
Teil einer Welt sind, in der sie von Rassismus
profitieren. Sie sollten dabei aber eher über
sich als über die anderen sprechen. Was bedeutet
Weißsein? Wie prägt es mich? Dennoch
höre ich aus Ihrer Frage eine Diskursverdrehung
heraus, mit der ich es häufiger zu
tun habe: die Behauptung, dass schwarze
Menschen nicht wollen würden, dass auch
weiße Menschen sich zum Thema Rassismus
äußerten.
SPIEGEL: Inwiefern eine Verdrehung?
Ogette: Weiße Menschen sind seit 500 Jahren
diejenigen, die die Deutungshoheit über diese
Themen haben und die auch zu allen anderen
Themen sprechen. Aber sie sprechen
eben dabei nicht über sich und ihre eigenen
rassistischen Denkmuster und Handlungen.
Sie sprechen über die vermeintlich »anderen«.
Schwarze Menschen und People of Color
haben eigene Stimmen und können selbst
für sich sprechen. Und ja, es gibt auch Gespräche,
die ohne weiße Menschen stattfinden,
die gibt es im Feminismus ja auch – Gespräche,
bei denen Männer nicht eingeladen
sind. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht,
dass Feministinnen nicht mit Männern reden
wollen oder schwarze Menschen nicht mit
Weißen. Diese Gespräche setzen aber eine
gewisse Selbstreflexion voraus. Außerdem ist
es wichtig zu schauen, wen laden wir ein zu
Gesprächen über Rassismus? Welche Rollen
haben die einzelnen Personen? Es ist oft Teil
des rassistischen Konstrukts, dass Individualität
verloren geht und alle in einen Topf geworfen
werden.
SPIEGEL: Deswegen haben wir ja auch Sie beide
zum Gespräch gebeten: eine Ostdeutsche
und eine Westdeutsche. Sie beschreiben sich
selbst als schwarze Frauen. Und doch haben
Sie beide weiße Mütter. Warum beschreiben
Sie sich dann als schwarz?
Denalane: Zunächst einmal sollte der Terminus
Schwarz in diesem Gespräch als Selbstermächtigungsbegriff
von Menschen afrodiasporischer
und afrikanischer Herkunft
verstanden werden und eine soziopolitische
Positionierung innerhalb einer weißen Mehrheitsgesellschaft
widerspiegeln. Deswegen
bezeichne ich mich selbst als Schwarz. Und
könnte ich in Ihren Augen denn weiß sein?
Ich habe früh in meinem Leben lernen müssen,
dass eine Trennlinie zwischen mir und
meiner weißen Umwelt verläuft, die ich nicht
gezogen habe.
Ogette: In Deutschland gibt es keinen Raum,
in dem ich nicht Schwarz bin. Dazu erzähle
ich gern folgende Anekdote: Meine weiße
Mutter kommt zur Entbindung ins Krankenhaus,
sie ist blond, hat blaue Augen, ist
1,80 Meter groß. Als ich dann aus meiner
Mutter herauskomme, zuckt die Hebamme
zurück und ruft: »Oh, das ist schwarz.« Ich
bin nicht mit geballter Faust auf die Welt
gekommen und habe geschrien: »Black
Power« – hätte ich vielleicht machen sollen
im Nachhinein. Aber ich wurde von dem Moment
meiner Geburt an als schwarz markiert.
Und auch bei Ihrer letzten Frage merke ich
übrigens wieder eine Diskursverdrehung.
SPIEGEL: Inwiefern?
Ogette: Die Geschichte wird oft mittendrin
begonnen. Die Realität ist: Die Selbstbezeichnung
ist die Reaktion auf die Fremdbezeichnung.
Weiße Menschen haben während des
transatlantischen Sklavenhandels Weißsein
als Kategorie erfunden, um ein System aufzubauen,
von dem sie auf Kosten anderer
wirtschaftlich profitieren können. Sie haben
Menschen in bestimmte Gruppen kategorisiert
und auch als Fremde benannt. Darin liegt
der Ursprung dafür, dass es diese Kategorien
überhaupt gibt. Das wird oft vergessen. Dann
heißt es: Oh, warum nennt ihr euch denn so
oder so? Die Frage führt aber in die falsche
Richtung. Denn eigentlich wäre ich gern einfach
nur Tupoka, das Individuum. Aber ich
treffe auf eine Welt, die seit Jahrhunderten
diese Kategorisierungen vornimmt und in der
126 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
KULTUR
Musikerin Denalane,
Autorin Ogette
in Berlin: »Ich hatte
einen Verehrer,
der sagte: ›Du bist
gar nicht wie die
Mädchen auf MTV‹«
ich und Menschen wie ich Alltagsrassismus
erleben. Um mich darin zu
behaupten, hilft mir rassismuskritische
Sprache und die Selbstbezeichnung
Schwarz. Dieser Begriff Schwarz
bezieht sich nicht auf die Hautfarbe,
sondern ist ein politischer Begriff, er
bezieht sich auf Erfahrungen und auf
den Widerstand gegen eine rassistische
weiße Welt.
SPIEGEL: Frau Denalane, wie haben
Sie Ihre Identität in einem schwarzweißen
Elternhaus entwickelt?
Denalane: Ich bin mit beiden Elternteilen
und meinen fünf Geschwistern
aufgewachsen. Das war nicht bei allen
schwarzen Kindern in meinem Umfeld
der Fall. Viele wurden ausschließlich
mit ihrem weißen Elternteil groß.
Da fehlte dann oftmals eine in den
ersten Jahren prägende Identifikationsfigur.
Ogette: Wie bei mir. Mein Vater musste
als Landwirtschaftsstudent aus
Tansania die DDR nach dem Studium
wieder verlassen.
Denalane: Meine Eltern sind gemeinsam
von Heidelberg nach West-Berlin
gezogen, weil sie die Hoffnung hatten,
hier eine tolerantere Gesellschaft vorzufinden.
Mein Vater hatte eine sehr
reale Vorstellung davon, was Rassismus
bedeutete: Er kannte die Grausamkeit
der Apartheid, denn er kam
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
1960 aus Südafrika nach Deutschland,
um Zahnmedizin zu studieren. Der
Rassismus, der ihm dann hier begegnete,
war weitaus subtiler. Man muss
bedenken, dass das Ende des Zweiten
Weltkriegs noch nicht weit zurücklag.
Und wie wir heute wissen, konnten
unzählige Menschen mit NS-Vergangenheit
Karriere in der Bundesrepublik
machen. Ob im Verwaltungswesen,
der Polizei, der Politik, den Schulen
oder Universitäten. Auch meine
Mutter hat früh lernen müssen, dass
ihre Beziehung zu einem schwarzen
Mann teilweise auf Ablehnung stieß.
Sie hatte aber die Gewissheit, Teil
einer Gesellschaft zu sein, zu deren
Mehrheit sie gehörte.
SPIEGEL: Worin hat sich das gezeigt?
Denalane: Sie legte Wert darauf, dass
wir uns niemals ungerecht behandeln
lassen. Sie ging in unzählige Lehrerund
Direktorengespräche und überprüfte
deren Vorwürfe auf ihren Gehalt.
Sie war aber auch nie darum verlegen,
angebrachte Kritik an uns weiterzugeben.
Insgesamt war die Sensibilität, die
unsere Eltern für das Thema Rassismus
in unserer Gesellschaft hatten, sehr
groß und dadurch unwahrscheinlich
wichtig für unsere gesunde Entwicklung.
Ich fühlte mich von ihnen geliebt,
gesehen und verstanden.
SPIEGEL: Frau Ogette, Sie schreiben
in Ihrem Buch, viele Weiße richteten
sich in einer Welt ein, in der Rassisten
immer die anderen seien, die Rechtsextremen
und so weiter. In Wahrheit
seien wir jedoch alle rassistisch. Das
ist zwar nachvollziehbar, führt aber
zu jener Vorsicht, die wir am Anfang
auszudrücken versuchten, zu dem
Gefühl, dass wir es als Weiße gar nicht
richtig machen können.
Ogette: Wir alle, die wir hier in diesem
Raum sind, sind in einer Welt geboren,
in der Rassismus schon da war,
bevor wir selbst da waren, und in der
wir entsprechend rassistisch sozialisiert
wurden, genauso wie wir heteronormativ
sozialisiert werden. Da geht
es gar nicht so sehr um Schuld und
Scham. Das sind zwar Gefühle, die
aufkommen können, wenn man sich
dessen bewusst wird, doch darum
geht es nicht. Es geht darum, eine Verantwortung
zu fühlen und sich ihr
zu stellen.
SPIEGEL: Schuld und Scham sind aber
Gefühle, denen man lieber aus dem
Weg geht.
Ogette: Ich sage nicht, dass wir alle
rassistisch sind. Ich sage, dass wir alle
rassistisch sozialisiert sind. Unsere
Sprache und deswegen auch unsere
Denkmuster wurden rassistisch geprägt.
