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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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Eine Metastrategie,

kein Plan

NR. 31/2021 »Die Vermessung

des Volkes« – Alfred Weinzierl

schrieb darüber, wie Umfrageinstitute

Stimmungen der

Wähler ergründen. Er lernte

auch, was Laschet fehlte.

Mitte Juni, Recherchebesuch

in der CDU-Zentrale in Berlin.

Es geht um die Frage, wie die

Union Erkenntnisse der Meinungsforscher

im Bundestagswahlkampf

nutzen will. Nicht

ohne Stolz reden die Parteimanager

von ihren Vorbereitungen

für eine »Metastrategie«. In sie

sollen die Themen einfließen,

die Wählerinnen und Wählern

laut Umfragen wichtig sind.

Die politisch Interessierten

fragen sich, welche Schwerpunkte

Kanzlerkandidat Armin

Laschet setzen will, wie er den

bei seiner Wahl zum Vorsitzenden

von ihm diagnostizierten

Reformstau auflösen will. Ich

frage den Wahlkampfmanager,

wie Veränderungswille und

Kontinuität nach 16 Merkel-

Jahren in einem griffigen Slogan

zusammenkommen können.

»Im besten Fall wird es ein programmatisches

Versprechen,

das so breit ist, dass man da

mehr hinter vermuten kann.«

Ich finde mich mit der Nichtantwort

ab. Die CDU will mir

eben das Motto ihrer Kampagne

nicht vorzeitig auf die Nase

Weinzierl

binden. Als die Union ein paar

Tage später ihr Wahlprogramm

präsentiert, ist es eine Ansammlung

von Floskeln, kein Reformplan,

keine Fortschrittsidee. Der

Claim könnte inhaltsleerer

kaum sein: »Gemeinsam für ein

modernes Deutschland.«

Ich habe die CDU überschätzt.

Und viele in der Partei

haben Laschet überschätzt. Im

Wahlkampf gewinne ich den

Eindruck, dass der Kanzlerkandidat

sich für die Analysen seiner

Experten, die den Bürgerinnen

und Bürgern in Kopf und

Seele geblickt haben, nicht

recht interessiert. Laschet

glaubt, ein Wahlkampf könne

aus dem Bauch heraus geführt

werden. Ab Ende August zieht

Olaf Scholz in den Umfragen

vorbei. Laschet und die Union

verfallen in Aktionismus – denn

eine »Metastrategie« hat es nie

gegeben, oder wenn es sie gab,

dann blieb sie in der Schublade.

Im Juni war es offenbar nicht

so, dass mir die Wahlkampfmanager

nichts verraten wollten.

Es war einfach nicht viel da.

Jörg Müller

»O nein, nicht das«

NR. 41/2021 »Leute wie ich

werden – zack – einfach

aus sortiert« – Redakteur Hannes

Schrader traf einen

ehemals obdachlosen Mann,

der ihm den eigenen Zynismus

vor Augen führte.

Ich wollte nie über Obdachlose

schreiben. Artikel über Wohnungslosigkeit,

davon war ich

überzeugt, trieften häufig vor

Mitleid und stellten Elend aus.

Doch als Praktikant beim

SPIEGEL musste ich: Meine

Ressortleiterin rief an und sagte,

sie hätte da ein Thema für

mich. Es ging um ein Projekt

in Berlin, das Obdachlose von

der Straße holen will, indem

man ihnen bedingungslos eine

Wohnung gibt.

»O nein, nicht das«, dachte

ich.

»Na klar, mache ich gern«,

sagte ich.

Um keine Betroffenheitsgeschichte

zu erzählen, nahm ich

mir vor, hart und kritisch zu

sein. Werden Drogenabhängige

clean? Schaffen sie es, vom Alkohol

wegzukommen, finden

sie einen Job? Oder ist das nur

eine teure Maßnahme, die sowieso

nichts bringt?

Diese Fragen trug ich mit mir

herum, als mir im Süden Berlins

ein Mann mit kurzen Haaren

und freundlichen graubraunen

Augen die Tür öffnete. Seine

Wohnung war noch fast leer, er

war gerade erst eingezogen. Er

hatte einen alten Schreibtischstuhl

und eine Klappleiter. Er

setzte sich auf die Leiter und erzählte

mir von seinem Leben

vor dieser Wohnung.

