DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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REPORTER
Sie wurde als ältestes von vier Kindern
geboren, ihr Vater war Pfarrer,
sie war keine Pionierin und durfte in
der DDR kein Abitur machen. Sie
wurde Hebamme an der Charité,
arbeitete in Ludwigslust in einem
Stift, wo sie im Kreißsaal das Anpacken
lernte. Ihre erste große Veränderung
im Leben, sagt sie, war die
Wiedervereinigung, die zweite, als sie
ihren Mann verließ, mit 27.
Sie spricht schnell, fröhlich, hat ihr
Handy auf dem Tisch mit dem Foto
der Enkelkinder.
Als ihre Jungs weg waren, ging sie
in die Schweiz und machte eine Ausbildung,
Pränatal- und Geburtstraumatherapie,
sie heiratete ein zweites
Mal, wohnte bald wieder allein.
Irgendwann machte sie Urlaub auf
La Palma, merkte, »hier könnte ich
leben!«, und brach wieder auf. Diesmal
für immer, »dieses Mal komme
ich nach Hause«, dachte sie bei sich,
als sie 2017 den Renault packte.
Die erste Nacht auf La Palma
schlief sie in Todoque, dem Dorf, das
es heute nur noch auf Karten gibt und
im Internet.
Nichts ist für die Ewigkeit, vielleicht
nur Vulkane.
Unter dem Streifen der Zerstörung
liegen auch: 1000 Hektar Land,
340 Hektar Anbaufläche, davon
wiede rum 206 Hektar Bananenplantagen,
60 Hektar Weinberge, 26 Hektar
Avocadoplantagen.
Mit Drohnen haben Tierschützer
in El Paraíso vier Hunde mit Wasser
und Futter versorgt, die eingeschlossen
waren, an einer anderen Stelle
fütterten sie eine Katze.
Zu Allerheiligen warfen spanische
Soldaten von einem Helikopter aus
Blumenblüten auf den Friedhof von
Las Manchas.
Carla, die Künstlerin, auf die Insel
gekommen vor 15 Jahren, hatte vor
ihrem ersten Neuanfang mit 51 Jahren
bei ihrem Coach in Schwäbisch
Hall gesessen, der sie gefragt habe:
»Willst du den Rest deines Lebens in
der Kleinstadt verbringen?«
Sie ging dann erst mal auf Reisen,
begann eine Coachingausbildung in
den USA, ein vierwöchiges Training
absolvierte sie auf den Bahamas in
einem Hotel am Strand, wo sie am
Abend im Sand tanzte. Dann: New
York, Hawaii, Berlin, Ibiza.
Im Juli 2006 fuhr sie nach La Palma
in den Urlaub, übernachtete
günstig auf dem Campingplatz, lernte
den Platzwart, Hannes, kennen.
Half ihm mit den Blumen und kehrte
dann im November zurück, die Haare
hennarot, ohne Rückflug ticket,
und zog in einen der Wohnwagen.
Anna Tiessen / DER SPIEGEL (2)
»Ich wollte
gerade eine
Siesta machen,
als ich
die Rauchwolke
sah.«
Carla Helga Culemann,
Künstlerin
Katharina, die Fotografin, sagt, sie
spüre die Erdbeben schon, bevor sie
da sind, ein Dröhnen, aus der Tiefe.
Dann schläft sie nicht mehr weiter.
Sie erzählt das am Hang in der Nähe
ihres neuen Hauses mit den Katzen,
Mogli ist dabei, ihr Lieblingstier, gerettet.
Sie hat schon alles durch, war reich,
war arm. Sie war liiert und ist jetzt
seit 13 Jahren Single.
Von ihrem weißen Schreibtisch aus
schaut sie mehrmals am Tag mit dem
Laptop im Internet nach, wohin die
Lava fließt, nach den vergangenen
Erdbeben, welche Stärken sie hatten.
3,5. 4,7. Die Zahlen geben ihr Auskunft
über die Kraft der Natur und
auch darüber, wann sie zurückkann
in ihre kleine Casita.
»Vielleicht sind es Senkungsbeben«,
sagt sie und erklärt. Wenn
schon viel Magma raus ist, sackt der
Untergrund zusammen. Lässt der
Vulkan es also schon gut sein?
»Schaun mer mal«, sagt sie, als
spräche sie über den nächsten Regen.
Sie ist gern draußen, sie mag keine
Enge. Sie läuft hoch zu den Bienenstöcken
oder in die Wälder, es scheint,
als wäre die Natur über die Jahre ein
Stück bei ihr eingezogen. In ihrer
neuen Unterkunft ist alles klein,
voll mit Asche, der Wind vom Meer
trägt sie hinein, auf ihr Bett, in die
Küche.
Sie hat an die Wände selbst gemalte
Bilder geklebt, eine Sonne, die
»Spirale des Lebens« in Gelb und
Violett. Sie verdient als Fotografin
gerade nichts und baut mit Photoshop
ein Katzenorakel, das sie verkaufen
will, 42 Karten.
Die Trennung von ihrem Mann
damals sei hart gewesen, sagt sie. Das
ging von ihm aus, und sie musste damit
leben. Sie hat dann eine Massageausbildung
begonnen und eine weitere
als Gesundheits- und Ernährungsberaterin.
Sie wurde selbstständig.
Sie ist schon mal aus der Asche auferstanden,
wenn man so will.
Sie sagt, es habe seinen Preis, dieses
Leben, ein Rückhalt fehle ihr an
manchen Tagen. Das ehrlichere Leben
sei manchmal das einsamere.
Man müsse es aushalten können.
Dennoch: Wenn sie in Deutschland
ist und die gepflegten Vorgärten
sieht, denkt sie daran, dass die Scheidung
ihr ein neues Leben ermöglicht
hat, und sagt Danke.
Jetzt wartet sie nachts auf La Palma
darauf, dass die Erde wieder wackelt,
oder sie schaut, was die anderen
auf Facebook dazu schreiben.
»Rumpel-Rumpel alle wach?«
Oder: »Guten Morgen! Noch alle
Tassen im Schrank?«
Carla, die Künstlerin, war am
Nachmittag mit ihrem roten Subaru
unterwegs, sie will zeigen, wo ihr Atelier
stand, sie will so dicht ranfahren,
wie es geht. Überall sind aber Absperrungen,
spanische Polizisten in
gelben Westen, es stehen Pick-ups
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
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