DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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WIRTSCHAFT
Viel, aber nicht genug
SPD-Politiker Geywitz, Scholz im September: Bauen, bauen, bauen
Baufertigstellungen von Wohnungen*
in Deutschland, in Tausend
300
150
0
306
2001 2010 2020
* in Wohn- und Nichtwohngebäuden (weniger als die Hälfte der
Gesamtnutzfläche wird für Wohnzwecke genutzt)
S ◆Quelle: Destatis
behörden vorgestellt hatte, äußerten die Beamten
unzählige Bedenken. Etwa, dass ein auf
dem Dach installiertes Treppenhäuschen
nicht ins städtebauliche Konzept passe. »Für
mich wirkte es so, als ob die Behörde nach
Problemen suchte, anstatt lösungsorientiert
zu denken«, sagt Kahl. Am Ende verzichtete
die Genossenschaft darauf, einen Bauantrag
zu stellen.
Das sei nach seinen Erfahrungen in Berlin
kein Einzelfall, sondern die Regel. Statt
Bauen zu ermöglichen, würden Vorhaben
blockiert, so Kahls Eindruck. Dass man ausgerechnet
gemeinwohlorientierten Genossenschaften,
die sozial verträgliche Mieten anböten,
das Leben schwer mache, könne er
nicht verstehen. »Die Blockadehaltung in den
Behörden trägt zur Wohnungsnot bei«, sagt
er. Im ersten Halbjahr 2021 brachen die
Baugenehmigungen in Berlin um fast 30 Prozent
ein.
Den Berliner Mietendeckel sieht Kahl als
besten Beleg für eine investorenfeindliche
Politik. »Der hätte uns wirtschaftlich eingeschränkt
und damit auch zukünftige Bauvorhaben
massiv erschwert.«
Doch auch der Widerstand der Bevölkerung
steht Neubauten immer wieder im Weg.
Da erkämpfte eine Bürgerinitiative auf dem
Gelände eines ehemaligen Friedhofs einen
Park; eine Gartenbaufirma weigerte sich in
Friedrichshain, Bäume zu fällen, damit die
Bauarbeiten für eine längst genehmigte Nachverdichtung
beginnen können. Im günstigen
Fall verzögert das den Wohnungsbau nur,
häufig aber strecken die Investoren schon vorher
die Waffen. Bekanntestes Symbol des
Widerstands ist das Tempelhofer Feld, ein 355
Hektar großes Areal gut sechs Kilometer vom
Brandenburger Tor entfernt, das seit 2010 als
Park- und Freizeitfläche dient.
In Michendorf haben Kahl und seine Genossenschaft
keine Widerstände zu befürchten.
Dort errichten sie jetzt rund 100 Wohnungen
im Zentrum eines Brandenburger
Dorfs, verteilt über sieben mehrstöckige Häuser.
Nachdem die Genossenschaft Kontakt
zur Gemeinde aufgenommen hatte, vergingen
nicht mal anderthalb Jahre bis zur Grundsteinlegung.
»In Berlin hatten wir schon Projekte,
wo solche Prozesse acht Jahre gedauert
haben«, sagt Kahl.
Nach Ausbruch der Pandemie hatten viele
Experten damit gerechnet, dass der jahrelange
Immobilienboom enden würde. Ein
Anstieg der Arbeitslosigkeit würde für niedrigere
Immobilienpreise und damit sinkende
Mieten sorgen, so die damalige Prognose. Es
kam anders. Vielerorts klettern die Mieten
weiter.
Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung
aus diesem Sommer kann »Wohnen arm
machen«. Knapp 1,1 Millionen Haushalten
mit mehr als zwei Millionen Menschen bleibe
nach Abzug der Miete und der Heiz- und
Nebenkosten sogar weniger als das im Sozialrecht
festgelegte Existenzminimum übrig.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Preise
seit Monaten stark steigen. Im November
Clemens Bilan / epa
lag die Inflationsrate bei 5,2 Prozent – der
höchste Wert seit 1992. Wenn Lebensmittel,
Strom und Benzin teurer werden, bleibt weniger
Geld für die Miete. Wer einen sogenannten
Indexmietvertrag abgeschlossen hat, hat
doppelt Pech: Denn diese Verträge orientieren
sich an der Teuerungsrate. Vielen drohen
jetzt Mieterhöhungen.
Selbst bei Gutverdienern komme die Wohnungsnot
inzwischen an, sagt Reiner Braun
von Empirica. Wer in Deutschland heute umzieht,
muss laut dem Forschungsinstitut für
eine neue Bleibe in den kreisfreien Städten
im Schnitt 40 Prozent mehr Miete bezahlen
als noch vor zehn Jahren.
Warum bekommt die Politik den Markt
nicht in den Griff?
Als Hamburger Bürgermeister hatte Scholz
mit seinem »Bündnis für Wohnen« für deutlich
mehr Neubauten in der Hansestadt gesorgt.
Der größte Vermieter in Hamburg ist
kein Immobilienhai, sondern das kommunale
Wohnungsunternehmen Saga. Auch deshalb
hätte in der Stadt ein Enteignungsbegehren
kaum eine Chance.
Nur lassen sich diese Erfolge auf Bundesebene
wiederholen? »Ein Bundesbauministerium
kann mitnichten zentralistisch durchregieren,
wie es Olaf Scholz damals im Stadtstaat
Hamburg gemacht hat«, sagt Andreas
Schulten, Generalbevollmächtigter beim Analyseunternehmen
Bulwiengesa. Der Bund
könne zwar Geld bereitstellen und einzelne
Rahmenbedingungen verbessern, genehmigen
oder bauen aber müssten die Länder und
Kommunen selbst.
Bundesweite Neubauoffensiven sind in der
Vergangenheit schon öfter gescheitert. 2018
hatten sich Bundesregierung, Ministerpräsidenten
und Verbände zu einem großen Wohngipfel
im Kanzleramt getroffen. Ressortchef
Horst Seehofer (CSU) kündigte den Neubau
von 1,5 Millionen Wohnungen an und prägte
den oft zitierten Satz, die Wohnungsfrage sei
»die soziale Frage unserer Zeit«.
Seine Zielmarke verfehlte er dennoch: In
der vergangenen Legislaturperiode kamen
nur 1,2 Millionen Wohnungen neu hinzu. Laut
einer Untersuchung des IW Köln allerdings
nicht dort, wo es eigentlich nötig gewesen
wäre, also in den sieben größten Städten Berlin,
Hamburg, München, Köln, Düsseldorf,
Frankfurt am Main und Stuttgart. Stattdessen
wird in schrumpfenden Regionen viel zu viel
gebaut. Das pauschale Ziel der neuen Bundesregierung,
400 000 Wohnungen zu schaffen,
halten die Autoren deshalb »für zu hoch angesetzt«.
Es könnten abseits der Ballungsräume
zu viele Einheiten gebaut werden, die
dann später leer stehen.
Mieterverbände und linke Ökonomen
reagieren inzwischen genervt auf das ewige
»Bauen, bauen, bauen«. Denn selbst wenn
es gelänge, in den Städten mehr Wohnungen
zu errichten: Es werden Jahre vergehen, bis
sich das neue Angebot spürbar auf die Mieten
auswirkt. Sie fordern deshalb eine Regulierung
auf Bundesebene, die den Mietern eine
76 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021