Er berichtete, wie er knapp

ein Jahr zuvor wegen einer

Angststörung in seiner ehemaligen

Wohnung verwahrloste,

nicht mehr duschte, sich einen

Bart wachsen ließ, der ihm bis

zum Bauchansatz reichte. Wie

er seine Wohnung verlor und

auf der Straße landete.

Wie er nach der ersten Nacht

dachte: »Jetzt bin ich ganz

unten angekommen.« Erst kam

er in eine Gemeinschaftsunterkunft,

schließlich fand er zu

dem Projekt, das ich vorstellen

sollte. Dort hatte er eine

Wohnung bekommen. Ohne

Bedingungen.

Fast drei Stunden saß ich bei

ihm und hörte ihm zu. Als wir

fertig waren, erwischte ich mich

dabei, dass ich bewegt war, von

dem, was ihm passiert war. Ich

fand meine Gedanken auf einmal

zynisch.

Geht es mich wirklich etwas

an, ob jemand hinter der eigenen

Tür zu viel trinkt, ein Startup

gründet oder den ganzen

Tag Däumchen dreht? Die eigene

Wohnung ermöglichte diesem

Mann – Vorsicht, Pathos –,

in Würde zu leben, das habe ich

an diesem Tag verstanden.

Eine schwierige

Konfrontation

NR. 24/2021 »Er kocht sie

ganz langsam« – Redakteurin

Kristin Haug sprach mit dem

Ökologen Ian Baldwin, der jahrelang

Doktoranden und Postdocs

drangsaliert haben soll.

Zahlreiche Doktoranden und

Postdocs hatten mir erzählt, wie

der Direktor des Max-Planck-

Instituts für chemische Ökologie

in Jena, Ian Baldwin, ihnen

das Leben zur Hölle gemacht

habe. Wie er sie beschimpft, zur

Arbeit angetrieben, manipuliert

habe. Manche schilderten,

die Arbeit mit Baldwin habe sie

krank gemacht.

Ich hatte zahlreiche Dokumente

gesichtet, mit Kolleginnen

und Kollegen Baldwins geredet.

Nach allem, was ich hörte,

erschien er mir gefühlskalt und

Haug

M. Kuhn

narzisstisch. Bevor ich ihn anrief,

war ich aufgeregt. Baldwin

war bislang vor allem von

Journalisten kontaktiert worden,

weil sie über seine Erfolge in

der Wissenschaft berichten

wollten. Über seinen mutmaßlichen

Machtmissbrauch hatten

die Medien noch nicht berichtet.

Wie würde er reagieren?

Baldwin fragte mich, mit

wem ich geredet hätte. Er ermahnte

mich, die Fakten besser

zu prüfen: Er sei das Opfer, er

fühle sich verleumdet. Ich musste

aufpassen, welche Details

ich nannte – denn ich musste

meine Quellen schützen. Fast

alle wollten aus Angst vor Konsequenzen

anonym bleiben.

Baldwin ist immer noch ein einflussreicher

Wissenschaftler.

Ich betonte: »Ich kenne nur

die eine Seite, möchte aber gern

erfahren, wie Sie die Dinge sehen.«

Wir redeten eine Stunde

miteinander, und Baldwin verstand,

dass dies eine Gelegenheit

war, sich zu erklären. Er erzählte,

er sei davon angetrieben,

wissenschaftliche Exzellenz

zu erreichen und die Menschen

um sich herum auch dazu

zu ermutigen. Ehemalige Weggefährten

bestätigten mir, wie

sehr Baldwin sich der Wissenschaft

verschrieben hatte und

dabei offenbar die Bedürfnisse

seiner Kolleginnen und Kollegen,

die nicht allein für die Forschung

lebten, aus dem Blick

verloren hatte.

Baldwin und ich tauschten

nach dem Gespräch noch ein

paar E-Mails aus, in denen er

sich rechtfertigte, aber auch für

sein Fehlverhalten entschuldigte.

Unser Telefonat half mir,

Baldwins Handeln besser zu

verstehen und auch, wie es zu

den Vorwürfen kam. Das schlug

sich in meinem Text nieder.

Manche meiner Quellen warfen

mir vor, zu viel Verständnis für

ihn gezeigt zu haben.

Vielleicht habe ich das sogar.

Ich bin trotzdem froh, mir seine

Darstellung ausführlich angehört

zu haben. Es ist nicht nur

journalistischer Standard, es

hilft, ein komplettes Bild zu bekommen.

Ich hoffe, dass der Artikel

gezeigt hat, was Vorgesetzte

durch ihr Verhalten bei Mitarbeitenden

anrichten können.

16 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

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