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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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DEUTSCHLAND

Gespräche mit Knierim. Man macht ihm

klar, dass seine Cafés geschlossen würden,

sollte er so weitermachen. »Er hat alle Hinweise

demonstrativ provokant ignoriert«, sagt

Traub.

Knierim wehrt sich schriftlich gegen die

Maßnahmen. Er zweifelt die Autorität der

Polizei und des Gesundheitsamts an und fordert

sie auf, ihre »Legitimation« nachzuweisen.

In einem Schreiben schwurbelt er etwas

von »Hochverrat«.

»Der Mann bedient sich klassischer Reichsbürger-Gedanken«,

sagt Bürgermeister Traub.

»Er stellt die Legitimation der Institutionen

grundsätzlich infrage.« Der SPIEGEL hat

Knierim um eine Stellungnahme gebeten,

allerdings keine Antwort erhalten.

Am 25. November handelt das Gesundheitsamt.

Gegen Mittag wird Knierim verboten,

Waren zu verkaufen und das Café

zu betreiben. Die Tür wird mit einem

rot-weißen Flatterband gesperrt, Stadtpolizisten

stellen sich vor den Eingang. Erst

wenn Knierim ein Hygienekonzept vorlege

und sich an die Corona-Auflagen halte, dürfe

er wieder öffnen.

Die Nachricht verbreitet sich in der »Querdenken«-Szene

– per Telegram. Das Café sei

geschlossen worden, »weil es sich mit dem

System angelegt hat und Menschen nicht diskriminiert

hat«, heißt es in einem »Querdenker«-Kanal.

Diese Nachricht teilt der in der

Szene bekannte Arzt Bodo Schiffmann in

seiner Telegram-Gruppe, die 156 000 Menschen

abonniert haben. Auch ein Foto des

Cafés wird dort gezeigt.

In der Telegram-Gruppe »FREEodw« tummeln

sich Erbachs Impfskeptiker und Gegner

der Coronamaßnahmen. Etwa 200 Mitglieder

hat die Gruppe zu dem Zeitpunkt. Auch dort

veröffentlicht jemand ein Bild von der Schließung.

»Erinnert das nicht langsam doch an

gewisse Zeiten?«, fragt eine Nutzerin.

Im Kanal wird eine »Spontan-Versammlung«

angekündigt. »Solidarität mit unserem

Bäcker vom ›Café Zeitlos‹!! Heute um 18 Uhr.«

Ein Bild der Polizisten, die vor dem Café stehen,

kommentiert ein Nutzer mit den Worten:

»Da sind sie groß die SS-Söldner vom Matiaske.«

Frank Matiaske ist der Landrat des

Odenwaldkreises.

Ein Nutzer namens »Alex K.«, womöglich

der Betreiber des Cafés, bedankt sich für die

Unterstützung: »ihr seid Spitze, vielen Dank

dafür«, schreibt er, garniert mit drei Kuss-

Smileys. In den nächsten Stunden kommentieren

diverse Nutzerinnen und Nutzer in der

Gruppe die Ereignisse. »Das ist Faschismus

pur«, schreibt einer. Ein anderer: »Gestapo

go home«.

Noch am selben Abend versammeln sich

vor dem Café Demonstrantinnen und

Demonstranten. Die Menschen betreten das

Café, Bilder auf Twitter zeigen, wie sie ohne

Maske darin sitzen, an der Tür hängt ein Zettel:

» … wenn Unrecht zu Recht wird – wird

Widerstand zur Pflicht!!! … Solidarität für

Alex«. Auf Videos sind Menschen zu sehen,

»Es könnte

Trittbrett fahrer geben,

die sich

motiviert fühlen.«

die vor dem Café stehen und im Licht der

Polizeiwagen singen: »Ohne Knüppel, ohne

Helme seid ihr nichts.«

Am kommenden Tag kehren Leute des Gesundheitsamts

zurück zum Café und schließen

es mit einem amtlichen Siegel.

Am Vormittag des 29. November teilt

eine Nutzerin ein Foto eines Beitrags der

Lokalzeitung »Odenwälder Echo« zur

Schließung. Darin wird Bürgermeister Traub

zitiert: »Ich bedauere die jüngsten Entwicklungen.«

Er verweist auch darauf, dass man

sich an die Regeln halten müsse. Die Reaktion

in der Telegram-Gruppe ist deutlich.

Eine Nutzerin reagiert mit acht Mittelfinger-

Emojis und schreibt: »Fascholaden«. Dann

tippt Jörg L. seine Drohung in die Gruppe,

Traub und seine Familie sollen bedrängt

werden.