Natürlich tut es weh, bei sich
selbst diese Muster zu erkennen. Aber
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
127
KULTUR
»Menschen sind oft nicht
gut genug informiert.«
Joy Denalane
rassismuskritisch denken zu lernen, bedeutet
auch, an einer besseren Welt mitarbeiten
zu können. Einer Welt, in der schwarze
Eltern zum Beispiel nicht mehr täglich Angst
haben müssen, dass ihre Kinder Rassismus
erleben.
SPIEGEL: Sorgen um ihre Kinder haben wohl
alle Eltern. Bei Ihnen hören wir da noch Angst
vor einer anderen Bedrohung heraus.
Ogette: Natürlich wurde George Floyd letztes
Jahr in den USA nicht aus Zufall von dem
Polizisten ermordet. Wir haben hier wie dort
eine Kultur, die schwarze junge Männer als
Bedrohung, als tendenziell schuldig sieht.
Und das beginnt schon früh. Aus dem »süßen
kleinen Schokobaby« wird dann eine gesellschaftliche
Bedrohung, und Menschen halten
die Handtasche fest. Das hat Konsequenzen.
Elternteil von schwarzen Kindern zu sein
bedeutet, dass ich das aushalten muss. Es ist
für Weiße nicht schön, sich negativen Gefühlen
zu stellen, aber es ist die einzige Möglichkeit,
damit Rassismus irgendwann weniger
wird. Und: Weiße Menschen haben die
Wahl, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen
oder nicht. Das ist eines der größten Privilegien,
die Rassismus ihnen mitgegeben
hat. Schwarze Menschen und People of Color
haben diese Wahl nicht.
SPIEGEL: Schwarzsein gilt in der Popkultur
als cool. Die 32-jährige Autorin Alice Hasters
schreibt in ihrem Buch »Was weiße Menschen
nicht über Rassismus hören wollen
aber wissen sollten«, wie sie Anfang der Nullerjahre
gemerkt hat, dass die Superstars
beim Musiksender MTV oft schwarz waren.
Das sei für sie eine zwiespältige Erfahrung
gewesen. Einerseits gut, weil sie jetzt Identifikationsfiguren
hatte, andererseits seien da
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
»Aus dem ›Schokobaby‹
wird eine Bedrohung.«
Tupoka Ogette
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
Klischeebilder produziert worden. Wie haben
Sie das erlebt?
Denalane: Dieser plötzliche Wandel hat sich
stark auf mein Selbstbild ausgewirkt. Aber
nicht alles an der neu gewonnenen Aufmerksamkeit,
die ich nun genoss, war positiv.
Ogette: Bis ich neun Jahre alt war, bin ich in
der DDR aufgewachsen. Da war die MTV-
Kultur kein Thema. Dann bin ich nach West-
Berlin gekommen. Ich erinnere mich, dass ich
dann auf einer unbewussten Suche nach Identifikationsfiguren
war, aber das Bild von
schwarzen Menschen war tatsächlich amerikanisiert
– es waren US-Stars wie Eddie Murphy
oder Michael Jackson. Das war toll, aber
ich war eben keine US-Amerikanerin. Mir
fehlten auch weibliche Vorbilder und deutsche
Vorbilder. Als ich 12 oder 13 Jahre alt war,
hatte ich einen Verehrer, einen weißen Jungen,
der dann zu mir sagte: »Du bist gar nicht
wie die Mädchen auf MTV.« Also hatte auch
ich das Gefühl, dass ich die gesellschaftlichen
Vorstellungen vom Schwarzsein nicht bedienen
konnte. Ich habe dann in Leipzig studiert
und habe zum Beispiel die Musik von Joy
gehört. Das war ein Wendepunkt in meinem
Leben. Ich bin tagelang durch Leipzig gegangen
und habe ihre Lieder gesungen.
SPIEGEL: Frau Denalane, Sie sind in den Nullerjahren
nach Stuttgart gegangen und haben
dort mit der Band Freundeskreis zum Beispiel
das Lied »Mit Dir« aufgenommen. Max Herre,
Sänger von Freundeskreis und heute Ihr
Mann, ist Rapper, Produzent, und er ist weiß.
Was haben Sie dabei empfunden, dass Weiße
einen Musikstil übernahmen, der aus der
schwarzen Kultur kommt?
Denalane: Kulturelle Aneignung bedeutet die
Übernahme geistigen Eigentums, traditionellen
Wissens oder kultureller Artefakte einer
benachteiligten Gruppe durch Menschen, die
aus ihrer privilegierten Position heraus handeln
und dabei den Ursprung ihrer Inspiration
weder erwähnen, zum Beispiel in Interviews,
noch sie anderweitig am Erfolg teilhaben lassen.
Freundeskreis beziehungsweise die FK-
Allstars hatten in vielerlei Hinsicht eine Vorbildfunktion
in Sachen Gleichstellung und
Diskurs. Man rufe sich die Besetzung der
großartigen Performer in Erinnerung, die über
die Jahre mitgewirkt haben: Déborah, Cassandra
Steen, Brooke Russell, Gentleman,
Afrob, Sékou »The Ambassador«, Megaloh,
Max Herre und ich. Jeder war Teil der Gruppe
und stand trotzdem für sich beziehungsweise
seinen kulturellen Background. Wir alle
konnten diese Plattform für uns und unsere
Themen nutzen. Das war die Kraft und die
Besonderheit dieses losen Kollektivs.
SPIEGEL: Sie waren eine der Ersten, die
deutschsprachigen Soul gemacht haben. Was
hat Sie angeregt?
Denalane: Was ich musikalisch mache, hat
sehr viel mit der Plattensammlung meines
Vaters zu tun. Er hat Soul, Funk und Jazz gehört,
immer die neuesten Platten gekauft und
vorgespielt. Ich habe mich oft allein vor sein
Plattenregal gesetzt und die Scheiben aufgelegt,
dazu gesungen, die Texte mitgelesen
oder einfach zugehört.
SPIEGEL: Die schwarze Schriftstellerin Tsitsi
Dangarembga hat Ende Oktober den Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels bekommen.
Die Laudatio hielt die Filmemacherin
Auma Obama, Halbschwester des früheren
US-Präsidenten Barack Obama. Beide
Frauen waren in Deutschland auf einer Filmhochschule.
In ihrer Laudatio sagte Obama,
das Gefühl der Fremdheit in Deutschland
habe geholfen, sich künstlerisch zu entwickeln,
weil sie in der Abgrenzung zu anderen
genauer erkennen konnte, wer sie ist und was
sie tun will. Fremdsein als Chance – was löst
dieser Gedanke bei Ihnen aus?
Ogette: Schwarz zu sein bedeutet nicht nur,
Rassismus zu erleben, sondern Teil einer Widerstandskultur
zu sein, die viel Schönes,
Wahrhaftiges hervorgebracht hat. An die
kann ich anknüpfen und mich darin wiederfinden:
durch Literatur, durch Musik, Tanz,
Kunst von schwarzen Menschen.
SPIEGEL: Stört es Sie, dass in Gesprächen über
Afrika der Kontinent oft wie ein Land behandelt
wird und Unterschiede zwischen den
einzelnen Ländern wegfallen?
Denalane: Ja, das stört mich sehr. Diese Menschen
sind oft nicht gut genug informiert und
zwingen dann anderen Gruppen oder Individuen
eurozentristische Sichtweisen und Meinungen
auf, die zum Teil stereotyp und diskriminierend
sind. Aber natürlich gibt es auf
dem afrikanischen Kontinent gemeinsame
Erfahrungen, die über Ländergrenzen hinausgehen.
Auch weiße Europäer suchen nach
ihren Gemeinsamkeiten und definieren sich
über ihre Errungenschaften. Beispiele dafür
sind die Philosophien seit der Antike, die
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KULTUR
Ideen um die Demokratie oder später
die Aufklärung. Hier entsteht über
die nationale Identität hinaus eine
Identifikation mit Europa als gemeinsamer
kultureller Raum. Die Frage ist
nur, wer bestimmt, was typisch europäisch
oder typisch afrikanisch sein
soll – und welche Funktion haben
solche Einordnungen? Um jemanden
abzuwerten? Um jemanden aufzuwerten?
SPIEGEL: Um herauszufinden, wie
jemand geprägt ist, würde die Frage
»Woher kommen Sie?« weiterführen.
In pluralistischen Kulturen wie den
USA steht die Frage »Where are you
from?« oft am Anfang eines Gesprächs
zwischen Fremden. In Ihrem
Fall würde man mit dieser Frage
herausfinden, dass die eine aus Westdeutschland
kommt und die andere
aus Ostdeutschland. Die Frage »Woher
kommen Sie?« würde man
schwarzen Deutschen aber heutzutage
nicht mehr stellen, damit es
nicht so wirkt, als sähe man sie nicht
als Deutsche an.
Ogette: Ich antworte auf die Frage
»Woher kommen Sie?« mit: »aus
Kreuzberg, vom Supermarkt, von der
Arbeit«. Und wenn sie dann weiterfragen
»Woher wirklich?«, antworte
ich Berlin oder Leipzig. Wenn die
Menschen sich dann damit zufriedengeben,
hätte ich kein Problem damit.
