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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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MEDIEN

Meinung ist, merken sogar seine Fans, dass

das niemandem etwas nützt.

SPIEGEL: Das trockene Ablesen von Nachrichten,

haben Sie selbst einmal gesagt, gebe

es nur noch im nordkoreanischen Fernsehen

und um 20 Uhr im Ersten. Ist die Zeit der

nüchternen Nachrichtensendung vielleicht

einfach vorbei?

Kleber: Der Korea-Satz ging in der ARD rum,

als ich dort noch gearbeitet habe. War ein

Spaß. Als ich ihn dann als ZDF-Mann bei

einer Podiumsplauderei wiederholt habe,

fanden die »Tagesschau«-Kollegen und -Kolleginnen

ihn nicht mehr lustig, ich im Nachhinein

auch nicht.

SPIEGEL: Sie schreiben Ihre Texte selbst, in

der »Tagesschau« werden hingegen vorgeschriebene

Moderationen vorgelesen. Das

könnte auch ein Bot übernehmen.

Kleber: Die Bots werden noch lange brauchen,

bis sie an die Professionalität der »Tagesschau«-

Redaktion rankommen. Und auch dann würde

das niemand sehen wollen. Wir Menschen

interessieren uns nun mal am allermeisten für

andere Menschen. Und wenn jemand jeden

Abend um 20 Uhr im Wohnzimmer auftaucht,

entwickelt man automatisch eine Beziehung

zu dieser Person. Wir wissen aus unserer Medienforschung,

dass Zuschauer des »heute

journals« ein festgefügtes Weltbild über die

Beziehung zwischen Gundula und mir haben.

SPIEGEL: Was soll das heißen?

Kleber: Die Menschen glauben, genau zu wissen,

wie gut wir uns gerade verstehen und welche

Atmosphäre im Studio herrscht. Sogar zur Frage,

was unsere jeweiligen Ehepartner davon

halten, gibt es festgefügte Vermutungen. Dabei

sind wir nur viermal pro Sendung für ein paar

Sekunden gemeinsam zu sehen. Das reicht trotzdem

als Basis für ein Weltbild, weil sich Menschen

für das Verhalten anderer interessieren.

SPIEGEL: Von dem früheren »Tagesthemen«-

Moderator Hajo Friedrichs gibt es das berühmte

Zitat, dass sich ein Journalist mit keiner

Sache gemeinmachen soll, auch nicht mit

einer guten. Es wird oft als Appell gegen Aktivismus

verstanden, dabei ging es ihm in erster

Linie um Emotionen vor der Kamera. Wie

haben Sie den Rat verstanden?

Kleber: Als Jurist und früherer Anwalt fand

ich es immer wichtig, die Argumentation der

Gegenseite so zu verstehen, dass man in der

Lage ist, sie mit einer Überzeugung wiederzugeben,

als wäre es die eigene. Erst dann

kann man neutral berichten.

SPIEGEL: Das hielt Sie nicht davon ab, Emotionen

vor der Kamera zu zeigen. 2015 lasen

sie die Ansprache eines Busfahrers vor, der

in gebrochenem Englisch Flüchtlinge an Bord

willkommen hieß. Man konnte hören, wie Sie

vor Rührung mit den Tränen kämpften.

Kleber: Diese schöne Meldung kam während

der Sendung rein, ich hatte sie vorher nicht

gesehen. Und sie war ein Lichtblick in einer

damals aufgepeitschten Debatte. Mir hat es

wieder gezeigt, dass ich bei schönen Dingen

emotionaler bin als bei hässlichen. Und ich

habe nicht geweint, der Frosch in meinem

Anchorman Kleber

Thomas Pirot / DER SPIEGEL

Hals war eher eine Kaulquappe. Ich bin sicher,

Hajo Friedrichs hätte mir verziehen.

SPIEGEL: Junge Generationen suchen ihre Information

oft in der Unterhaltung, etwa bei

Comedians wie John Oliver und Satirikern

wie Jan Böhmermann. Ist das Journalismus?

Kleber: Ich bin ein großer Fan dieser Sendungen,

gerade wenn sie wie bei Böhmermann

richtige journalistische Kapitel haben. Aber

wir und die spielen nach unterschiedlichen

Regeln. Das »heute journal« ist in erster Linie

der Wahrheit verpflichtet, Jan Böhmermann

der Zuspitzung.

SPIEGEL: Der Wahrheit nicht?

Kleber: Man kann die Wahrheit so auf die

Spitze treiben, dass sie Satire wird. Und man

kann Fakten, die nicht ganz auf festen Beinen

stehen, als Erkenntnis verkaufen. Böhmermann

darf das, wir im »heute journal« dürfen

das nicht – und ich finde, beides gehört in den

medialen Mix.

