05.01.2022 Aufrufe

DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

KULTUR

eine Schriftstellerin sich da einreiht,

ist erst mal bemerkenswert.

Yanagihara arbeitet tagsüber als

Chefredakteurin der »New York

Times«-Beilage »T«, eines Magazins,

dessen Themen Stil, Kultur und

Mode sind, und sie sagt, dass sie

am fiktionalen Erzählen das Ausschweifende

mag. »Als Schriftsteller

kann man machen, was man will.

Es ist eine viel zügellosere Tätigkeit,

es gibt keine Beschränkungen,

niemanden, der einem sagt, dass

man dieses oder jenes kürzen muss.

Man schreibt nur für sich selbst

und um das Ende der Geschichte zu

erreichen.«

Im Mittelpunkt des ersten Teils

steht David Bingham. Er lebt mit seinem

Großvater in einem weitläufigen

Haus am Washington Square, es gibt

Dienstmädchen und eine erlesene

Einrichtung, Seezunge und Teegebäck

werden serviert, man gehört

zur vermögenden Schicht. Doch

schnell schleicht sich eine Irritation

ein: Davids Schwester ist mit einer

Frau verheiratet, sein Bruder lebt mit

einem Mann zusammen, sie haben

Kinder adoptiert, und das alles wird

im Ton schönster Selbstverständlichkeit

erzählt.

Die Gleichberechtigung zwischen

Frauen und Männern ist schon weiter

fortgeschritten, als es heute in der

Realität der Fall ist. Wie das historisch

möglich gewesen sein könnte, interessiert

Yanagihara nicht sehr, vielmehr

reizt sie die literarische Versuchsanordnung.

Denn David Bingham

ist noch unverheiratet, und sein

Großvater, ein Bankier, möchte endlich

eine standesgemäße Partie für

den Mitte 20-Jährigen finden. Er

schlägt einen älteren, verwitweten

Botanischer Garten

auf Oahu Island:

»Jeden Tag auf

die Berge und den

Ozean schauen«

Ein Teil von

ihr liebt

Hawaii, ein

anderer

braucht die

Großstadt.

Mann vor, aber David verliebt sich

leidenschaftlich in einen Klavierlehrer.

Nun gibt es bereits einen Roman,

der »Washington Square« heißt, Henry

James hat ihn 1880 veröffentlicht,

und er erzählt von einer jungen Frau,

die einen verarmten Mann heiraten

will, weshalb ihr Vater mit Enterbung

droht. Die Parallele zu Henry James

hat Yanagihara gewählt, um die Verhältnisse

dann zu verschieben und zu

gucken, was sich daraus ergibt. Obwohl

David Bingham ein Mann ist

und in einer Gesellschaft lebt, die seine

Homosexualität akzeptiert, gilt

auch seine Liebe zum Klavierlehrer

als nicht standesgemäß. Doch am

Ende nimmt er sich eine Freiheit heraus,

die seinen weiblichen Pendants

in der Literaturgeschichte nicht möglich

war.

Der zweite Teil des Romans mit

dem Titel »Lipo-wao-nahele« spielt

im Jahr 1993, die Aids-Epidemie hat

in der New Yorker Schwulenszene

schon viele Tote gefordert, und in

dem Haus am Washington Square

lebt nun ein Rechtsanwalt namens

Charles mit seinem deutlich jüngeren

Partner David. Im Mittelpunkt dieses

Teils steht ein Abschiedsfest für einen

Freund von Charles, der todkrank

ist – Krebs, kein Aids – und bei einem

Abendessen seinen Freunden Lebewohl

sagen möchte.

David fühlt sich in der Gesellschaft

von Charles’ Upperclass-Freunden

nicht wohl. Er ist in dieser an Genuss

satten Welt mehr Beobachter seines

eigenen Lebens, als dass er darin eintauchen

würde. Er wurde auf Hawaii

geboren und scheint sich für seine

Herkunft zu schämen. Welches Geheimnis

sich dahinter verbirgt, erfährt

Robert Harding / INTERFOTO

der Leser in einem sehr langen Brief

von Davids Vater, in dem dieser seinem

Sohn erzählt, wie es dazu kam,

dass er ein Leben führt, ohne dieses

Leben jemals für sich gewählt zu

haben.

Der dritte Teil macht allein die

Hälfte des Romans aus und führt ins

Jahr 2093. Das Land, in dem New

York liegt, das aber nie als USA benannt

wird, ist politisch zerrüttet. Es

herrscht ein autoritäres Regime, und

im Haus am Washington Park lebt der

Wissenschaftler Charles Griffith mit

seiner Enkelin Charlie. Dieser Teil

wird als Briefroman erzählt, in Form

von Mails, die der alternde Charles

an einen Freund schickt. Aus ihnen

geht hervor, welche Ereignisse zu dem

dystopischen Alltag geführt haben.

Tödliche Epidemien haben den Seuchenschutz

zum obersten Gebot

werden lassen, das Internet wurde

abgeschaltet, der Alltag ist streng

reglementiert, New York wurde in

Zonen eingeteilt, zwischen denen sich

die Bewohner nur mit Shuttles bewegen

können. Charles war beteiligt

an diesen Schritten, was er nachträglich

bereut.

So wie die ersten beiden Teile vor

Pracht und Überfluss glitzern,

herrscht im dritten Teil nun Mangel:

ein Mangel an Gefühlen, an Geselligkeit,

Gesprächen und Menschlichkeit.

Es gibt kein Grün mehr am Washington

Park, und zu den Mahlzeiten

kommen Pferdefleisch und Erbsen auf

den Tisch. Man kennt diese Erbarmungslosigkeit,

noch die hintersten

Winkel von Schmerz und Leid auszuleuchten,

schon aus ihrem Roman

»Ein wenig Leben«; diesmal breitet

Yanagihara ein gedämpftes Grauen

aus und erzählt in »Zone Acht«, wie

der dritte Teil heißt, von einem Leben,

dessen Sinn darauf reduziert ist,

weiterhin zu existieren.

Wer das Buch nach 896 Seiten aus

der Hand legt, hat den Eindruck, drei

Romane gelesen zu haben. Zwar steht

das Haus am Washington Square immer

im Mittelpunkt, aber es ist eine

äußere Klammer, die Figuren, die es

bewohnen, wissen nichts voneinander,

nichts von dem Leben in den

Jahrzehnten zuvor. Allerdings finden

sich, je weiter man liest, Themen und

Motive in »Zum Paradies«, die den

Roman wie auf einer unterbewussten

Ebene durchziehen.

Eine naheliegende aktuelle Deutung

– Parallelen zu ziehen zwischen

den Pandemien, die im dritten Teil

wüten, und Corona – interessiert Yanagihara

nicht. »Ich weiß, das klingt

unwahrscheinlich«, sagt sie, »aber als

Covid kam, war ich schon so tief drin

122 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!