DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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TITEL
LEBEN
»Viele würden gerne den
Reset-Knopf drücken«
Wer einen frischen Anfang wagen will, braucht Kraft – aber was noch?
Persönlichkeitsforscher Rainer Riemann, 66, über Schicksalsschläge, Gene
und darüber, welche Charktereigenschaften man für einen Neustart braucht.
SPIEGEL: Herr Professor Riemann,
Sie untersuchen unter anderem, wie
Gene und Charaktereigenschaften
unsere politische Orientierung beeinflussen.
Das klingt, als wären wir
Menschen ziemlich festgelegt. In
diesen Tagen hoffen viele auf einen
Neuanfang. Ist so etwas möglich?
Riemann: Wir nehmen uns immer
wieder vor, einen völligen Neustart
zu machen. Viele würden gerne den
Reset-Knopf drücken. In seltenen
Konstellationen kann das wünschenswert
sein. Doch wir Menschen
werden mit bestimmten Anlagen
geboren. Im Laufe unseres
Lebens entwickeln sie sich. Wir
schreiben eine Lebensgeschichte
unter vielfältigen Einflüssen. Wenn
wir einen Neuanfang wagen, überlebt
ganz viel aus unserer Biografie.
Es ist nicht vorstellbar, uns komplett
neu zu erfinden. Das funktioniert
nicht.
SPIEGEL: Sie halten nicht viel von
den guten Vorsätzen zum Jahreswechsel?
Riemann: Ich habe selbst vor vielen
Jahren an Silvester mit dem Rauchen
aufgehört. Aber Umbrüche
dürfen nicht von außen an uns herangetragen
werden. Häufig gibt es
im Umfeld eine Erwartungshaltung.
Ein Neuanfang ist jedoch nur dann
realistisch, wenn die Idee dazu nicht
spontan kam und wenn er nicht das
ganze Leben betrifft. Er muss sich
auf konkrete Ziele beschränken. Das
Stichwort ist »Weiterentwicklung«.
Das kann beim Essen oder Rauchen
funktionieren, auch wenn man sich
etwa vornimmt, offener auf andere
Menschen zuzugehen.
SPIEGEL: Es gibt aber doch Brüche
im Leben, die über solche Kleinigkeiten
hinausgehen.
Riemann: Das sind dann vor allem
erzwungene Neuanfänge. Etwa
nach Todesfällen, wenn zum Beispiel
der Partner oder die Partnerin
Veit Mette / DER SPIEGEL
Psychologe
Riemann
Silvesterfeier in
Stuttgart 2017: »Wir
schreiben eine
Lebensgeschichte«
verstorben ist. Da müssen wir viele
Bereiche des Lebens neu entdecken,
neue Beziehungen knüpfen. Das ist
ein Neuanfang, den man sich nicht
ausgesucht hat. Auch die Menschen,
die in der Flutkatastrophe alles verloren
haben, sind dem ausgesetzt.
Starke Brüche gibt es zudem, wenn
man seine ganze Umwelt verändert,
also etwa in ein anderes Land mit
einer anderen Kultur zieht.
SPIEGEL: Gibt es Eigenschaften, die
solche Neuanfänge begünstigen?
Riemann: Die gibt es auf jeden Fall.
In der Forschung sprechen wir von
fünf Persönlichkeitsdimensionen,
Christoph Schmidt / dpa
drei davon sind hier relevant. Das
ist zum einen die Offenheit für neue
Erfahrungen. Hinzu kommt noch
Risikobereitschaft, wie man sie etwa
haben muss, wenn man sich selbstständig
machen will. Und zuletzt
Gewissenhaftigkeit. Man kann noch
so offen und risikobereit sein, der
Erfolg eines Neuanfangs hängt auch
davon ab, wie man solche Veränderungsprozesse
angeht, wie planvoll
und motiviert.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen unsere
Gene?
Riemann: Unsere Gene sind für uns
immer wieder entscheidend, aber
sie sind eben kein Computerprogramm,
das genaue Verhaltensweisen
vorgibt. Es stimmt zwar, dass
Gene unser Potenzial bestimmen,
unsere Reaktionsweisen. Aber das
geht nicht so weit, dass sie konkrete
Handlungen beeinflussen. Bei einem
Neuanfang geht es häufig um
etwas sehr Konkretes. In Augenblicken
wie an Silvester spielen genetische
Einflüsse eine untergeordnete
Rolle. Was ich in solchen Situationen
tue, hängt häufig von aktuellen
Erfahrungen ab.
SPIEGEL: Mit zunehmendem Alter
spielen sich Verhaltensmuster ein.
Werden Neuanfänge leichter, weil
man sich im Alter selbst besser
kennt, oder schwieriger?
Riemann: Die Forschung geht nicht
davon aus, dass Veränderungen der
Persönlichkeit mit dem Alter abnehmen,
auch wenn junge Leute vielleicht
meinen, die Älteren wären
unflexibel. Es ist eher so, dass es im
Alter – etwa mit dem Ausscheiden
aus dem Job – mehr Flexibilität gibt.
Die Persönlichkeit verändert sich
wieder stärker, auch konkrete Verhaltensweisen.
Manchmal wachsen
wir automatisch in neue Rollen
hinein, wenn wir uns auf einmal
um Enkelkinder kümmern. Hinzu
kommt, dass wir im Alter häufiger
gezwungen sind, uns mit gesundheitlichen
Problemen auseinanderzusetzen.
SPIEGEL: Braucht es für einen Neustart
manchmal professionelle Unterstützung?
Riemann: Therapeutische Hilfe
kann mitunter sinnvoll sein. Manchmal
sind auch Gespräche mit anderen
hilfreich. Für die meisten Vorsätze
zum neuen Jahr braucht es das
natürlich nicht. Aber auch da ist es
gut, sich bei Familie und Freunden
Rat zu holen. Etwas Neues muss
auch im sozialen Miteinander gelingen.
Interview: Katharina Horban n
26 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021