DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
KULTUR
eine Schriftstellerin sich da einreiht,
ist erst mal bemerkenswert.
Yanagihara arbeitet tagsüber als
Chefredakteurin der »New York
Times«-Beilage »T«, eines Magazins,
dessen Themen Stil, Kultur und
Mode sind, und sie sagt, dass sie
am fiktionalen Erzählen das Ausschweifende
mag. »Als Schriftsteller
kann man machen, was man will.
Es ist eine viel zügellosere Tätigkeit,
es gibt keine Beschränkungen,
niemanden, der einem sagt, dass
man dieses oder jenes kürzen muss.
Man schreibt nur für sich selbst
und um das Ende der Geschichte zu
erreichen.«
Im Mittelpunkt des ersten Teils
steht David Bingham. Er lebt mit seinem
Großvater in einem weitläufigen
Haus am Washington Square, es gibt
Dienstmädchen und eine erlesene
Einrichtung, Seezunge und Teegebäck
werden serviert, man gehört
zur vermögenden Schicht. Doch
schnell schleicht sich eine Irritation
ein: Davids Schwester ist mit einer
Frau verheiratet, sein Bruder lebt mit
einem Mann zusammen, sie haben
Kinder adoptiert, und das alles wird
im Ton schönster Selbstverständlichkeit
erzählt.
Die Gleichberechtigung zwischen
Frauen und Männern ist schon weiter
fortgeschritten, als es heute in der
Realität der Fall ist. Wie das historisch
möglich gewesen sein könnte, interessiert
Yanagihara nicht sehr, vielmehr
reizt sie die literarische Versuchsanordnung.
Denn David Bingham
ist noch unverheiratet, und sein
Großvater, ein Bankier, möchte endlich
eine standesgemäße Partie für
den Mitte 20-Jährigen finden. Er
schlägt einen älteren, verwitweten
Botanischer Garten
auf Oahu Island:
»Jeden Tag auf
die Berge und den
Ozean schauen«
Ein Teil von
ihr liebt
Hawaii, ein
anderer
braucht die
Großstadt.
Mann vor, aber David verliebt sich
leidenschaftlich in einen Klavierlehrer.
Nun gibt es bereits einen Roman,
der »Washington Square« heißt, Henry
James hat ihn 1880 veröffentlicht,
und er erzählt von einer jungen Frau,
die einen verarmten Mann heiraten
will, weshalb ihr Vater mit Enterbung
droht. Die Parallele zu Henry James
hat Yanagihara gewählt, um die Verhältnisse
dann zu verschieben und zu
gucken, was sich daraus ergibt. Obwohl
David Bingham ein Mann ist
und in einer Gesellschaft lebt, die seine
Homosexualität akzeptiert, gilt
auch seine Liebe zum Klavierlehrer
als nicht standesgemäß. Doch am
Ende nimmt er sich eine Freiheit heraus,
die seinen weiblichen Pendants
in der Literaturgeschichte nicht möglich
war.
Der zweite Teil des Romans mit
dem Titel »Lipo-wao-nahele« spielt
im Jahr 1993, die Aids-Epidemie hat
in der New Yorker Schwulenszene
schon viele Tote gefordert, und in
dem Haus am Washington Square
lebt nun ein Rechtsanwalt namens
Charles mit seinem deutlich jüngeren
Partner David. Im Mittelpunkt dieses
Teils steht ein Abschiedsfest für einen
Freund von Charles, der todkrank
ist – Krebs, kein Aids – und bei einem
Abendessen seinen Freunden Lebewohl
sagen möchte.
David fühlt sich in der Gesellschaft
von Charles’ Upperclass-Freunden
nicht wohl. Er ist in dieser an Genuss
satten Welt mehr Beobachter seines
eigenen Lebens, als dass er darin eintauchen
würde. Er wurde auf Hawaii
geboren und scheint sich für seine
Herkunft zu schämen. Welches Geheimnis
sich dahinter verbirgt, erfährt
Robert Harding / INTERFOTO
der Leser in einem sehr langen Brief
von Davids Vater, in dem dieser seinem
Sohn erzählt, wie es dazu kam,
dass er ein Leben führt, ohne dieses
Leben jemals für sich gewählt zu
haben.
Der dritte Teil macht allein die
Hälfte des Romans aus und führt ins
Jahr 2093. Das Land, in dem New
York liegt, das aber nie als USA benannt
wird, ist politisch zerrüttet. Es
herrscht ein autoritäres Regime, und
im Haus am Washington Park lebt der
Wissenschaftler Charles Griffith mit
seiner Enkelin Charlie. Dieser Teil
wird als Briefroman erzählt, in Form
von Mails, die der alternde Charles
an einen Freund schickt. Aus ihnen
geht hervor, welche Ereignisse zu dem
dystopischen Alltag geführt haben.
Tödliche Epidemien haben den Seuchenschutz
zum obersten Gebot
werden lassen, das Internet wurde
abgeschaltet, der Alltag ist streng
reglementiert, New York wurde in
Zonen eingeteilt, zwischen denen sich
die Bewohner nur mit Shuttles bewegen
können. Charles war beteiligt
an diesen Schritten, was er nachträglich
bereut.
So wie die ersten beiden Teile vor
Pracht und Überfluss glitzern,
herrscht im dritten Teil nun Mangel:
ein Mangel an Gefühlen, an Geselligkeit,
Gesprächen und Menschlichkeit.
Es gibt kein Grün mehr am Washington
Park, und zu den Mahlzeiten
kommen Pferdefleisch und Erbsen auf
den Tisch. Man kennt diese Erbarmungslosigkeit,
noch die hintersten
Winkel von Schmerz und Leid auszuleuchten,
schon aus ihrem Roman
»Ein wenig Leben«; diesmal breitet
Yanagihara ein gedämpftes Grauen
aus und erzählt in »Zone Acht«, wie
der dritte Teil heißt, von einem Leben,
dessen Sinn darauf reduziert ist,
weiterhin zu existieren.
Wer das Buch nach 896 Seiten aus
der Hand legt, hat den Eindruck, drei
Romane gelesen zu haben. Zwar steht
das Haus am Washington Square immer
im Mittelpunkt, aber es ist eine
äußere Klammer, die Figuren, die es
bewohnen, wissen nichts voneinander,
nichts von dem Leben in den
Jahrzehnten zuvor. Allerdings finden
sich, je weiter man liest, Themen und
Motive in »Zum Paradies«, die den
Roman wie auf einer unterbewussten
Ebene durchziehen.
Eine naheliegende aktuelle Deutung
– Parallelen zu ziehen zwischen
den Pandemien, die im dritten Teil
wüten, und Corona – interessiert Yanagihara
nicht. »Ich weiß, das klingt
unwahrscheinlich«, sagt sie, »aber als
Covid kam, war ich schon so tief drin
122 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021