TITELLoslassen zu verarbeiten. Der Mensch könneResilienz lernen, sagen Forscher. Manche Psychologenund Ärztinnen sind der Meinung,dass es wichtig sei, schon als Kind schwierigeSituationen zu durchleben, als Vorbereitung.Die amerikanische EntwicklungspsychologinEmmy Werner begann bereits 1955 daranzu forschen, warum manche Menschenresilienter sind als andere. »Selbstwirksamkeit«lautet das Stichwort. Das Ergebnis ihrerLangzeitstudie: Resilientere Menschen erkennendie eigenen Bedürfnisse, sind selbstbewusst,können Verantwortung übernehmenund Ziele verfolgen, die sie als sinnvoll bewerten.Und: Resiliente Menschen hatten inder Kindheit meistens mindestens eine Vertrauensperson.Selbst hinter dem kleinsten Vorhabensteckt ein großes Sehnen: Letztlich geht esimmer darum, ein anderer Mensch zu werden.Wer nicht sofort zur nächsten Zigarette greift,sondern darum kämpft aufzuhören, ist schonein anderer geworden. Ein bisschen jedenfalls.Wie aber ergeht es einem Menschen, derdas auf einer ganz anderen Ebene möchte?Der sein Geschlecht anpassen möchte?Da operative Geschlechtsangleichungenheute medizinisch leichter möglich sind als jezuvor und die Gesellschaft eine andere Toleranzentwickelt hat, wagen wohl deutlichmehr Menschen diesen Eingriff. Im Jahr 2020wurden in deutschen Krankenhäusern 2155operative Geschlechtsangleichungen durchgeführt,2012 waren es noch 883.Der Buchhändler, Autor, Blogger und AktivistLinus Giese, geboren 1986, hat seinComing-out als transgeschlechtlicher Mannhinter sich. Er sagt einen Satz, der zu denmeisten Neuanfängen passt: »Es war keinAufbruch ins Glück, das sich sofort eingestellthat.« Sein neues Leben begann mit fünf Buchstaben.Sie standen auf einem Pappbecher aneinem Mittwoch im Oktober 2017. In ihm: einPumpkin Spice Latte. Auf ihm: schwarze Lettern,geschrieben mit einem Filzstift. Als erden Kaffee bestellte, hatte der Barista ihnnach seinem Namen gefragt. Er nannte nichtden Namen, der ihn bis dahin begleitete, seit31 Jahren. Der in seinem Pass stand und aufseiner Versichertenkarte. Er nannte nicht denNamen einer Frau, sondern »Linus«.Kurz danach machte er ein Foto des Bechersund lud es auf Facebook hoch. Freundinnen,Verwandte, Kollegen, auch seine Elternsollten es in den kommenden Stundenund Tagen sehen. An diesem Tag im Oktoberbegann für Linus Giese das öffentliche Lebenals transgeschlechtlicher Mann.In den Wochen zuvor hatte er zum erstenMal in einer Herrenabteilung Kleidung gekauft.Er hatte sich bei einem Herrenfriseurzum ersten Mal einen Undercut schneidenlassen. Hatte einem Freund zum ersten Maloffenbart, dass er sich als transgeschlechtlicherMann fühlt. Und dann der Welt mitgeteilt,dass er sich Linus nennt. Lauter erste Male.Giese sagt, er habe damals gespürt, wie ihnsein altes Leben einengte. Und wie ihn jederSchritt ins neue Leben glücklicher machte.Begonnen hat dieser vierjährige Aufbruchaber mit einem anderen Gefühl: Angst. LinusGiese fragte sich, wie die Menschen, die ihnkennen, wohl darauf reagieren würden.Wenige Wochen nach seinem Coming-outzog er von Hanau nach Berlin. Er hatte dorteinen Job als Buchhändler gefunden, seineneuen Kollegen nannten ihn Linus. Doch mancheKundinnen oder Kunden sprachen ihnweiterhin als »Frau« an. Sie sahen ihn nichtso, wie er gesehen werden wollte. »Das warunheimlich schmerzhaft«, erinnert er sich.Linus Giese merkte, wie er sich als transgeschlechtlicherMann immer wieder erklärenmusste. Beim Arzt. Bei Behörden. Bei derPost. Sein Personalausweis passte nicht mehrzu dem Menschen, der er jetzt war.Und dann schlug ihm noch dieser Hass entgegen.Linus Giese hatte wenige Monate nachseinem Coming-out