DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
REPORTER
Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL
Kann man seinen
Computer töten?
HOMESTORY Das Navi, die Spülmaschine, das Handy – Technik soll unser Leben
eigentlich einfacher machen. Warum klappt das nicht, fragt sich Frauke Hunfeld.
I
ch sitze im Auto, wieder ein neues
Navi. Warum muss in jedem
Mietauto ein anderes Navigationsgerät
sein? Wenn man es gerade
bedienen kann, nützt es einem schon
nichts mehr. Ich hacke auf die Tasten,
ich reiße an den Knöpfen, ich drehe
Regler rauf und runter. Die Welt
bleibt schwarz. Es gibt eine Hotline,
aber die kann ich nicht anrufen. Das
Handy hat in der Tiefgarage des Flughafens
keinen Empfang. Und wenn
es Empfang hätte, würde ich nur eine
Maschine erreichen und müsste 1000-
mal »Ja«, »Nein« und »weiter« ins
Mikro brüllen, bis ich die Nummer
meines Mietwagenvertrags aufsagen
darf. Eine gedruckte Bedienungsanleitung
ist nirgendwo zu finden.
Eine Landkarte auch nicht. Dass ich
überhaupt danach suche, ist für die
Generation nach mir wahrscheinlich
ein Witz. Ich bin schon erschöpft, bevor
ich einen Meter gefahren bin.
Das Navi geht nur an, wenn ich
den Motor laufen lasse, was man nicht
darf, Kohlenmonoxid, sofort jault irgendein
Alarm los, das ist so eingestellt.
Sonst passiert nichts. Niemand
kommt angerannt, niemand fragt, ob
ich Hilfe brauche oder überfallen
wurde, nur der Alarm heult und ich
gleich auch. Das Radio ist zu laut,
aber wenn ich es leise stelle, wird
auch die Stimme aus dem Navi zu leise.
Ich hatte das Problem schon mal,
vor Wochen, andere Stadt, anderes
Auto, anderes Navi. Ich hab vergessen,
wie es ging. Das Radio macht
mich aggressiv.
Mein Handy hat viele Funktionen,
aber ich benutze maximal 20 Prozent.
Die, die ich brauche. Und die, die ich
verstehe. Ich habe gerade meine Kreditkarte
auf dem Telefon installiert,
aber wenn ich damit zahlen will,
erscheint sie nicht. Warum bin ich zu
blöd, ein Smart TV korrekt zum Laufen
zu bringen, eine Soundbar zu programmieren
und dafür zu sorgen, dass
unser bescheuertes Küchenradio
nicht immer um 3.24 Uhr morgens
von allein angeht? Warum streiten
wir immer sofort, wenn etwas am
Computer nicht funktioniert? Warum
machen uns diese Geräte so wütend?
Wir haben uns eine Welt geschaffen,
der wir nicht gewachsen sind. Sie
funktioniert besser ohne uns. In der
Küche einer Freundin steht eine Spülmaschine,
die sieht aus wie ein Raumschiff
und war auch fast so teuer. Aber
man kann von außen nicht erkennen,
ob sie läuft. Irgendwo im Internet gibt
es eine Bedienungsanleitung, aber das
Problem ist nicht aufgeführt. Man
muss sich hinknien und horchen, ob
sie brummt, bevor man seine Tasse
reinstellt, weil sonst das Wasser rausspritzt.
Neulich ist das wieder passiert.
Und ich habe gesehen, wie ihr
Mann die superteure Spülmaschine
einfach in die Seite getreten hat.
Kein Einzelfall. 62 Prozent aller
PC-Nutzer, so eine ältere Studie, haben
ihren Computer schon mal angeschrien,
31 Prozent die Maus geschlagen
oder auf den Boden geworfen,
15 Prozent gegen das Gehäuse
62 Prozent
aller PC-
Nutzer haben
ihren Computer
schon mal
angeschrien,
31 Prozent
die Maus
geschlagen.
getreten. Und vermutlich sind diese
Zahlen in den vergangenen zwei Jahren
genauso deutlich angestiegen wie
unsere Abhängigkeit von und unsere
Ohnmacht angesichts der Technik.
Ein IT-Fachmann des eigenen Hauses
hat mir kürzlich erzählt, dass er öfter
mal mit der Faust mitten in die Tastatur
schlägt. In Colorado hat ein
Mann vor einigen Jahren seinen
Computer erschossen. Achtmal hat
er mit einer Neun-Millimeter-Pistole
abgedrückt. Overkill nennt man
so etwas unter Kriminalisten, ein
klares Indiz dafür, dass jemand von
Wut, Verzweiflung und Ohnmacht
überwältigt wurde.
Die Logik der Maschinen hat sich
längst auf die Logik der Prozesse
übertragen. Im neuen Regierungsprogramm
steht Digitalisierung ganz
oben. Im Großen bin ich natürlich
dafür. Im Alltag denke ich manchmal:
bitte nicht. Die Digitalisierung soll
alles einfacher machen und schneller.
Ich frage mich oft: für wen? Und
wann? Wenn ich endlose Nummern
in Formulare für die Paketnachverfolgung
eintrage und am Ende doch
durch die Nachbarschaft irre, um meine
Sendung zu finden? Wenn ich für
eine Karte im Freiluftkino ein Konto
»im System« anlegen muss, noch
eines zu den vielen anderen Konten,
die ich in anderen Systemen angelegt
habe? Wenn das Kino-Konto mit
einem Code bestätigt werden soll,
aber der erst mal im Spam-Ordner
landet und dann die vorgesehene
Antwortzeit abgelaufen ist?
Ich mache mit, weil es nicht anders
geht. Ich klicke und drücke, ich bestätige
und speichere, ich sende. Was
ich damit genau in Gang setze, weiß
ich meistens nicht – ein großes Mysterium,
ein Nebel, ein Rätsel.
Was wir zu sehen bekommen von
unserer Wirklichkeit ist nur noch die
Benutzeroberfläche, nicht mehr die
Wirklichkeit selbst. Ursache und Wirkung
sind nicht mehr nachvollziehbar,
man kann keinen mehr fragen,
verantwortlich ist immer »das System«.
Wir drücken Knöpfe, wir klicken
Links, aber was dahinter geschieht:
keine Ahnung. Wir sind wie
die Kinder im Kasperletheater, die
mit dem Kasperle mitfiebern und
schreien, wenn sie das Krokodil sehen.
Die meisten von uns ahnen zwar,
dass da hinter dem Vorhang einer sitzen
muss, der die Puppen führt. Aber
wer genau das ist und was er bezweckt
und wie man im Notfall an ihn
rankommt, wissen wir nicht. Können
wir nicht wissen. Hauptsache, das
Stück funktioniert und hat ein Happy
End. Und das Kasperle überlebt. n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
71