DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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DEUTSCHLAND
Tritte vors
Schienbein
PARTEIEN Die CSU schaut auf ein schlimmes
Jahr zurück. Dass Friedrich Merz bald
die CDU führt, macht es noch komplizierter
für die Bayern.
A
uch Politiker brauchen Auszeiten.
»Zwei oder drei Tage«
Pause will sich Markus Söder
in der Weihnachtszeit gönnen. Danach
werde er sich »grundlegende
Gedanken machen«, kündigte der
CSU-Chef nach der letzten Vorstandssitzung
des Jahres an.
Wahrscheinlich hätte sich Söder
als der Duracell-Hase der deutschen
Politik auch in weniger turbulenten
Zeiten nicht mehr als 72 Stunden zum
Innehalten genehmigt. Am Ende des
Jahres ist seine Rastlosigkeit allerdings
nachvollziehbar. Söders persönliche
Beliebtheitswerte befinden sich
im freien Fall. Laut einer Umfrage der
»Augsburger Allgemeinen Zeitung«
ist jeder zweite Bayer unzufrieden
mit der Arbeit des Ministerpräsidenten.
Der schlechteste Wert seit seinem
Amtsantritt im März 2018.
Eines seiner Kabinettsmitglieder
spricht von einem »Katastrophenjahr«,
das die Partei verdauen müsse.
Erst die Maskenaffäre, dann Söders
gescheiterte Kanzlerkandidatur, gefolgt
von einer verlorenen Bundestagswahl.
Außerdem hat die Pandemie
Bayern schwer gebeutelt. Söders Stellvertreter
als Ministerpräsident, Hubert
Aiwanger (Freie Wähler), sorgte
als Impfskeptiker für Schlagzeilen, was
die Koalition zwischen CSU und
Freien Wählern im Freistaat fast zum
Platzen brachte.
Als gäbe es angesichts der Katerstimmung
im Land der bayerischen
Löwen nicht schon genug Herausforderungen
knapp zwei Jahre vor der
nächsten Landtagswahl, muss sich die
CSU voraussichtlich auch noch mit
Friedrich Merz als neuem CDU-Parteivorsitzenden
arrangieren.
Die persönliche Freundschaft zwischen
Söder und Merz ist schnell beschrieben.
Es gibt sie nicht. Wie es
sich für zwei Politiker gehört, denen
die Fähigkeit zum verbalen Schien
Verlorener
Glanz
Zufriedenheit mit
der politischen Arbeit
von Markus Söder
60%
50
40
30
Jan.
Dez.
45%
S ◆Quelle: Infratest dimap
für ARD-DeutschlandTrend;
mehr als 1000 Befragte;
die statistische Ungenauigkeit
der Umfragen liegt
zwischen 2 und 3 Prozentpunkten
beintritt nachgesagt wird, gibt es stattdessen
unzählige Beweise ihrer gegenseitigen
Abneigung. »Seine Erfahrungen,
insbesondere aus den
Neunzigerjahren, die er damals als
aktiver Politiker hatte, die helfen uns
sicher«, hatte Söder im August zu
Protokoll gegeben. Friedrich Merz
hingegen hatte Söders mangelnde
Loyalität im Bundestagswahlkampf
immer wieder kritisiert. Zuletzt in
einem Newsletter nach der verlorenen
Wahl, als er den Umgang der
Schwesterparteien untereinander als
»stillos, respektlos und streckenweise
rüpelhaft« abgekanzelt hatte.
Die bayerische Landtagswahl, verkündete
der designierte CDU-Vorsitzende
Merz kurz nach der Mitgliederbefragung,
werde nur »gelingen,
wenn das Verhältnis zwischen CDU
und CSU sehr gut« sei. Es klang wie
eine Drohung. Von der sich Markus
Söder vermutlich nur deshalb nicht
provozieren ließ, weil Merz’ Prognose
richtig sein dürfte. Man werde so
»geschlossen und konsequent zusammenarbeiten,
wie es geht«, ließ Söder
nach der letzten CSU-Vorstandssitzung
knapp wissen.
