DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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75 JAHRE DER SPIEGEL
Man war ja auf Augenhöhe mit den
Mächtigen, warum also sollte ein
SPIEGEL-Chef schlechter reisen als
ein Dax-Vorstand? Und wenn die Recherchen
besonders drängten, wurde
schon mal ein Privatjet gechartert.
Dann geschahen zwei Dinge: Die
Mauer fiel, Deutschland wurde größer.
Und jemand kam auf die Idee,
dass man Journalismus auch im Internet
machen kann, sogar ganz gut (zu
denen, die das schnell verstanden,
gehörte der SPIEGEL, ein großes
Glück für das Haus). Eine neue, andere
und unerwartete Form von Diversität
entstand: eine diversifizierte
Medienlandschaft, die dem SPIEGEL
einiges seiner Dominanz nahm.
Wenn dem SPIEGEL heute vorgeworfen
wird, er sei nicht mehr das,
was er mal war, ist das ein bisschen
wahr, vor allem aber wohlfeil (und
wird vorzugsweise von Mitbewerbern
oder Politikern vorgetragen, die sich
schlecht behandelt fühlen). Das Prinzip
SPIEGEL, furchtlosen Journalismus
angelsächsischer Prägung mit
scharfer politischer Kritik und herausragender
Erzählkunst zu kombinieren,
hat den Journalismus in Deutschland
verändert. Andere haben aufgeholt
(auch die »taz« hat sich einiges
vom SPIEGEL abgeschaut).
Wie sollte der SPIEGEL also sein,
was er mal war, in einer so gewandelten
Welt? Und wäre das wirklich gut,
wenn er sich nicht verändert hätte?
Die Mobilität, Spontaneität und
Pionierstimmung des Onlinejournalismus
jedenfalls hat die Hermetik des
gedruckten SPIEGEL aufgebrochen.
Im Vergleich zur journalistischen
Aristokratie der Printkollegen, bei
denen das ungeschriebene Gesetz
galt: je höher das Büro an der Brandstwiete
und je mehr Fensterachsen,
desto wichtiger der Redakteur und
desto fetter das Bankkonto – im Vergleich
dazu also nahmen sich die
Onlinekollegen und -kolleginnen aus
wie Hungerlöhner am Fließband
einer malaysischen Manufaktur. Sie
waren, wenn auch im Branchenvergleich
nicht wirklich schlecht bezahlt,
das journalistische Prekariat in der
Klassengesellschaft des SPIEGEL.
Der Bluthochdruck-Journalismus
von SPIEGEL ONLINE hat fraglos
manche SPIEGEL-Qualität verwässert,
angefangen bei der Qualitätskontrolle
der Texte (wo ist eigentlich
die legendäre SPIEGEL-Dokumentation?)
bis hin zum Kolumnenjournalismus,
der Meinung im Dutzendpack
billiger macht. Etwas
nachlässig im Stil sei der SPIEGEL
heute, findet Ariane Barth, dafür sei
die Kon formität verschwunden.
Man kann nicht alles haben. Die
wechselsei tige Befruchtung und die
2019 vollzo gene Fusion der Redaktionen
von Print und Online haben
dem Haus jedenfalls wohltuende
Frischluft zugeführt.
Zugleich wirkten das Blatt und die
Website in den vergangenen Jahren
mitunter so, als hätte sie eine mittelschwere
Identitätskrise erfasst, und
zwar schon bevor mit Claas Relotius
die Schwindelei Einzug hielt. Als
wäre nicht mehr ganz klar, wofür der
SPIEGEL heute steht.
Wofür also sollte er stehen? Es
mag aus der Feder einer »taz«-Chef-
SPIEGEL-Redaktionskonferenz
1988
Kritische
Schärfe
kann diesem
Land
mit all
seinen
Verwerfungen
und
merkeligem
Scholzismus
nur
guttun.
Monika Zucht
redakteurin merkwürdig klingen,
aber die Antwort lautet: für das
Beste von damals, nur anders. Heute
gilt ein modernes, geweitetes Verständnis
von Macht, das nicht nur
politischen und ökonomischen Einfluss
umfasst, sondern auch gesellschaftlichen.
Macht besitzen nicht
nur politische Alphafiguren und
Konzernvorstände, nicht nur Annalena
Baerbock, Markus Söder und
Herbert Diess. Macht besitzen auch
Dieter Wedel, Jérôme Boateng und
die katholischen Priester, die Myriaden
unschuldiger Jugendlicher missbraucht
haben. Machtstrukturen
verlaufen ökonomisch und sozial,
anhand von Herkunft, zwischen Geschlechtern
und Identitäten. Das Leben
ist unübersichtlich geworden,
und sosehr uns das nerven und überfordern
mag, so zentral ist es doch
für ein Leitmedium wie den SPIEGEL,
diesen erweiterten Machtbegriff nicht
zu ignorieren.
Bedeutet das, einer Gegenwartsströmung
nachzugeben, die nur die
eigene Befindlichkeit in den Mittelpunkt
der Debatte stellt? Bitte nicht.
Wach zu sein – »woke« hieß das,
bis der Begriff zum Instrument ideologischer
Auseinandersetzungen wurde
– bedeutet , immer wieder zu hinterfragen,
wer Macht ausübt, und
dieser hinterherzurecherchieren, sie
im besten demokratischen Sinne zu
kon trollieren. Augsteins »Im Zweifel
links« bedeutet immer auch: im Zweifel
für die Schwachen und Wehrlosen.
Das »Im Zweifel links«-Diktum umfasst
übrigens auch die Klimakrise,
deren Verursacher und Verharmloser
angeprangert gehören wie korrupte
Konzernbosse oder lügende Politikerinnen.
Danke, lieber SPIEGEL, dass
du das Anschreiben gegen die Klimakrise
so ernst nimmst.
Im SPIEGEL arbeiten die meisten
der besten Journalistinnen und Journalisten
des Landes, und ich sehe das
als Verpflichtung. Die Demokratie
braucht den SPIEGEL, um den Mächtigen
auf die Finger zu schauen, das
war gestern so und wird morgen so
sein. Weich sind andere zur Genüge.
Kritische Schärfe kann diesem Land
mit all seinen Verwerfungen und
merkeligem Scholzismus nur guttun.
Das können nicht viele, und nur der
SPIEGEL kann es wie der SPIEGEL.
Wenn diese Wächterfunktion noch
etwas empathischer und diverser, etwas
weniger herrschaftlich-unerbittlich
und dafür unbestechlich präzise,
bissig, aber nicht verbissen ausgeübt
würde: Dann käme der SPIEGEL meinem
Traummedium noch näher, als
er es ohnehin schon ist.
n
Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL
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