DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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75 JAHRE DER SPIEGEL
GRATULATION
Das Beste von damals,
nur anders
Für Barbara Junge war der SPIEGEL immer eine Instanz, aber auch
ein schwer erträgliches Herrenmagazin. Inzwischen hat sich
vieles verändert, aber die Aufgabe bleibt: bissig, unbequem und bloß nicht
beliebig zu sein. Und den Mächtigen auf die Finger zu schauen.
Junge, 53, ist seit
Mai 2020 eine
der beiden Chefredakteurinnen
der »taz«. Davor
arbeitete sie beim
Berliner »Tagesspiegel«,
wo sie
zuletzt als USA-Korrespondentin
das
Washingtoner Büro
leitete. Ihr Mann war
einige Jahre beim
SPIEGEL angestellt.
Anja Weber
A
riane Barth war 25 Jahre alt,
als sie 1967 zum SPIEGEL
stieß, eine der ersten Frauen
überhaupt in der Geschichte des Blattes.
Der Tabubruch war ein doppelter,
weil sie nicht nur weiblich war, sondern
auch eine verheiratete Mutter.
Als Ehefrau mit Kind sei sie fehl am
Platz in der Redaktion, das hätten ihr
ihre Kollegen damals deutlich gemacht,
erinnert sie sich heute im Gespräch.
Auch ihre Chefs sprachen so,
gerade sie, die großen Namen, die
Ariane Barth so bewunderte.
Barth verarbeitete den brutalen
Druck auf ihre Art. Morgens, wenn
sie mit dem Auto von Eilbek aus die
gut 15 Minuten in die Redaktion fuhr,
damals noch an der Brandstwiete,
hielt sie oftmals auf halbem Weg zur
Redaktion an einer Ampel. Auf der
Höhe einer Beate-Uhse-Filiale öffnete
sie die Fahrertür – und erbrach sich
aus Angst vor dem, was sie in der
Redaktion erwartete. Barth erzählt
diese Geschichte heute mit einem bittersüßen
Tonfall, sie wurde trotzdem
eine begnadete Reporterin, 35 Jahre
blieb sie dem SPIEGEL treu.
Was sagt das über eine Redaktion,
wenn sich eine so große Journalistin
wie Ariane Barth allmorgendlich so
klein fühlte, dass sie sich aus Angst
übergeben musste?
Es ist, zunächst, ein Ausdruck davon,
dass der SPIEGEL der ersten
Jahrzehnte ein mitunter schwer erträgliches
Herrenmagazin war. Über
Jahrzehnte hießen die SPIEGEL-Leute
Conrad, Michael oder Joachim,
ihre Chefs Erich, Hans Werner, später
Stefan und, natürlich, Rudolf. Nur ab
und zu verirrte sich eine Michaela
oder Britta in die illustre Runde der
Ressortleiter. Einem Yassin, einer Özlem
oder einer Samira öffneten sich
die Türen des SPIEGEL erst viel später,
lange nach dem Mauerfall.
Die Wucht des autoritären innerredaktionellen
Umgangs traf allerdings
nicht nur Frauen. Der SPIEGEL
war mehr als nur ein Nachrichten-
Magazin, dahinter stand ein Prinzip,
das größer war als jeder Einzelne seiner
Mitarbeitenden. Ein Prinzip, das
hervorragend dazu geeignet war,
Autorinnen wie Ariane Barth kleinzumachen.
Als »Arbeitsredakteure«
hätten sie sich damals gegenseitig bezeichnet,
erinnert sich Barth heute.
Hellmuth Karasek, der langjährige
Feuilleton-Chef des SPIEGEL, hat dieses
Prinzip in seinem Roman »Das
Magazin« über den fiktiven jungen
SPIEGEL-Redakteur Daniel Doppler
boshaft genau beschrieben. Als
Doppler beim SPIEGEL anfängt, erfährt
er von einem Kollegen, wie es
in dem Laden zugeht: »Normalerweise
sind die Redakteure hier noch kleiner.
