DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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WIRTSCHAFT
»Endlich haben wir die
richtige politische Führung«
GELDPOLITIK Andrea Orcel, 58, Chef der italienischen Großbank
UniCredit, über das Comeback seiner Heimat, die Fähigkeiten von Premier
Draghi und die Angemessenheit seiner 68-Millionen-Euro-Abfindung
Touristen in Einkaufspassage in Mailand
SPIEGEL: Herr Orcel, jahrelang galt Italien als
Europas kranker Mann, aber 2021 gelang
Ihrem Land das Comeback. Die Italiener sind
Fußballeuropameister, ihre Wirtschaft wächst
schneller als die deutsche, sie haben eine der
höchsten Impfquoten in Europa und sogar
den Eurovision Song Contest gewonnen. Erkennen
Sie Ihr Land wieder?
Orcel: Absolut. Italien hatte immer eine Menge
Potenzial. Und jetzt haben wir auch endlich
die richtige politische Führung, um daraus
etwas zu machen. Es tut gut, das zu sehen.
SPIEGEL: Wie viel davon geht auf Ministerpräsident
Mario Draghi zurück?
Orcel: Für so eine Entwicklung kommen mehrere
Faktoren zusammen, aber Draghi ist
der, der alles zusammenführt und hinter dem
sich die Italiener versammelt haben. Das ist
gut für uns, Europa und Deutschland, so eng,
wie unsere Länder miteinander verflochten
sind.
SPIEGEL: Draghi war Investmentbanker, Sie
auch. Sind Manager in Krisenzeiten die besseren
Anführer als Berufspolitiker?
Orcel: Das lässt sich nicht verallgemeinern.
Eine Volkswirtschaft ist letztlich wie eine riesige
Organisation, mit all ihren Schwierigkeiten.
Regierungen, nicht nur in Italien, müssen
harte Entscheidungen treffen, um Dinge
zu bewegen. Draghi zeigt eindrucksvoll, dass
er das kann. Ich bin fest davon überzeugt,
dass seine Einstellung und sein internationales
Ansehen für Italiens weitere Entwicklung
entscheidend sein werden.
SPIEGEL: Einen wichtigen Wunsch haben Sie
ihm trotzdem nicht erfüllt. UniCredit sollte
dem Staat die Monte dei Paschi di Siena
(MPS) abnehmen. Die Bank ist das größte
Risiko für Italiens Finanzsystem und musste
mit Milliarden Euro gerettet werden. Da hätten
Sie Ihren Patriotismus beweisen können.
Orcel: Ganz so einfach ist eben nicht. Wir haben
mit dem Finanz- und Wirtschaftsministerium
darüber gesprochen und klare Leitlinien
vereinbart. Aber es war beiden Seiten
immer klar, dass das kompliziert werden würde.
Am Ende hat es nicht gereicht.
SPIEGEL: Weil die Regierung Ihnen keine milliardenschwere
Mitgift geben wollte.
Orcel: Daran lag es nicht. Wir hatten gemeinsam
einen klaren Rahmen für eine mögliche
Vereinbarung abgesteckt. Letztlich war es
aber nicht möglich, innerhalb dieses Rahmens
zu einer Einigung zu kommen.
Beata Zawrzel / NurPhoto / Getty Images
SPIEGEL: Die Europäische Zentralbank, Draghis
alte Wirkungsstätte, kämpft mit der Inflation.
Hoffen Sie als Banker darauf, dass die
EZB die Leitzinsen anhebt? Zumindest behaupten
die Geschäftsbanken, dass sie unter
Null- und Negativzinsen leiden.
Orcel: Natürlich hoffen wir, dass sich das ändert.
Wir haben uns inzwischen zwar fast daran
gewöhnt, dass die Leitzinsen bei null Prozent
liegen und Geschäftsbanken Strafzinsen
zahlen müssen, wenn sie Kundengelder bei
der EZB parken wollen. Aber das ist nicht
normal. Derzeit ist alles noch sehr fragil, wegen
der Pandemie und der Inflation. Aber das
wird sich beruhigen. Und wenn die EZB die
Leitzinsen aus dem Grund anhebt, dass Europas
Wirtschaft wieder deutlich wächst, wäre
das für alle ein gutes Zeichen.
SPIEGEL: Geschäftsbanken können sich in
Frankfurt frische Liquidität mit 1,0 Prozent
Rabatt abholen und dort zu 0,5 Prozent Strafzins
wieder parken. Bleiben 0,5 Prozent Gewinn,
risikolos. Ein Bombengeschäft, Ökonomen
nennen das einen »free lunch«, und
den dürfte es definitionsgemäß nicht geben.
Orcel: Das sind nun einmal die Regeln. Aber
glauben Sie mir: Sie werden keinen Banker
finden, der die Situation nicht eintauschen
würde gegen eine Welt, in der die Zinsen wieder
positiv sind und der Markt funktioniert.
SPIEGEL: Auch UniCredit war in der Krise,
inzwischen läuft es besser. Der Aktienkurs
hat seit Ihrem Amtsantritt um mehr als die
Hälfte zugelegt, und gerade erst haben Sie
angekündigt, bis 2024 rund 16 Milliarden
Euro an die Aktionäre ausschütten zu wollen.
Das sind neue Töne für eine kontinentaleuropäische
Bank. Sind Sie Fantast?
Orcel: Ich möchte zeigen, dass Dinge möglich
sind, wenn man diszipliniert und fokussiert
ist. Wenn sich das Umfeld, vor allem in Bezug
auf die Pandemie, normalisiert, wir die Erträge
bis 2024 jährlich um zwei Prozent steigern
und die Kosten um 500 Millionen Euro
senken, dann können wir es schaffen. Wir
schauen uns alles an. Wenn ein Bereich der
Bank weniger als zehn Prozent Rendite erwirtschaftet,
optimieren wir ihn. Wir müssen
im Interesse unserer Aktionäre mit unserem
Eigenkapital einfach effizienter umgehen.
SPIEGEL: Für Ihre deutschen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter könnte das zynisch klingen.
Bei der früheren HypoVereinsbank sollen
wieder einmal Stellen wegfallen, 1100 von
11 500. Ist Ihr Deutschlandableger der kranke
Mann im UniCredit-Imperium?
Orcel: Absolut nicht. Wir sind auch dieses Jahr
wieder zu einem der beliebtesten Arbeitgeber
in Deutschland gewählt worden, so schlecht
können wir also nicht sein. Aber es ist so, dass
wir in Deutschland einfach mehr machen
müssen, um die Kosten zu senken. Nicht in
den Filialen oder den kundennahen Bereichen.
Es sind insbesondere die Zentralfunktionen,
in denen wir noch deutlich effizienter
werden können. Das gibt uns die Möglichkeit,
wieder zu investieren, insbesondere in den
Ausbau der Digitalisierung und unserer Tech-
80 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021