SPIEGEL: Glaubt man Böhmermann, muss

man sich für viele Gespräche schämen, weil

man die falschen Leute einlädt. Die ständige

Präsenz des Virologen Hendrik Streeck etwa

würde für eine »false balance« von Minderheitenmeinungen

sorgen.

Kleber: »False balance« ist eine ständige

Gefahr, das bestreite ich nicht. Es ist aber

genauso gefährlich, wenn man, um der Balance

aus dem Wege zu gehen, gewisse Interpretationen

von Fakten nicht mehr zulässt.

Hendrik Streeck ist kein Verschwörungstheoretiker,

er hält die Erde nicht für flach

und Elvis nicht für lebendig. Natürlich kann

und soll man ihn nach seiner Meinung zu

Coronamaßnahmen fragen. Unabhängig

davon, dass ihm Christian Drosten beim Verstehen

der Viren vermutlich turmhoch überlegen

ist. Aber ich bin weder der Schiedsrichter

in diesem Wissenschaftsstreit noch der

Obervirologe.

SPIEGEL: Als 2001 das World Trade Center in

New York angegriffen wurde, waren Sie Washington-Korrespondent

und haben sich beklagt,

dass ARD und ZDF keine Live-Sendung

machen wollten.

Kleber: Das ist falsch, ich habe mich nicht beklagt.

Ich war stinksauer.

SPIEGEL: Fast 20 Jahre später stürmten

Trump-Fans das Kapitol. Sie mussten auf

Twitter dazu aufrufen, CNN einzuschalten.

Kleber: Auch da waren wir nicht schnell genug.

Ich habe an dem Tag, wie an vielen anderen,

zu denen gehört, die sofort rausgehen

und senden wollten. Übrigens auch, als in

Paris Notre Dame gebrannt hat. Aber Kollegen

und Kolleginnen, die ich sehr respektiere,

haben anders entschieden. Im Haus ist das

bis heute umstritten.

SPIEGEL: Wie erklären Sie Kritikern des Rundfunkbeitrags,

dass sie künftig trotzdem mehr

bezahlen müssen?

Kleber: Mit einer Preis-Leistungs-Rechnung.

Wer sich einmal ansieht, was man für die wenigen

Groschen am Tag bekommt, kann gar

nicht ernsthaft darüber diskutieren, ob sich

das lohnt oder nicht.

SPIEGEL: Für manche Familien sind 18 Euro

im Monat mehr als nur ein paar Groschen.

Kleber: Haushalte, denen der Rundfunkbeitrag

wirklich wehtut, müssen ihn meistens

nicht bezahlen. Wir wissen, dass ein hoher

Prozentsatz der Menschen, die aus sozialen

Gründen davon befreit sind, nebenbei Sky

abonniert haben. Ich halte das Geldargument

für eine vorgetäuschte Debatte.

SPIEGEL: Sie haben kurz vor der Rente damit

begonnen, in Moderationen zu gendern. Sie

hätten diese Debatte aussitzen können.

Kleber: Warum sollte ich? Ich habe in privaten

Diskussionen gelernt, dass es valide Argumente

dafür gibt, es in meine Moderationen

einfließen zu lassen. Ich mache es meistens

dann, wenn ich damit etwas transportieren

kann. Wer immer nur von Truckern spricht

und nie von Truckerinnen, vergisst eher mal

die Gefahren, denen Fernfahrerinnen nachts

auf überfüllten Parkplätzen ausgesetzt sind.

SPIEGEL: Manche haben das Gefühl, Sie würden

ihnen eine Art zu sprechen vorschreiben.

Kleber: Dabei ist es umgekehrt. Diese Menschen

wollen mir eine Sprache vorschreiben

und mir genderneutrale Formulierungen verbieten.

Ich habe noch nie jemanden dafür

kritisiert, dass er nicht gendern wollte.

SPIEGEL: Mit welchem Satz verabschieden Sie

sich von Ihren Zuschauern?

Kleber: Hoffentlich ohne Floskel, ich habe die

immer vermieden, das ist fast eine Manie bei

mir. Beim ZDF hatte ich mich ein Jahr lang

intensiv darum bemüht, die Floskel »Alle Angaben

ohne Gewähr« nach den Lottozahlen

zu streichen. Natürlich sind sie ohne Gewähr,

nennen Sie mir eine Situation, wo uns jemand

verklagen könnte! Am Ende gab es einen dicken

Aktenordner mit meiner Beschwerde,

der durch alle Abteilungen ging – und die

Formulierung ist immer noch da. Nur einer

meiner vielen Fehlschläge.

SPIEGEL: Herr Kleber, wir danken Ihnen für

dieses Gespräch.

n

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

89

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