Aber wenn Menschen weiterfragen,
obwohl ich die Antwort bereits gegeben
habe, die ich geben möchte,
dann handelt es sich eher um eine
Projektion der fragenden Person, als
dass es um mich als Individuum geht.
SPIEGEL: Frau Ogette, Sie sind zunächst
in der DDR aufgewachsen und
später nach West-Berlin gekommen.
Gab es unterschiedliche Formen von
Rassismus in Ost und West?
Ogette: Also offiziell hieß es in der
DDR: Rassismus gibt es nicht, die
Brüder und Schwestern aus Afrika,
wie die Werkstudenten aus Tansania,
zu denen mein Vater gehörte, sind
willkommen. Aber es war unausgesprochen
klar, dass diese Brüder und
Schwestern nicht ebenbürtig sind. Ich
habe schlimme Rassismuserfahrungen
gemacht, vor allem in Kindergarten
und Schule. Aber ich wurde auch
sehr geliebt von meiner Familie, die
alles tat, um mich zu schützen. Im
Westen, in Kreuzberg, hatte ich dann
mehr schwarze Freundinnen. Das war
eine große Veränderung.
Denalane: Kreuzberg war aber nicht
nur offen und tolerant. Die Rassismuserfahrungen
in meiner Kindheit
* Susanne Beyer und Xaver von Cranach im
SPIEGEL-Hauptstadtbüro.
Ogette, Denalane,
SPIEGEL-Redakteurin
und -Redakteur*:
Ȁndert sich etwas
für Sie, wenn Sie
uns gegenübersitzen?«
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
habe ich allesamt dort machen müssen.
Ich bin aufgewachsen in einem
Hochhauskomplex am Gleisdreieck.
Da waren sehr viele Kinder, wir waren
oft draußen unterwegs, und das
Prinzip war leider allzu oft: Survival
of the fittest. Wenn nichts mehr gezogen
hat, dann wurde die ausländerfeindliche
Karte gespielt, die nicht
selten zu physischer Gewalt führte.
Auf dem Weg zur Schule lief ich an
unzähligen Häuserwänden vorbei,
auf denen »Ausländer raus« oder
»Türken raus« stand. In meiner
Kreuzberger Grundschule gab es diese
Klassen, in die nur türkisch- und
kurdischstämmige Kinder mit schlechten
Deutschkenntnissen kamen, um
dort von einer einzigen Lehrerin ausschließlich
auf Türkisch unterrichtet
zu werden. Das war extreme Ausgrenzung,
und diese Schüler waren
dadurch auf dem Schulhof isoliert.
SPIEGEL: Auf der diesjährigen Buchmesse
fühlten sich einige schwarze
Schriftstellerinnen und Schriftsteller
nicht willkommen, weil auch rechtsextreme
Verlage die Möglichkeit hatten,
einen Stand aufzubauen. Einige
schwarze Autorinnen blieben fern,
andere kamen. Die Autorin Jasmina
Kuhnke war nicht hingefahren und
gab ein Interview, in dem sie das begründete
und auch sagte, sie wolle
nicht von dem weißen Literaturkritiker
Denis Scheck rezensiert werden.
Nun ist es das Wesen der Literaturkritik,
dass Autoren sich nicht aussuchen
können, wer ihre Texte kritisiert.
Was sagen Sie zu Kuhnkes Haltung?
Denalane: Ich kenne das Interview
leider nicht, aber ich kann grundsätzlich
gut verstehen, dass man seine
Arbeit von jemandem rezensiert wissen
möchte, der sich im Kernthema
der Arbeit, die er bewerten soll, gut
auskennt.
SPIEGEL: Kritik kann zwar untergründig
oder unbewusst rassistisch begründet
sein, aber das muss nicht so
sein. Und man kann ja auch nicht
schwarze Künstlerinnen und Künstler
ausschließen, aus Sorge, als rassistisch
zu gelten
Denalane: Das stimmt. Aber hier haben
wir es mit einer anderen Ebene
zu tun. Wie rassismuskritisch ist ein
Rezensent, der ein Buch bespricht,
das sich mit Rassismus beschäftigt?
Das ist schon eine berechtigte Frage.
SPIEGEL: Reicht es, sich als Kritiker
auf Kennerschaft zu stützen, oder
spielt doch die Identität eine Rolle?
Muss ich als Kritikerin ähnliche Erfahrungen
haben wie die Künstlerin
oder der Künstler?
Denalane: Muss jemand Schwarz sein,
um meine Platte zu rezensieren?
Nein, natürlich nicht. Aber die Bereitschaft,
den eigenen Horizont zu erweitern
und sich zu sensibilisieren für
Themen, die man bis dahin vielleicht
noch nicht auf dem Schirm hatte, ist
essenziell, um ein präzises Urteil fällen
zu können. Wie oft aber saß ich
vor Journalist:innen, die denkbar
schlecht vorbereitet in Gespräche mit
mir gingen, um dann Rezensionen
über meine Alben zu veröffentlichen.
SPIEGEL: Frau Ogette, Sie haben vorhin
gesagt, dass Joy Denalanes Musik
Sie besonders angesprochen habe, als
Sie nach Westdeutschland kamen.
Was bedeutet sie Ihnen heute?
Ogette: Joy war damals meine imaginäre
große Schwester. Und heute ist
sie es im Realen. Das ist manchmal
noch unbegreiflich, aber sehr schön.
Bevor ich einen Workshop beginne,
höre ich immer Lieder, die mich
aufbauen, die Antirassismusarbeit
ist oft kräftezehrend. Ein Lied von
Joy gehört dazu: »Alles leuchtet«.
Das stärkt mich. Kannst du es mal
rezitieren?
Denalane: Hinter dem Spiegel, im leisesten
Laut, zwischen den Zeilen und
unter dem Staub, da ist etwas geblieben,
auf das du vertraust und das,
ohne zu zweifeln, an was Besseres
glaubt.
Ogette: Ich habe jetzt Gänsehaut.
Wenn ich mich ohnmächtig fühle, erschöpft
und dann dieses Lied höre,
weiß ich: Irgendwoher kommt das
Leuchten. Das gibt mir Kraft und
Stärke. Das klingt pathetisch. Aber
dafür bin ich Joy und ihrer Kunst
dankbar. Du machst nicht explizit Widerstandsmusik.
Aber natürlich ist
deine Musik im Widerständigen entstanden.
Das ist ein Erbe, eine Verbindung,
die an das Menschliche andockt.
Das berührt mich.
SPIEGEL: Frau Denalane, Frau Ogette,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
n
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DEUTSCHER
REPORTER:INNEN
preis2021
REPORTAGE: Nicola Meier „Über Bord“
INVESTIGATION: Rechercheteam Pegasus-Projekt
LOKALREPORTAGE: Franziska Klemenz „Die Heimat, die uns keine ist“
WISSENSCHAFTSREPORTAGE: Vivian Pasquet, Martin Schlak „Die Welt-Impfung“
KULTURREPORTAGE: Barbara Achermann FÖłơŭŶÖũĴāũŶŋ
INTERVIEW: Julia Prosinger, Susanne Kippenberger „Was bleibt von den Ertrunkenen?“
MULTIMEDIA: Hendrik Lehmann & Team „Der BER im 3D-Modell“
PODCAST: Khesrau Behroz & Team „Cui Bono: WTF happend to Ken Jebsen?“
DATENJOURNALISMUS: Till Eckert & Team „Kein Filter für Rechts“
SPORTREPORTAGE: Thorsten Schmitz „Ins kalte Wasser“
ESSAY: Bernd Ulrich „Kann man an der Macht ein guter Mensch sein?“
FREIER REPORTER: Johannes Böhme „Und was will der Wal?“
www.ankerplatz-hamburg.de | Foto: photocase.com © complize | m.martins
Die Jury: die Journalist:innen Teresa Bücker, Felix Dachsel, Kristina Dunz, Michael Ebert, Wolfram Eilenberger,
Samira El Ouassil, Marcus Engert, Richard Gutjahr, Claus Kleber, Ulrike Köppen, Friedrich Küppersbusch,
Felicitas von Lovenberg, Uwe H. Martin, Caren Miosga, Elisabeth Niejahr, Ronald Reng, Jasmin Schreiber,
Pauline Tillmann, Maja Weber, Jessy Wellmer, Stephan Wels, Armin Wolf, Sonja Zekri, Diana Zinkler, die
Autor:innen Micky Beisenherz, Matze Hielscher, Sascha Lobo, Helge Malchow, die Schauspielerin Gesine
Cukrowski und der Schauspieler Ulrich Matthes.
www.reporter-forum.de
KULTUR
Die unnatürliche Mutter
FILMKRITIK Darf eine Frau Kinder als Last empfinden, als Landplage?
Maggie Gyllenhaal zeigt in ihrem Regiedebüt »Frau im Dunkeln«
schmerzende Konflikte. Und verhilft Olivia Colman zu einem großen Auftritt.
