DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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TITEL
die Deutschen den ersten Lockdown
erlebten. Weil seine individuelle Erfahrung
mit dem kollektiven Trauma
zusammenfiel, machte er aus der Not
eine Tugend, schrieb das Buch »Nachruf
auf mich selbst« und ruft darin
zum persönlichen und gesellschaftlichen
Neustart auf: Memento mori,
gedenke des Todes, so klingt sein Appell.
Die logische Folgerung lautet, sich
jetzt schon zu fragen: Wer möchte ich
gewesen sein, um daraufhin das Leben
zu ändern: »Es gibt ein Leben vor
dem Tod. Und nur da«, schreibt Welzer.
»Die Zeit der Veränderung ist die
Gegenwart, nicht die Zukunft.« Und:
Mit Konjunktiven komme man nicht
weiter. »Das Wort ›eigentlich‹ ist zu
vermeiden.«
Das Wort »endlich« drückt das
Wissen darum aus, dass aller Anfang
verheißungsvoll ist. Das Wort »eigentlich«
drückt die Ahnung aus, dass
aller Anfang schwer ist. Es geht beim
Neuanfang um Zauber und Elend,
Lust und Angst, Chance und Gefahr.
Das Wort »Neuanfang« ist eine Tautologie,
jeder Anfang ist neu. Vielleicht
hat man die beiden Wörter irgendwann
miteinander verbunden,
um festzuhalten, dass es hier um
einen echten Akt geht, um etwas Ungeheures,
etwas Schönes, das zugleich
auch des Schrecklichen Anfang sein
kann. Denn so kraftvoll und klar die
Wortzusammensetzung erst einmal
klingt, sagt sie eben doch etwas Doppeltes
aus: den Sprung ins Nichts, zu
dem das Zaudern dazugehört.
Den Neuanfang, den Sprung, endlich
hinter sich zu haben, so lautet
wohl die eigentliche Sehnsucht. Aber
hat man den einen Neuanfang hinter
sich, steht irgendwann der nächste an.
Selbst die Beständigen, Zufriedenen,
Glücklichen erleben regelmäßig Zäsuren.
Neuanfänge gehören zum
Leben. Geboren werden, sich lösen
aus dem Elternhaus, Kindergarten,
Schule, Ausbildung, Beziehung, Elternschaft,
Altenheim und dann: ja,
was? Das Leben nach dem Tod? Das
ist zwar nicht sehr wahrscheinlich,
aber nahezu alle Religionen erzählen
davon: Wiedergeburt, der Jüngste
Tag und was es nicht alles für Ideen
gibt.
Nicht nur das eigene Leben ist immer
wieder vom Schock und der
Chance des Neuanfangs betroffen.
Zweierbeziehungen trifft es genauso.
Der eine trennt sich, der oder die andere
muss daraufhin ebenfalls neu
anfangen, hilft ja nichts. Auch übergeordnete
Bereiche funktionieren nur
über Neuanfänge. In der Demokratie
werden sie durch Wahlen vollzogen.
Wer sich Wahlen stellt, weiß, dass das
Politiker Christian
Lindner, Annalena
Baerbock, Scholz
bei Unterzeichnung
des Koalitionsvertrags
am
7. Dezember: Start
mit Schwung
und Schmerzen
»
Die Zeit
der Veränderung
ist
die Ge
genwart,
nicht die
Zukunft.«
Harald Welzer,
Sozialpsychologe
Sven Döring
Erfolg haben oder zur Blamage werden
kann. Ein Koalitionsvertrag, eine
Regierungserklärung formuliert aus,
was nun für alle neu werden soll.
Selbst diejenigen, die sich an Silvester
keine Vorsätze auferlegt haben,
die nicht von Trennung träumen
oder von ihr ereilt werden, selbst diejenigen,
denen nichts ferner liegt als
der Gedanke an einen Berufswechsel,
auch diejenigen, die sich von Politik
kaum betroffen fühlen – sie alle ahnen,
dass es nach der Coronakrise
nicht so weitergehen wird wie vorher.
Wir haben uns längst verändert. Es
gibt kein Zurück ins alte Normal.
Auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt
zeigen sich durch Corona enorme
Umbrüche – vor allem wegen der
Erfahrungen im Homeoffice. Laut der
US-Statistikbehörde für Arbeit haben
noch nie so viele Menschen von sich
aus ihren Job gekündigt. Im Oktober
allein waren es gut vier Millionen.
Viele haben im Homeoffice, wo sie
nicht Minute für Minute von Kollegen,
von Chefinnen umgeben sind,
darüber nachgedacht, was sie sich von
ihrem Leben wünschen und ob es
nicht erfüllendere Aufgaben gibt.
Hinzu kommen all jene in den
schlecht bezahlten Serviceberufen,
die keine Lust mehr verspüren, sich
für wenig Geld einer Lebensgefahr
auszusetzen. Nun wächst der Druck
auf die Arbeitgeber, für bessere Bedingungen
zu sorgen und die Hireand-fire-Kultur
zu überdenken.
Zwar sind Amerikaner mehr Veränderung
gewohnt als Deutsche, sie
ziehen häufiger um, wechseln regelmäßig
ihre Jobs. Aber auch hierzulande
denken Unternehmen um und
übernehmen dafür Wörter aus dem
Amerikanischen: remote (nicht in unmittelbarer
Nähe befindlich, aber miteinander
verbunden), hybrid (mal so,
mal so, mal zu Hause, mal im Büro).
Neue Wörter, neues Leben. Und die
Marco Urban
Fantasien der Arbeitnehmer blühen
bereits. Ein Büro am Strand, am Steg
oder in den Bergen – wie schön das
wäre. Das Büro sitzt bei vielen ja sowieso
schon auf dem Schoß, in Form
eines Laptops.
Noch vor einem Jahr zu Silvester
sah es so aus, als wäre der schlimmste
Teil der Pandemie bald vorbei, der
erste Impfstoff war da. Heute ist klar,
dass das Schlimmste damals erst bevorstand.
2020 sind hierzulande
mehr als 30 000 Menschen im Zusammenhang
mit dem Virus gestorben,
in diesem Jahr waren es weit
über 70 000. Vergangenes Jahr an
Weihnachten schockierte noch eine
Sieben-Tage-Inzidenz von 196, Ende
November hatten sich die Deutschen
an knapp die doppelte Höhe gewöhnt.
Die Luftwaffe verteilt Schwerkranke
in der Republik, um überfüllte
Kliniken zu entlasten. Andere Soldaten
sind zur Unterstützung im Einsatz
am Boden. Ein Land in Not, dem
die Bundesregierung schon wieder
Kontaktbeschränkungen auferlegt.
So schnell also war der Neuanfang
nicht zu haben. Die Coronavarianten
Delta und Omikron spielen ein böses
Spiel mit den Menschen. Wir haben
uns aber auch in uns selbst getäuscht.
Etliche freuen sich nicht über das
Wunder des schnell herbeigeschafften
Impfstoffs, sondern empfinden gerade
das als unheimlich. Feindselig stehen
sich die Impfgegner und die Impfbefürworter
gegenüber. Letztere sehen
in den Impfgegnern die Zerstörer
des Neuanfangs.
Trotz der Enttäuschungen gibt es
erneut Anlass zur Hoffnung. Gerade
kommen Medikamente gegen Covid
auf den Markt, und die Impfstoffhersteller
entwickeln angepasste Impfstoffe
gegen die neuen Varianten.
Auch der erste Totimpfstoff ist seit
dem 20. Dezember in der EU zugelassen.
Der Impfstoff des Unternehmens
Novavax könnte Gegner der mRNAund
Vektor-Vakzinen dazu bringen,
sich doch noch impfen zu lassen.
Stehen wir nun also wirklich an
einem Neuanfang? Endlich? Und was
haben wir dafür in dieser Krise über
uns selbst gelernt?
Ganz sicher schon mal das eine:
dass ein rascher Wechsel vom
Schlechten ins Gute kaum möglich
ist. Menschen sind einfach zu kompliziert
dafür. Sie sind in der Lage, die
Voraussetzungen für einen Neuanfang
zu schaffen, aber danach verlieren
sie oft Zeit und stellen sich die
größten Hürden selbst. Nicht selten
können mehrere Anläufe nötig werden.
Manchmal ist es zum Verzweifeln.
Aber zu verzweifeln, das wäre
22 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021