DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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Abschied vom
Tausendsassa
KARRIEREN Um die Führung der Berliner
Festspiele gab es viel Stunk.
Nun soll der neue Intendant Matthias Pees
für Harmonie und Glamour sorgen.
M
it Mitte zwanzig tauschte
Matthias Pees den Beruf des
Theaterkritikers gegen den
des Dramaturgen aus. Er quartierte
sich in Los Angeles bei dem Schriftsteller
Heiner Müller ein, den er erst
ein paar Monate zuvor kennengelernt
hatte und arbeitete einen Winter lang
in Müllers kalifornischer Residenz.
Mit Mitte dreißig schipperte Pees mit
dem Regisseur Christoph Schlingensief
tagelang auf dem Amazonas und
dem Rio Negro herum und half beim
Inszenieren der Wagner-Oper »Der
fliegende Holländer« in der brasilianischen
Dschungelstadt Manaus.
Als Unterstützer und Dienstleister
aufregender Künstler scheint sich
Pees, 51, bis heute zu begreifen. Über
seinen Job in Frankfurt am Main, wo
er noch einige Monate lang Intendant
des vor allem für Gastproduktionen
bekannten Künstlerhauses Mousonturm
ist, sagt er: »Vielleicht sollten
die Leiterin oder der Leiter einer Kulturinstitution
heutzutage nicht mehr
diejenigen sein wollen, die sich vorrangig
selbst tolle künstlerische Ereignisse
ausdenken. Sondern sollten
stattdessen versuchen, den Künstlerinnen
und Künstlern erst mal Raum,
Geld, Begegnung und Wahrnehmung
zu verschaffen und sie ihre Arbeit tun
lassen.«
In seinem künftigen Amt hat Pees
mehr Spielraum, Budget und Aufmerksamkeit
zu vergeben. Von September
an soll er als neuer Intendant
die Berliner Festspiele leiten. Die vom
Bund finanzierte Institution richtet
gleich eine Handvoll Festivals und
diverse Veranstaltungen in den
Sparten Theater, Musik und Kunst
aus; darunter das Berliner Theatertreffen,
das Jazzfest und das Musikfest
Berlin sowie die Ausstellungen
im Gropius Bau.
Pees meint, dass moderne Kulturmanager
sich vor allem als Gastgeber
Bühnenleiter Pees
im Frankfurter
Mousonturm mit
einem Modell
des Theatersaals:
»Künstlerinnen und
Künstlern Raum,
Geld, Begegnung und
Wahrnehmung
verschaffen«
verstehen sollten und weniger als
künstlerische Tausendsassas. Damit
unterscheidet er sich stark von seinem
Vorgänger Thomas Oberender, 55.
Der war zehn Jahre lang Chef der
Berliner Festspiele und zeigte großen
Ehrgeiz dabei, seine eigenen Kunstideen
umzusetzen, zuletzt im Oktober
mit dem spektakulären Zehn-
Tage-Event »The Sun Machine Is
Coming Down«.
Oberender hört zum Jahresende
auf. Es ist ein vorzeitiger Abschied,
offiziell auf eigenen Wunsch. Der Vertrag
des Festspielchefs war allerdings
erst im November 2020 um fünf Jahre
verlängert worden. Die Demission
hat, wie im Dezember bekannt wurde,
womöglich mit einem angeblich
toxischen Führungsstil Oberenders
zu tun. Ehemalige Untergebene bezichtigten
ihn in einem Dossier der
Ausübung psychischen Drucks, klagten
über »Drohgebaren« und eine
sehr hohe Arbeitsbelastung. Der
scheidende Intendant habe etwa Mitarbeiterinnen
zum Weinen gebracht;
mindestens drei Frauen aus dem Festspiele-Apparat
hätten einen Burn-out
erlitten. Oberender bestreitet die Vorwürfe.
Sein Nachfolger Pees wurde von
einer sechsköpfigen Findungskommission
aus zahlreichen Bewerberinnen
und Bewerbern für das Amt
bestimmt. Pees nennt die Berliner
Festspiele »eine Riesenlegende«. Historisch
hätten sie bewiesen, »dass sich
Christoph Boeckheler
KULTUR
über künstlerische Ereignisse auch
politisch Fenster aufmachen lassen«.
Als zwischen den Blöcken des Kalten
Krieges eine Annäherung unmöglich
schien, hätten die Festspiele sie künstlerisch
gewagt.
Tatsächlich wurden die Festspiele
vor 70 Jahren, im September 1951,
im Westen der Stadt mit einer politischen
Mission ins Leben gerufen.
Politiker wie der damalige Regierende
Bürgermeister Ernst Reuter und
sein Kultursenator Joachim Tiburtius
sprachen von einem »geistigen Verteidigungsbeitrag«
des Westens und
von einer »Kulturoffensive«, es folgten
legendäre Auftritte von Martin
Luther King oder Vladimir Horowitz
und Theaterhöhepunkte von Robert
Wilson und Luca Ronconi.
Vor allem in den Jahren rund um
den Mauerfall entwickelten die Festspiele
unabhängig von den Ideen
ihrer Gründer ein Eigenleben und,
wie Pees meint, »eine unglaubliche
innovative Strahlkraft« auf den gesamten
deutschen Kulturbetrieb.
Pees sagt, er hoffe, die einzelnen
Teile der Festspiele stärker verbinden
zu können. Während vergleichbare
Institutionen wie das Pariser Festival
d’Automne oder die Wiener Festwochen
vom Publikum als zusammenhängende
Kulturspektakel mit
internationalem Anspruch aufgefasst
werden, scheint das Festspieleprogramm
bis heute tatsächlich in
Einzelaktionen zu zerfallen.
Sein Ziel sei es, »die Intendantenarbeit
nicht nur von der Institution
her zu denken, sondern vor allem
vom künstlerischen Angebot her«,
sagt Pees. Er wolle die Eindrücke und
Vorschläge vieler kundiger Menschen
einsammeln, die sich mit den einzelnen
Festivals auskennen. Im Idealfall
könnten die Festspiele, die als Instrument
der Politik erfunden wurden,
künstlerisch Einfluss auf die Politik
nehmen, als »Modellversuch für
Wandel«, so Pees.
Osteuropas Blick auf den Westen,
den die Berliner Festspiele traditionell
in die Stadt zu holen trachteten,
sei »heute wieder total relevant«. Zugleich
seien künstlerische Positionen
und Weltsichten aus dem Süden
»durch den Klimawandel, durch Fragen
nach Klimagerechtigkeit noch
wichtiger geworden«.
Pees selbst hat vor seiner Intendantenarbeit
in Frankfurt mehrere
Jahre lang in Brasilien mit eigener
Firma als Kulturproduzent gearbeitet.
»Man kann sagen: Mit den Perspektiven
des Südens beschäftige ich mich
seit anderthalb Jahrzehnten.«
Wolfgang Höbel
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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