E
in einziges Mal konzentriert die
kleine Elena ihre Energien nicht
auf ihre Mutter, zerrt nicht an
ihr herum, verlangt nicht nach einem
Eis, stört sie nicht bei ihrem Nickerchen.
Das eine Mal wendet sich Elena
ihrer geliebten Puppe zu. Und beißt
ihr ins Gesicht.
Niemand hat das an diesem heißen
Strandtag auf einer Insel im griechischen
Teil der Ägäis gesehen außer
Leda (Olivia Colman). Die Literaturprofessorin,
die halb zum Arbeiten,
halb zum Entspannen da ist, hat Elena
und ihre Familie seit ihrem lauten
Eintreffen am Strand beobachtet. Der
Biss in die Puppe löst nun in ihr etwas
Ungeheuerliches aus. Als die Puppe
verloren geht, findet Leda sie wieder.
Und lässt sie in ihrer Strandtasche
verschwinden, statt sie dem Kind
wiederzugeben.
Objektiv gibt es keinen Grund, warum
Leda so handelt. Das kleine Mädchen
ist völlig aufgelöst ohne seine
Puppe, und die ohnehin gebeutelte
Mutter bekommt ihr Kind nun gar
nicht mehr unter Kontrolle. Subjektiv
gibt es aber viele gute Gründe, warum
es Leda trotzdem tut. Weil ein nerviges
Kind eine Strafe verdient hat. Weil
Leda keine Lust mehr hat, auf die Bedürfnisse
anderer Rücksicht zu nehmen.
Oder weil es endlich aufhören
muss, dass Mädchen mithilfe von Puppen
mütterliche Fürsorge schon in
jüngsten Jahren antrainiert wird.
In schlechten Filmen sorgt Psychologie
dafür, dass sich Handlungsspielräume
schließen: Weil sie vergewaltigt
wurde, kann eine Frau keine Beziehung
mehr aufbauen. Weil er auf der
Arbeit erniedrigt wurde, rastet ein
Mann aus. In guten Filmen – wie »Frau
im Dunkeln« von Maggie Gyllenhaal
(ab 31. Dezember auf Netflix) – vervielfacht
Psychologie dagegen die
Spielräume: weil sich die Beweggründe
einer Figur nicht aus einem Anlass,
sondern einem ganzen Leben speisen.
Ein ganzes Leben ist es denn auch,
das die US-amerikanische Schauspielerin
Gyllenhaal (»The Deuce«,
»Crazy Heart«) in ihrem Regiedebüt
entfaltet. Bekannt und gefeiert für
Frauenrollen, die sich Idealisierungen
entziehen, hat es die 44-Jährige auch
als Regisseurin und Drehbuchautorin
zu solchen Figuren hingezogen.
Grundlage ist der Roman »Frau im
Dunkeln« von Elena Ferrante, den
Gyllenhaal von Italien nach Griechenland
verlagert hat. Ledas Vergangenheit
skizziert sie effizient in
einer Handvoll Szenen, die sie als
Rückblenden in die Handlung einstreut:
Ledas Jahre als ehrgeizige
Nachwuchsakademikerin – und als
junge Mutter, an der die zwei Töchter
ähnlich zerren und reißen wie später
Elena an ihrer Mutter.
Etwas scheint in den ersten Jahren
von Ledas Mutterschaft passiert zu
sein, und was es ist, wirft so viele Rätsel
auf wie ihr Verhalten später am
Strand. »Ich bin eine unnatürliche
Mutter«, sagt Leda der jungen Frau
am Strand und gibt ihr wie auch dem
Publikum den ersten Hinweis darauf,
was ihr Geheimnis sein könnte.
Auf wunderbare Weise unnatürlich
ist auch Gyllenhaals Spielfilmdebüt
geworden. Mutterschaft inszeniert
sie wie einen Psychothriller und
einen Strandurlaub wie eine Gang-
Schauspielerin
Colman als Leda
Gyllenhaal
inszeniert
einen Strandurlaub
wie
eine Gang-
Fehde.
Netflix
Fehde. Leda verhält sich territorial,
als Elena, ihre Mutter (Dakota Johnson)
und deren weitläufige Verwandtschaft
an dem Strand anrücken, auf
dem Leda ihren Arbeitsurlaub möglichst
ungestört verbringen wollte.
»Nein, danke«, sagt sie schlicht, als
die Familie sie bittet, doch den Liegestuhl
zu wechseln, damit sie alle beieinandersitzen
können.
Ledas Reaktion ist unverschämt,
und gleichzeitig nachvollziehbar.
Denn sie versteht die Bitte der Familie
als Aufforderung, mit ihrer ganzen
Existenz – ihrem Dasein als alleinstehende,
48-jährige, beruflich erfolgreiche
Frau – zu weichen und anderen
Platz zu machen. Doch diesen Kampf
hat Leda wie so viele Frauen in ihrem
Alter und in ihrer Position schon so
lang und so erfolgreich bestritten,
dass sie immer weiterkämpft. Obwohl
ihr niemand etwas Böses will. Jedenfalls
zunächst nicht.
Filme mit einer unsympathischen
oder zumindest zwiespältigen Hauptfigur
stellen ein Risiko dar, weil sich
das Publikum abgestoßen fühlen
kann – Olivia Colman aber macht
Leda zu einem Menschen. Bei der
Britin dachte man schon in den vergangenen
Jahren ständig, dass sie nun
aber wirklich die beste Rolle ihrer
Karriere gefunden habe: als düpierte
Polizistin in »Broadchurch«, als erotomane
Stiefmutter in »Fleabag«, als
traumatisierte Herrscherin in »The
Favourite«. Und dann übertrifft sie
sich wieder selbst, wie jetzt als Leda.
Colman ist aber auch umgeben
von einem exzellenten Ensemble.
Neben Dakota Johnson gehören dazu
Jessie Buckley als jüngere Leda,
Ed Harris als alternder Flirt sowie
Paul Mescal als Kellner. Gemeinsam
gleichen sie mit ihrem unaufgeregten
Spiel die Schwächen der Vorlage aus.
Trotz aller Sorgsamkeit bekommt
Gyllenhaal den zum Teil platten Symbolismus
Ferrantes (Puppen müssen
an mehreren Stellen als Verbindungen
zwischen Müttern und Töchtern
herhalten) nicht komplett in
den Griff und umgeht auch nicht die
eine oder andere banale Entladung
von ansonsten sorgsam aufgebauter
Spannung.
Aber vielleicht ist das auch egal,
wenn in einem Film Sätze vorkommen,
die wie Messerstiche schmerzen.
Zur Großfamilie, die Leda so
nervt, gehört eine Hochschwangere.
Leda kommt mit ihr ins Gespräch,
plaudert über Urlaub und Nachwuchs.
Dann sagt sie der Schwangeren:
»Kinder sind eine erdrückende
Verantwortung.« Und geht.
Hannah Pilarczyk
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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Gesundheit), Eva Lehnen, Philipp Löwe, Katherine
Rydlink, Sandra Schulz, Julia Stanek, Nina Weber.
Autoren: Enrico Ippolito, Jule Lutteroth, Marianne
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Helene Endres. Redaktion: Tanya Falenczyk, Helene
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(Teamleitung Start), Markus Sutera, Verena Töpper
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Christoph Gunkel, Dr. Katja Iken, Uwe Klußmann,
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Martin Pfaffenzeller, Dr. Johannes Saltzwedel
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Redaktion: Antonia Bauer, Claudia Beckschebe,
Alexandra Klaußner, Marco Wedig
SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gartred
Alfeis, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs,
Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse,
Katharina Lüken, Stefan Moos, Sandra Pietsch, Fred
Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Sandra Waege
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Linda Grimmecke, Petra Gronau, Rebecca von Hoff,
Ursula Overbeck, Britta Romberg, Martina Treumann,
Katrin Zabel
BILDREDAKTION Leitung: Mascha Zuder, Mareile
Mack (stellv.); Claudia Apel, Jose Blanco, Tinka Dietz,
Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Philine Gebhardt,
Thorsten Gerke, Niklas Hausser, Daniel Hofmann,
Andrea Huss, Rosa Kaiser, Jan Kappelmann, Elisabeth
Kolb, Petra Konopka, Matthias Krug, Charlotte Lensing,
Theresa Lettner, Nasser Manouchehri, Parvin Nazemi,
Nicole Neumann, Peer Peters, Jens Ressing, Oliver
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132 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
NACHRUFE
Joan Didion, 87
Ohne sie wären mehrere Generationen amerikanischer und auch
einiger deutscher Autoren kaum denkbar gewesen. Vor allem ihre
beiden Essaysammlungen »Slouching Towards Bethlehem« von
1968 und »The White Album« von 1979 lieferten die Vorlage für
eine modernisierte Version des seit den frühen Sechzigerjahren in
den USA kursierenden New Journalism. Didion erweiterte die
ohnehin subjektiv geprägte Textform um eine psychologische und
emotionale Ebene, mit einem röntgenhaften Blick fürs Detail, vor
allem für das kompromittierende. Sie war in fünfter Generation
Kalifornierin, wie sie stets betonte, und darin lag auch ihre weltanschauliche
Erdung. Das goldene amerikanische Versprechen – kein
Ort stand dafür so wie Kalifornien. Es hieß, dort könnten Träume
wahr werden, und viele wurden es in Hollywood ja auch. Für einige
der Filme schrieb Didion zusammen mit ihrem Mann John Gregory
Dunne die Drehbücher. Andererseits verwies Didion immer
wieder auf die Risse, die das Bild durchzogen, sah das Chaos und
den Verfall, war skeptisch gegenüber Hippies oder der Frauenbewegung.