Der neue CDU-Vorsitzende mit
seinem konservativen Profil stellt die
CSU strategisch vor Herausforderungen.
Auch um als Gegenpol zur Ampelregierung
in Berlin besser wirken
zu können, muss die CSU künftig die
Stammtische der Landgasthöfe wieder
stärker bedienen, statt sich am
hippen Zeitgeist der Großstädte zu
orientieren. Sie darf ihrem eigenen
Anspruch nach aber auch nicht wirken
wie eine Kopie des konservativen
Merz-Kurses.
Vergangene Woche pries Söder
seine Partei als »liberalkonservative,
bürgerliche Kraft der politischen Mitte«
an. Im Oktober 2019 hatten die
Christsozialen in einem Leitantrag
zur Parteireform das Ziel ausgegeben,
künftig »jünger, weiblicher, digitaler«
CSU-Chef Söder
Sven Hoppe / dpa
zu werden und den Klimaschutz als
eines der »großen Themen unserer
Zeit« zu ihrem Thema zu machen.
Diesen Anspruch scheint Söder vorerst
ruhen zu lassen.
Dafür spricht auch ein Fantasie-
Interview des CSU-Generalsekretärs
Markus Blume, das dieser mit dem
verstorbenen CSU-Vorsitzenden
Franz Josef Strauß geführt hat. Unter
der Überschrift »Das beste Grün ist
Weiß-Blau!« unterhalten sich Blume
und Strauß beim »himmlischen Interview«
im CSU-Magazin »Bayernkurier«
stolze vier Seiten lang. Das ist
streckenweise ganz witzig. Nur umfasst
Strauß’ Erfahrung als aktiver
Politiker noch nicht einmal die Neunzigerjahre.
Er starb 1988.
Die »Zeitenwende«, von der Markus
Söder im selben Blatt spricht,
klingt auch nicht besonders visionär:
»Es muss klar sein, dass wir die Partei
des gesunden Menschenverstandes
sind.« Man vertrete die »Interessen
der Mittelschicht und der Fleißigen«,
schreibt Söder. In den sozialen Netzwerken
posiert er auf Bildern auf fällig
oft neben Mitgliedern verschiedener
Handwerksinnungen, wenn er sich
zum Beispiel ein »Brot der Bayern«
überreichen lässt.
2022, erklärte Söder, würden keine
neuen Milliardenprogramme aufgestellt,
sondern es breche die »Zeit für
das Umsetzen« an. Was er damit
meint, darüber dürften sich seine Kabinettsmitglieder
über die Feiertage
den Kopf zerbrechen. Die mit Söders
Ankündigung verbundene Unterstellung,
sie seien die bisherige Legislaturperiode
über untätig gewesen,
fanden nicht alle motivierend. Ein
Landesminister hat seinen Ministerpräsidenten
so verstanden, dass Söder
sich künftig mehr zurückhalten
werde und nicht jede Woche ein neues
Ideenfeuerwerk abbrenne. Vermutlich
bleibt das Wunschdenken.
Derzeit testet Söder einen neuen
Slogan: »Leberkäs und Lasern« laute
das Lebensgefühl im Freistaat, sagte
er in seinen Weihnachtswünschen im
Landtag Anfang Dezember – nicht so
weit weg vom alten Slogan »Laptop
und Lederhose«. Ohne erkennbare
Ironie wiederholte er seine neue
»Grundidee« von Bayern letzte Woche
auf der Pressekonferenz nach
der Vorstandssitzung.
Vielleicht findet Söder irgendwann
ein wenig Muße, noch mal genauer
darüber nachzudenken. Leberkäse
schmeckt zwar gut, aber kaum einer
weiß, was wirklich drin ist. Will die
CSU Volkspartei bleiben, müsste ihr
inhaltlicher Anspruch ein anderer sein.
Anna Clauß
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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