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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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DEUTSCHLAND

waren auch Frauen und jüngere Kandidaten

dabei.

SPIEGEL: Aber nur in der zweiten Reihe.

Dos Santos Firnhaber: Vergessen wir

mal nicht: Meine Partei hat in den

letzten 16 Jahren die Regierungschefin

gestellt. Aber natürlich stelle ich

mir in solchen Momenten die Frage:

Wird eine Frau als Generalsekretärin

nur deswegen aufgestellt, um sagen

zu können »Ich habe auch eine Frau

an der Seite«? Was genau ist die Rollenverteilung

in so einem Team? Aber

für mich ist das nicht gleich rückwärtsgewandt.

Es kommt auf die Vision

für die Zukunft der Partei an.

Rückwärtsgewandt wäre dann zu sagen:

Es bleibt alles, wie es ist, und wir

werden uns nicht bemühen, mehr

Frauen in die Partei zu bringen.

SPIEGEL: Herr Gysi, die Linke stellt

noch vor der CDU die zweitälteste

Fraktion nach der AfD. Warum wurden

nicht mehr Jüngere zur Bundestagswahl

aufgestellt?

Gysi: Man braucht eine richtige Mischung,

aber wir haben zu wenig Jüngere,

klar. Das liegt an einem Fehler,

über den ich mich immer ärgere – bei

allen Parteien: Wir haben lauter Listenaufstellungen

mit vorherigen Kungelrunden.

Da sagt die eine Truppe

dann: Wir wählen eure Leute, wenn

ihr unsere wählt, und so weiter. Da

braucht man den Landesparteitag

eigentlich gar nicht mehr durchzuführen.

Deshalb plädiere ich dafür,

dass die Wählerinnen und Wähler bei

der Zweitstimme für die Liste drei

Leute anzukreuzen haben, zum Beispiel

nehmen dann welche Listenplatz

18, 32 und 5.

SPIEGEL: Also ein sogenanntes Vorzugsstimmensystem.

Gysi: Dann würden junge Leute für

junge Leute stimmen, auch wenn die

auf Platz 18 stehen. Aber eine Partei

muss ihnen logischerweise auch selbst

bessere Chancen einräumen. Ohne

Junge hat eine Partei keine Zukunft.

Das Problem war aber zudem, dass

wir so schlecht abschnitten, dass nur

die vorderen Plätze in den Bundestag

einzogen.

SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,

Sie sind mit 27 Jahren die jüngste Abgeordnete

Ihrer Fraktion und die einzige

weibliche unter 30, während

zum Beispiel die Grünen gleich mehrere

Fraktionsmitglieder unter 25 haben.

Warum ist Jugend bei der Union

noch immer eher eine Ausnahmeerscheinung?

Dos Santos Firnhaber: Ich würde mich

jetzt nicht als krasse Ausnahmeerscheinung

sehen.

Gysi: Außerdem ist das doch schön,

eine Ausnahme zu sein.

Kopf an Kopf

Wem Erstwähler und

Erstwählerinnen ihre

Stimme bei der

Bundestagswahl

(2021) gegeben

haben, in Prozent

23 23

FDP

Grüne

15

SPD

10

CDU/CSU

8

Linke

S Quelle: infratest dimap;

an 100 fehlende Prozent:

»Sonstige«

6

AfD

»Wenn ich

Ihnen einen

Rat geben darf,

Frau dos Santos

Firnhaber.«

Gregor Gysi

»Ich geben

Ihnen gerne

einen Hinweis

zurück,

Herr Gysi.«

Catarina dos Santos

Firnhaber

Dos Santos Firnhaber: Wenn man es

so nennen will, dann bin ich gerne

jetzt die Ausnahme, um den Weg zu

ebnen. Denn ich möchte ja, dass noch

mehr junge Menschen nachkommen.

Ich bin aber keine Verfechterin davon,

zu sagen: Wir brauchen jetzt nur noch

Junge im Bundestag. Wir brauchen

auch Parlamentarier, bei denen nicht

die Büroleitung besser als der Abgeordnete

weiß, wie der Bundestag

funktioniert. Nur eine Mischung von

Ideen, Antrieben und Berufsalltagen

garantiert das Beste für das Land. Die

ist noch nicht gut genug, auch bei mir

in der Partei nicht.

SPIEGEL: Sie sind Mitglied in der

»Jungen Gruppe« von CDU und CSU,

in der sich Abgeordnete vernetzen,

die bei ihrer Wahl jünger als 35 Jahre

alt waren. Da gibt es nicht viele, oder?

Dos Santos Firnhaber: Wir sind jetzt

15, die Hälfte davon war schon vor

dieser Wahl im Bundestag. Natürlich

werden die auch älter, und wir müssen

sicherstellen, dass die Neuen hinterherkommen.

