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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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Joop im Shitstorm

Reportergold in

Juristendeutsch

NR. 46/2021 »Die dunkle Seite

von SAP« – Tim Bartz ist

kein Fan von Gutachten, doch er

macht Ausnahmen.

Juristische Gutachten sind

selten vergnügsam – nur Masochisten

tun sich so etwas freiwillig

an. Ein ausnahmsweise

unterhaltsames, vor allem aber

aufschlussreiches Exemplar

hielten Christian Bergmann,

Kollege und Kooperationspartner

vom Mitteldeutschen Rundfunk,

und ich dieses Jahr in den

Händen. Schon der Name des

Dokuments verspricht Entertainment:

»Golden Eye«, wie

der Bond-Film. Auch der Inhalt

des von Topanwälten der Wirtschaftskanzlei

Linklaters im

Jahr 2010 verfassten Papiers hat

Thriller-Format. Es geht um

Machenschaften des SAP-Konzerns

in den Jahren 1997 ff., die

im Kern darauf hinauslaufen,

dass sich die Softwareschmiede

unter anderem mit üblen Tricks

an die Weltspitze gekämpft hat.

Geheimlabors, falsche Visitenkarten,

dubiose Zuwendungen:

Joop

NR. 46/2021 »Wenn einer sich

schlampig anzieht, denkt er auch

schlampig« – Martin U. Müller

und Tobias Rapp über ein Interview,

bei dem sie hartnäckiger

hätten nachfragen können

Wolfgang Joop war in Plauderlaune,

als wir ihn zum Gespräch

darüber trafen, was Corona

mit der Modewelt gemacht

hat. Zugleich schien er in sentimentaler

Verfassung, wollte

erzählen, wie rasant sich die

Branche verändert hat. Er habe

bei Karl Lagerfelds Tod geweint,

weil damals eine Ära zu

Ende gegangen und »diese Welt

so wunderbar frivol und frigide«

gewesen sei. Dann fielen

die Sätze, die später für Empörung

sorgten, in sozialen Netzwerken,

in Medien und in persönlichen

Gesprächen: »Alles

war käuflich. Die Agenturen gaben

die Schlüssel zu den Zimmern

der Models, die nicht so

viel Geld brachten, an reiche

Männer. Und wenn sich ein

Mädchen beschwerte, hieß es:

Wir können auch auf dich verzichten.«

Als reiner Text mussten

diese Sätze verstörend wirken.

Beim SPIEGEL führte die

Passage intern zu hitzigen Diskussionen.

Im Rückblick ist zu

sagen: Wir hätten an der Stelle

hartnäckiger nachfragen, Belege

für die Behauptungen fordern

können. Aber als wir Joop gegenübersaßen,

hatten wir den

Eindruck, dass er die Vergangenheit

nur beschrieb, nichts daran

verteidigte oder gar zurückwünschte.

Doch ein gedrucktes

Interview kann eine Atmosphäre

nur sehr eingeschränkt

wiedergeben. Joop entschuldigte

sich später und bezeichnete

die Geschehnisse in der Branche

als das, was sie waren: ein

respektloser und missbräuchlicher

Umgang mit Models.

Was die Linklaters-Advokaten

da im Auftrag des SAP-Aufsichtsrats

über interne Geschäftsvorgänge

schwungvoll

aufgeschrieben hatten, war

pures Reportergold. Seinen

speziellen Charme entfaltete die

Enthüllung auch vor dem

Hintergrund der angeblich so

porentief reinen Aufstiegsgeschichte

der SAP-Überväter

Dietmar Hopp und Hasso Plattner.

Die Konzerngründer sonnen

sich gern im Glanz ihrer

mildtätigen Gaben für Kinder,

Kunst und Wissenschaft, doch

ihre Milliardenvermögen gründen

offenbar auch auf finsteren

Methoden. Dass der SAP-Aufsichtsrat,

gegen den Rat der

Linklaters-Anwälte, keinen der

damals Verantwortlichen absetzte

und einer von ihnen,

Gerhard Oswald, heute sogar

im Kontrollgremium sitzt,

wundert schon fast nicht mehr.