So schien sie den Konservativen manchmal näher als den
Beatniks, und bis zu ihrem Tod reklamierten die entgegengesetzten
ideologischen Lager Didion als eine der ihren. Später rückten in
Büchern wie »Das Jahr des Magischen Denkens« Verlust und
Älterwerden ins Zentrum ihrer teils schmerzvollen Betrachtungen.
Joan Didion starb am 23. Dezember in New York. OEH
Sarah Weddington, 76
Einer jungen Anwältin aus Texas verdanken die Amerikaner
einen der wichtigsten und umstrittensten Rechtssprüche der US-
Geschichte. 1973 entschied das höchste Verfassungsgericht in
dem Verfahren »Roe gegen Wade«, dass das Abtreibungsverbot
des Staates Texas verfassungswidrig sei. Es war Weddingtons
erstes Gerichtsverfahren, sie war erst 26 und vertrat eine Klägerin
unter dem Alias Jane Roe, die abtreiben wollte und deswegen
den Bezirksstaatsanwalt Henry Wade verklagte. Die Entscheidung
wurde damals weitgehend begrüßt, doch das Erstarken der christlichen
Rechten rückte später »Roe gegen Wade» in den Mittelpunkt
jahrzehntelangen erbitterten Streits. Erstmals könnte es
jetzt mit der durch Ex-Präsident Trump herbeigeführten konservativen
Mehrheit im Supreme Court rückgängig gemacht werden.
Sarah Weddington starb am 26. Dezember in Austin. OEH
Bridgemanimages.com
Desmond Tutu, 90
Apartheid sei Sünde, verkündigte
Desmond Tutu von der
Kanzel. Der streitbare Kirchenführer
war neben Nelson Mandela
der wirkmächtigste Aktivist
im Kampf gegen die Rassentrennung
in Südafrika. Er
klagte die Verbrechen des weißen
Unrechtsregimes an, rief zu
Sanktionen auf, stand den Opfern
staatlicher Gewaltexzesse
bei. Seine Anhänger verehrten
ihn als »Gewissen der Nation«.
Seine Widersacher nannten ihn
abschätzig »heiliger Terror«.
Aber die Regierung konnte ihn
nicht zum Schweigen bringen
wie so viele Freiheitskämpfer,
denn spätestens nach der Verleihung
des Friedensnobelpreises
1984 war Tutu weltberühmt
und unantastbar geworden. Der
Befreiungstheologe führte ein
Leben im Widerstand, als einfacher
Priester, als Generalsekretär
des nationalen Kirchenrats,
als anglikanischer Erzbischof
von Kapstadt. Er war Seelsorger,
Hirte, Mahner, ein radikaler
Christ, der die Vision von der
»Regenbogennation« entwarf,
einer friedlichen, multiethnischen
Gesellschaft. Tutu wurde
wie der Dalai Lama zu einer
weltweiten Projektionsfigur humanistischer
Werte. Auch nach
dem Ende der Apartheid blieb
er ein unbequemer Kleriker, der
die Korruption und den moralischen
Verfall der neuen schwarzen
Machtelite anprangerte.
Aber Tutu hatte bei allem alttestamentarischen
Zorn einen
mitreißenden Humor. Er erzählte
gern den Witz, wie er nach
seinem Tod irrtümlicherweise in
der Hölle landet und dort so
viel Ärger macht, dass der Teufel
entnervt an der Himmelspforte
Asyl beantragt. Desmond
Mpilo Tutu starb am 26. Dezember
in Kapstadt. ILL
Friedrich Stark / epd
Inge Jens, 94
Sie wurde berühmt als Arbeitsund
Lebensgefährtin eines
lauten, wirkmächtigen Intellektuellen,
was angesichts ihrer
eigenen schöpferischen Kraft
ungerecht war und tragisch wirken
konnte. »Frau Thomas
Mann. Das Leben der Katharina
Pringsheim«, hieß eines der
Bücher, das Inge Jens gemeinsam
mit ihrem Mann Walter
Jens veröffentlicht hat. Es war
das aus Briefen und Tagebucheinträgen
komponierte Porträt
einer selbstbewussten Frau
an der Seite eines Mannes mit
Stargebaren – und damit eine
Spiegelung ihrer eigenen Existenz.
Inge Jens wuchs in wohlhabenden
Verhältnissen in
Hamburg auf. Ihr Vater war
Chemiker und in einer Nachrichtenabteilung
der SS tätig, sie
selbst war im nationalsozialistischen
»Bund Deutscher Mädel«
engagiert. In Tübingen, wo sie
1949 Literaturwissen schaft
zu studieren begann, lernte sie
Walter Jens kennen. Während
ihr Mann als Autor, Redner und
Rhetorikprofessor zu einer prägenden
Gestalt des westdeutschen
Nachkriegskulturlebens
wurde, editierte Inge Jens wichtige
Briefwechsel und trat klug
und entschlossen als Kämpferin
der Friedensbewegung auf. Als
1991 der Irakkrieg begann, versteckte
das Ehepaar Jens zwei
desertierte US-Soldaten in
seinem Haus. Nachdem ihrem
Mann spät seine eigene Mitgliedschaft
in der NSDAP vorgehalten
wurde und er an Demenz
erkrankt war, stand Inge
Jens ihm bei – und schilderte
unter anderem in dem Buch
»Langsames Entschwinden«
(2016) die Entfremdung von
ihrem Gefährten, den »die
Krankheit zu einem anderen
Menschen gemacht« habe.
Inge Jens starb am 23. Dezember
in Tübingen. HOE
Volker Hinz / Volker Hinz / Stern / Picture Press
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
133
PERSONALIEN
Überlebende
Mit Stolz und Wehmut beobachtet
Katy Perry, 37, Popstar,
wie ihr Werk von der nachfolgenden
Generation vereinnahmt
wird. Auf die Frage,
wie sie sich fühle, wenn sie mit
Anspielungen oder Zitaten
konfrontiert wird, antwortete
Perry in einem Interview mit
dem LGBTQ-Magazin »Out«:
»Alt, wirklich alt. Und dankbar,
dass ich das alles überlebt habe
und nicht irgendwo tot im
Graben liege.« Im vergangenen
Jahr haben sich junge Musikerinnen
vor drei ihrer Songs verbeugt:
Fletcher bediente sich
bei Perrys erstem Hit »I Kissed
a Girl«, Ariana Grande nannte
»The One That Got Away«
aus dem Jahr 2010 »einen der
größten und bestgeschriebenen
Popsongs aller Zeiten«, und
Olivia Rodrigo singt in »Brutal«
die Zeile »Where’s my fucking
teenage dream?« Die Website
»Vulture« hatte »Teenage
Dream« den besten Song genannt,
den Perry je geschrieben
hat. Die Musikerin, die seit
Mittwoch ihre Show »Play« in
Las Vegas präsentiert, war 25,
als der Song erschien. Dass die
18-jährige Rodrigo sich für ihr
erstes Album davon inspirieren
ließ und auch andere Künstlerinnen
sich von ihrem Werk beeinflussen
lassen, berührt Perry:
»Es bedeutet, dass die Musik
immer noch ankommt bei den
Leuten und die Botschaft immer
noch gültig ist.« KS
Fox Television Network / Entertainment Pictures / eyevine / laif
Grischa Kaufmann / Edition Moderne
Wie eine Riesin
Wird ein Trauma innerhalb
der Familie vererbt, nennt die
Wissenschaft das »Transgenerationale
Weitergabe«. In ihrem
Comic »Anna« erzählt die Illustratorin
Mia Oberländer, 26, auf
brutale und komische Art die
Geschichte von Anna 1, 2 und 3.
Sie sind Großmutter, Mutter
und Kind und leiden alle unter
ihrer enormen Körpergröße, die
mit jeder Generation noch ausgeprägter
wurde. »Die Inspiration
habe ich von meiner eigenen
Familie«, sagt Oberländer.