Einige in der Gruppe sind ver ärgert über

diese Eskalation. »Die Familie von dem

Mann hat damit nichts zu tun«, schreibt einer.

Jörg L. antwortet: »Geh Tanzen und werfe

mit Gänseblümchen – davon ist das Regime

bestimmt beeindruckt und die ziehen alles

zurück.«

Eine andere Nutzerin schreibt später, sie

sei erschrocken über den rauen Ton in der

Gruppe. »Wo bleibt der gegenseitige Respekt?«

L. findet mit seinem Aufruf wenig

Anklang, einige Mitglieder der Gruppe kritisieren

ihn scharf.

Bürgermeister Traub sagt, nach der Drohung

habe er mit den Initiatoren der Gruppe

gesprochen. Die hätten ihm gesagt, dass sie

diese Art von Nachrichten verurteilten und

L. aus der Gruppe ausgeschlossen hätten.

Traub sorgt sich dennoch. »Die Vernetzung

geht heute so schnell bundesweit. Es könnte

bei so etwas Trittbrettfahrer geben, die sich

motiviert fühlen.«

Telegram

Der Nutzer, der sich bei Telegram Jörg L.

nennt, kürzt zu diesem Zeitpunkt den Nachnamen

nicht ab. Dem SPIEGEL liegt ein

Screenshot der Nachricht vor. In der Nähe

von Erbach lebt ein Mann, der genauso heißt

wie dieser Nutzer.

Bürgermeister Traub hat keinen Zweifel,

dass L. derjenige ist, der die Drohung gegen

ihn und seine Familie verfasst hat.

Dieser Jörg L. ist kein Unbekannter im Ort:

Er saß mal – damals noch unter einem anderen

Namen – für die AfD im Kreistag. Auf

Facebook beschimpfte er Sozialdemokraten

als »rote Ratten« und Grüne als »Biomüll«.

Er schrieb auch: »Ich würde gern was ehrenamtlich

tun, Henker, Scharfrichter oder so.«

L. teilte auf Facebook mehrfach mit, was

er von den Coronamaßnahmen hält, und

schrieb etwa über Angela Merkel: »Das

Murksel traut sich wesentlich mehr als Erich

und Adolf je gewagt hätten!« L. gehört außerdem

wohl der »Reichsbürger«-Szene an: Er

bezeichnet sich selbst als Bürger des »Deutschen

Reichs«.

Kurz nachdem L. bei Telegram dazu aufruft,

den Bürgermeister zu bedrohen, löscht

er den Aufruf wieder. Er ändert seinen Profilnamen

in »Jörg der Löwe« und sein Profilbild,

auf dem nun keine Person abgebildet ist.

Doch auf Telegram kann weiterhin das alte

Profilbild eingesehen werden, das Jörg L.

zeigt.

Der SPIEGEL hat Jörg L. angefragt, ob er

sich zu dem Sachverhalt äußern wolle, allerdings

keine Antwort erhalten.

Am 1. Dezember veröffentlicht der Odenwaldkreis

eine Pressemitteilung auf seiner

Website. »Erbacher Café kann wieder öffnen«

ist dort zu lesen. »Der Betreiber hat ein Abstands-

und Hygienekonzept vorgelegt, das

vom Gesundheitsamt geprüft wurde.«

Der Sprecher des Landkreises betont

mehrfach, wie »konstruktiv« der Austausch

mit Bäcker Knierim gewesen sei. Auf Telegram

wird die Wiedereröffnung als Triumph

gefeiert. »Ich würde sagen Punktsieg für den

Bäcker« steht in einer Nachricht, die in der

Odenwald-Gruppe geteilt wird.

Es ist eine kuriose Dissonanz – für das Gesundheitsamt

geht es um einen Verwaltungsakt.

Für die »Querdenker«-Community geht

es um viel mehr.

Die Polizei in Erbach fährt weiterhin regelmäßig

am Haus des Bürgermeisters vorbei.

Am Nikolaustag, erzählt Traub, seien Polizisten

in sein Haus gekommen und hätten untersucht,

wie es um den »Objektschutz« bestellt

sei. »Es ist schon ein irritierendes Gefühl,

wenn man sein Haus nach solchen Kriterien

angeguckt bekommt«, sagt Traub. Und die

Polizei habe ihm einen Tipp gegeben: Bevor

er sich morgens in sein Auto setzt, erzählt er,

geht er jetzt einmal um das Fahrzeug.

Er sei wachsam, sagt Traub. Aber Angst

habe er nicht. »Wenn ich Angst hätte, würde

ich vielleicht nichts mehr sagen. So weit ist

es nicht.«

Telegram-Chat-Ausschnitt Hannes Schrader n

44 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

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