DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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AUSLAND
Bulgarische Schwarzmeerküste: »Wir haben immer mehr Zulauf von Menschen, die nur noch wegwollen«
Zuflucht Corona Beach
BULGARIEN Deutsche Impfgegner haben sich in Urlaubskolonien
am Schwarzen Meer zurückgezogen: Dort ist das Leben
günstig, Pandemiemaßnahmen werden großzügig ausgelegt. Besuch
bei Menschen, die sich in ihrer Heimat verfolgt fühlen.
S
ie sind gekommen, um zu bleiben. Ihre
Autos mit Nummernschildern aus Ostfriesland,
Berlin, Bayern haben sie abgestellt
vor dem »Château Aheloy« an der
bulgarischen Schwarzmeerküste. Die Apartmentanlage
im Ort Aheloy gilt als Hochburg
deutschsprachiger »Querdenker« und Coronaskeptiker.
Hinter dem eisernen Eingangstor wacht
ein Sicherheitsmann. Wer angibt, hier heimisch
werden zu wollen, wird durchgelassen
zu Dirk Gelbrecht. Der Norddeutsche gründete
im Januar die Telegram-Gruppe »Deutsche
Auswanderer in Bulgarien«. Weniger als
ein Jahr später zählt sie mehr als 2500 Mitglieder.
Unter den Zugezogenen im Château hat
Gelbrecht das Sagen. Der kräftige Kerl in
schwarzem Kapuzenpulli zeigt zur Begrüßung
erst einmal eine heftige allergische
Reaktion. Unangekündigter Journalistenbesuch?
Kein Bedarf. »Für euch sind wir alle
nur Schwurb ler, Aluhüte«, schimpft Gelbrecht,
»ihr wollt uns in eine Ecke drängen,
an die Wand stellen.«
Stimmt es, dass hier Deutsche und Österreicher
landen, die vor den strengeren Maßnahmen
gegen die Pandemie in ihren Heimatländern
flüchten? »Wir sind eine private
Mehrgenerationen-Lebensgemeinschaft«,
erwidert Gelbrecht vage, »unter den Bewohnern
sind auch Armutsrentner wie meine Eltern.«
An die 60 Auswanderer lebten inzwischen
allein auf dem Château-Gelände,
bald sollen es 100 sein: »Wir haben immer
mehr Zulauf von Leuten, die nur noch wegwollen.«
Nimmt Gelbrecht selbst Corona ernst, ist
er geimpft? Schweigen. Ein Blick in die Telegram-Gruppe
liefert Antworten. Da beklagt
Gelbrecht den deutschen »C-19-Wahnsinn« –
»C« für Covid –, fordert die Auslieferung der
Verantwortlichen an den Internationalen Gerichtshof
und noch mehr: Das »verlogene und
heuchlerische politische & mediale System in
Deutschland muss zerstört werden«.
Bevor es so weit kommt, noch kurz eine
Frage: Bezeichnet der heimliche Chef im
Château sich als Querdenker? »Der Begriff
ist zweckentfremdet worden, wahre Querdenker
waren Albert Einstein oder Stephen
Hawking«, entgegnet Gelbrecht. Er selbst
sehe sich vor allem als Rettungsanker für Verzweifelte:
»Bei vielen Deutschen nimmt die
Angst zu, ohne Impfung ausgegrenzt zu
werden, am Leben nicht mehr teilhaben
zu können, die Kinder zwangsimpfen lassen
zu müssen.«
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit
organisiert sich die coronaskeptische
Auswandererszene im Nachrichtenkanal Telegram.
Parallel dazu bewegt sich ein beachtlicher
Tross in Richtung Bulgarien, ins Armenhaus
der EU. Objekte, bevorzugt an der
Schwarzmeerküste zwischen Burgas und
Warna, werden gekauft oder gemietet. Der
Traum: Leben in einem Land, in dem keine
»Kinnwindeln« oder »Filtertüten« über
Mund und Nase gestülpt werden müssen, in
dem Ungeimpfte in Restaurants bedient und
Kinder in »Freilernergruppen« an den Strand
geschickt werden können.
Unter den tatsächlichen und angehenden
Bulgarienflüchtlingen finden sich viele
Frauen. Da ist die Betreiberin eines »tierleidfreien«
Lebenshofs im Rheinischen, die
sich sorgt wegen der bulgarischen Einreisebedingungen
für Kühe, Schafe und Schweine.
Da sind selbst ernannte »Löwenmamas«, die
ihre Kinder in Bulgarien in Sicherheit bringen
wollen und zu diesem Zweck »Dörfer
der neuen Zeit« gründen. Vor allem aber
sind da Menschen mit exotischen Berufen:
von der »Online Geburtshüterin« bis zur
»Expertin für Tiefenentspannung«, vom
»Life-Crash-Coach« bis zur Fachfrau für
»Trauer-, Geburts- und Schwangerschaftsbegleitung«
ist viel deutsches Wissen im
Martina Katz / imageBROKER / picture alliance
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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