»Dabei ging es bei uns um die
Körpergröße in Kombination
mit Dünnsein. Mit 176 Zentimetern
bin ich gar nicht so groß,
trotzdem habe ich mich lange
Zeit wie eine Riesin gefühlt.«
Durch die Arbeit an »Anna«
habe sie viel über sich und die
Verhaltensweisen ihrer eigenen
Familie verstanden, sagt Oberländer:
Anna 3, die Oberländer
so überspitzt gezeichnet hat,
dass sie sogar Berggipfel überragt,
gelingt es schließlich,
sich aus der komplizierten Familiendynamik
zu befreien, sie
»blickt am Ende des Buches
von oben auf die Dinge«. Für
ihren neuen Comic hat Oberländer
wieder Anregung in ihrer
Familie gefunden. Er soll von
Streit handeln. SCW
134 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Spuren des Lebens
Als die Fotografin Herlinde
Koelbl, 82, die damals nahezu
unbekannte Angela Merkel zum
ersten Mal fotografierte, fiel ihr
auf, wie ungelenk die neue Ministerin
aus Ostdeutschland sich
vor der Kamera verhielt, wie sie
nicht wusste, wohin mit ihren
Händen. Es war das Jahr 1991,
Helmut Kohl hatte die 37-jährige
Merkel gerade in sein Kabinett
geholt, und Koelbl wollte
mit ihr über Macht sprechen
und sie, wie einige andere Politiker
auch, über einen längeren
Zeitraum einmal im Jahr fotografieren.
Merkel sah zunächst
keinen Sinn in dem Vorhaben,
schreibt Koelbl im Vorwort
ihres gerade im Taschen Verlag
erschienenen Fotobands »Angela
Merkel. Portraits 1991–2021«.
Sie hat trotzdem mitgemacht,
vielleicht aus merkelschem
Pflichtbewusstsein, vielleicht
auch, weil die Wissenschaftlerin
in ihr unterbewusst doch etwas
in der Versuchsanordnung erkannte,
deren Objekt sie selbst
war. Auf jenem ersten Bild aus
dem Oktober 1991 trägt Merkel
noch eine Strickjacke über dem
Rollkragenpullover, und es ist
fast irritierend, sie ohne den
Blazer mit den großen Clownsknöpfen
der späteren Regierungschefin
zu sehen. Auf dem
Foto von 1998 tauchen zum ersten
Mal die Hände in Rautenformation
auf, allerdings noch
etwas gekünstelt, es fehlt noch
an der Selbstverständlichkeit.
Danach kommt eine Lücke.
Koelbls ursprüngliches Projekt
»Spuren der Macht« war fertiggestellt.
Erst 2006 mit Merkel
als Kanzlerin setzt die Porträtserie
wieder ein, ein gewaltiger
Sprung: Der Blazer ist da, die
Halskette, und der Blick ist ein
anderer, kein suchender mehr,
allenfalls selbstbewusst fragend.
Der Kopf neigt sich immer stärker
nach rechts, während linker
Mundwinkel und linkes Augenlid
nach oben ziehen, sodass
ein beinahe verschmitzter Ausdruck
entsteht. 2021, genau
30 Jahre nach dem ersten Foto,
entstand das letzte Porträt,
und darauf sieht es fast so aus,
als zwinkerte das scheidende
Untersuchungsobjekt der Fotografin
zu. OEH
Rolf Vennenbernd / picture alliance / dpa
Nummer eins im
Quarantäne-Look
Das T-Shirt schlackert um seine
Hüften, die Shorts wallen um
die Knie, und die Füße stecken
in Turnschuhen und Tennissocken.
In diesem Outfit würde
manch berühmte Person nicht
mal zum Sport gehen. Die Gefahr,
unvorteilhaft von Paparazzi
abgelichtet zu werden, wäre
zu groß. Adam Sandler, 55, ist
das offenbar egal. Der Schauspieler
marschiert schon seit
Langem in diesem Look in Restaurants,
zum Einkaufen und
sogar auf den roten Teppich.
Nun wäre das allein noch keine
Meldung. Dass Sandler es mit
diesem »Style« in diesem Jahr
zur Stilikone gebracht hat, allerdings
schon. Laut Google führt
er die Hitliste der am meisten
gesuchten Promi-Looks an.
Damit landet Sandler in seinem
Shabby Chic sowohl vor den
Sängerinnen Britney Spears
und Lizzo als auch vor der
männlichen Stilikone Harry
Styles. Das bedeutet allerdings
nicht, dass Basketball-Shorts
und Oversize-Shirts nun den
Anzug verdrängen. Denn auch
Melania Trump wird in Googles
Top-Ten-Liste geführt. Sie dürfte
mit ihrer oft geschmacklosen
Kleidung (beispielsweise die
»I really don’t care«-Jacke, die
sie beim Besuch eines Aufnahmezentrums
für Einwandererkinder
trug) aber eher als Negativbeispiel
gegoogelt worden
sein. Sandler vielleicht auch.
Wahrscheinlicher ist aber, dass
das Interesse am Sandler-Style
mit dem Jahr 2021 zu tun hat.
Quarantäne, Homeoffice und
geschlossene Klubs dürften
die Nachfrage nach bequemer
Kleidung angefacht haben.
Mancher hatte wohl andere Sorgen,
als möglichst schick auszusehen.
EVH
Jim Ruymen / UPI / laif
Mit Prada und
Valentino
Eine Longchamp-Tasche in
Netzoptik für den Gang zum
Wochenmarkt, ein Tweedrock
von Balmain fürs Date. Dazu
karierte Fischerhüte und fingerlose
Lederhandschuhe, glitzernde
Prada-Taschen, Valentino-
Gürtel, groß beschleifte Cocktailkleider
von Rotate. Kaum
eine Figur ist derzeit so feudal
ausstaffiert wie Emily Cooper,
gespielt von Lily Collins, Tochter
von Musiker Phil Collins und
Protagonistin der Serie »Emily
in Paris«, deren zweite Staffel
nun bei Netflix zu sehen ist.
Wenn die Social-Media-Expertin
aus ihrer Altbauwohnung auf
die Pariser Gehsteige tritt, ist es,
als stiege sie aus der Zauberkugel
der »Mini Playback Show«:
Jeden Morgen trägt sie ein neues
Outfit aus etwa sieben sich teilweise
komplementär verhaltenden
Designerstücken und Second-Hand-Funden.
Wer sich an
die Kolumnistin Carrie Bradshaw
(Sarah Jessica Parker) aus
»Sex and the City« erinnert
fühlt, irrt nicht. Die beiden teilen
nicht bloß ihre Liebe zu Taillengürteln,
sondern auch dieselbe
Ausstatterin. Patricia Field, 79,
sorgte vor mehr als 20 Jahren für
die ikonischen Kostüme von
Carrie und Co. Bei »Emily in Paris»
gab sie den opulenten Outfits
als Modeberaterin den letzten
Schliff. Die ebenfalls vor
Kurzem gestartete »Sex and the
City«-Fortsetzung hat Fields allerdings
abgesagt: Die Serie über
die mittlerweile älteren New
Yorkerinnen ist, jedenfalls modisch,
reifer und somit offenbar
nichts für die 79-Jährige, die
immer sagte: »Wir scheren uns
nicht um die Realität.« EVH
Tina Paul / CAMERA PRESS / laif
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
135
BRIEFE
Kopfschütteln und
Sorge
Nr. 51/2021 Im thüringischen Hildburghausen
sind besonders viele
Menschen mit Corona infiziert und sehr
wenige geimpft. Woran liegt das?
Ein enkelfähiges
Leben leben
Nr. 52/2021 Übermorgen wird’s
was geben. So aufregend
wird die Zukunft unserer Kinder
Schön, dass zur Weihnachtszeit
ein fast optimistischer Blick in
die Zukunft geworfen wird. Es
braucht aber einen radikalen
Paradigmenwechsel, für den das
Zeitfenster schon in wenigen Jahren
geschlossen sein wird. Den
halte ich kurzfristig für unmöglich
im Hinblick auf die globale Bevölkerungszahl
und die wachsenden
Ansprüche der Menschen
in den Schwellenländern, die
von unserer Konsumgesellschaft
schon längst angefixt wurden.
Wir haben jetzt schon die Ökosysteme
und die auch für uns existenzielle
Biodiversität zerstört.
Der Klimawandel und die daraus
resultierenden Verteilungskämpfe
werden ihr Übriges tun. Das
Anthropozän neigt sich dem
Ende zu.
Uwe Schmidt, Karlsruhe
Na ja, wenn wir die Probleme
unserer Zeit nicht in den Griff bekommen,
dann wird die Zukunft
unserer Kinder nicht nur aufregend,
sondern auch kurz. Und
wenig erbaulich.
Thomas Wascher, Bonn
Genial, Herr Fichtner! Aber wer
hätte es von Ihnen anders erwartet?
Ihr Aufsatz ist eine großartige
Diskussionsgrundlage. Was
Ihnen gelingt, das ist relativ selten:
Sie berühren in herausragender
Sprache alle Bereiche, über
die wir nachdenken müssen, verzichten
auf eigene Thesen, Sie
stellen viele Fragen, allesamt zukunftsweisend
oder zukunftsrelevant,
Sie zitieren viele namhafte
Autoren und Forscher. Wo anschließend
diese Diskussion ihre
Fortsetzung findet, sehen wir
dann. Schließlich muss auch das
Handeln in den Fokus, trotz aller
Unsicherheiten. Nichthandeln,
sagte der Pädagoge Alfred Treml,
ist auch Handeln.
Fernand Schmit, Seevetal (Nieders.)
