DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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WISSEN
Der Vollstrecker
ANALYSE Die Omikron-Variante könnte helfen, dass sich das Coronavirus
schneller verwandelt – vom Killer zum jährlich wiederkehrenden Ärgernis.
N
ach fast zwei Jahren Pandemie
kann man es sich kaum vorstellen,
aber es gibt sie tatsächlich
– Coronaviren, mit denen der
Mensch seit Jahrzehnten oder gar
Jahrhunderten leidlich gut zusammenlebt.
Unter Forschern sind vergleichsweise
friedfertige Arten bekannt
wie OC43, 229E, NL63 und
HKU1. Sie verursachen Triefnasen
bei Kindern und zumeist harmlose
Infekte bei Erwachsenen.
Die Schlüsselfragen für die Zukunft
lauten: Wann reiht sich das
gefährliche Sars-CoV-2 in die Riege
seiner Verwandten ein? Und wann
geht die Pandemie über in einen für
Menschen und Volkswirtschaften erträglicheren
Zustand, den Fachleute
als »Endemie« bezeichnen? Das Virus
verbreitet sich dann nicht mehr in
aggres siven Wellen, sondern ist fortwährend
auf niedrigerem Niveau
präsent.
Die gute Nachricht lautet: Diese
Situation könnte gar nicht so weit
entfernt sein. Er »hoffe sehr«, dass der
Tag schon 2022 komme, sagt Hajo
Zeeb, Professor für Epidemiologie an
der Universität Bremen. Andere Experten
denken eher an 2024.
Die etwas enttäuschende zweite
Nachricht ist diese: Das Virus wird
bleiben, höchstwahrscheinlich für immer.
Und Covid auch. Endemie bedeutet,
so erläutert Zeeb, dass das
Virus keine Bedrohung für das Gesundheitssystem
mehr darstellt. »Wir
sehen dann allenfalls flach verlaufende
Infektionswellen bei insgesamt
geringeren Fallzahlen und quasi normaler
Belastung der Krankenhäuser.«
Lokal werde es immer wieder zu Ausbrüchen
kommen, denen die Behörden
unter anderem mit der Wiedereinführung
der Maskenpflicht in Innenräumen
begegnen könnten. Die
Zeit des großen Sterbens wäre dann
aber vorbei.
Zwei Wege nur führen hinein in
die Endemie. Massenhafte Infektion,
mitsamt Krankheit und den damit
verbundenen Todesfällen. Oder massenhafte
Injektionen mit Impfstoffen.
Katja Hoffmann / laif
Der neue
Stamm
kann zum
ersten »postpandemischen
Virus«
werden.
Barbesucherinnen
in Berlin
im April 2020
Angesichts neuer, hoch infektiöser
Virusvarianten wie Omikron ist die
Kombination aus beidem das wahrscheinliche
Ergebnis. Alle Wege führen
letztlich in der Bevölkerung zu
einer wachsenden Grundimmunität.
Sobald diese einen allerdings ziemlich
hohen Wert erreicht, wird es für den
Erreger schwer, ungeschützte Wirte
zu finden. Von da an dürfte er ein steter,
aber weniger aufsehenerregender
Begleiter der Menschheit werden.
In einem Land wie Deutschland
liegt die Endemie noch ziemlich fern,
denn die Impfquote fällt mit rund
80 Prozent der Erwachsenen weiterhin
zu gering aus. Weniger als die
Hälfte von ihnen ist geboostert.
»Wenn wir das Virus jetzt durchlaufen
lassen, werden wir viele Tote
haben und volle Intensivstationen«,
mahnte der Virologe Christian Drosten
kürzlich in einem Interview.
Drosten bescheinigt Omikron
»enorme Infektiosität«. Möglicherweise
werde die Variante aber für
einen milderen Krankheitsverlauf als
der noch vorherrschende Delta-
Stamm sorgen. Omikron habe das
Zeug, zum ersten »postpandemischen
Virus« zu werden.
Auch Zeeb ist beeindruckt von der
Ansteckungsfähigkeit des Erregers.
Dieser sei damit hoffentlich am Ende
seiner genetischen Raffinessen angelangt,
»vermutlich ist da nicht sehr
viel mehr möglich«, sagt er. Zeeb ist
»vorsichtig optimistisch«, dass die
Deutschen »halbwegs ordentlich«
durch die nächste Welle kommen.
Somit zeichnet sich ein Szenario
ab, das allerdings noch mit vielen Ungewissheiten
behaftet ist. Omikron
könnte die Impflücken in Deutschland
ausnutzen und, wegen des nach
und nach abnehmenden Impfschutzes,
sehr rasch noch sehr viele Menschen,
auch mehrfach geimpfte, infizieren.
Und für Skeptiker könnte
dieses Virus zum Vollstrecker der
Immunisierung werden; der Preis
dafür wären allerdings zahlreiche
Todesfälle.
Zwei weitere Infektionswellen –
eine jetzt, eine im kommenden Winter
– erwartet Drosten für England,
wo die Bevölkerung nach Impfung
oder durchlittener Infektion bereits
eine höhere Grundimmunität hat. In
Deutschland stehen womöglich weitere
Wellen an, wenn die Diskussion
um die Impfpflicht ergebnislos bleiben
sollte. Zudem kann es passieren,
dass weitere bislang unbekannte
Fluchtmutanten auftauchen.
Vakzinehersteller, so glaubt Zeeb,
werden weiter unter hohem Lieferdruck
stehen. »Ich gehe derzeit schon
von wiederholten Impfungen aus«,
sagt er, und das könne für längere
Zeit so bleiben. Eine Auffrischungsdosis
gegen Covid, das erwarten viele
Fachleute, könnte künftig Bestandteil
der jährlichen Grippeschutzimpfung
werden.
Niemand sollte sich Hoffnungen
machen, dass Sars-CoV-2 je wieder
verschwinden wird – so wie sein Vorgänger
Sars-CoV, der 2002 und 2003
weltweit rund 800 Menschen tötete.
Dieses Virus wirkte auf seine Opfer
derart tödlich, dass es in einer alarmierten
Bevölkerung bald keine weiteren
Wirte mehr finden konnte.
Sars-CoV-2 hat da ganz andere
Möglichkeiten. Infizierte entwickeln
zunächst keine Symptome, also tragen
sie das Virus unwissentlich weiter.
Überdies hat es sich auch im Tierreich
Verstecke geschaffen, von wo aus es
der Menschheit in immer neuer Form
wird auflauern können. Der Erreger
wurde nachgewiesen in Hunden,
Hauskatzen, in Primaten, Hirschen,
Tigern, Löwen und noch einigen Tierarten
mehr.
Deshalb haben viele Zoos jetzt
angefangen, ihre Tiere zu impfen.
Marco Evers
n
114 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021