Aber dass ein 18-Jähriger

nicht unbedingt direkt ins Parlament

gewählt wird, kann ich mir

schon erklären. Viele wollen das in

dem Alter auch gar nicht. In meinem

Umfeld gibt es Leute, die sagen: Ich

könnte das nicht.

Gysi: Ich habe Kevin Kühnert geraten,

er solle nach zwei Legislaturperioden

– also acht Jahren – raus aus dem

Bundestag. Ich habe gesagt: Es ist

ganz egal, was du dann machst, nach

weiteren acht Jahren kannst du wiederkommen.

Wenn du diese Pause

nicht einlegst, dann glaubst du nach

zehn Jahren, dass die Drucksachen

des Bundestags das wahre Leben widerspiegeln,

und nach noch mal fünf

Jahren siehst du dann selbst aus wie

eine Drucksache. Da lachte er.

SPIEGEL: Und hat er Ihren Rat angenommen?

Gysi: Er meinte, er werde sich das

überlegen. Aber er wird natürlich

nicht auf mich hören, obwohl er damals

noch genickt hat. Ich weiß nicht,

ob er die Kraft dazu hat. Aber ich

sage das aus eigener Erfahrung. Meine

Stärke bestand darin, dass ich erst

mit über 40 ins Parlament kam. Das

heißt, dass ich bis dahin schon 20 Jahre

lang einen Beruf ausgeübt hatte.

Diese Erfahrung nutze ich bis heute.

Dos Santos Firnhaber: Für mich war

immer wichtig: Ich möchte eine abgeschlossene

Berufsausbildung haben,

bevor ich ein politisches Mandat annehme.

Mitglied des Bundestages zu

sein ist kein Automatismus. Es gibt

tausend Möglichkeiten, nach vier Jahren

wieder rauszufliegen. Daher war

da dieses Bewusstsein »Ich bin nicht

auf die Politik angewiesen, um meinen

Lebensunterhalt zu bestreiten«

etwas, das mich sehr geprägt hat.

Gysi: Das halte auch ich für ganz

wichtig: dass man jederzeit in einen

anderen Beruf zurückkehren kann.

Sonst wird man absolut abhängig.

Wenn ich nichts anderes kann als Politik

und ab der Jugend im Bundestag

sitze, bin ich ja darauf angewiesen.

Meine eigene Meinung wird dann immer

kleiner. Das ist gar nicht sinnvoll.

SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass Ihr

Alter Ihren Blick auf die Politik beeinflusst?

Dos Santos Firnhaber: Natürlich. Ich

habe noch keine Kinder, betrachte

also Familienpolitik zum Beispiel aus

einem anderen Blickwinkel als jemand,

der fünf Kinder hat. Trotzdem

vertrete ich selbstverständlich auch

Menschen, die Kinder haben. Denn

das heißt ja nicht, dass ich kein Bewusstsein

für so etwas habe, sondern

eben nur eine andere Perspektive.

Und das trifft sicher bei jedem Politikfeld

zu, dass wir durch unsere Hintergründe

verschiedene Perspektiven

mitbringen.

Gysi: Wenn ich Ihnen dazu einen Rat

geben darf, Frau dos Santos Firnhaber:

Man muss auch lernen, zu Einrichtungen

mit verschiedenen Perspektiven

zu gehen. Ich spreche beispielsweise

sowohl vor Immobilienmaklern

als auch vor dem Mieterbund.

Egal, welche Sichten ich teile,

ich höre sie mir an. Ich habe festgestellt,

das ist wichtiger, als ich ursprünglich

dachte.

SPIEGEL: Wieso?

Gysi: Man glaubt immer, die Probleme

zu kennen, und dann kommen die

Leute mit Sichten, auf die man gar

nicht gekommen ist. Und es gibt Politikerinnen

und Politiker, die sich immerzu

in nur einem Kreis aufhalten

und nur noch diesem Kreis gefallen

wollen. Die denken dann nicht mehr

an die Breite der Wählerinnen und

Wähler.

Dos Santos Firnhaber: Ich gebe Ihnen

gerne einen Hinweis zurück, Herr

Gysi: Schützenfeste und Kegelklubs

sind auch ein sehr realistischer Spiegel

der Gesellschaft, gerade im ländlichen

Raum.

Gysi: Ich ging mal mit meiner Tochter

kegeln, sie ist inzwischen Mitte zwanzig.

Und ich ärgerte mich. Denn in

der ersten Runde war ich besser, und

dann überholte sie mich, weil meine

Kraft nachließ – während sie, jung,

da immer noch die Kugeln problemlos

anschob.

SPIEGEL: Frau dos Santos Firnhaber,

Herr Gysi, wir danken Ihnen für dieses

Gespräch.

n

36 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

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