begonnen, einen Blogüber sein Leben als transgeschlechtlicherMann zu schreiben. Für manche Menschenim Internet wurde er damit zur Zielscheibe.Er las Beleidigungen auf Twitter, Hasstiraden.Fremde riefen bei seinem Arbeitgeber an, umihn bloßzustellen. Sie schickten Pakete anseine Arbeitsstelle. Fanden seine Privatadresseheraus und überklebten sein Klingelschildmit seinem alten Namen. Einmal stand einMann vor seiner Tür, 40 Minuten lang. Giesezog daraufhin für vier Monate zu Freunden.Er nennt das die »schrecklichen Seiten«seines neuen Lebens. Giese hat über seineGeschichte ein Buch geschrieben, 224 Seiten.Linus Giese, 35Der Blogger hat sein Coming-out alstransgeschlechtlicher Mann hintersich. Er sagt, das Glück habe sich nichtsofort eingestellt. Der Aufbruch in einneues Leben habe vier Jahre gedauert.Thomas Pirot / DER SPIEGELDamit transgeschlechtliche Personen wissen,was sie erwartet, wenn sie öffentlich ihr Geschlechtleben wollen. In der Fachspracheheißt dieser Prozess »Transition«.Anderthalb Jahre nach seinem Coming-outließ Linus Giese seinen Namen und sein Geschlechtbeim Standesamt offiziell ändern. Imselben Monat bekam er die erste Testosteronspritze.Weitere zwei Jahre vergingen, bisÄrzte ihm seine Brüste entfernten.Heute kann Linus Giese sagen. »Heuteführe ich das Leben, das ich mir wünsche.«Nicht alle Menschen in seinem Umfeld sindihm dabei gefolgt. Zu manchen alten Freundenbrach der Kontakt ab. Einige konntenden Weg nachvollziehen, den Linus Gieseging. Am stärksten musste er sich überwinden,mit seinen Eltern darüber zu sprechen.Im vergangenen Jahr bekam er von seinerMutter ein Kissen geschenkt. Er hatte es schoneinmal überreicht bekommen, als Kind, miteiner Stickerei: seinem alten Namen. Jetzt laser einen neuen Namen auf dem Stoff: »Linus«stand da.Bei Olaf Scholz ist der Neuanfang längst nichtso ausgeprägt. Nach Jahren des Hoffens, Bangensund Wartens hat sich nur seine Funktionsbezeichnunggeändert, er ist das geworden,was er so unbedingt hatte werden wollen:Bundeskanzler. Auch bei ihm könnte derZauber des Neuen erst einmal überschattetwerden. Anders als der Chef des Robert Koch-Instituts empfohlen hatte, verkündete Scholzlediglich moderate Corona-Einschränkungenüber die Weihnachtsfeiertage. Sollte sich dasals Fehler herausstellen, wird er für einenmöglichen Zusammenbruch von Teilen derInfrastruktur verantwortlich sein, weil zu vieleLeute gleichzeitig krank werden. Was fürein Neuanfang.Bundespräsident Frank-Walter Steinmeierhatte im vergangenen Jahr in seiner Weihnachtsanspracheversprochen: Wir sähen daslang ersehnte Licht am Ende des Tunnels hellerwerden. Alle dürften sich darauf freuen,das nächste Weihnachten wieder im großenKreis zu feiern, mit Umarmungen und Gesang.In diesem Jahr musste er einräumen,dass es anders gekommen ist: »Seit bald zweiJahren bestimmt die Pandemie unser Leben,hier und auf der ganzen Welt. Selten habenwir so hautnah erfahren, wie gefährdet unsermenschliches Leben und wie unvorhersehbardie Zukunft ist.« Diejenigen, deren Aufgabees nun sei, »Leib und Leben zu schützen«,täten ihr Bestes: »Und sie alle gewinnen neueErkenntnisse, korrigieren Annahmen, die sichals falsch erwiesen haben, und passen Maßnahmenan. Menschen können irren, sie lernenaber auch.« Auch so kann man auf einenNeuanfang schauen.Susanne Beyer, Anika Freier, Maik Großekathöfer,Katharina Horban, Peter Maxwill, ChristopherPiltz, Hannes Schrader, Katja ThimmLesen Sie auch ‣ Drei Frauen starten aufLa Palma neu – dann bricht der Vulkan aus | 6628 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
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