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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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75 JAHRE DER SPIEGEL

RELOTIUS-SKANDAL

Der Schock

Vor drei Jahren erschütterten die Fälschungen des Reporters

Claas Relotius den SPIEGEL und stellten die Glaubwürdigkeit des

Magazins infrage. Was folgte daraus? Von Brigitte Fehrle

Fehrle, 67, ist

ehe malige Chef -

re dak teurin der

»Berliner Zeitung«.

Sie arbeitet als freie

Journalistin in Berlin.

A

m 19. Dezember 2018 sah sich

der SPIEGEL gezwungen,

einen bis dahin in dieser Form

nie da gewesenen Fälschungsfall zu

veröffentlichen. Der junge Reporter

Claas Relotius hatte über Jahre hinweg

Texte geschrieben und veröffentlicht,

von denen die meisten zwar

einen wahren Kern hatten, zum großen

Teil aber frei erfunden waren.

Seine Geschichten waren fast immer

außergewöhnlich, einzigartig,

spektakulär. Sie spielten in unzugänglichen

Kriegsgebieten, in der

amerikanischen Provinz oder hinter

den Mauern von Gefängnissen. Die

vermeintlichen Fakten in seinen Texten

komponierte er geschickt, nutzte

damalige Lücken im System und

überlistete Kolleginnen und Kollegen

aus Redaktion und Dokumentation,

die ihm zu sehr vertrauten.

Relotius bekam für diese Texte –

meist Reportagen – viel Lob und

zahlreiche renommierte Journalistenpreise.

Im Dezember 2018 war er

nach Jahren der freien Mitarbeit beim

SPIEGEL fest angestellt und stand am

Beginn einer, wie man damals vermuten

konnte, großen Karriere. Die

Geschichte, die ihn schließlich enttarnte,

trug den Titel »Jaegers Grenze«.

Eine Story über eine Bürgerwehr,

die in Selbstjustiz illegale Migranten

an der Grenze aufspürt.

Für die Redaktion des Nachrichten-Magazins,

die am Mittag des

19. Dezember von der Chefredaktion

informiert wurde, war die Enthüllung

ein Schock. Zumal es nicht die Redaktion

selbst war, nicht aufmerksame

Ressortleiter oder Chefredakteure,

die Relotius enttarnt und damit

gestoppt hatten. Es war ein Kollege,

der unfreiwillig mit dem Starreporter

für eine Recherche über Flüchtlinge

an der Grenze zwischen den USA

und Mexiko zusammengespannt

worden war.

Juan Moreno, ein erfahrener Reporter,

stellte offenbar als Erster an

einen Text von Relotius die Frage:

Kann das sein? Ist diese drehbuchhaft

stimmige Geschichte tatsächlich so

passiert? Moreno recherchierte auf

eigene Faust Relotius’ Story nach,

suchte Orte und handelnde Personen

auf und stellte fest: frei erfunden.

Es dauerte einige Wochen, bis man

Juan Moreno beim SPIEGEL glaubte.

Er lief damals, wie er später selbst

formulierte, »gegen Wände«. Moreno

war freier Mitarbeiter, Relotius sah

man als den talentierten, aufstrebenden

Kollegen. Man vermutete Konkurrenz

und Eifersucht als Motiv

für Morenos Anschuldigungen. Aber

das ist eine eigene, für den SPIEGEL

nicht rühmliche Geschichte in der

Geschichte.

Der Fall Relotius führte zu einer

intensiven öffentlichen Debatte über

die Glaubwürdigkeit des Journalismus.

Zu Recht wurde die Frage aufgeworfen,

wie sicher sich Leserinnen

oder Leser sein könnten, dass die

Informationen und die erzählten Geschichten

stimmten, wenn schon in

einem Medium wie dem SPIEGEL mit

seiner umfangreichen Dokumentationsabteilung,

die jeden Text im Heft

auf Faktentreue prüfte, ein Fälscher

über Jahre hinweg unentdeckt bleiben

konnte.

Auch die zahlreichen Ausrichter

von Journalistenpreisen, deren Jurys

mit namhaften Chefredakteuren und

erfahrenen Reportern und Rechercheuren

besetzt sind, mussten sich

fragen, warum ihnen gerade diese

Texte so gut gefallen haben, dass sie

Preis um Preis vergaben. Und da es

Reportagen waren, für die Relotius

ausgezeichnet worden war, stellte sich

die Frage, ob dieses Genre, das wie

kein anderes aus der oft nicht nachprüfbaren

Beobachtung entsteht, besonders

anfällig ist für Fälschungen.

Dass der Skandal um Relotius für

den SPIEGEL nicht nachhaltig zu

einem Verlust von Image und Glaubwürdigkeit

führte, hatte auch mit dem

Wechsel der Chefredaktion zu tun.

Steffen Klusmann war im Dezember

2018 zwar schon im Haus, aber noch

nicht im Amt. Es war also nicht sein

Fälschungsskandal, es war der Skandal

seiner Vorgänger. Ein glücklicher

Zufall also, der es Klusmann leichter

gemacht hat, sich für Offenheit und

konsequente Aufarbeitung zu entscheiden.

Eine eigene Aufklärungskommission,

deren Mitglied ich war, sollte

den Fall aufarbeiten.

Die dreiköpfige Kommission,

außer mir waren das der gerade frisch

eingestellte Nachrichtenchef Stefan

Weigel und der langjährige SPIEGEL-

Mann Clemens Höges, bekam drei

Aufgaben: Alle Texte von Relotius

auf Fälschung hin zu überprüfen. Die

Frage zu beantworten, ob und wie die

Strukturen innerhalb des Hauses

dazu beigetragen haben, dass Relotius

so lange nicht enttarnt wurde.

Und Vorschläge zu machen, wie dies

künftig verhindert werden kann.

Die erste Aufgabe war aufwendig,

aber im Ergebnis eindeutig. Sämtliche

Texte von Claas Relotius wurden mithilfe

der Dokumentation und der Redaktion

auf Richtigkeit nachgeprüft.

Das Resultat war so klar wie niederschmetternd:

Fast alle Texte waren

fehlerhaft bis komplett gefälscht. Herauszufinden,

ob die redaktionellen

Strukturen mit dazu beigetragen haben,

dass der Fälscher Relotius so

lange nicht entdeckt wurde, war die

ungleich schwierigere Aufgabe.

M

ir begegneten im Januar 2019,

als wir mit der Recherche im

Haus begannen, überwiegend

Redakteurinnen und Redakteure, die

buchstäblich die Welt nicht mehr verstanden.

Ein Fälscher beim SPIEGEL!

Bei einem Nachrichten-Magazin.

Dem Nachrichten-Magazin. Oft hörte

ich die ungläubige Frage: Wieso

fälscht jemand in einer Redaktion,

die weder Geld noch Mühen scheut,

die ihre Journalisten bis ans Ende

der Welt fliegen lässt, um Informationen

zu beschaffen? Viele nahmen

es auch sehr persönlich, fühlten

sich betrogen, hintergangen, ja missbraucht

und sahen sich in einer Opferrolle.

Am schwersten fiel es den meisten,

den Gedanken zuzulassen, dass

nicht allein die besonders raffinierten

Fälschungen von Relotius verantwortlich

waren für die Blindheit der

Redaktion.

Am anderen Ende der Gefühlsskala

bin ich Menschen begegnet, die

auf mich wirkten, als empfänden sie

eine klammheimliche Freude über

den Skandal. Aus ganz unterschiedlichen

Motiven, wie ich vermute:

Eifersucht auf einen erfolgreichen

58 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

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