Pillenknick, Mauerbau, Atombombe,
Tsunami, Finanzkrise,
Pandemie und so weiter: All diese
Dinge konnte man schon wenige
Jahre zuvor nicht vorhersagen.
Jetzt 100 Jahre in die Zukunft
zu schauen erscheint mir
doch sehr sportlich!
Martin Spranck, Bonn
Es gibt bescheidene, leise, nachdenkliche
Bürger, es sind nicht
wenige, die ein neues, nachhaltiges
Leben begonnen haben,
die nicht mehr fliegen, kein Auto
mehr fahren und wenig Fleisch
essen, kurzum ein enkelfähiges
Leben bestreiten. Sie führen nirgendwo
ein großes Wort. Sie haben
in den Parlamenten von
Bund und Ländern keine Stimme.
Es fehlt die neue Kultur eines
zukunftsfähigen Lebens.
Dr. Jürgen Onken, Hude (Nieders.)
Nach all den Hiobs-Informationen,
zuletzt über die Rückkehr
der Missernten, muss es ja endlich
auch schöne Perspektiven für das
Gleichgewicht der Erwartungen
geben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Auch beruhigend.
Klaas Ockenga, Hassloch (Rhld.-Pf.)
Übermorgen wird es in der Tat
was geben. Die größte Gabe des
Menschen allerdings ist seine
Fähigkeit zur Selbstreflexion! Ein
Kapitän sagte mir einmal: Von
achtern her zu leben erfüllt das
Leben mit Sinn; »respice finem«
steht deshalb über dem mecklenburgischen
Schloss Bothmer in
Klütz: »Bedenke Dein Ende!«
Wer täglich so lebt, dass er gut
scheiden kann, lebt sinnvoll. Das
ist genug; das genügt; erst das
bringt Genugtuung. Und genau
diese menschliche Fähigkeit sollte
auch übermorgen noch mehr
entfaltet werden.
Anni Weilandt, Bad Malente (Schl.-Holst.)
Das aktuelle SPIEGEL-Cover hat
mehr als nur das gewisse Etwas,
fast schon einen Hauch Transzendenz,
zwischen Prophetie und
schwarzem Humor.
Raffaele Ferdinando Schacher, Rorschach
(Schweiz)
Eine wirklich gelungene Titelgeschichte
– sprachlich brillant
zudem: »Scharten in den Fieberkurven
der Börsen«, »die Welt
per Fax verwalten« oder »Work-
Life-Blending« – herrlich! Ja, die
Hoffnung ist bekanntlich das, was
bis zuletzt bleibt, und sie ist absolut
menschlich! Für die Politik
zum Nachdenken sollte auch der
Satz des Soziologen Harald Welzer
sein: »Ziele sind keine Handlung.«
So ist es wohl. Ein bisschen
ist es in der Politik unseres demokratischen
Gemeinwesens wie im
Bereich Planen und Bauen: Neuplanung
und -bau auf der grünen
Wiese ist einfacher als Umbau
und Modernisierung im Bestand.
Viele Gesetze und Verordnungen
sind da und bestimmt auch gut
gemacht. Sie werden nur nicht
konsequent angewendet. Das
zweite Kernproblem liegt »leider«
im Wesen der Demokratie
selbst: Wer vor Wahlen große
Veränderungen ankündigt, wird
vermutlich nicht gewählt und
kann dann gar nichts verändern.
Politik braucht aber mehr Mut für
harte Wahrheiten. Dieses akzeptieren
zu lernen, ohne gleich neidvoll
auf die Nachbarn zu schauen,
ist wiederum Aufgabe von uns
allen.
Udo Sonnenberg, Regensburg
Ihrer Titelstory fehlt das Schlusswort:
Amen.
Erwin Bixler, Rodalben (Rhld.-Pf.)
Dieser Artikel lässt mich in wachsender
Sorge zurück. Auch ich
kenne Mediziner, die die Coronaimpfung
ablehnen. Keine selbst
ernannten Heilpraktiker, sondern
Menschen mit naturwissenschaftlichem
Hochschulabschluss, deren
Wort bei der Bevölkerung zu
Recht hohes Gewicht hat. Bitte
finden Sie solche Personen und
laden Sie sie ein, wissenschaftlich
begründete Argumente vorzutragen!
Organisieren Sie SPIEGEL-
Streitgespräche auf Augenhöhe.
Medizinischen Laien wie dir und
mir, deren Impfskepsis auf dem
ablehnenden Ratschlag ihres vertrauten
Hausarztes beruht, ist erst
mal kein Vorwurf zu machen.
Wobei keinem verboten ist, sich
umfassender zu informieren. Das
Stichwort »ärztliche Zweitmeinung«
könnte hier helfen – wenn
eine solche denn gewünscht wäre.
Hans-Ulrich Thiel, Halle/Saale
Die Situation wäre wohl eine andere,
wenn die Coronaopfer mit
abgerissenen Gliedmaßen blutüberströmt
auf den Straßen liegen
würden. Derzeit verbergen
sie sich quasi anonym in zahllosen
Todesanzeigen, auch in der
zitierten »Rundschau«. Diese
veröffentlicht übrigens auch Leserbriefe
der Impfbefürworter.
Zu einer ausgewogenen Berichterstattung
hätte allerdings ein
Hinweis darauf gehört, dass die
Mehrheit der 62 000 Einwohner
Hildburghausens alles tut, um
sich vor dem Virus zu schützen.
Dr. Klaus Swieczkowski, Hildburghausen
(Thür.)
Drohungen sind nie
hinnehmbar
Nr. 51/2021 Ministerpräsident
Kretschmer über Coronaleugner und
»Querdenker«
Ja, Deutschland ist ein freiheitlicher,
demokratischer Rechtsstaat,
und darüber sollte jeder froh sein,
der in diesem Land lebt. Aber ein
Rechtsstaat ist nur dann einer,
wenn das Recht auch gegen Freiheitsmissbrauch
und Demokratiefeindlichkeit
– nichts anderes
136 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Wir fragen uns,
warum noch nie ein
(temporäres) Tempolimit
zur Entlastung
der Pflege, Polizei
und Feuerwehr oder
der Rettungswagen
öffentlich diskutiert
worden ist. Das wäre
doch das Mindeste,
um das Personal in
der Pandemie akut zu
entlasten.
Dr. Joanna Smolinska, Ärztin,
und Camilla Kienast, Ärztin,
Berlin
Nr. 51/2021 Wie heftig trifft die
Omikron-Welle Deutschland?
sind öffentliche Drohungen nämlich
– entschieden und entschlossen
verteidigt wird. Drohungen
mit körperlicher oder psychischer
Gewalt, egal ob privat oder öffentlich,
sind nie hinnehmbar.
Hans-Joachim Lotz, Hamburg
Der sächsische Ministerpräsident
wirft der FDP in ihrer Funktion als
Teil der Bundesregierung erfreulich
eindeutig irrlichterndes Verhalten
vor. Ein zu hartes Urteil? Wohl
kaum, wenn man bedenkt, dass
sich der FDP-Politiker Wolfgang
Kubicki, immerhin Vizepräsident
des Bundestags, nicht entblödet
hat, die Befürworter:innen einer
Impfpflicht zu bezichtigen, es gehe
ihnen um »Rache und Vergeltung«.
Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)
Die bessere
Regierungserklärung
Nr. 51/2021 Die Berliner Soziologin
Naika Foroutan sagt, Einwanderung muss
Machtpolitik werden
Der Beitrag hat mich regelrecht
elektrisiert. Seit sechs Jahren warte
ich auf so einen Text. Ich kann
nur hoffen, dass ihn sehr viele
Menschen lesen – besonders Mitglieder
der Regierung –, vor allem
auch hier in Österreich. Es wäre
schön, wenn man sich als Bürger
nicht mehr schämen müsste für
Mir als Spandauerin
erscheint das hiesige
Ordnungsamt nicht
überlastet. Bei mir
kontrollierten zwei
Mitarbeiterinnen die
Einhaltung der Quarantäne
und verlangten
Impfnachweise.
Ich konnte sie nicht
erbringen. Dann
wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren
eingeleitet. Es geht
um meine vier alten
Legehennen.
Claudia Güntner, Berlin
Nr. 51/2021 Die Überprüfung
der Coronaregeln überfordert
Ordnungsämter und Polizei
das, was Migrationspolitik genannt
wird – und dieses Thema endlich
wieder mit Hirn, wenn schon nicht
mit Herz, angegangen wird.
Notburga Stricker, Hof am Leithaberge
(Österreich)
Herzlichen Dank an die Autorin
und den SPIEGEL! Ein Artikel,
wie man sich eine Regierungserklärung
zum Thema gewünscht
hätte: nach vorn blickend, faktenbasiert,
ermutigend, ideenreich,
mutig in der gedanklichen Verbindung
von Themen, die in
diesem wohlorganisierten Staat
immer nebeneinander gedacht
werden. In einem guten Sinn
möchte man sagen: Aus Emigrationsnot
wird Handlungstugend.
So kurz vor dem Fest fast schon
eine Weihnachtspredigt.
Axel Sandrock, Rehburg-Loccum
(Nieders.)