So groß mit Hut … Klein, das
heißt, dass dein Scheißartikel so lange
redigiert wird, bis er nicht mehr
dir gehört. Die Chefredaktion praktiziert
da die Synonym-Redigiererei.
Schreibst du ›riesig‹, redigieren sie
›gigantisch‹, schreibst du ›gigantisch‹,
verbessern sie zu ›riesig‹, bloß um
dich fühlen zu lassen, dass du in
Wahrheit der letzte Dreck bist und
nur von ihren Gnaden lebst.«
Zumindest in den ersten Jahrzehnten
war der SPIEGEL nicht nur ein
Herrenmagazin, sondern auch so
herrlich exklusiv, dass er beim Diversitätscheck
gnadenlos durchgefallen
wäre, und nur deshalb so lange damit
durchkam, weil es in der alten Bundesrepublik
normal erschien, dass in
den Redaktionen westdeutsche weiße
Männer über westdeutsche weiße
Männer in der Politik schrieben.
Der SPIEGEL war damit, wie andere
Redaktionen auch, Abbild einer
mittlerweile untergegangenen Zeit.
Einer Zeit, in der Pressefreiheit in
Deutschland bedeutete, das zu drucken,
was rund 20 Millionärsverleger
gern gedruckt sehen wollten (die
»taz«, dieser Schlenker sei mir erlaubt,
wurde 1978 gegründet, um
ebenjenes Oligopol reicher Männer
zu durchbrechen). Rudolf Augstein
war einer dieser Multimillionäre, und
vielleicht verklären wir heute bei aller
historischen Leistung Augsteins ein
wenig, dass sein Blatt nicht immer so
liberal und aufgeklärt war, wie es gern
dargestellt wird. Auch linksliberale
Männlichkeit kann toxisch sein. Um
bei Ariane Barth zu bleiben: Manchmal
war der SPIEGEL schlicht zum
Kotzen.
Es gibt aber auch eine andere Seite
des Prinzips SPIEGEL, das zugegeben
nicht nur bei mir eine Mischung aus
Faszination und Bewunderung auslöst.
Der SPIEGEL war immer schon
mehr als nur eine Redaktion. Er war,
in der alten Bundesrepublik, eine
eigene Instanz. Die vom SPIEGEL,
das waren die Erwachsenen im
Raum, an denen sich die anderen Medien
orientierten. Ich mag das Gerede
von der vierten Gewalt nicht
sonderlich, weil es uns Journalistinnen
und Journalisten überhöht und
wichtiger nimmt, als es uns zusteht.
Aber für den SPIEGEL traf dies fraglos
zu: Sein Einfluss war gigantisch
(also: riesig), er nahm die Rolle einer
vierten Gewalt im bundesrepublikanischen
Staat ein.
Weil das Prinzip SPIEGEL größer
ist als jeder Einzelne, erschienen Artikel
lange Zeit ohne Namen. Es war
nicht wichtig, wer etwas geschrieben
hatte; was zählte, war, was geschrieben
wurde. Im Zeitalter des Instagram-Ichs
hat der Gedanke an eine
namenlose Kollektivität etwas Herzerwärmendes.
Und zum Kleinmachen durch den
SPIEGEL zählte eben auch: das Kleinmachen
der Halunken und der Hintermänner
in Politik und Wirtschaft.
Das Konfrontieren der Mächtigen,
die sich sonst kaum jemand zu konfrontieren
traute, nicht nur in der
SPIEGEL-Affäre. Das ist das eigentliche
Verdienst des SPIEGEL für die
Demokratie, und dafür kann man ihm
gar nicht oft genug danken.
Dass die Versuchung groß gewesen
sein muss, Kontrolle der Macht mit
eigener Bedeutung zu verwechseln,
ist dabei eine vielleicht unvermeidliche,
zugegeben aber auch desillusionierende
Begleiterscheinung. Nur
so lässt sich erklären, dass manch
SPIEGEL-Chefredakteur sich im Flieger
die Buchungsklasse »First« vorbehielt,
in der ein Transatlantikflug
locker 8000 Mark kosten konnte.
62 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021