Ebenso wenig wie die Reaktion

des Konzerns auf unsere Nachfragen:

Die Ereignisse seien

ewig her und aufgearbeitet.

Überhaupt lege SAP beim Thema

Integrität höchste Standards

an. Amen.

Eva Tuerbl / DER SPIEGEL

Rupert Oberhäuser / IMAGO

Hildmanns

Radikalisierung

NR. 45/2021 »Querdenker vom

Amt« – Max Hoppenstedt fragt

sich, wann man Rechtsex tremen

die falsche Bühne bietet.

Wer jahrelang über die Aktionen

des Hacker-Kollektivs Anonymous

berichtet, ist Überraschungen

gewohnt. Was jedoch

Mitte September auf einer

virtuellen Pressekonferenz

geschah, war auch für mich unerwartet:

Der 22-jährige Kai

Enderes, Mitglied der verschwiegenen

Hacker-Gruppe,

packte darüber aus, wie er monatelang

als IT-Administrator

an der Seite des ultrarechten

Gegners von Coronamaßnahmen

Attila Hildmann unterwegs

war. So etwas hatte es hierzulande

noch nicht gegeben.

Gleichzeitig bekamen

SPIEGEL und SPIEGEL TV Zugang

zu mehr als zwei Terabyte

an internen E-Mails, Chats und

Daten des ehemaligen Vegan-

Kein Wort des

Bedauerns

NR. 44/2021 »Die Milliarden-

Abzocke« – Frank Dohmen über

die Recherche eines Skandals

und das Schweigen danach

Es begann mit einem Telefonat,

wie sie Journalisten zu

Hunderten führen. Ein Mann

aus einer großen Institution

wollte seine Besorgnis ausdrücken

ȟber diese Sache mit der

Scheibenpacht« und dass normale

Stromkunden von der Industrie

um Milliarden »beschissen«

würden. Nun kenne ich

mich ein wenig in der Strombranche

aus, aber von Scheibenpacht

hatte ich noch nie

gehört. Das sollte sich ändern.

Bayer-Chempark in

Leverkusen

Kochs. Sie zeigen, wie er schon

vor der Pandemie Ärger mit

Polizei und einer Lebensmittelkontrolle

hatte und auch geschäftlich

in Schieflage war.

Manche Leserinnen und Leser

kritisierten uns: Wir sollten

Hildmann doch bitte keine Bühne

bieten. Das ist oft ein wichtiger

Einwand, doch bei dieser

Recherche sehe ich es anders.

Die Enthüllung gab neue Einblicke

in Hildmanns Radikalisierung

und seine Nähe zu Rechtsextremen.

Sie widersprach zudem

seinem Narrativ, dass es

nur die Coronamaßnahmen

gewesen seien, die ihn in einen

Konflikt mit dem Staat getrieben

hätten. Schließlich wurde

eine Querdenkerin in der Generalstaatsanwaltschaft

Berlin enttarnt,

die einen Haftbefehl an

Hildmann durchgesteckt haben

soll. Es zeigte sich, dass sie auf

Telegram sogar zum Sturm aufs

Kanzleramt aufgerufen hatte.

Ich finde, all das gehört unbedingt

in die Öffentlichkeit.

Nach vielen Gesprächen, der

Lektüre etlicher Protokolle und

Gerichtsurteile wurde klar, dass

es sich um einen gewaltigen Betrug

handelt. Konzerne wie

Evonik, Bayer, Currenta oder

Daimler hatten mithilfe von Anwälten

und Politik rund zehn

Milliarden Euro auf Kosten normaler

Stromzahler eingesackt.

Sie konnten sogar eine Amnestie

durch das Parlament schleusen.

Seit der SPIEGEL über das

Treiben berichtete, ist die Zahl

der Amnestieanträge sprunghaft

angestiegen. Ansonsten: kein

Wort der Verteidigung, kein

Wort der Erklärung oder gar

des Bedauerns. Man will den

zweifelhaften Erfolg in letzter

Minute nicht aufs Spiel setzen.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

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