Unsere Behörden – egal ob das
Innenministerium, das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge
oder die Landratsämter – haben
die positive Seite der Fluchtbewegung
noch nicht verstanden.
Da sind so viele Arbeitsstellen
unbesetzt, aber die Auflagen der
Behörden wirken wie Stacheldraht.
Die Integration liefe viel
leichter, wenn eine schnelle Vermittlung
in den Arbeitsmarkt
erfolgte. Ja, es fehlt an Mut,
Mi granten aufzunehmen. Das
Der Bericht gibt
Opfern eine Stimme,
die sich erfolgreich
gegen sexualisierte,
physische oder
psychische Gewalt
gewehrt haben – und
die beweisen, dass
wir auch jenseits des
Schwebebalkens
oder des Schwimmbeckens
den vermeintlich
Mächtigen
nicht hilflos ausgeliefert
sind. Widerstand
lohnt sich!
Dr. Fred Maurer, Mannheim
Nr. 51/2021 Drei Sportlerinnen
berichten, was nach ihren
Missbrauchsenthüllungen
geschehen ist
habe ich auch unseren kirchlichen
Behörden in den letzten Jahren
wiederholt gesagt – und sie schämen
sich dafür.
Helmut Staudt, evangelischer Pfarrer i. R.,
Gaiberg (Bad.-Württ.)
Den exzellenten Artikel von Frau
Naika Foroutan sollte man kopieren
und als Einschreiben mit
Rückschein an Mitglieder aller im
Bundestag vertretenen Parteien
zusenden.
Dr. Mohammad Behechtnejad, Winsen/
Luhe (Nieders.)
Ich kann dem Text nur beipflichten.
Warum kümmern wir uns
nicht intensiver um alle Afghanen,
die von den Taliban bedroht
werden und ihr Land verlassen
müssen? Wir brauchen diese
Menschen wie sie uns auch. Gemeinsam
können wir ihnen eine
Perspektive bieten. Jeder von
ihnen sollte nach seiner Ankunft
in Deutschland einen Paten zur
Seite gestellt bekommen, damit
ihre Integration klappt. Das ist
anspruchsvoll und anstrengend,
aber beschert auch viele Glücksmomente,
wenn etwa eine Ausbildung
mit Erfolg absolviert
wurde. Die Patinnen und Paten
lernen wiederum viel über andere
Länder und Kulturen. Das ist
bereichernd.
Hans-Volker Domjahn, Halstenbek
(Schl.-Holst.)
Ein prickelndes
Sektfrühstück
Nr. 51/2021 Thomas Fischer über die
Anwälte in der Serie »Legal Affairs«
Wunderbar, dieser Verriss der
neuen ARD-Serie »Legal Affairs«.
Allein die genussvolle Beschreibung
der Hauptakteurin
Roth als Staranwältin macht die
Lektüre zu einem vergnüglichen
Parforceritt durch 360 Minuten
sprachliche Leckereien. Tja, fast
vergessen: Um Cinemascopisches
geht es auch noch. Der Autor, der
ehemalige Bundesrichter Thomas
Fischer, ist eine wahre sprachkulinarische
Entdeckung.
Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.)
Genial! Selten habe ich eine so
amüsante Satire gelesen wie die
Kritik von Prof. Dr. Fischer an
der Sendung »Legal Affairs«, deren
erste Folge ich mir ansehen
werde – um darüber hoffentlich
erneut so herzhaft zu lachen wie
über die einzigartigen Formulierungen
des Gastbeitrags. Bitte
mehr davon!
Johannes Zilkens, Köln
Was der kritische Thomas Fischer
leider nicht geschrieben hat: Lavinia
Wilson ist eine sehr gute
Schauspielerin.
Stephan Schneberger, Magdeburg
Thomas Fischers Rezension der
ARD-Serie »Legal Affairs« – genial.
Hans-Werner Evers, Duisburg
Wer wollte nach diesem herrlich
ironischen Beitrag noch behaupten,
die Juristen seien mehrheitlich
ohne jeden Humor? Das
hatte ich, selbst Jurist, noch nie
geglaubt. Und wenn ich daran
doch Restzweifel gehabt hätte,
dann wäre ich spätestens jetzt
eines Besseren belehrt. Bravo,
Herr Dr. Fischer, so etwas Prickelnd-Inspiriertes
– fast wie ein
Sektfrühstück – würde man
gerne öfter von Ihnen in diesem
Magazin lesen. Ein Hoch auf Ihre
Zeilen und Daumen nach unten
für diese (das folgende Wort hat
einem der Sender ja so schön
nahegelegt) »fucking« Serie der
ARD!
Dietrich Wolfgang Haas, Lichtenau (NRW)
Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
unter SPIEGEL.de zu archivieren.
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
137
HOHLSPIEGEL
RÜCKSPIEGEL
Von Wiesbadenaktuell.de
Von Augsburger-allgemeine.de: »Wann
ist Vollmond 2022? Wann Neumond? Hier
finden Sie unseren Mondkalender, der
alle Termine bietet. Die Angaben zu den
Mondhasen stammen von der Nasa.«
In einem Gartencenter nahe Regensburg
Von Maz-online.de, dem Onlineauftritt
der »Märkischen Allgemeinen«: »Einen
Dämpfer muss Gesundheitsministerin
Ursula Nonnemacher (Grüne) hinnehmen,
die noch vor einem Jahr hohe persönliche
Zufriedenheitswerte genoss. Mit der Arbeit
der Politikerin, die für die Corona-Krise
maßgeblich verantwortlich ist, sind nur noch
40 Prozent zufrieden – ein Minus von
16 Punkten.«
Aus dem »Göttinger Tageblatt«
Von »t-online«: »Dieses Jahr ist das erste
Mal seit ihrer Hochzeit 1947, dass Queen
Elizabeth II. die Feiertage ohne Mann
Prinz Philip verbringen muss, der im April
im Alter von 99 Jahren ge storben war –
genauso wie auch große Teile der Vorweihnachtszeit.«
Hinweis in der Herrentoilette eines Kaufhauses
in Celle
138 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
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Zitate
Die »Welt« zitiert Aussagen des
desi gnierten CDU-Vorsitzenden
Friedrich Merz im SPIEGEL
(»Schon verrückt«, Nr. 52/2021):
Der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich
Merz hat angekündigt, eine Kooperation mit
der AfD unter allen Umständen zu verhindern.
»Mit mir wird es eine Brandmauer zur
AfD geben«, sagte Merz dem SPIEGEL …
»Die Landesverbände, vor allem im Osten,
bekommen von uns eine glasklare Ansage:
Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt,
um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann
steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren
an.« Merz betonte: »Wir sind nicht
die XYZ-Partei, die mit jedem kann. Wir
sind die CDU.« Er werde im Verhältnis zur
AfD von Anfang an »sehr konsequent sein«.
Franz Josef Strauß habe mal gesagt, dass eine
Jacke, die man einmal falsch zuknöpfe, sich
oben nicht mehr korrigieren ließe. »Da hatte
er recht.«
Die »taz« teilt Beobachtungen des
SPIEGEL über das Auftreten der
Regierenden Bürgermeisterin von Berlin,
Franziska Giffey (»Alles ist verziehen«,
Nr. 50/2021):
Der Kollege vom SPIEGEL war schneller. Jetzt
ist die Formulierung weg und der Quellenhinweis
fällig. Denn bei Franziska Giffey
(SPD), seit Dienstag 11.10 Uhr Berlins neue
und auch erste Regierende Bürgermeisterin,
kann man nicht schlechtes Zitieren bei der
Doktorarbeit kritisieren, das aber selber nicht
besser machen. »Giffey wirkt glaubhaft unbeschwert«
ist nämlich die zentrale und völlig
korrekte Beobachtung des Kollegen.
Der Fotograf Maurice Weiss von der
Agentur Ostkreuz erzählt im »Freitag«
von seinen Recherchen mit einem
SPIEGEL-Reporter im ostdeutschen
Braunkohlerevier (»An der Kante«,
Nr. 28/2020):
Ich war mit Alexander Smoltczyk vom
SPIEGEL vergangenes Jahr in der Lausitz. Er
kam mit einer etwas seltsamen These: Die
von der Braunkohle, das sind Dinosaurier.
Wir haben dann festgestellt, das sind keine
Dinosaurier, das ist eine Gesellschaft im Umbruch,
und zwar im dritten innerhalb einer
Generation. Daraus wurde »Demokratie
an der Abbruchkante«. Als ich die Bilder
bei Ostkreuz gezeigt habe, wurde mir von
einigen Kollegen vorgeworfen: So wäre der
Osten nicht, wie ich mir anmaßen könne,
den Osten so zu fotografieren. Da war ich
perplex, das war unsere Perspektive nach
einer langen Recherche. Unser Beitrag sollte
ein Mosaikstein für eine Diskussion über den
immer noch andauernden Umbruch in der
Lausitz sein.
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Gemeinsam schauen wir nach vorn und sagen:
Morgen kann kommen. Wir machen den Weg frei.